ARIEN-HITPARADE

 

Wilhelm Heinse beklagte in seinem 1795 erschienen Roman „Hildegard von Hohenthal“: »Wahrer Jammer und Verlust, daß die größten Neapolitanischen Tonkünstler so frühzeitig starben, Pergolesi, Vinci, Leo, Majo!«. Seit der 2012 erschienenen Einspielung von Artaserse (Virgin Classics) mit fünf Countertenören und ohne Sängerinnen ist Leonardo Vinci (1690-1730) wieder zurück im Bewusstsein der (Barock-)Opernfreunde. Vinci gilt als der erste Meister der neapolitanischen Schule, zu Lebzeiten und posthum erfuhren seine Opern im 18. Jahrhundert Anerkennung und Aufführungen. Laut André Grétry hatte Vinci erkannt, »daß Töne die Regungen eines Herzens malen können, das seine verschiedenen Bewegungen mit denen eines vom Sturm gepeitschten Schiffes identifiziert«. Vinci malte musikalisch heroische Bilder durch auf Schönheit achtende Deklamation und einem orchestralen Kolorit, der diesem Stil das Beiwort „galant“ verdiente. Didone abbandonata beruht auf Pietro Metastasios beliebtem (und über 60 mal vertontem) Libretto, das zum ersten mal 1724 von Domenico Sarro vertont wurde, Leonardo Vincis Version wurde im Januar 1726 in Rom uraufgeführt. Händel arrangierte Vincis Oper 1737 als Pasticcio für Aufführungen in London. Die Spielzeit 1736/37 mit den Opern Arminio, Giustino und Berenice gilt als sehr schwierig für Händel, im April 1737 hatte er einen Schlaganfall und konnte die Aufführungen der Didone nicht selber dirigieren. Nach vier Vorstellungen verschwand die Bearbeitung für über 275 Jahre im Archiv. Händel transponierte, kürzte und strich Arien und Rezitativ (davon sind in der vorliegenden Aufnahme noch ca. 40 Minuten erhalten), veränderte die Reihenfolge der Gesangsnummern und ergänzte mit Arien von anderen Komponisten (u.a. von Vivaldi und Hasse), um die Oper wirkungsvoller und dramatisch zugespitzter zu gestalten. Händel behielt den ungewöhnlichen, spannenden Schluss bei, es gibt bei Vinci kein lieto fine, das tragische Ende wird in drei Accompagnato-Rezitativen Didos ausgedrückt, die sich ohne Enea in auswegloser Situation aufgibt.

 

Didone abbandonata: The Death of Dido/Jushua Reynolds (1668-1723)/ Wiki

Die Heidelberger Oper führte Händels Überarbeitung, neu editiert durch Gerd Amelung, in der Saison 2015/2016 im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ im dortigen Rokokotheater auf. Musikalisch einstudiert wurde die Oper von Dirigent Wolfgang Katschner, der das Heidelberger Orchester leitete. Später folgten weitere Aufführungen, die Katschner mit seiner Lautten Compagney bspw. anlässlich der Händelfestspiele Halle 2016 musizierte. Die nun vorliegende Einspielung geschah nicht live, sondern erfolgte als Studioaufnahme im November 2016. Die Akustik gelang sehr gut und hat einen frischen, lebendigen Charakter, die 20 Musiker der Lautten Compagney, die neben Streichern und Continuo lediglich je zwei Oboen und zwei Hörner umfasst, spielen mit federnd ausgeglichenem Klang auf der Höhe der Zeit, das Zuhören bereitet stets Freude. Vinci verwendete für seine Didone abbandonata teilweise Musik aus seinen anderen Werken (Ifigenia in Tauride, Astianatte, Siroe) – eine ökonomische Wiederverwertung war üblich, der Affekt es Textes spielte eine untergeordnete Rolle, es ging vielmehr um eingängliche, ungetrübte Musik mit klarer Harmonik, die Fähigkeiten der Sänger stehen im Mittelpunkt. Vincis Didone abbandonata klingt dann auch wie eine Hitparade 25 bemerkenswert schöner und virtuoser Bravourarien – Karthago geht für den heutigen Zuhörer gut gelaunt unter. Es gibt weder Duette noch Ensembles oder Chor, Dido, Enea und Jarba haben jeweils sechs Arien, Selene hat drei, Araspe und Osmida jeweils eine. Die Sänger sollen bei Vinci im besten Licht erscheinen und das gelingt auch dieser schönen Einspielung, bei der alle Sänger eine homogen überzeugende Leistung zeigen. Die amerikanische Sopranistin Robin Johannsen kennt das Berliner Opernpublikum aus den Barockproduktionen mit René Jacobs, ihre Stimme klingt elegant und verführerisch, ein beeindruckend schönes Timbre und präzise Koloraturen. Als Didone beginnt sie mit der keinen Widerspruch duldenden, heroischen Zurückweisung Jarbas in „Son regina e son amante“ – eine Arie, die 1726 vom Publikum begeistert bejubelt wurde, „Ritorna a lusingarmi“ hat Händel aus Vivaldis Griselda übernommen und fügt sich harmonisch ein. Als Enea singt die niederländische Mezzosopranistin Olivia Vermeulen ebenfalls eine heroische Abweisung Jarbas, „Quando soprai“ zeigt ihre Qualitäten, Eneas grandioser Abschied „A trionfar mi chiama“ ist aus Hasses Euristeo. Vermeulen nutzt die Chance, mit flexibler Stimme und leicht wirkender Virtuosität ergänzt sie ideal als trojanischer Held mit Sendungsbewußtsein. In Rom sangen 1726 keine Frauen, sondern Kastraten, die vorliegende Einspielung hat einen Countertenor engagiert. Der Florentiner Antonio Giovanini hat das Timbre und die Diktion, um den drohenden Bösewicht Jarba einen zwielichtigen Charakter zu geben, stimmlich wirkt er teilweise etwas verhalten, „Trà lo splendor del trono“ kann man expressiver gestalten, doch schon bei „Son quel fiume“ legt er nach. Händel gestaltete das Ende neu und fügte im dritten Akt zwei „Arie agitate“ hinzu, Dido erhält eine Arie, die ursprünglich Araspe gehörte. Die letzte Arie der Oper gehört Jarbas, „Cadrà fra poco in cenere“ aus Hasses „Cajo Fabbriccio“ besiegelt Didos Schicksal und zeigt Giovaninis Fähigkeiten. Die kleineren Rollen sind rollendeckend sehr gut besetzt. Julia Böhme gibt Selene eine ausdrucksstarke Statur, „Ch’io resti“ gelingt ihr mit beeindruckender Mischung aus Bangen und Sehnen. Die Mezzosopranistin Polina Artsis (Osmida) und der Tenor Namwon Huh (Araspe) gehörten bereits zum Team der Heidelberger Aufführung und überzeugen mit souveräner Interpretation und schönen Stimmen. Wenn man etwas an dieser bravourösen Einspielung kritisieren wollte, dann dass das Beiheft zu wenig Informationen zu Gerd Amelungs Neuedition von Händels Dirigierpartitur und dessen Bearbeitung enthält. Was Vinci und was Händel entschied, ist nicht ohne weiteres erkennbar (2 CDs, deutsche harmonia mundi, dhm 88985415082). Marcus Budwitius