THEATRAL PASSIONIERT

 

Das legendäre erste deutschsprachige Opernhaus öffnete 1678, die Oper am Gänsemarkt erreichte ihren Höhepunkt zu Beginn des 18. Jahrhunderts und schloss ihre Pforten nach 50 Jahren. Georg Philipp Telemann wurde 1721 Musikdirektor der Stadt Hamburg (ein Posten, den er 46 Jahre lang inne hatte), Kantor des Johanneums und leitete auch die Gänsemarktoper während der letzten 16 Jahre. Zu seinen Aufgaben gehörte das Komponieren von Kirchenmusik, ein großer Teil von Telemanns Werkverzeichnis besteht aus Kantaten sowie Passionen, Oratorien und Psalmvertonungen. 1722 wurde Telemanns erfolgreichste Passion erstmals aufgeführt: Seliges Erwägen des bittern Leidens und Sterbens Jesu Christi hat keinen erzählenden Evangelisten, sondern evoziert Etappen der Leidensgeschichte als Abfolge von neun Andachten, beginnend mit dem Abendmahl, Petrus Vermessenheit, dem betenden, dann verklagten und verspottetem Jesus, Petrus‘ Buße und dem blutenden, gekreuzigten, sterbenden und ins Grab gelegten Erlöser. Telemann kam aus einer Pastorenfamilie, seine anschauliche Passion entspricht der damaligen Gepflogenheit der persönlichen, kontemplativ Begegnung der pietistischen Lutheraner mit Christus, die mit expressiven Mitteln in den anschaulichen Passagen vertont wurden, die auch in Opern der Zeit gut aufgehoben wäre, z.B. Petrus‘ Qual „Foltern, Pech, vermischte Flammen“, die Szene am Ölberg oder auch in den Prophezeiungen. Wer Bachs Passionen im Ohr hat, kann hier auch durch die Opernhaftigkeit mancher Arien einen neuen Zugang finden. Die Partitur ist abwechslungs- und facettenreich und farbig im Klang. Neben Streicher und Generalbaß hört man Flöten, Oboen, Schalmeien, Fagotte und Hörner. Das renommierte und stets hörenswerte Freiburger Barockorchester spielte diese Passion mit 26 Musikern lebendig und spannend, Gottfried von der Goltz leitet die Aufführung an der ersten Geige. Sechs Arien und sechs Rezitative sind für Jesus komponiert, die Bariton Peter Harvey eindrücklich und stimmschön singt. Als Petrus ist Tenor Michael Feyfar zu hören, der seine Rolle musikalisch zerknirscht und gequält, quasi bühnenhaft plastisch interpretiert. Bariton Henk Neven ist als Caiphas nur einmal gefordert, seine einzige Arie ist voller Zorn. Es gibt verschiedene allegorische Figuren (Andacht, Glaube, Zion), die von Sopranistin Anna Lucia Richter und Tenor Colin Balzer engagiert gesungen werden. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme des NDR vom Telemann-Festival Hamburg am 1. Dezember 2017, die Klangqualität ist gut, das Orchester kommt schön zur Geltung, sehr vieles gelingt. Der Chor besteht aus vier Sängern, neben Feyfar und Neven singen Hanna Zumsande und Julienne Mbodjè die elf Choräle. Das Quartett erweist sich dabei an manchen Stellen als inhomogen, die Stimmen harmonieren nicht, allerdings kann dies durch die Live-Aufnahmetechnik verursacht sein. Ein Chor hätte hier aufeinander eingeübter und eingespielter wirken können (2 CDs  Aparte, AP175).

Mit Reinhard Keiser verknüpft man die Blütezeit der Gänsemarktoper. Er kam 1697 nach Hamburg und komponierte zahlreiche Opern. Nach auswärtigem Engagement kehrte er 1728 nach Hamburg zurück, wo er Kantor am Hamburgischen Dom wurde. Seine Markus-Passion (eine von vielen) ist in zwei leicht unterschiedlichen Stimmabschriften erhalten, wann Keiser dieses Werk komponierte und aufführte, scheint nicht sicher datierbar. Johann Sebastian Bach soll sie während seiner Leipziger Kantorentätigkeit aufgeführt haben. Im Aufbau gilt Keisers Passionswerk als Vorbild für Bachs große Oratorien, bspw. gibt es Turbachöre und einen Evangelisten als Erzähler. Die vorliegende Einspielung entstand auf historischen Instrumenten im Mai 1993 und wird nun nach 25 Jahren wieder neu aufgelegt. Dirigent Christian Brembeck leitet das Ensemble Parthenia baroque vom Cembalo. In der Summe 10 Musiker, sechs Streicher, zwei Oboisten sowie Orgel und Cembalo, doch die schlichte Besetzung täuscht, Keisers Oratorium wirkt komplex und abwechslungsreich und steht zwischen Telemann und Bach. Bernhard Hirtreiter als Evangelist verleiht den Erzählungen Spannung, als Jesus singt Bassist Hartmut Elbert profund,  Jochen Elbert übernimmt eindrücklich die Rollen des Petrus und des Pilatus, Melinda Paulsen singt den Judas, Hohepriester und Hauptmann mit schönem Timbre, die Sopran-Arien teilen sich Tanja d’Althann und Petra Geitner. Fünf der sechs Solisten übernehmen auch mit drei weiteren Sängern als Parthenia vocal die Chorgesänge als Doppelquartett. Auch diese Passion ist eine wichtige Ergänzung zu den Bach-Werken (Christophorus CHR 7742). Marcus Budwitius