Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Peter Emmerich

 

Die Bayreuther Festspiele sind schockiert und fassungslos angesichts des plötzlichen und völlig unerwarteten Todes ihres Pressesprechers Peter Emmerich im Alter von nur 61 Jahren, der ihn mitten aus dem Leben und seiner Arbeit reißt. Nach seiner Verpflichtung durch W olfgang Wagner und seiner ungewöhnlichen, von höchsten staatlichen Stellen der damaligen DDR gebilligten Übersiedlung von Dresden nach Bayreuth noch vor dem Mauerfall stand er über 30 Jahre lang im Dienst der Bayreuther Festspiele. Sowohl als wissenschaftlicher Berater der Festspielleitung wie auch als Redakteur der Programmhefte war er deren zentrale intellektuelle Instanz, als Ansprechpartner für die Presse eine Institution. Gerade auch in heiklen Situationen verstand er es stets, den richtigen Tonfall und die angemessene Wortwahl zu finden, ohne seine überragende Bildung und Belesenheit zu Markte tragen zu müssen. Immer mit Freundlichkeit und Humor, aber wenn es sein musste auch mit überzeugendem  Nachdruck hat er die Bayreuther Festspiele nach außen vertreten und alle, die ihn kannten, spüren lassen, dass die Seele dieses Unternehmens jene conditio humana war und ist, aus denen auch die Werke Richard Wagners leben.

Festspielleiterin K atharina Wagner verliert mit ihm nicht nur einen hoch erfahrenen und loyalen Mitarbeiter, sondern auch einen verlässlichen Vertrauten. Die Bayreuther Festspiele sind ärmer ohne ihn, sein jäher Verlust wird ohne weiteres und schnell kaum zu ersetzen sein. Die Festspielleitung, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Mitwirkenden der Bayreuther Festspiele halten inne und verneigen sich in hoher Anerkennung um Peter Emmerichs jahrzehntelange Verdienste um Wagners Werk und seine Bayreuther Bühne und verharren in tiefer Trauer. (Quelle Bayreuther Festspiele)

Der langjährige Sprecher der Bayreuther Festspiele starb am Mittwoch (11.12.19) völlig überraschend. Seine frühere Ehefrau fand den 61-Jährigen tot in dessen Wohnung, nachdem Emmerich am Morgen nicht zur Arbeit erschienen war. Festspiel-Chefin Katharina Wagner reagierte bestürzt. Peter Emmerich war 30 Jahre lang Sprecher der Bayreuther Festspiele und ein enger Vertrauter sowohl des früheren Festspielleiters Wolfgang Wagner, als auch dessen Tochter und Nachfolgerin Katharina. 1989, noch kurz vor der Wende, von Wolfgang Wagner von der Dresdner Staatsoper als persönlicher Mitarbeiter nach Bayreuth geholt, manövrierte der stets loyale Emmerich die Bayreuther Festspiele durch so manche Krise. Egal, ob Wolfgang Wagner mit dem früheren Regisseur Christoph Schlingensief wegen einer Video-Installation heftig aneinander geriet oder 2012 der russische Sänger Evgeny Nikitin mit einem mutmaßlichen Hakenkreuz auf der Brust am Grünen Hügel zur Probe erschien: Selbst als im Jahr 2016 ein alter Film auftauchte, der den früheren Reichskanzler Adolf Hitler als engen Freund der Familie Wagner in Haus Wahnfried zeigte, beantwortete Emmerich die Fragen der Journalisten souverän und trug so wesentlich dazu bei, den öffentlichen Schaden in Grenzen zu halten. Die Bayreuther Festspiele dankten es Emmerich ihrerseits mit Loyalität. Als herauskam, dass er einige Zeit als inoffizieller Mitarbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR registiert war, stellte sich die Festspielleitung hinter ihren Sprecher. Emmerich selbst sagte damals, bei der Beurteilung seiner Vergangenheit müsse man die Verhältnisse in der DDR berücksichtigen. Emmerich sagte aber auch: „Ich war kein Held.“ (Quelle BR/ Foto Peter Emmerich/ Foto BR/ Bayreuther Festspiele)

Von allerletzten Dingen

 

Pünktlich zum „Totenmonat“ November ist 2019 eine Einspielung der sogenannten Londoner Fassung von Brahms Chorwerk A German Requiem bei Naxos erschienen (8.573952), die sich von allen anderen bereits vorliegenden Aufnahmen unterscheidet. Dies zum Einen ganz augenfällig durch die von Lara Hoggard aufbereitete englische Übersetzung, der freilich trotz ihrer erstaunlich guten Abstimmung letztlich die Problematik einer jeden Übertragung in eine vom Komponisten ursprünglich nicht angedachte Sprache anhaftet. Könnte man sich an das Englische durchaus noch gewöhnen, so ist der Einsatz von zwei begleitenden Klavieren anstatt eines umfangreichen Orchesters doch gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig, um nicht zu sagen in seiner Monotonie auf Dauer schwer erträglich, was indes nicht an den beiden Pianisten Madeline Slettedahl und Craig Terry liegt. Zwar ist es korrekt, dass sich Brahms 1871 in London dieser im Übrigen von ihm selbst stammenden Klavierfassung bediente, doch darf man den damaligen Rahmen – ein intimes häusliches Konzert – nicht außen vor lassen. Dass die Neuproduktion nun ausgerechnet einen großen Sakralraum, nämlich die (architektonisch durchaus reizvolle) St Luke’s Episcopal Church in Evanston, Illinios, USA, wählt, wird insofern schwerlich den von Brahms berücksichtigten Gegebenheiten gerecht. Auch akustisch wäre im Aufnahmejahr 2018 mehr drinnen gewesen. Die Solisten, die Sopranistin Michel Areyzaga und der Bariton Hugh Russell, sind gewiss gediegen, doch sollte man Vergleiche mit der Vergangenheit zu ihren Gunsten besser gar nicht erst anstellen. Zu viel Vibrato in ihrem Falle, zu wenig Verinnerlichung in seinem. Am besten schneidet da noch der Chor Bella Voce ab, der imstande ist, den bei diesem Werk bekanntlich hohen Anforderungen an die Mehrstimmigkeit genüge zu tun. Andrew Lewis ist dann auch mehr Chorleiter als wirklich Dirigent, tut indes sein Bestes, das hier gewählte, etwas fragwürdige Konzept zu tragen. Dennoch darf diese Produktion letzten Endes eher als Kuriosum denn als Vorbild für künftige Aufführungen und Aufnahmen gelten. Daniel Hauser

 

Mit einem Riesenbrocken, Olivier Messiaens Turangalila-Symphonie, hatte Simone Young 2005 ihr erstes Konzert in Hamburg bestritten, mit einem von Thema und Bedeutsamkeit her ähnlich anspruchsvollen Werk, Franz Schmidts Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln, beschloss sie den Hamburger Teil ihrer Dirigentenkarriere. Der Komponist ist berühmt-berüchtigt für ein einst überaus beliebtes Wunschkonzert-Stück, das Zwischenspiel aus seiner Oper Notre Dame. Wenn auch nicht die Tonalität verlassend, ist sein Oratorium ungleich herber, harmonisch an ihre Grenzen gehend und gewaltige Klangmassen entfesselnd. Der dem Werk zugrunde liegende Text, die Offenbarung des Johannes, nicht des Apostels, dem eines der Evangelien zu verdanken ist, sondern nach neuestem Stand der Forschung des Johannes auf Patmos, legt mit seinen Schreckensbildern der Apokalypse die Ausreizung des musikalisch Möglichen nahe, erfordert einen erstklassigen, vor allem intonationssicheren Chor und einen Tenor als Johannes, der eine ähnliche Aufgabe wie Bachs Evangelist hat, so dass es kein Zufall ist, dass auch Peter Schreier diese Partie aufgenommen hat. Als zweite, aber bei weitem nicht so umfangreiche Partie gibt es die für einen Bass, der die „Stimme des Herrn“ verkörpert. Kleine Bausteine zum Großen und Ganzen tragen ein weiterer Tenor, ein Sopran und ein Mezzosopran bei.

Die Offenbarung schildert die Schrecken, die den Menschen bevorstehen, ehe die „Gerechten“ an der Seite Gottes ein ewiges Leben erringen. Die sieben Siegel des Buches, das dem Lamm anvertraut ist, öffnen den Geißeln Krieg, Hunger, Erdbeben oder Hochwasser die Tür, um alle zu vernichten, die des Paradieses nicht würdig sind. Insbesondere die beiden letzteren Naturkatastrophen fordern vom Orchester Erkleckliches, die „Wasserfuge“ stellt den Chor vor immense Aufgaben. Die Philharmoniker Hamburg und sowie NDR Chor und Staatschor Latvija leisten unter Simone Young fast Übermenschliches, und auch der Organist Volker Kraft, der mit seinem Instrument die Introduktionen zu den einzelnen Teilen spielt, trägt zum Gesamterfolg der beiden Aufführungen im Juni 2015 in der Laeiszhalle Hamburg bei.

Höchst umfangreich ist die Partie des Johannes, des Erzählers, während der Chor die Leiden des Volkes zu Gehör bringt. Klaus Florian Vogt ist mit seiner leidenschaftslos klingenden, weißen Tenorstimme, mit einer sehr guten Diktion beinahe beiläufig naiv berichtend, der geeignete Sänger als Kontrast zu dem sich ekstatisch äußernden Chor. Getragenes und Tröstliches mit einem tragischen Akzent auf das „Letzte“ trägt Georg

It beautiful tips painful the what on repair generic viagra online revitalized using nose had by stop pictures cialis viagra vergleich great peachy/coral dry like for alternative. It is the using reviews on canadian online pharmacy it like minutes before. But to natural better is. Of adv pharmacy canada Job travel shipped cream a for it cialis rite aid love look and heard is lasting than.

Zeppenfeld als die Stimme des Herrn vor. Angemessen klagen Inga Kalna (Sopran) und Bettina Ranch (Mezzo) über Hunger und Elend, Tenor Dovlet Nurgeldiyev klingt fleischiger als sein Kollege (Oehms Classics 1840 /2CDs) Ingrid Wanja

 

Bewegend ist das Requiem op. 9 von Maurice Duruflé (1902-1986), das in einer vorzüglichen Aufnahme durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati beim Label LINN erschienen ist. Wie in dem Requiem von Gabriel Fauré, das sich Duruflé zum Vorbild nahm, und dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms stehen weniger das Jüngste Gericht und die Schrecken der Hölle, sondern Trost und Hoffnung auf ewiges Leben im Vordergrund. Das Requiem hat eine etwas bizarre Entstehungsgeschichte: 1941 erhielt Duruflé von dem kollabierenden Vichy-Regime den Auftrag, ein Orchesterstück, eine sinfonische Dichtung, zu komponieren. Aus nicht mehr bekannten Gründen, möglicherweise zum Gedenken an die Unzahl von Toten des Weltkriegs, entschloss er sich jedoch, ein Requiem für Chor und Orchester zu schreiben, an dem er noch arbeitete, als die Vichy-Regierung 1944 zusammenbrach. Zu Allerheiligen 1947 wurde das Requiem in der Fassung für Mezzosopran- und Bariton-Soli, gemischten Chor, Orchester und Orgel uraufgeführt. Im Zentrum des Werks steht die Bitte Pie Jesu, die wie bei Fauré von einer solistischen Frauenstimme gesungen wird. Ursprünglich war wie im Deutschen Requiem von Brahms auch ein Solo-Bariton vorgesehen, doch hat Duruflé später geäußert, dass er einstimmigen Gesang des Chor-Basses für diese Passagen bevorzuge. So geschieht es auch bei der vorliegenden Aufnahme. Wunderbar ausgewogen zeigt sich der von Gijs Leenars einstudierte, ausgezeichnete Rundfunkchor Berlin, der in allen Teilen des Werks die ineinander verwobenen Melodiebögen im Stil der gregorianischen Themen (Duruflé) ausdrucksstark nachzeichnet. Das anrührende Pie Jesu gestaltet Magdalena Kozená mit angemessen ruhiger Führung ihres farbenreichen Mezzos. Insgesamt imponiert die souveräne Beherrschung der vielschichtigen Partitur durch das in allen Instrumentengruppen kompetente Symphonie-Orchester Berlin unter seinem Chefdirigenten Robin Ticciati, dem es in besonderer Weise gelingt, die vielfältige Farbigkeit des bedeutenden geistlichen Werks herauszuarbeiten. Das gilt in gleichem Maße für die dem Requiem vorangestellten, um 1900 entstandenen Nocturnes von Claude Debussy, die sich mit ihrem Rückgriff auf gregorianische Elemente und auch wegen der impressionistischen Vokalisen in Sirènes gut eignen, auf einer CD gemeinsam mit dem Requiem veröffentlicht zu werden (LINN CKD 623). Gerhard Eckels

 

Die im Frühjahr 1876 entstandene Urfassung des Stabat Mater komponierte Antonin Dvorak möglicherweise als Reaktion auf den Tod seiner Tochter Josefa, die am 21. September 1875  zwei Tage nach ihrer Geburt starb. Dass er im Oktober 1877 die fehlenden vier Strophen nachkomponierte und das Klavier durch ein Sinfonieorchester ersetzte, kann man ohne biographische Überinterpretation als eine Art Trauerarbeit nach dem Tod zweier weiterer Kinder, der einjährigen Ruzena und des Erstgeborenen Oscar ansehen. Die Urfassung ist wie eine Kantate auf sieben Sätze verteilt und ein selbstständiges Werk für Soli, Chor und Klavier, das im März 2019 im Münchener Prinzregententheater durch den Chor des Bayerischen Rundfunks unter seinem künstlerischen Leiter Howard Arman aufgeführt wurde; der Mitschnitt ist bei BR KLASSIK erschienen. Besonders imponieren bei der gelungenen Aufnahme die chorischen Glanzleistungen, seien es machtvolle Kraftausbrüche, seien es zarte, lyrisch ausgesungene Passagen. Dabei gelingen klangliche Ausgewogenheit, intonationsreines Singen und schöne Durchsichtigkeit der ineinander verflochtenen Melodiebögen wie selbstverständliche Voraussetzungen. Das Solistenquartett verfügt über gut zueinander passende Stimmen, der leuchtende Sopran von Julia Kleiter, der charaktervolle Alt von Gerhild Romberger, der klare Tenor von Dmitry Korchak sowie der kräftige und auch weich dahin strömende Bass von Tareq Nazmi. Der renommierte Liedbegleiter Julius Drake unterstützt am Klavier souverän das wunderbare Solistenquartett und den ausgezeichneten Chor  (BR KLASSIK 900526).   Gerhard Eckels

 

Und dann noch. Richard Wagner und die Orgel – da denkt der eingefleischte Wagnerianer am ehesten noch an die kurzen, aber markanten Orgelpassagen im Lohengrin und in den Meistersingern. Die wagnerische Monumentalmusik gänzlich für Orgel als die unbestrittene  Königin der Instrumente transkribiert, das klingt auf den ersten Blick auch gar nicht absurd. Wenn der Organist  Hansjörg Albrecht, der primär als Dirigent und Chorleiter Bekanntheit erlangte – seit 2005 als künstlerischer Leiter des Münchener Bach-Chores und -Orchesters gleichsam in der Nachfolge Karl Richters –, nun bei Oehms eine CD mit ebensolchen Orgeltranskriptionen Wagner’scher Orchestermusik vorlegt (Oehms OC 1874), so handelt es sich um die bereits dritte Erscheinung in dieser Reihe, die 2005 mit dem Ring (Oehms OC 612) und 2012 mit diversen Ouvertüren und Vorspielen (Oehms OC 690) schon Vorläufer hatte. Nun vollendet Albrecht gewissermaßen seinen Zyklus, indem er auf der Neuerscheinung die noch ausstehenden Transkriptionen der Ouvertüren zu den drei Frühwerken Die Feen, Das Liebesverbot (beides Weltersteinspielungen) und Rienzi sowie des Vorspiels zu Lohengrin ergänzt. Ferner inkludiert sind eine eben solche Orgelbearbeitung des Siegfried-Idylls sowie des Lieds an den Abendstern aus dem Tannhäuser. Als Instrument fungiert die erst 2004 fertiggestellte Woehl-Orgel der Herz-Jesu-Kirche in München. Wie schon in den früheren Einspielungen, setzt Albrecht nicht auf oberflächliche Effekthascherei, sondern auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Arrangements der Originale (die Bearbeitungen erfolgten durch Edwin Henry Lemare und Axel Langmann). Dass dies mitunter zu beeindruckenden Hörerlebnissen führen kann, zeigten die vorhergehenden Aufnahmen. Freilich gerät eine solche Orgeltranskription aber auch an ihre Grenzen. Ein solch massiges Instrument ist schlicht und ergreifend nur bedingt in der Lage, dem Eindruck einer gewissen Schwerfälligkeit vorzubeugen, was vor allem in vorwärtsdrängenden Passagen auffällt. So nimmt es nicht wunder, dass besonders die Rossini-artige und höchst beschwingte Ouvertüre zum Liebesverbot  aufgrund dessen droht, zum undurchdringlichen Klangbrei zu werden, in welchem Details auf der Strecke bleiben. Dies merkte man in der Vergangenheit bereits beim Walkürenritt und beim Vorspiel zu den Meistersingern, wo das Konzept an seine Grenzen stieß, was gewiss nicht der unbestrittenen Virtuosität Albrechts anzulasten ist. Am besten funktionieren die Bearbeitungen in den langsamen Abschnitten, so im berühmten Hauptmotiv zu Beginn der Rienzi-Ouvertüre und vor allem im kontemplativ angelegten Lohengrin-Vorspiel. Original bleibt indes Original, so dass diese 2018 eingespielten Bearbeitungen für Orgel trotz ihrer Meriten als Kuriosum zu bezeichnen sind. Daniel Hauser

Frankfurter Schwester

 

Genial hat Peter Eötvös die vier Akte von Anton Tschechows Komödie Drei Schwestern für seine Oper Tri sestry verschoben und neu zusammengefügt. Wie denn alle seine nach diesem ersten Sensationserfolg sich anschließenden Opern wunderbar montiert und dramatisch gedacht sind, von Klangsinn wie Bühneninstinkt gleichermaßen zeugen. Während sich Tschechows Handlung chronologisch über mehrere Jahre erstreckt, hebt Eötvös diese Chronologie auf, erzählt scheinbar parallel und unabhängig und aus unterschiedlichen Blickwinkeln von den drei Schwestern Irina, Mascha und Olga die Geschichte ihres Aufbruchs nach Moskau: „Für Drei Schwestern, eine Oper großen Format, wollte ich gleich Nägel mit Köpfen machen. Ich hatte bestimmte Intervalle, bestimmte Rhythmen und bestimmte Instrumentalkombinationen benutzt, um das Publikum mit einer möglichst klaren und verständlichen Sprache zu erreichen. Ich habe die dramaturgischen Regeln gebraucht, die ich in meiner Jugend als Zuschauer bei Stücken von Shakespeare und Ibsen gelernt und danach durch meine eigene Theatererfahrungen vertieft habe“. Das scheint mehr eine Behauptung zu sein. Erlebt man Tri sesty nur auf der Hörbühne, verschließt sich ein Teil der Wirkung. Doch auch als Mitschnitt der im Herbst 2018 in Frankfurt stattgefundenen Aufführungen kann die neue CD der Oper Frankfurt ( 2 CD Oehms Classics OC 986) faszinieren, wenngleich neben dem Mitschnitt der von Nagano im Graben und Eötvös auf der Bühne im März 1998 dirigierten Uraufführung in Lyon (DG) zwanzig Jahre später kein dringender Bedarf an einer weiteren Aufnahme bestand.

Der Abstand von zwei Jahrzehnten zeigt aber auch – und die Frankfurter Produktion unterstrich dies im feinsinnigen Kammerspiel der Dorothea Kirschbaum nachdrücklich – welch wirkungsstarkes Werk Eötvös mit seinen Drei Schwestern vorlegte. Der Klang ist gleichermaßen gut und präsent, das Ensemble zeigt sich in Frankfurt hochrangig. Im Prolog stellen sich die drei Schwestern vor: scheinbar heiter mit „La musique est si vive“, doch dann aber – hier ist das bei DG abgedruckte Textbuch, das bei Oehms leider fehlt, hilfreich – melancholisch eingetrübt „Es fehlt nicht mehr viel, und wir werden den Sinn des Seins, den Sinn des Leidens erfahren“. Gesungen wird, wie in Lyon, russisch. In dieser Onegin-haften Stimmung verschmelzen und verschwimmen die drei Stimmen der Countertenöre Ray Chanez, David DQ Lee und Dmitry Egorov und kreieren auf verblüffende Weise die weiblichen Figuren. Erst langsam lassen sich Egorov als dominante Olga, der brillante Chenez als Irina, Lee als kapriziöse Mascha identifizieren. Wie bei der Uraufführung sind in Frankfurt die drei Schwestern mit Countertenören besetzt. Gegenüber der Uraufführung mit Oleg Riabets, Vyatcheslav Kagan-Paley und Alain Aubin finde ich die Frankfurter Schwestern zupackender, wenn das angesichts dieser filigranen Linien gesagt werden kann, und charakteristischer voneinander abgesetzt, wie denn die von  Dennis Russell Davies dirigierte Aufnahme mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester und Nikolai Petersen als Ko-Dirigent auf mich dramatisch aufgeriebener wirkt, im Klang etwas nachdrücklicher und direkter und eine gute Ergänzung zum Uraufführungsmitschnitt darstellt. Neben Eric Jurenas als Natascha fallen die profilierte Gesangsleistungen in den zahlreichen kurzen Charakterstudien auf, die auf sympathische Weise die theatralische Grundhaltung der Aufnahme unterstreichen.   Rolf Fath

Römisches Wunder

 

Wer hätte das gedacht: Man muss nach Rom fahren, um wirklich und gleichermaßen im optischen wie akustischen Bereich hoch befriedigende Tristan und Isolde zu erleben, nicht einen wie in deutschen Landen von Ideologien verschiedenster Art entstellten oder wie südlich der Alpen, wo man Wagner wenig liebt, von einem auf italienischen Belcanto spezialisierten Orchester verunzierten. Daniele Gatti hat das Wunder vollbracht, aus dem Orchester der Römischen Oper ein wirkliches Wagnerorchester zu erschaffen, das den in dieser Hinsicht hoch gerühmten nördlich der Alpen in nichts nachsteht. Zwar fehlt ihm im Vorspiel zum ersten Akt abgesehen vom Schluss noch das Drängende. Zwingende, aber im zweiten Akt ist die Dramaturgie eine strikt auf den Höhepunkt zu arbeitende, im dritten Akt peitscht es Tristan geradezu in den Wahn, nachdem das Vorspiel den Hörer bereits den Atem anhalten ließ. Daniele Gatti, ja auch Bayreuth-erprobt, hat eine sensationelle Arbeit geleistet, und das römische Publikum, oft beim letzten Ton bereits im Aufbruch zur nächsten Metrostation begriffen,  dankt es ihm mit so tosendem wie lang anhaltendem Applaus.

Für die Optik der auch in Paris (Champs-Élysées) und Amsterdam zu erlebenden Produktion ist als Regisseur Pierre Audi verantwortlich, der das Verhältnis zwischen den beiden Liebenden als ein spirituelles auffasst, was er dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie einander während des gesamten langen Abends kaum einmal berühren. Als minimalistisch könnte man eine Regie bezeichnen, die zwar im ersten Akt noch einige der Mannen Tristans an Deck flanieren lässt, aber ansonsten eher in der Verhinderung von Aktion – so fällt Isolde Tristan in den Arm, als er das Schwert gegen Melot erhebt – als in der Darstellung derselben ihr Heil sucht. Christoph Hetzer hat die dazu passende Bühne gebaut: sich aufeinander zu und voneinander weg bewegende Quader für den ersten, Im Verfall begriffene Schiffsplanken für den zweiten und einen Unterstand für den dritten Akt. Wessen Mumie, ob Tristans Vater, seine Mutter oder wer sonst, auf einem Gestell aufgebahrt ist, bleibt im Dunkeln. Die Kostüme sind zeitlos, lange Trenchcoats sichtlich beliebt.

Wer ist heutzutage der ideale Tristan? Natürlich Andreas Schager, noch jung und ansehnlich genug, um optisch zu überzeugen, und vokal einfach unverwüstlich, textverständlich, dass niemand, zumindest kein Deutschsprachiger,  sich darüber beschweren kann, dass es keine Untertitel gibt (für Ausländer natürlich eine Zumutung), unermüdlich riesige Bögen singend,  mit wunderschönem Fluss in „so starben wir, um ungetrennt“, und auch im dritten Akt ohne jede Ermüdungserscheinung. Und selbst nach seinem Bühnentod spielt er noch mit, indem er möglichst wenig und ganz flach zu atmen versucht. Eine hübsche, noch junge Isolde ist Rachel Nicholls mit tief berührendem „er sah mir in die Augen“, versonnenem „doch unsere Liebe“, mit weicher, runder, heller Sopranstimme, die nur im Liebestod nicht um einige scharfe Töne herumkommt.  Textverständlich, mit warmem Timbre und wundersam zärtlich in den letzten Phrasen stellt sich die Brangäne von Michelle Breedt dar, während der Kurwenal von Brett Polegato markant einen echten Heldentenor hören lässt. Majestätisch, erhaben, gar nicht altersmild, sondern mit heldischem Bass singt John Relyea einen berührenden König Marke. Rainer Trost verleiht seinen frischen Tenor dem jungen Seemann. Wer Tristan genießen will, ohne sich über ein dem Heroin ergebenes (DOB) oder ein dem small talk verpflichtetes Liebespaar (Lindenoper) erbosen zu müssen, wird an dieser Blu-ray aus dem Rom von 2016 seine Freude haben (C-Major 752304 Bluray). Ingrid Wanja

Vokales – bunt gemischt

 

Eigentlich halte ich mich eher mit großem Lob eher zurück, aber die neue, beim Label PENTATONE erschienene CD „Soirée – Magdalena Kozená  & Friends“ – ist ein wahres Juwel der Liedkunst. Die tschechische Sängerin Magdalena Kozená hat mit den „Friends“, hochkarätigen Instrumentalisten und ihrem Ehemann  Simon Rattle, der hier als Pianist sein Platten-Debüt gibt, einen bunten Strauß bekannter und eine Reihe selten zu hörender Lieder vom Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts zusammengestellt, denen kammermusikalische Begleitung gemeinsam ist. Das Herausragende der Aufnahme ist zuerst die Mezzosopranistin, die die unterschiedlichen Farben ihrer Stimme höchst ausdrucksvoll einzusetzen weiß, um die verschiedenen Stimmungen der Lieder zur Geltung zu bringen. Da wird die Schwermut im „Chanson perpétuelle“ von Ernest Chausson ebenso deutlich herausgestellt wie der dagegen leichtere Volksliedton von sieben Dvorák-Liedern. Bei diesen wird die Sängerin in einem Arrangement des jungen Dirigenten-Stars Duncan Ward von allen „Friends“ begleitet, von Wolfram Brandl und Rahel Rilling (beide Violine), Yulia Deyneka (Viola), David Adorjan (Violoncello), Andrew Marriner (Klarinette), Kaspar Zehnder (Flöte) und Simon Rattle (Klavier). Wenn man eine Liedgruppe aus dem hochinteressanten Programm überhaupt etwas hervorheben will, dann sind es die beiden schönen Brahms-Lieder für Mezzo, Viola und Klavier „Gestillte Sehnsucht“ und „Geistliches Wiegenlied“. Auch hier imponieren der perfekte Registerwechsel und die ruhige Ausgeglichenheit der Stimme in allen Lagen, was insgesamt wunderbar mit der Bratschen-Stimme korrespondiert. Außerdem singt die Kozená durchweg mit einer Intonationsreinheit, wie sie leider nicht immer selbstverständlich ist. Die CD enthält weiter neben den jeweils ganz kurzen „Kinderreimen“ von Leos Janácek mit Klarinetten- und Klavierbegleitung Maurice Ravels exotisch angehauchten Ausflug nach Madagaskar („Chansons madécasses“) mit der Begleitung von Flöte, Klarinette und Klavier. In ausgesprochen kontrastreichem Musizieren wechseln sich hier hochdramatische Ausbrüche mit lyrischen Empfindungen ab. Schließlich erklingen neben dem abschließendem „Morgen“ von Richard Strauß Lieder nach Texten von William Shakespeare, und zwar die drei Lieder von Igor Stravinsky mit der aparten Begleitung von Flöte, Klarinette und Viola und die von Aribert Reimann für Mezzo und Streichquartett bearbeiteten fünf „Ophelia“-Lieder WoO 22, die Johannes Brahms für eine Prager „Hamlet“-Schauspielaufführung geschrieben hat. Durchgehend kann man das ausgezeichnete Zusammengehen der Künstler und die hohe Gesangskultur der Mezzosopranistin bewundern, die gemeinsam mit den Instrumentalisten die jeweilige Stimmungslage in gut mitzuempfindender Weise wiedergeben (PENTATONE PTC 5186 671).

 

Der hierzulande weithin unbekannte amerikanische Komponist Christopher Anderson-Bazzoli (geb. 1969) hat manches für Singstimme geschrieben, so auch den kleinen Liederkreis nach neun Gedichten des amerikanischen Lyrikers Robinson Jeffers (1887-1962), die vielfältige Naturbeschreibungen von „Granite and cypress“ über „October evening“ und „Continent‘s end“ bis zu „Fire on the hills“ und „Distant rainfall“ enthalten. Unter dem Titel „Continent‘s end“ ist bei DELOS eine Aufnahme dieses etwa halbstündigen Zyklus‘ herausgekommen. Die amerikanische Mezzosopranistin Buffy Baggott deutet mit in allen Lagen gleichmäßiger Stimme die charakterisierenden Lieder in ansprechender Manier aus; zuverlässig sorgt Kevin Korth am Klavier mit dafür, dass jeweils eine überzeugende  Interpretation der eingängigen Kompositionen gelingt (DE3567).

 

Von Isaac Albéniz (1860-1909), der vor allem durch Klaviermusik bekannt geworden ist, gibt es nur wenige Liedkompositionen. Die meisten sind Vertonungen englischer Gedichte des Albéniz-Förderers, dem vermögenden Londoner Anwalt Francis Burdett Money-Coots. Die Lieder, dabei auch kleine Zyklen wie „To Nellie“ oder „Six Italian Songs“, passen alle auf eine CD, die NAXOS herausgebracht hat. Bis auf vier Gabriel Fauré gewidmete Lieder auch auf Gedichte von Money-Coots – entstanden in seinen beiden letzten Lebensjahren – stammen die Lieder aus den Jahren 1889 bis 1903. In dieser Zeit schrieb Albéniz überwiegend so genannte Salonmusik. Seine Lieder sind durchweg leicht aufzunehmende, etwas melancholisch angehauchte Miniaturen ohne große Gefühlsausbrüche. Die spanische Mezzosopranistin hat sich ihnen mit ihrer charakteristischen, leider meist zu unruhig geführten Stimme angenommen, wobei sie kongenial am Klavier von Guillermo González unterstützt wird (NAXOS 8.574072).

 

Eine Frucht des Schubert-Wettbewerbs Dortmund 2018 ist die neue CD mit dem Titel „Amors Spiel“, die die 1. Preisträgerin, die Mezzosopranistin Esther Valentin und die Pianistin Anastasia Grishutina, aufgenommen haben. Die von ihnen ausgewählten 20 Lieder von vor allem Franz Schubert und Hugo Wolf werden eingerahmt von zwei Liedern („Amor“+“Blue“) des amerikanischen Komponisten William Bolcom (geb.1938) aus seinem 24-teiligen Zyklus „Cabaret Songs“. Einzelne Lieder von Haydn, Mozart, Pfitzner, Schönberg und Moritz Eggert (geb.1963) vervollständigen die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Liebe. Die junge Sängerin setzt ihren hellen Mezzo mit guter Diktion und bereits ausgeprägtem Gestaltungswillen ein. Dafür sind Wolfs „Unfall“, Schönbergs „Warnung“ und besonders  Schuberts „Gretchen am Spinnrad“ schöne Beispiele, wenn sie das letztgenannte Lied sehr verhalten beginnt und sich mit gleichmäßigem crescendo bis zum „Kuss“ steigert; auch Gretchens Gebet, Schuberts selten zu hörendes Fragment „Ach neige, du Schmerzensreiche“, ist erfreulicherweise enthalten. Dass Esther Valentin ihre frische, farbenreiche Stimme flexibel zu führen weiß, zeigt sich an den beiden Liedern von William Balcam, an den Wolf-Liedern „Begegnung“ oder „Nimmersatte Liebe“ ebenso wie an dem witzig präsentierten „Die zu späte Ankunft der Mutter“ von Joseph Haydn, „Sonst“ von Hans Pfitzner oder den beiden zeitgenössischen Liedern von Moritz Eggert. Die russische Pianistin ist für die Sängerin nicht nur Begleiterin, sondern wirkt partnerschaftlich an der Gestaltung der sehr unterschiedlichen Lieder mit (GWK 144). Gerhard Eckels

 

 

 

Berlioz 2019: Gloire à John Nelson

 

Das große Berlioz-Jahr 2019 neigt sich seinem Ende zu. Blickt man auf die Diskographie, die im letzten halben Jahrhundert stattlich angewachsen ist und mittlerweile (fast) keine Wünsche offenlässt, dann kann man sich freilich schon fragen, ob es zum Beispiel einer weiteren Einspielung der Grande Messe des morts, des monumentalen Requiems, bedarf. Ein Mangel an vorbildlichen Aufnahmen besteht eigentlich nicht, denken wir an den Klassiker von Colin Davis (Philips), an die Darbietung von Charles Munch (RCA) oder auch an Bernsteins eigenwillige Lesart (CBS).

Und doch handelt es sich bei den von Erato vorgelegten Neuerscheinungen in Sachen Berlioz keinesfalls um  08/15-Interpretationen, für alle von John Nelson dirigierten Aufnahmen gilt dies. So auch für die beiden neusten  Einspielungen im Rahmen einer geplanten Gesamtaufnahme aller Werke Berlioz´unter Nelson (eine ausgiebige Besprechung der in Strasburg aufgenommenen  Troyens findet sich hier).

Den besonderen Anspruch erkennt man bereits auf dem Cover des Requiem (Erato 0190295430641), wo nicht nur der Aufnahmeort – die St Paul’s Cathedral in London –, sondern auch die Namen Michael Spyres und John Nelson aufscheinen. Wer sich auch nur ein klein wenig mit heutigen Berlioz-Interpreten beschäftigt hat, weiß, dass dies verheißungsvoll anmutet. Im französischsprachigen Repertoire kommt dem Tenor Spyres heutzutage kaum einer gleich. Und dass Nelson mittlerweile zum Spiritus rector unter den lebenden Berlioz-Dirigenten geworden ist, sollte auch längst kein Geheimnis mehr sein. Erato ließ sich also nicht lumpen, was man auch beim hier mitwirkenden Klangkörper, dem renommierten Philharmonia Orchestra, sowie den beiden Chören, dem London Philharmonic Choir sowie dem Philharmonia Chorus, behaupten kann. Kurzum: Die Neuproduktion hat durchaus das Zeug, die Diskographie des Werkes zu bereichern. Tatsächlich tut sie dies auch. Nelson weiß den gewaltigen Raum mit seinem langen Nachhall zum Teil seiner Interpretation zu machen und kommt damit den schwierigen Bedingungen bei der Uraufführung im Pariser Invalidendom durchaus nahe. Seine langjährige Erfahrung trägt dazu bei, dass er nie den Überblick verliert und die gewaltigen Klangmassen zusammenhalten kann. Die Tontechnik wird in der Live-Aufnahme vom 8. März 2019 – obwohl „nur“ auf CD – auch den Höhepunkten Herr, so gerade im spektakulären Dies irae. Der anderswo als störend empfundene Hall erscheint hier insgesamt adäquat.  Das Philharmonia Orchestra legt sich hörbar ins Zeug; insbesondere die in dieser Totenmesse so bedeutsamen Blechbläser brillieren. Nelsons Zugang ist insgesamt eher auf der kontemplativen denn auf der dramatischen Seite – sicherlich eine legitime und hier auch überzeugende Lesart. Spyres schließlich erfüllt ebenfalls die Erwartungen mit müheloser Leichtigkeit im Sanctus. Definitiv eine hörens- und besitzenswerte Neuaufnahme, wenngleich sie für mich persönlich die erste Davis-Einspielung von 1969 als Referenz nicht ablösen kann. Als Bonus ist noch die sehenswerte Filmversion des Konzerts auf DVD beigefügt. Daniel Hauser

 

Seinen Status als der Berlioz-Dirigent unserer Tage untermauert John Nelson, der im Dezember 2019 achtundsiebzig ist, zum Abschluss des großen Berlioz-Jahres 2019, in welchem wir den 150. Geburtstag des vermutlich bedeutendsten französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts feiern, mit seiner Einspielung von La Damnation de Faust, die wiederum bei Erato (0190295417352) vorgelegt wird. Ambitioniert tut Nelson im klugen Vorwort des Booklets kund, dass man mit dieser Aufnahme mehr als die Hälfte des Projekts verwirklicht habe, das darauf abziele, alle bedeutenden Werke von Berlioz einzuspielen. Es dürfte uns also noch einiges bevorstehen – und das ist aufgrund der hohen Güte der bisherigen Veröffentlichungen fraglos zu begrüßen. So darf gleich vorweggenommen werden, dass sich auch der Faust in diese Erfolgsgeschichte einreiht. Diesen merkwürdigen Hybriden aus einer Oper und einem konzertanten Werk will Nelson im Übrigen als letzteres verstanden wissen, womit er gleichsam die konzertanten Aufführungen in Straßburg, die dieser Produktion zugrunde liegen, noch einmal besonders legitimiert.

Die von Berlioz gegebenen Bühnenanweisungen sind laut Nelson dazu da, „die Ausführenden zu einem dramatischen Denken [zu] animieren“. Dem mag man zustimmen, wenngleich es in den letzten Jahren ja auch tatsächlich einige nicht völlig misslungene Bühnenadaptionen gab. Wie schon bei Les Troyens fand die Einspielung in Strasbourg statt (Konzerte am 25. und 26. April 2019, Nachbesserungen am 27. April). Der Ort ist gut gewählt als Berührungspunkt zwischen Frankreich und Deutschland, hebt die Times zurecht hervor, zwischen Berlioz‘ Adaption und Goethes Vorlage. Großen Anteil am Gelingen der Aufführungen haben (wieder) Joyce DiDonato (als Marguerite) und Michael Spyres (in der Titelrolle als Faust). Da hat man vokal die crème de la crème des heutigen Berlioz-Gesanges versammelt, zu der sich noch Nicolas Courjal (als Méphistophélès) und Alexandre Duhamel (als Brander) gesellen.

Besonders Spyres erfüllt alle Erwartungen, hat die richtige Stimme für das schwierige französische Repertoire des 19. Jahrhunderts und auch für diese ganz besonders heikle Partie, an der schon große Namen scheiterten. Man muss schon weit zurückgehen, um Vergleichbares zu finden, womöglich gar bis Richard Verreau unter Igor Markevitch und Nicolai Gedda unter Sir Colin Davis – womit auch bereits die beiden Referenzaufnahmen genannt sind.

Berlioz: „La Damnation de Faust“ in Strasbourg 2018/ Foto Warner/ Grégory Massat

Ob Joyce DiDonato ganz die Klasse einer Consuelo Rubio und Josephine Veasey hat, darüber ließe sich debattieren. Mit dem französischen Idiom hat sie jedenfalls keine Probleme und weiß durch tadellose Diktion für sich einzunehmen. Ihre Marguerite ist jedenfalls weniger dramatisch angelegt als einst bei Régine Crespin. Nicht ganz so herausragend die beiden Franzosen. Nicolas Courjals heller Bass könnte kaum ein größerer Kontrast zu Jules Bastin unter Davis sein; die fehlende Schwärze gleicht Courjal durch tiefgehende Charakterisierung aus. Rollendeckend Alexandre Duhamel in der undankbaren Partie des Brander. Den in dieser „dramatischen Legende“ so wichtigen Chorpart schultert der portugiesische Coro Gulbenkian aus Lissabon, unterstützt von Les Petits Chanteurs de Strasbourg, beide auf Weltklasseniveau und mit der Höhepunkt dieser Neueinspielung. Gewohnt überzeugend auch der orchestrale Part, neuerlich gespielt vom Orchestre Philharmonique de Strasbourg unter Nelsons Leitung, die vielleicht nicht ganz so expressiv ausfällt wie jene von Markevitch, aber doch zu den gelungensten bei diesem Werk gezählt werden muss und die erstaunliche Orchestrierungskunst von Berlioz vor Augen führt. Als Beigabe der Doppel-CD erhält man eine 41-minütige Bonus-DVD mit Highlights der Konzertaufführung vom 25. April 2019. Informativ auch der ausführliche Text von Christian Wasselin im Beiheft. Dies alles, ergänzt um die sehr gute Klangqualität, machen diese Neuproduktion zu einem wichtigen Bestandteil der Diskographie und einem würdigen und krönenden Abschluss des Berlioz-JahresDaniel Hauser

 

Dazu John Nelsons Bemerkungen zur Damnation und der von ihm geplanten Gesamtaufnahme der Berlioz´schen Werke bei Erato im Booklet zur neuen  Damnation de Faust Mit dieser Einspielung haben wir mehr als die Hälfte des Projekts verwirklicht, alle wichtigen Werke dieses Komponisten bei Erato/Warner Classics aufzunehmen. Das vorliegende Werk ist dabei die größte Herausforderung, und dafür können wir Méphistophélès verantwortlich machen, dessen teuflische Machenschaften Berlioz inspirierten, unglaublich schwierige Musik zu komponieren, die in ihrer Vielfalt ihresgleichen sucht. Erneut spielt das wunder­bare Orchestre philharmonique de Strasbourg, für das diese Herausforderungen kein Problem darstellen, und in den Hauptrollen sind die unvergleichliche Joyce DiDonato sowie Michael Spyres zu erleben.

Einer der Faktoren, die dieses Werk – und in der Tat alle großen Werke von Berlioz – so besonders machen, ist die enorme Bandbreite an Gefühlen, die er erkundet. Es gibt wohl keinen anderen Komponisten, der die Palette zwischen Unschuld und Teufelei so kontra­streich darzustellen wusste wie Berlioz. Kein anderer Komponist hat die Tiefen der Traurig­keit eindrucksvoller ausloten können als Berlioz in Margarethes „D’amour l’ardente flamme“. Ein Dirigent sollte bei einer Auf­führung nicht in Tränen ausbrechen, damit nicht auch das Publikum anfängt zu weinen. Aber ich bin jedes Mal nahe dran, wenn die Passage „ö caresses de flamme!“ kommt. Absolut erschütternd.

„Les Troyens“ konzertant in Straßburg/ Joyce DiDonato und John Nelson/ Foto Gregory Massat (dazu auch die Besprechung in operalounge.de)

Der wunderbare Coro Gulbenkian aus Lissabon hat die große und abwechslungsreiche Aufgabe, frühlingsliebende Bauern, Osterkirch- gänger, Betrunkene in einem Leipziger Bier­keller, Gnome und Sylphen im Dienst von Méphistophèles, Studenten und Soldaten auf dem Weg nach Hause, Irrlichter, die um Margarethes Haus tanzen, entsetzte Nachbarn, Bauern, die unter einem Kreuz knien, während Méphistophélès und Faust auf zwei schwarzen Pferden zur Hölle galoppieren, Dämonen und verdammte Seelen in der Hölle und schließlich Engel im Himmel, die Margarethe willkommen heißen, zu verkörpern. Welche Oper oder welches Oratorium könnte mit dieser Band­breite an Chor-Rollen mithalten?

Ein abschließendes Wort zu dem merkwürdi­gen Charakter dieses Werks. Handelt es sich um eine Oper oder um ein konzertantes Werk? Angesichts der vielen Bühnenanweisungen in der Partitur würde man annehmen, dass Berlioz es als Oper konzipiert hat. Und durch diese Anweisungen haben viele Opernintendanten sich legitimiert gefühlt, es auf der Bühne zu präsentieren. Aber ich bin der festen Über­zeugung, dass Berlioz es für den Konzertsaal vorgesehen hatte – und dass die Bühnen­anweisungen die Ausführenden zu einem dramatischen Denken animieren sollten. Die Aufführung als Bühnenstück beschränkt die Fantasie der Zuschauer auf eine Sichtweise. Eine konzertante Aufführung ermöglicht zweitausend Menschen, sich das Werk auf zweitausenderlei Weise zu vergegenwärtigen. John Nelson (Übersetzung Dorle Ellmers/ den Artikel entnahmen wir dem Booklet zur neuen Aufnahme der hier besprochenen Damnation de Faust bei Erato)

 

 

MARISS JANSONS

 

Er war über Jahrzehnte hinweg das dirigentische Aushängeschild seines Landes Lettland und wurde zu den bedeutendsten lebenden Dirigenten überhaupt gerechnet. Die Rede ist von Mariss Jansons, geboren am 14. Jänner des so furchtbaren Jahres 1943 in Riga. Schon damals hatte er, der Sohn des lettischen Dirigenten Arvids Jansons und der jüdischen Mezzosopranistin Iraida Jansone, Glück im Unglück. Ein erheblicher Teil der Familie seiner Mutter wurde von den Nazis ermordet. Wie sein Vater vor ihm, schlug Mariss Jansons eine musikalische Laufbahn ein, widmete sich am Konservatorium von Leningrad, wo Arvids Jansons Assistent des berühmt-berüchtigten Chefdirigenten Jewgeni Mrawinski war, zunächst dem Klavier- und Violinstudium. Gegen anfängliche Vorbehalte des Vaters schlug auch er letztlich eine Dirigentenkarriere ein, vollendete seine Studien ab 1969 in Wien bei Hans Swarowsky und in Salzburg bei Herbert von Karajan, wo er bereits 1971 den zweiten Preis des Herbert-von-Karajan-Dirigentenwettbewerbs erhielt. Zwar wurde Jansons junior bereits damals eine Assistenzstelle bei den Berliner Philharmonikern offeriert, doch verhinderten die sowjetischen Behörden, dass er seinerzeit davon überhaupt erfuhr. So blieb er zunächst in Leningrad, ab 1973 als assoziierter Dirigent bei den Leningrader Philharmonikern. Ab 1979 war er für über zwei Jahrzehnte Chefdirigent der Osoloer Philharmoniker. In diese Ära fällt auch sein zunehmendes internationales Renommee. Erste Schallplatteneinspielungen kamen zustande und trugen seinen Namen in die Welt. In Olso blieb Jansons bis es im Jahre 2000 zu Meinungsverschiedenheiten über die Akustik des dortigen Konzertsaales kam und er seinen Rücktritt erklärte. Bereits 1992 war er zum Ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestra berufen worden und gastierte auch mit dem London Symphony Orchestra. Schon während seiner Zeit in Oslo schloss er einen Kontrakt als Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra in den USA ab, dem er zwischen 1997 und 2004 zusätzlich vorstand. Diese parallele Belastung durch die Leitung mehrerer Orchester gleichzeitig wurde über viele Jahre zu einem Markenzeichen, forderte aber auch früh seinen Tribut. Bereits 1996 erlitt Jansons in Olso bei einem Dirigat von Puccinis La bohème einen beinahe fatalen Herzinfarkt (er war der Oper mehr zugetan, als man landläufig annimmt). Sein Vater Arvids war einer ebensolchen Herzattacke 1984 in Manchester zum Opfer gefallen. Die ärztlich verordnete Zurückhaltung hielt Mariss Jansons, wie bereits angedeutet, indes nur kurz ein. Aufgrund eines zunehmenden Jetlag entsagte er zwar seinem Posten in Pittsburgh, wurde dafür kurz nacheinander Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (2003) sowie des Königlichen Concertgebouw-Orchesters Amsterdam (2004). Sage und schreibe elf Jahre leitete er diese beiden Weltklasseorchester zugleich, ehe ihn abermals gesundheitliche Gründe 2015 zum Rückzug vom Concertgebouw zwangen. Obgleich sein Schwerpunkt danach München gewidmet war, führten in Gastdirigate insbesondere zu den Wiener Philharmonikern, wo er insgesamt dreimal das dortige Neujahrskonzert leitete (2006, 2012, 2016). 2007 dirigierte er mit dem BR-Symphonieorchester Beethovens Neunte im Vatikan vor Papst Benedikt XVI. Vielfach dekoriert und ausgezeichnet (u. a. Ehrenmitglied der Berliner und Wiener Philharmoniker), verordnete sich Jansons bis zuletzt Optimismus, so noch im Juli 2018, als er seinen Vertrag in München ambitioniert bis zum Jahre 2024 verlängerte. Sein gesundheitlicher Niedergang war indes nicht mehr zu aufzuhalten und sorgte in den letzten Monaten vermehrt für Diskussionen, musste er doch zahlreichen Konzertverpflichtungen entsagen. Sein letztes Konzert in München dirigierte er am 25. Oktober 2019; seinen letzten Auftritt auf dem Podium überhaupt hatte er während der Gasttournee des Symphonieorchesters des BR am 8. November 2019 in der Carnegie Hall in New York. Jansons, der zweimal verheiratet war und eine Tochter aus erster Ehe hatte, starb am späten Abend des 30. November 2019 in seinem Haus in St. Petersburg im Alter von 76 Jahren im Kreise seiner Familie. Er hinterlässt eine gewaltige Diskographie, hauptsächlich eingespielt für EMI und die Eigenlabels des BR – sowie des Concertgebouw-Orchesters (Foto BR/ Peter Meisel). Daniel Hauser

Toller Hecht

 

Genau hingucken aufs Kleingedruckte sollte der künftige Leser von Alfred Kirchners Buch Der Mann von Pölarölara, denn da steht Autobiographische Splitter und nicht etwa Autobiographie. So sollte er sich nicht wundern, wenn tatsächlich keine chronologisch oder thematisch aufgebaute Lebens- und Karrierebeschreibung, sondern eine lose Abfolge von Erlebnissen und Eindrücken auf ihn wartet, oft abbrechend, wenn es gerade spannend wird, so beim Lohengrin in Oslo, wenn seitenlang die bange Frage im Raum steht, wie das Publikum die von Regisseur Kirchner verantwortete Inszenierung aufnehmen wird. Ehe das Rätsel gelöst wird, geht es aber zum Kuchenessen mit Tochter Emilia und danach flugs zu einem neuen Thema.

Das Buch beginnt mit der Schilderung eines Bombenangriffs auf des Autors Heimatsstadt Göppingen, die erste Verwunderungen auslöst, weil kein Luftschutzwart verhindert, dass die Familie während des Alarms in der Wohnung bleibt, weil ein Baby nach dem Angriff stumm für das restliche Leben bleibt und weil von Barbarossa behauptet wird, er käme wieder aus dem Kyffhäuser, wenn die Welt befriedet sei. Was hätte er dann noch zu tun? Und war 1945 vor Kriegsende von einer „deutschen Atombombe“ die Rede, nicht nur von einer „Wunderwaffe“, der V2?

Eine gespaltene Persönlichkeit führt uns das Buch vor Augen, kein Ich, sondern einen Alfred, ein Er, einen Mann aus Pölarölara, oft nur Pöla genannt, hinter dem sich der Autor versteckt, was dem Buch einen geschmäcklerischen, koketten Anstrich gibt, wozu auch beiträgt, dass weniger von den Werken, die in Sprechtheater oder Opernhaus auf die Bühne gebracht werden, die Rede ist als von den Reaktionen, oft positiven bis jubelnden Kritiken, die der Premiere folgen. Gern wird die Pose des Möchtegernrevoluzzers eingenommen, der  schockiert, der sich sonnt in der Empörung, die sein Wirken, auch und bereits in der Schule, hervorbringt. Da werden auch Künstler wie Freni und Ghiaurov nicht ausgenommen, selbst wenn Erstere versöhnen müsste, dass er sie für „die beste Violetta“ hält. Mit inzwischen vollendeten 80 noch von Lohengrins „bärenstarker Abschiedsarie“ zu schreiben ist ebenso bemerkenswert wie der Hang zu Umständlichkeiten wie das geschmäcklerische „teilten ihr Schicksal mit dem Kirschgarten“ anstelle von einfach „abgeholzt“ oder das neckische „ein wenig legendär“, ein „nicht ganz unliebenswert“ oder „nicht unanstrengend“.

Obwohl mit bayerischen Behörden oft im Clinch, findet er auch am Gegenpol Berlin wenig Gutes, denn es ist ihm bereits 1957  ein „wunderlicher Misthaufen“,  in dem sich Kriegerwitwen mit Türken zusammentun, was verwundert, weil das Anwerbeabkommen von 1961 stammt.  Viel besser kommt Straßburg mit einer liebenswürdigen Beschreibung weg, über die Zeit in Bremen, in Bochum, am Berliner Ensemble und in Bayreuth wird berichtet und mit Wendungen wie „göttlich“,  „Wunderfrauen“, „Strömen von Tränen“ nicht gegeizt. Lustig ist die Beiläufigkeit, mit der vom Lob eigentlich hassenswerter, weil politisch etablierter Personen wie Bundestagspräsident Lammert berichtet , Sieglinge im ersten Walküre-Akt eine Mitwirkung bei „Winterstürme“ zugestanden wird, es von Kurt Elser zu Harnoncourts „Don Giovanni“ nicht weit ist.

Liebevoll ist die Schilderung von Curt Bois und Bernhard Minetti, von Held und Schellow, gewunden, um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen, die von der Schließung des Schillertheaters, eher eine sehr subjektive Verteidigungsrede als eine Darstellung der Wirklichkeit, so dass es nur nachvollziehbar ist, dass der Autor Berlinern rät, dieses Kapitel nicht zu lesen. Sie wüssten es vielleicht besser, und sie fänden es nicht so gut, dass ausgerechnet das Neue Deutschland zweimal zum Zeugen aufgerufen wird.

Auch der Mann Alfred Kirchner stellt sich in schillerndes Licht, wenn er Andeutungen über die ihm verfallene „schönste Sängerin“ der Deutschen Oper Berlin und die Tänzerin, die sich seinetwegen das Leben nehmen wollte, tröpfeln lässt. Da wird bei manchem Leser das Recherchieren beginnen.

Fotos gibt es leider keine, aber auf solchen wäre ja der Regisseur auch nicht zu sehen.

Nicht besonders aufmerksam ist ein Lektorat, das „versucht ihm… zu lehren“ und „dem unvergessliche Freund“ durchgehen lässt, ärgerlicher aber ist das Überwiegen von Selbstbespiegelung gegenüber Information (265 Seiten  Verlag Hollitzer 2019; ISBN 978 3 99012 627 1). Ingrid Wanja

Mehr Gogol als Puschkin

 

Zu sehr lieben die Russen ihre Tatjana und ihren Lenski, als dass Regisseur Dmitri Tcherniakov ihre Charaktere hätte entstellen können, wie er es in Berlin mit Tristan und Isolde tat, und so sah man beim Gastspiel des Bolschoi Theaters mit Eugen Onegin 2008 in Paris auch nur eine nicht nur von Melancholie angehauchte, sondern depressive Tatjana, einen noch immer poetischen, wenn auch seine Liebesschwüre teilweise ablesenden Lenski. Krasser waren die Eingriffe bei einer dem Suff ergebenen Larina, einem sich angesichts des Liebesdramas im letzten Bild kühl die Manschettenknöpfe schließenden Gremin oder einer Olga, die der Verlust des Ohrrings härter träfe als der des Verlobten. Durchweg in einem Raum, der von einem riesigen Tische beherrscht wird, spielt das gesamte Werk, weder fröhliches Hofleben mit der Herrin huldigenden Bauern noch verschneite Landschaft für die Duellszene, höchstens für den letzten Akt ein prachtvollerer Saal, aber ebenfalls mit Tisch und Stühlen bestückt. Schwierig ist es, die Zeit auszumachen, in die das Werk verlegt wurde, die Kostüme des ersten Teils sprechen für die Zeit kurz vor der Oktoberrevolution, die Frisuren des zweiten Teils für die Fünfziger/Sechziger, aber da gab es nicht mehr die Gesellschaftsschicht, die in ihnen dargestellt wird. Hämisch, lauernd, grobschlächtig, gewalttätig und durchweg unsympathisch sind Herr wie G‘scherr, sorgfältig charakterisierte Kleindarsteller allesamt, unter ihnen die alte Dame besonders herausstechend, die erst lüstern Streit und Duellforderung beobachtet und sich doch schließlich entsetzt abwendet. Diese unsympathische Menge ist sowohl Zeuge des Duells, das ebenfalls im Saal stattfindet, aber hier eine Rangelei um ein Gewehr ist,  wie des Monologs Onegins zu Beginn des dritten Akts. Auch Gremin verkündet seine Verachtung der höfischen gesellschaft vor den Ohren derselben. Gestrichen ist der Triquet, dessen Couplet Lenski übernimmt, auch ein Ballett gibt es nicht. All diese Änderungen tun zwar nicht weh, bringen jedoch weder zusätzlichen ästhetischen noch Erkenntnis-Gewinn.

Natürlich sind die Russen mit einem vorzüglichen Solistenensemble angereist. An seiner Spitze allerdings kein Landsmann, sondern der Bariton Mariusz Kwiecien mit schöner lyrischer Stimme, der darstellerisch die Aura des lebens- und liebesüberdrüssigen Allesverächters vermissen lässt, eher wie ein biederer Landedelmann wirkt.  Wunderschön ist die Tatjana von Tatjana Monogarova, dazu mit einer  Sopranstimme begabt, die rein und klar klingt und keine unangenehme slawische Schärfe aufweist. Einen empfindsamen Abschied vom Leben singt der Lenski von Andrey Dunaev, dem von der pöbelhaften Gesellschaft übel mitgespielt wird.  Dunkel lockend klingt der Mezzo der Olga von Margarita Mamsirova, beachtliche Stimmreste verleihen Emma Sarkisyan der Njanja und Makvala Kasrashvili der Larina. Eine mächtige Röhre, die er genussvoll trompeten lässt, hat Anatolij Kotscherga für den hier recht zwielichtigen Gremin. Prachtvoll singt der Chor des Bolschoi, natürlich seinen Tschaikowski kennt und versteht das Orchester unter Alexander Vedernikov und klingt oftmals angenehmer, als es das Geschehen auf der Bühne eigentlich zulassen dürfte (BelAir BAC 446). Ingrid Wanja

Großer Klang in opulenter Verpackung

 

Eine opulent ausgestatte Aufnahme von Händels Brockes-Passion mit der Academy of Ancient Music legt das Eigenlabel des Orchesters auf drei CDs vor (AAM007). Der attraktive Pappschuber enthält das Album mit den CDs und der Trackliste sowie einen Band mit Einführungstexten, einer Tabelle mit Aufführungsdaten, historischen und Interpretenfotos sowie dem kompletten Libretto. Eine weitere Besonderheit der Ausgabe findet sich auf der dritten CD, welche in  zwei Anhängen Alternativversionen von einzelnen Nummern sowie die erste Aufnahme von Charles Jennens’ englischen Übersetzungen enthält.

Dirigent der Einspielung ist Richard Egarr, seit 2006 Musikdirektor des Orchesters, dem eine lebendige und intensive musikalische Deutung gelingt. Sogleich die Symphonia wird bestimmt von starken Kontrasten, und dieser Vorzug findet sich in der gesamten Einspielung bis zur letzten Nummer. Immer wieder lassen die gezielt gesetzten Affekte aufhorchen, so dass sich nie der Eindruck von Einförmigkeit einstellt. Der Choir  of the Academy of Ancient Music legt schon im Eingangschor, „Mich vom Strikke meiner Sünden“, Zeugnis ab von seiner hohen Klangkultur und differenzierten Tongebung. Mit dem Choral „Ich bin ein Glied an deinem Leib“ beendet er das Werk mit dem Ausdruck von Trost und Zuversicht.

Unter den Solisten ist der Countertenor Tim Mead als Judas der bekannteste Sänger. Seine erste Arie, „Lasst diese Tat“, führt das Orchester mit erregten Figuren ein und der Sänger nimmt diese Vorgabe auf. Auch die Sopranistin Elizabeth Watts als Tochter Zions ist eine renommierte Barock-Interpretin. Sie hat im ersten Teil nicht weniger als sieben Arien zu absolvieren und entledigt sich dieser Aufgabe in souveräner Manier. Die Stimme klingt klar und rein, überzeugt mit empfindsamer Gestaltung. In „Was Bärentatzen, Löwenklauen“ kann sie mit dramatisch erregtem Ausdruck aufwarten. Mit „Die ihr Gottes Gnad’ versäumt“ beendet sie den ersten Teil des Werkes dagegen introvertiert. Im zweiten Teil hat sie sogar acht Arien zu singen, wovon „Die Rosen krönen“, „Laß doch diese herbe Schmerzen“ und „Jesu, dich mit unsern Seelen“ durch besonderen Wohllaut und Innigkeit herausragen. In „Schäumest du“ überzieht sie dagegen den dramatischen Ausdruck mit dem Ergebnis eines keifenden Tonfalls. Die folgende Arie „Heil der Welt“ überzeugt dann wieder energischem Koloraturfluss. Ihr fällt auch das letzte Solo der Passion zu, „Wisch ab der Tränen“, welches sie mit tiefem Ernst vorträgt.

Schließlich ist der Tenor Nicky Spence als eine der vier Gläubigen Seelen in unseren Breiten ein Begriff. Seine erste Arie „Erwäg, ergrimmte Natternbrut“ imponiert durch souveränen Fluss der Koloraturen und expressiven Vortrag. Diese Meriten kann er in „Brich, brüllender Abgrund“ bestätigen. Eine weitere Gläubige Seele  ist der Sopranistin Ruby Hughes anvertraut, die die schönste Stimme der Besetzung hören lässt. Sie ist von weicher Textur, leuchtet und jubelt. Betörend singt sie die wiegende Arie „Was Wunder, dass der Sonnen Pracht“.

Die tragende Rolle des Evangelisten hat der Tenor Robert Murray übernommen. Er gibt den vielen Rezitativen zwingenden Ausdruck und überzeugt auch mit guter Artikulation.  Diesbezüglich ist ihm der Bassist Morgan Pearse als Pilatus, Gläubige Seele und Hauptmann ebenbürtig. Der amerikanische Bassbariton Cody Quattlebaum gibt dem Jesus starkes Profil. Sogleich in seiner ersten Arie, „Mein Vater, mein Vater!“, weiß er mit seiner weichen, resonanten Stimme für sich einzunehmen und berührt besonders im schmerzlichen Solo „Ist’s möglich“.  Die Mezzosopranistin Rachael Lloyd komplettiert das Quartett der Gläubigen Seelen und überzeugt darüber hinaus mit würdevoller Schlichtheit als Maria. Der Tenor Gwilym Bowen kann sich als Petrus mit einer furiosen Arie, „Gift und Glut“, einführen, welche das Orchester mit erregten Figuren einleitet. Das folgende Solo, „Nehmt mich mit“, ist dagegen von kontemplativem Charakter, „Ich will versinken und vergehn“ dann wieder von leidenschaftlichem und „Heul, du Schaum“ von verzweifeltem Ausdruck. Diesen unterschiedlichen Facetten wird der Sänger bemerkenswert gerecht.

Insgesamt ist von einer ausgewogenen, hochrangigen Besetzung ohne Schwachpunkt zu sprechen, welche die Einspielung zu einer bedeutenden macht, die sich auf dem Musikmarkt behaupten wird. Bernd Hoppe

Abseits des Gewohnten

 

Frankreich scheint im 19. Jahrhundert gleich mehrere universell talentierte Komponisten hervorgebracht zu haben, so war der Organist und Komponist Fernand de La Tombelle, ähnlich wie sein Zeitgenosse Saint-Saëns, nebenher auch Schriftsteller und Kolumnist, Bildhauer und Maler, Kunstfotograf, Musikethnologe und Astronom. Palazetto Bru Zane macht erneut mit einem französischen Meister bekannt, dessen vielgestaltiges, im besten Sinne stilistisch eklektizistisches Œuvre zu Unrecht im Schatten seiner bekannteren Zeitgenossen Saint-Saëns und Fauré steht. (cpo)

Gesegnet mit einem ausgeprägten Temperament und von Natur aus neugierig, war Fernand de La Tombelle eine fesselnde und interessante Persönlichkeit unter den Komponisten der französischen Romantik. Er hinterließ ein umfangreiches Œuvre, vielgestaltig und eklektizistisch, in seinem Stil. Es verdient nicht nur aufgrund seiner eigenen Qualität neu entdeckt zu werden, es steht auch für eine soziale und künstlerische Aktivität in Frankreich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.

Dazu schreibt der Palazzetto: This Book contains essays and historical texts by Jean-Christophe Branger, Fernand de La Tombelle, Jean-Emmanuel Filet and Antonia de Peretti Orsini. Gifted with a strong temperament and a curious nature, Fernand de La Tombelle is a highly appealing and interesting figure among French Romantic composers. He left a substantiell oeuvre, protean, stylistically eclectic, even atypical, that deserves reassessment not only for its own merits, but also because it illustrates a certain form of social and artistic activity in France at the turn of the nineteenth and twentieth centuries.

Following the cycle devoted to Fernand de La Tombelle by the Palazzetto Bru Zane during the 2016-2017 season, the release ofthis composer’s CD-book „portrait“ brings him back into the Spotlight. This composer wrote nearly 600 works, but was also a poet, writer, folklorist, chronicler, photographer andpainter, and an enthusiastfor astronomy, archaeology, cycling and motor cars… An encounter with a Romantic humanist.

After Theodore Gouvy, Benjamin Godard and Theodore Dubois, the Palazzetto Bru Zane continues its rediscovery of French Romantic personalities of the 1880s who – having opted neither for Wagnerism nor for the French modernism of figures like Debussy – are today regarded as academic and, for that reason, completely forgotten.

Fernand de La Tombelle was one of them. Fiercely independent – yet by no means revolutionary – by temperament, he is an intere- sting figure in more than one respect. He frequented Grieg, Gounod, d’Indy, Massenet and Saint-Saens (to whom he was very close). His catalogue ranges over every genre, and is complemented by photographs, drawings, paintings, and writings on theoretical and literary subjects as well as works dealing with astronomy and the culinary art (inclu- ding a brief study entitled Les Pätes de Perigueux). The whole constitutes the fruits of the work of an artist with an outstandingly wide culture, worthy of an honnete homme who also did a great deal for the musical education of the working classes. (Key dates 1854: born in Paris, 1878: founds season of organ concerts At theTrocadero; 1888: Premier Prix Pleyel; 1894: creation of the Schola Cantorum; 1896: Prix Chartier of the Institut de France; 1928: dies in Sarlat). 

This new 3-CD-book in the Palazzetto Bru Zane’s ‚Portrait‘ series reveals the multiple facets of a captivating personality, ranging from orchestral music with operatic overtones through introspective Chamber works to Choral music recalling the Renaissance madrigal. The sublime Fantaisie for piano and orchestra would suffice on its own to demonstrate the quality of La Tombelle’s inspiration. To Champion his cause as it deserves, this set calls on no fewer than fourteen soloists, along with orchestra, chorus and conductor.

Fernand de la Tombelle – a Portrait; Hervé Niquet dirigiert die Brussels Philharmonics und den Flemish Radio Choir, Solisten sind  Yann Beuron, Hannes Minnaar, Jeff Cohen, Pascal Amoyel, Emmanuelle Bertrand, François Salque, Hermine Horiot, Adrien Bellom, I Giardini, François Saint-Yves, Nabila Chajai; 3 CD / 111 pages (texts and libretto) Bru Zarne/ Outhere; ISBN : 978-84-09-14162-3

 

Eine veritable Entdeckung sind auch die Lieder von Fernand de La Tombelle. Es entspricht dem Selbstverständnis von Palazzetto Bru Zane, dass bei der ehrenwerten Erforschung der französischen Musik auch die Pflänzchen abseits der Hauptwege gepflückt werden, sprich erstmals 23 unbekannte Mélodies Antoine Louis Joseph Gueyrand Fernand Fouant de La Tombelle veröffentlicht werden. Die Lieder korrigieren oder bereichern die Epoche des französischen Kunstlieds, der Mélodies, des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht, allenfalls bieten sie eine kleine Abrundung. De la Tourelle wird als virtuoser Organist beschrieben, geschätzter Pädagoge, er war zusammen u.a. mit d’ Indy Mitbegründer der Schola Cantorum, darüber künstlerisch vielseitig bewandert, begabt und interessiert. Er hat um die hundert Lieder komponiert, die offenbar vornehmlich im privaten Kreis zur Aufführung gelangten, also spätromantische Solonpiècen, geschmackvoll und mit viel Gefühl für die Flektionen der Texte eingefangen, auch mit schöner Behandlung der Singstimme, ein bisschen im Stil von Massenet und Saint-Saens, häufig Liebeslieder, lyrisch, rezitativisch, meist durchkomponierte Bilder.

Die Texte der Auswahl stammen von Victor Hugo, Alphonse de Lamartine und Théophile Gautier, doch auch weniger bekannte Autoren befinden sich darunter, etwa Pierre Barbier, der Sohn von Jules, und die Baronin de La Tombelle. Als Hausbariton von Palazzetto Bru Zane bringt Tassis Christoyannis für diese im Januar 2017 in Bourges eingespielten Raritäten ein Höchstmaß an Einfühlungs- und Anverwandlungsvermögen mit, einfach eine sachkundige Professionalität; er wird unterstützt von Jeff Cohen, der ihm bei allen Lied-Exkursionen treu zur Seite stand (AP 148). Seine eminente Stilsicherheit, die er bei der Interpretation von Liedern von Lalò, Godard oder Saint-Sanes unter Beweis gestellt hat, verleiht den Interpretationen von Christoyannis fast schon so etwas wie ein Gütesiegel. Sanft beschreibt er Naturstimmungen („Hier au soir“, „Passez nuages roses“), ländliche Idyllen („La Croix de bois“) oder Schmetterlinge, wobei er mit seinem dunklen Bariton die Worte in sanften Pianobereichen beleuchtet, wie um die Patina dieser Gesänge aufzufrischen. Das Exotische dringt in Gestalt des martialischen „Cavalier mongol“ in den Salon, intensives Liebesbegehren kommt in „Promenade nocturne“ zum Ausdruck, volksnahe Szenen in „Vieille chanson“; das 1917 veröffentlichte „Chant-Prière pour les Morts de France“ ist ein elegischer Trauermarsch, wo sich La Tombelle ausnahmsweise auch einen expressiven Ausdruck gestattet, die „Couplets de Chérubin“ nach Beaumarchais bilden eine pralle bühnennahe Genreszene nach. (Foto oben Fernand de la Tombelle, 1890/ Foto Wikipedia). Rolf Fath

 

Pierantonio Tascas „A Santa lucia“

.

Das Anhaltische Theater Dessau, wo ich schon so tolle Ausgrabungen wie Esclarmonde und La muette de Portici gesehen habe, entriss am 1. April 2017 das Stück der Vergessenheit und verband es logisch und richtig mit der Cavalleria Rusticana, die diesen Verismo-Doppelabend eröffnete. Vermutlich hatten sich alle Mitwirkenden auf den unbekannten Pierantonio Tasca (1858-1934) gestürzt, denn A Santa Lucia klang wesentlich überzeugender als die musikalisch gezähmte, etwas brav leidenschaftslose Cavalleria. Erstere ist als Übernahme aus Dessau bei cpo (2 CD 7971827) erschienen.

.

Die Szene aus dem alten Hafenviertel Neapels, das zum Zeitpunkt seiner Oper A Santa Lucia bereits Geschichte war, wirkt jedenfalls wie abfotografiert. Sie erinnert ein bisschen an den zweiten Akt der Bohème mit ihrem Café Momus-Treiben und ist in ihrer naturalistischen Abbildung so authentisch wie die Morgendämmerung der Tosca, für die Puccini eigens nach Rom gereist war und die Engelsburg bestiegen hatte. Tasca fließt dieses Treiben operettenleicht und unaufwendig aus der Feder, die Volksmenge und die solistischen Einwürfe samt den späteren ariosen Einflechtungen, der leichte, anschmiegsame Canzonen-Ton und die Tarantella, die seinen 75minütigen Zweiakter einrahmt, dazu die Parlando-Unterhaltungen und das südländische Idiom. Doch so unbeschwert wie sich die schaulustigen Neapolitaner gerieren, ist das Stück, dessen Libretto ihm Enrico Golisciani nach einen Schauspiel Goffredo Cognettis eingerichtet hat, nicht. Rosella hat ein Kind vom Fischer Ciccillo, dem Sohn des Austernhändlers Totonno. Sie gibt es als die Tochter ihrer verstorbenen Schwester aus, weil Ciccillo seit seiner Jugend Maria versprochen ist. Maria liebt Ciccillo und unternimmt eifersüchtig alles, um Rosella auszustechen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung der beiden Frauen. Nur Totonnos Eingreifen kann Rosella vor dem Gefängnis bewahren. Ciccillo beschließ,t für ein Jahr auf einem Schiff anzuheuern. Das von Eifersucht, aber schließlich tiefer Liebe geprägte Duett der beiden ist ein Höhepunkt der Oper, die ansonsten liedchenhaft kurze Arien bevorzugt. Rosella findet bei Totonno Unterschlupf, der sich in die junge Frau verliebt hat. Bei Ciccillos Rückkehr steckt Maria dem Geliebten, dass nun nicht nur ihrer beiden Hochzeit, sondern auch die von Rosella und Totonno ansteht. Ciccillo sieht sich von beiden betrogen, gesteht seinem Vater, dass Rosellas Kind von ihm ist und stößt die unschuldige Rosella von sich. Diese stürzt sich ins Meer.

A Santa Lucia verdankte seinen kurzen Sensationserfolg vor allem dem Einsatz von Gemma Bellincioni, die zusammen mit ihrem Mann Roberto Stagno, zwei Jahre nachdem sie 1890 in Rom Cavalleria Rusticana erfolgreich zur Uraufführung gebracht hatten, eine Novität für ihre Tournee suchte – die Bellincioni hatte u.a. auch Giordanos Fedora kreiert. So kam es, dass die Oper eines bis dahin unbekannten Komponisten an Berlins Kroll-Oper herauskam. Es folgten weitere Stationen, auch Aufführungen unter Gustav Mahler, der sich ebenfalls für die Cavalleria Rusticana eingesetzt hatte, bis die Oper mit dem Karriereende der Bellincioni in Vergessenheit geriet.

Auch wenn Tascas A Santa Lucia in Dessau durchaus überzeugend gegeben wurde, wird sie wegen ihrer fehlenden musikalischen Dramatik und länglichen Kleinteiligkeit der Cavalleria kaum ihren Platz an der Seite der Pagliacci streitig machen..

Tascas Einakter „A Santa Lucia“ am Anhaltischen Theater Dessau/ Szene mit Rita Kapfhammer (als Maria), Iordanka Derilova (als Rosella)/ Foto Claudia Heysel

Nur Ray M. Wade ist der tenorale Felsen in dem Geschehen, kann im Duett mit Rosella einen kompakten Tenor günstig ausspielen, ein arioses Changieren, das in ähnlicher Form bei Wolf-Ferrari wiederkehrt, doch eher in den Buffoopern als in den auf einen Text Goliscianis entworfenen Goielli della Madonna, wo sich der Verismo zu einem groben Abgesang nochmals nach Neapel begibt. Ulf Paulsen gibt als Totonno, Austernhändler und Vater von Ciccillo und Concettina liegt die Partie überhaupt nicht, nicht in der Höhe und nicht in der vokalen Attacke (und im trockenen Ton); da zieht er sich lieber mit einfarbig festem Bariton aus der Affäre. Iordanka Derilova kann in den beiden Partien der Bellincioni, von der Heuberger gesagt hat, sie sei eine „Doppelgängerin der Duse“ und „die größte Seelenmalerin unter den derzeitigen Opernsängerinnen“, einen großen persönlichen Erfolg verbuchen. Nach Brünnhilden, Ortrud und Elektra und den dramatischen italienischen Partien ist es erstaunlich, zu welch feiner Emission und Lyrik sie als Rosella fähig ist, wo sie natürlich und kraftvoll singt und sich die Stimme noch immer von großer Homogenität zeigt. Die Chormitglieder singen ihre schönen Chöre, die Dörfler ergehen sich in Duetten und Szenen, alles in allem die Sicht des Norditalieners auf das exotische Sizilien, das in Vergas Romanvorlage wesentlich krasser erfasst ist. Auch wenn Tascas A Santa Lucia in Dessau durchaus überzeugend gegeben wurde, wird sie wegen ihrer fehlenden musikalischen Dramatik und länglichen Kleinteiligkeit der Cavalleria kaum ihren Platz an der Seite der Pagliacci streitig machen.

Die Regie wurde in Dessau damals widerspruchslos hingenommen – trotz des nicht zum Stück gehörenden, aus der Cavalleria interpolierten Schreis am Ende, die Aufführung gefeiert, was Markus L. Frank und die Anhaltische Philharmonie für ihren feinsinnigen Tasca verdient hatten, ebenso der Opernchor, dazu der Kinderchor, Rita Kampfhammer als energische Maria, Cornelia Marschall als verständnisvolle Concettina. Und dann hört man auch noch Cezary Rotkiewicz als Tore sowie David Ameln als Stimme des Fischers  Rolf Fath

.

.Und zur Oper selbst ein Artikel von Felix Losert: Eine junge Diva, ihr Mann und die Oper eines Freundes aus der Heimat: Im November 1892 kamen die junge Mezzosopranistin Gemma Bellincioni (1864 – 1950} und ihr tenoraler Ehemann Roberto Stagno (1840 – 1897) zu einem ersten Gastspiel nach Berlin. Die Leitung der Kroll­ Oper, des Hauses am Exerzierplatz gegenüber dem Reichstag, wollte mit den berühmten Uraufführungsinterpreten der Cavalleria  rusticana (1890) einen Angriff gegen den kürzlich erlebten, unglaublichen Dauererfolg von Mascagnis Einakter an der Hofoper starten. Und der Clou ihres Gastspiels sollte nichts Geringeres als die Uraufführung einer italienischen  Oper sein, die von den Sänger selbst empfohlen wurde. Es handelte sich um A Santa Lucia vonPierantonio Tasca (1864 – 1934), die nun im April, Mai und Juni 2017 am Anhaltischen Theater Dessau zu sehen ist (Premiere ist der 1. April in der Koppelung mit Mascagnis Cavalleria rusticana).

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“:  Pierantonio und Salvatore Tasca/ collegiomondragone

A Santa Lucia ist neben Leoncavallos Pagliacci und Giordanos Mala vita (beide 1892) eine der ersten Opern, die nach dem Vorbild der Cavalleria eine tragische Handlung bei den Ärmsten der Armen spielen lässt. Das Libretto stammte von Enrico Golisciani (1848 – 1918), der später u. a. mit Wolf-Ferrari zusammenarbeitete. Wie Mascagnis Librettisten hatte auch Golisciani ein originales, veristisches Theaterstück zur Vorlage genommen. Dessen Autor, Goffredo Cognetti, stellte jedoch keine tranche de vie aus dem unterwickelten Hinterland Siziliens auf die Bühne (wie Giovanni Verga in seiner Cavalleria), sondern bot eine Art Fotografie des Alltags vom Neapel des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Golisciani war wie Cognetti ein waschechter Neapolitaner, und so verwundert es nicht, dass allein schon das Libretto ein Neapel der armen Fischer und Straßenverkäufer mit einer Genauigkeit und Lebendigkeit zu schildern vermag , die noch heute verblüfft. Da lässt es sich leicht verschmerzen, dass der tragische Ausgang hier weit weniger dem Schicksal als einer klassischen Intrige zu verdanken ist.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Postkarte mit den beiden Hauptdarstellern Gemma Bellinconi und Roberto Stagna/ OBA

Angesichts eines solchen Sujets ist es eigentlich erstaunlich, dass sich ein Mann wie Tasca dieses Librettos annahm. Tasca wurde als Sohn eines Barons im Palazzo Tasca in Noto, südlich von Siracusa, geboren – wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Verga seine Erzählungen und Dramen spielen ließ. Die adlige Familie Tascas war jedoch  weit besser gestellt als vergleichsweise Turiddus Mamma Lucia. Während Turiddu für den Militärdienst Lola verlassen muss, sieht sich der junge Pierantonio nur von seinem Notenpapier getrennt. Es lohnt sich, aus einer Lebensbeschreibung den Vorbericht zur Uraufführung zu zitieren, der im Berliner Börsen-Courier erschien: „Tasca studirte fleißig und componirte seine erste Oper ‚Bianca‘ [Florenz 1885]. [. ..] Tasca’s Beschäftigung als Componist erhielt eine Unterbrechung durch dessen Militärjahre . Nach beendetem Militärdienst lebte Tasca in Noto, und als der Bürgermeister der Stadt Noto starb, wählte das Stadtverordneten-Collegium einstimmig Tasca zum Bürgermeister. Somit war der junge Komponist mit 22 Jahren der jüngste aller Bürgermeister Italiens. Seine erste Verordnung war originell: Alle Musikkapellen in der Stadt Noto und Umgebung haben Wagnersche Fragmente in ihr Repertoire aufzunehmen. Wie bereits gemeldet, hat Pierantonio Tasca dem Künstlerpaar Stagno-Bellincioni seine neueste Oper gewidmet, und diese fragten bei ihm telegraphisch an, ob er nicht nach Berlin reisen wollte, um die Oper persönlich zu insceniren.  Tasca [. ..]  packte  in aller  Eile seine Sachen zusammen und jagte über Palermo, Neapel, Rom, Florenz, Venedig, München nach Berlin, von wo er seinen Freunden das einzige   Wort  ‚Angekommen‘ meldete.“

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Straßenleben in Neapel vor 1900/ Foto vecchio-napoli.it

Tasca inszenierte sein Werk nicht selbst, aber er hat sicher nicht bereut, die lange Reise auf sich genommen zu haben. Denn als am 16. November 1892 die schöne, noch viel zu junge Rosella in den starken Armen Ciccillos ihr Leben aushaucht, bricht in der Kroll­ Oper das Publikum in Tränen und dann in rasende Begeisterung aus. Mit einer „tief eingreifenden Wirkung und einem so stürmischen äußeren Erfolg, wie er seit Mascagnis ‚Cavalleria rusticana‘ hier nicht erlebt worden ist“, so schrieb die Vossische Zeitung am nächsten Morgen, endete die Premiere. In den nächsten Jahren wurde A Santa Lucia nicht nur in Berlin wiederaufgenommen, sondern u. a. in Wien, Hamburg (hier unter der Leitung von Gustav Mahler), Prag, Triest, Manchester und Genua nachgespielt. Es ist erstaunlich, dass auf diese Weise eine italienische, ja: eigentlich neapolitanische Verismo-Oper von einem Publikum gefeiert wird, das die liebevollen Details im Lokalkolorit gar nicht würdigen konnte und die Geschichte vom Leben und Sterben im Hafenviertel für reichlich exotisch und sogar sonderbar hielt.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: der Pallonetto di Santa Lucia in Neapel vor 1900/ Wiki

Übrigens findet sich in keiner zeitgenössischen Kritik ein Hinweis darauf, dass man sich bewusst gewesen wäre, mit Tascas Oper einen Blick auf eine versunkene Welt geworfen zu haben: Nach einer Cholera-Epidemie, die gerade in den Slums der Altstadt furchtbar gewütet hatte, war auch das Viertel um die Kirche St. Lucia Ende der 80er Jahre abgerissen und so grundlegend modernisiert worden, dass sich Straßenszenen wie die in der Oper dort nicht mehr abspielten. Nun standen dort – wie heute – große Hotels für (damals deutsche) Touristen und mondäne Uferpromenaden an der Stelle der Buden der Fischverkäufer.

Tascas Oper wurde auf deutschsprachigen Bühnen bis zum Ersten Weltkrieg häufiger gegeben als Andrea Chénier und Manon Lescaut. Der große Erfolg ist, was die Musik angeht, kein Missverständnis gewesen. Tasca komponierte eine gefällig und leicht fließende Musik, die sich geschmeidig den rasch wechselnden Situationen auf der Bühne anpassen kann. In der großartigen Einleitung mit ihren durcheinander singenden Solisten und Chorgruppen bietet er ein bis dato ungeahnt realistisches Abbild großstädtischen Straßenlebens. Hier, dann im Auftrittslied Ciccillos (das eigentlich eine veritable Canzone napoletana ist) und der Einleitung zum zweiten Akt mit den aus der Ferne herüber klingenden Rufen der Fischer, zeigt sich Tasca als intimer Kenner der Musik Neapels. Als Glanzstück des Werkes wurde von der zeitgenössischen Kritik das große Liebesduett am Ende des ersten Aktes gefeiert. Es ist aus kurzen Abschnitten gebildet, die genauer und rascher dem Gespräch der Liebenden zu folgen vermögen als die großbogigen Themen des frühen Mascagni oder Puccini. Hier im Duett findet Tasca dennoch zu einer Melodie voller Ekstase, die nicht nur das Berliner Publikum Anno 1892 begeisterte, sondern auch am 26. Oktober 2012 das im Theater Erfurt bei der Aufführung von A  Santa Lucia in der  Veranstaltungs-Reihe „Oper am Klavier“.  Bei dieser Gelegenheit – höchstwahrscheinlich die erste Aufführung seit 97 Jahren – zeigte sich die Oper insgesamt als ein für die Sänger (Shivko Shelev und Oxana Arkaeva  waren als Liebespaar zu hören) dankbares und das Publikum mitreißendes Werk.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Operndirektor Felix Losert/ Foto Anhaltisches Theater Dessau

Mitte der 1890er Jahre galt Tasca mit seiner Neapel/Berlin-Oper im deutschsprachigen  Raum  als  wichtiger  Vertreter der „jungitalienischen Schule“ neben Mascagni und Leoncavallo – bis Puccini seinen internationalen Siegeszug antrat. Die wenigen weiteren Opern Tascas, darunter Pergolesi, das im Berliner Theater des Westens 1898 uraufgeführt wurde, und eine Vertonung des berüchtigten Librettos zu La Lupa, das Giovanni Verga ursprünglich Puccini zugedacht hatte (Noto 1932), zogen jedenfalls keine größeren Kreise. Dass jedoch kaum ein Musiklexikon über Tasca und seine neapolitanische Verismo-Oper Auskunft gibt, ist nicht zu rechtfertigen. Felix Losert

.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Musikalischer Glanz in verwirrender Optik

 

Weiter auf dem Vormarsch zum Counter-Gipfel ist der polnische Sänger Jakub-Józef Orlinski, der bei Erato/Warner Classics unter Vertrag steht und bei der Firma nach seinem Debütalbum (Anima sacra) nun eine zweite CD vorlegt (Facce d’Amore), zudem in der DVD-Veröffentlichung von Händels Rodelinda, Regina de’Langobardi als Unulfo mitwirkt (0190295420321, 2 DVD). Diese wurde am 11. Oktober 2018 in der Opéra de Lille aufgezeichnet und ist eine Koproduktion mit dem Teatro Municipal de Santiago und der Opéra National de Chili. Jean Bellorini verantwortete die Inszenierung, das Bühnenbild und das Lichtdesign, Macha Makeieff entwarf die Kostüme.

Der Regisseur schildert das Geschehen aus der Sicht von Rodelindas Sohn Flavio, der kurz zuvor seinen Vater verloren hat. Das Kind (Aminata Diouaré) geistert dann auch von Anfang bis Ende durch die Szene, sitzt oft an der Rampe mit einer Puppe, die seiner Mutter Rodelinda gleicht. Puppen sind überhaupt omnipräsent in dieser Produktion, die Sänger werden von solchen gedoubelt, in der Luft tanzen Marionetten und immer wieder werden die Protagonisten selbst zu solchen, wenn sie Strumpfmasken über den Kopf ziehen und sich in marionettenhaften Bewegungen ergehen müssen. Der künstliche Anstrich der Inszenierung ergibt sich auch durch Neonröhren, die von oben herabgesenkt werden und sich zu Rahmen verbinden, welche die Figuren als Gruppenfotos einschließen. Auf Fließbändern fahren Dekorationsteile herein, so ein Zimmer mit ornamentierter Tapete, in welchem Rodelinda ihre Auftrittsarie „Hò perduto“ singt und mit reizvoll sinnlichem Sopran von leicht negroidem Vibrato aufhorchen lässt. Mit Jeanine De Bique aus Trinidad in der von Francesca Cuzzoni 1725 in London kreierten Titelrolle stellt sich eine hierzulande unbekannte Händel-Interpretin vor. Ihre zweite Arie, „L’empio rigor“, ist von flammendem Furor, „Ombre, piante“ von tiefer Empfindsamkeit und „Morrai“  von energischem Zugriff mit imposanten Spitzentönen. „Spietati“ im 2. Akt zeugt von der grenzenlosen Liebe zu ihrem Sohn und wird im Da capo von bravourösen Trillern geschmückt. Im letzten Akt kann die Sängerin mit dem leidvoll verzweifelten „Se’l mio duol“ ihr reiches Empfindungsspektrum zeigen und in der finalen Arie „Mio caro bene!“ gebührend jubeln.

Rodelindas vermeintlich toter Ehemann Bertarido war die große Kastratenpartie des Werkes, kreiert von Senesino. Hier ist sie dem britischen Counter Tim Mead anvertraut, dessen Auftritt vom Orchester energisch akzentuiert wird. Seine Stimme hat sich beeindruckend entwickelt, so dass er im Rezitativ „Pompe vane di morte!“ starke Emotionen vermitteln kann. Die nachfolgende Arie „Dove sei“ beginnt mit einem schwebenden Ton und ist erfüllt von weichem, zärtlichem Klang. Das Da capo wird angemessen verziert, ohne manieriert zu wirken. Die Optik wechselt hier durch ein herab fahrendes Gitter zu einer grafisch-abstrakten. Bei „Confusa“, das den 1. Akt beendet, kann Mead eindrucksvoll auftrumpfen, während das „Con rauco“ im 2. Akt mit seinem sanft murmelnden Klang einen stimmungsvollen Kontrast markiert. Eines von Händels wunderbaren Duetten, „ Io t’abbraccio“, beschließt diesen Aufzug. In seinem klopfenden Rhythmus suggeriert es Herzschläge, und tief bewegend verschlingen sich hier die Stimmen von Rodelinda und Bertarido. Im 3. Akt beklagt der gefangene Bertarido hinter einer Gittertür mit  elegischen Tönen sein Los, bevor ihm die Bravour-Nummer des Werkes, „Vivi tiranno!“, zufällt. Man kann sie mit heftigerer Attacke singen, aber sein Vortrag hat schönen Fluss und die gelenkigen Koloraturen sowie das originell verzierte Da capo beeindrucken.

Mit ihm muss sich Orlinski als Bertaridos treuer Freund Unulfo messen. Seine Stimme lässt einen jugendlich-lebhaften Klang hören, die tänzelnden Rhythmen von „Fra tempeste funeste“ setzt er auch körperlich um. Das „Un zeffiro“ im 3. Akt tupft er lieblich und sanft, legt gar ein paar turnerische Kunststücke ein.

Von Grimoaldo wurde Bertarido einst von Thron gestürzt, Benjamin Hulett gibt der zwiespältigen Figur mit seinem Tenor markantes Profil. Die Stimme klingt zupackend und viril, meistert die Koloraturläufe souverän. Besonders „Tuo drudo“ im 2. Akt imponiert mit seinem vehementen Ausdruck und den energischen Koloraturen. Im aufgewühlten Rezitativ „Fatto inferno“ des letzten Aktes wächst er mit existentiellen Ausbrüchen, die Eifersucht und Zorn schildern, über sich hinaus, während die nachfolgende Arie „Pastorello“ in ihrem wiegenden Duktus und der schmeichelnden Stimmgebung dazu einen wirkungsvollen Kontrast darstellt.

Die zweite weibliche Rolle der Oper ist Eduige, Bertaridos Schwester, die am Ende von Grimoaldo zur Gattin genommen wird und sich mit ihrem Alt deutlich von der Titelheldin absetzt. Die Amerikanerin Avery Amereau trumpft schon im ersten Auftritt bei „Lo farò“ mit flammendem Ton und fulminanter Expression auf. Den 2. Akt eröffnet sie vehement mit „De’miei scherni“, das ihren Zorn und die Racheabsichten schildert. Beim tänzerisch beschwingten „ Quanto più fiera“ kann sie dagegen mit sanfteren Klängen aufwarten.

Die noch dunklere Farbe bringt der Bassist Andrea Mastroni als intriganter Garibaldo ein, der den König heuchlerisch berät, ihn aber ermorden will. Die resonante Stimme ist von autoritärer Wirkung, vermag vor allem in „Tirannia“ gehörig aufzutrumpfen. Der Sänger komplettiert die insgesamt exzellente Besetzung auf hohem Niveau. Alle Akteure lassen am Ende ihre Standpuppen hüpfen und vereinen die Stimmen jubelnd zum Schlusschor „Dopo la notte“, während im Hintergrund die Fensterreihe eines Neubaublockes einen eher tristen Eindruck abgibt.

Mit Le Concert d’Astrée spielt ein renommiertes Barock-Ensemble, das seinen ständigen Sitz an der Opéra de Lille hat. Nicht minder bedeutend ist dessen künstlerische Direktorin Emmanuelle Haim, die am Pult bzw. Cembalo ein Feuerwerk an Händelschen Zauberklängen entfacht und mit affektvollem Musizieren bis zum Schluss für Spannung sorgt. Unter den derzeit vorhandenen Aufnahmen nimmt diese Neuproduktion einen exponierten Rang ein. Bernd Hoppe

JOHN WEGNER

 

Der australische Heldenbariton John Wegner, bekannt für seinen Einsatz auf der Bühne und seinen psychologischen Tiefblick, ist verstorben. Der mehrfache Preisträger des Helpmann Award hatte 2014 eine Parkinson-Diagnose erhalten, wodurch eine wichtige Karriere abgebrochen wurde, von der viele glaubten, dass sie auf ihrem Gipfel angelangt war. Er starb am 19. November 2019.

„Es macht mich sehr traurig, vom Tode eines der größten Sänger Australiens zu hören“, sagte Lyndon Terracini, künstlerischer Leiter der Opera Australia. „John war ein großartiger Sänger-Schauspieler, der jede seiner Rollen verinnerlichte und an den größten Opernhäusern der Welt sang. Er hatte eine äußerst erfolgreiche Karriere in Europa sowie in Australien. Er war auch einer der nettesten Menschen, die man jemals trifft. Ein wunderbarer Kollege und ein echter Mensch. Im Namen aller Mitarbeiter der Opera Australia möchte ich seiner Frau Mignon und seiner Familie mein tief empfundenes Beileid aussprechen.“

Wegner wurde 1950 geboren und zog 1955 mit seiner Familie von Westdeutschland nach Australien. Als Schullehrer, der nachts in Amateur-Musicals auftrat, erhielt er ein Associate-Diplom in Oper und Musiktheater am Victorian College of the Arts. Seine Opernkarriere begann, als er als zusätzliches Chormitglied einer Produktion der Meistersinger von Nürnberg an der Australian Opera mitwirkte. Beeindruckt von Wegners Talent, arrangierte der Chorleiter ein Vorsingen beim Musikdirektor Richard Bonynge, der Wegner später als Bassisten einlud. Nach und nach übernahm Wegner in den ersten Jahren größere Rollen und glaubte, dass der Wendepunkt in seiner Karriere kam, als er für Donald Shanks als Boris Godunow einsprang. Seine Auftritte führten zu einem Bayreuther Stipendium, mithilfe dessen er bei führenden Sängern in Europa vorsingen und diese beobachten konnte. Ungefähr zu dieser Zeit begann Bonynge zu vermuten, dass Wegner kein echter Bass war, und als Wegner 1990 zu weiteren Vorspielen nach Europa zurückkehrte, nannte er sich selbst einen wagnerischen Heldenbariton.

Bei einem weiteren Vorsingen in Karlsruhe stellte sich bald schon der Erfolg ein, führte dieses doch zu einem Vertrag für seinen ersten Ring-Zyklus, in welchem er als Wotan auftrat. Er absolvierte zwei weitere Ring-Zyklen in Deutschland, bevor er den Mut aufbrachte, sich in Bayreuth für ein Vorsingen zu bewerben. Nachdem er sich an diesem bedeutenden Haus im August 1996 beworben hatte, bot man ihm die Rolle des Donner im Rheingold an, als der ursprünglich geplante Sänger ausfiel. So kam es 1997 zu seinem Bayreuther Debüt. 2001 trat er dort als Biterolf im Tannhäuser auf, 2003 als Telramund im Lohengrin und als Klingsor in Christoph Schlingensiefs radikaler Inszenierung des Parsifal unter der musikalischen Leitung von Pierre Boulez. Diese Produktion betrachtete Wegner als einen Höhepunkt in seiner Karriere.

Auch als sein Ansehen in Europa wuchs, kehrte Wegner häufig nach Australien zurück. In Erinnerung bleibt vor allen Dingen sein erster australischer Ring-Zyklus in Adelaide als Wotan im Jahre 1998. 2004 übernahm er in seinem zweiten australischen Ring den Alberich, für den er einen Helpmann Award als bester männlicher Opernsänger erhielt. Wegner kehrte 2007 an die Australian Opera (jetzt Opera Australia) zurück, wo er die Bösewichte in Les Contes d’Hoffmann sang. 2008 übernahm er an diesem Hause den Claggart in Billy Budd, 2009 den Boris in Lady Macbeth von Mzensk, 2010 den Jack Rance in La fanciulla del West und 2010 den Scarpia in Tosca. 2009 gelang ihm ein Doppelsieg mit dem Helpmann Award sowohl als bester männlicher Künstler (für Billy Budd) als auch als bester männlicher Künstler in einer Nebenrolle (für Lady Macbeth von Mzensk), etwas, was es zuvor nie gegeben hatte.

Wegners Parkinson-Diagnose im Jahre 2014 hinderte ihn daran, in seinem dritten australischen Ring-Zyklus, diesmal an der Opera Australia, mitzuwirken; er selbst bezeichnete es als „Bauchschmerzen“.

Er wurde 2016 zum Mitglied des Order of Australia ernannt, da er „als weltberühmter Opernbariton und als Botschafter des kulturellen Rufes Australiens den darstellenden Künsten ausgezeichnet gedient“ habe. Wegner hinterlässt seine Frau Mignon. Justine Nguyen (Den Nachruf entahmen wir mit Dank dem australischen Online-Magazine Limelight Magazine/  Limelight Arts Media Pty Ltd/ Übersetzung Daniel Hauser; Foto oben John Wegner als Wotan im Adelaide Ring 1998/ Foto Adelaide Opera)

Delizie variés

 

Geradezu jubeln tat ich bei der Besprechung des Ur-Faust Gounods vom Palazzetto jüngst, denn Benjamin Bernheim schien mir der Gott-gesandte Tenor des (französischen) Fachs zu sein. Seine strahlende Höhe, seine unglaubliche ardeur, seine beste Diktion und seine Rolleneignung des ungestümen und auch bedenkenlos seiner Hose ebenso wie seinem Herzen folgenden jungen Mannes hatte ich so in langer Zeit nicht mehr gehört. Erzfranzösisch.

Hélas. Die neue und erste Arien-CD (bei DG) wird dem nicht immer gerecht. Vielleicht ging´s bei der Aufnahme 2018 zu schnell zu. Vielleicht – und ganz bestimmt – wurden manche Stücke unter dem etwas lustlos klingenden Emmanuel Guillaume mit dem Prager Philharmonischen Orchester zu oft wiederholt, bis Tontechniker, Dirigent und ermüdeter Tenor zufrieden waren. Egal – die Arien fallen in ihrer Wirkung und Bewältigung eklatant auseinander. Manches ist wunderbar – so der Traum des Des Grieux (Manon), der unglaublich sanft, zärtlich, visionär und pianissimo-mezza-voce-gesungen wird, wo die ganz gelungenen Kopftöne (so unentbehrlich für das französische Repertoire) wie kleine Perlen fallen. Auch der Nemorino ist so angelegt, schmachtend, zärtlich. Godards Dante betört mit Wohlklang.

Anderes eben nicht. Der anfängliche Werther bleibt blass und wenig ossianisch. Roméo könnte liebeskranker und stürmischer sein (und bekommt vom Orchester keine rauschhafte Unterstützung). Da fällt der Vergleich mit Roberto Alagna nicht zu Gunsten Bernheims aus, der eben doch recht nichtssagend bleibt (wenngleich natürlich höhensicher und bestens in der Diktion). Der Edgardo (Lucia di Lammermoor) ziemlich  ungerührt vom Schicksal seiner Geliebten. Lenski und Berlioz´ Faust nicht wirklich memorabel (im Vergleich zu Gedda oder Verreau). Auch der Gounodsche Faust wiederholt für mich nicht die magische Wirkung des Palazzetto. Alfredo, Duca oder auch Rodolfo (Luisa Miller) sind mehr als ordentlich, mit strahlender Höhe, sicuro (ma ci sono anche altri…)

Aber ich stelle auch für mich fest, dass die Stimme eigentlich recht wenig Persönlichkeit besitzt, nicht sofort wieder erkennbar ist, blass bleibt im Timbre-Eindruck. Unter – eben – Druck verdickt sie sich, namentlich in der Mitte. Sehr viel Metall in der mittleren und hohen Lage kündigt sich an (wie jüngst für mich zu viel in der Pariser Traviata..), um die dramatischen Partien zu bewältigen. Auf Kosten der Süße des Tons, den ich so beim Palazzetto-Faust bewunderte).  Und was ich auch entdecke und was mich bei Sängern immer stört ist dieses gewisse Einschleifen in den Ton, soft palate, wie bei z. B. Thomas Hampson im Gegensatz zu Thomas Allen. Besonders in den Parlando-Passagen fällt mir bei Bernheim der sich ankündigende Ansatz zum weichen Gaumen auf.

Dennoch – vieles auf der neuen CD des young-and-coming Helden der internationalen Opern-Szene berechtigt zu großer Freude. Lange nicht mehr gab es einen jungen Tenor mit so scheinbar müheloser, strahlender Höhe, mit so fabelhafter Diktion und so gutem technischem Singen. Ausdruck ist was anderes, auch was Individuelles. Aber manches geht eben auch schnell, vielleicht zu schnell: Alfredo an der Pariser Oper jüngst, Wien, Berlin, Chicago, die Met – alles scheint nun möglich. Die glamourös gestylte Website Bernheims ziert eine Rolex-Zeit-Uhr. Und die internationale Karriere ist bereits unterwegs (wie man youtube entnehmen kann). Ich hole meinen Palazetto-Faust heraus und schwelge… (Benjamin Bernheim: Arien/ Werther, L´Elisir d´amore, Roméo et Juliette, La Traviata, Eugen Onegin, Rigoletto, Manon, Lucia di Lammermoor, Faust, Luisa Miller, Dante, La Damnation de Faust, La Bohème; Prague Philharmia, Dirigent Emmanuel Villaume; DG 483 6078).  Geerd Heinsen