Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Luigi Roni

 

Auch vor Prominenten macht das besonders in Italien schrecklich wütende Corona-Virus nicht halt. So starb am 28. März 2020 der italienische Bass Luigi Roni im Alter von 78 Jahren im Krankenhaus San Luca in der toskanischen Stadt Lucca. Besonders tragisch ist, dass er sich wahrscheinlich bei der Beerdigung seiner Ehefrau Yulija angesteckt hat und ihr nach einer Woche vergeblicher ärztlicher Behandlung in den Tod folgte.

Luigi Roni wurde 1942 in Calomini di Vergemoli im Valle del Serchio geboren und kehrte nach der Beendigung seiner Karriere in sein toskanisches Heimatdorf zurück, dem er das Musikfestival Serchio delle Muse geschenkt hatte, denn seiner Meinung nach galt auch für die ländliche Bevölkerung:“ Non si può andare avanti solo con pane e salsiccia“.

Nach dem Gewinn des Concorso „Belli“ in Spoleto debütierte der Bass wie so viele seiner Kollegen in der Festival-Stadt und zwar als Mephisto in Gounods „Faust“. 1968 kam es zu seinem Scala-Debüt unter Claudio Abbado als Tiresia in Strawinskis „Oedipus Rex“. Vierzig Jahre lang blieb er dem Mailänder Opernhaus treu, sang zuletzt unter Riccardo Chailly den Talpa in Puccinis „Il Tabarro“. Er war zunächst vor allem Verdi-Sänger, so Banco unter Bartoletti und Muti, später dann sang er häufig im seiner Heimat nahe liegenden Torre del Lago Puccini. Besonders bemerkenswert war sein Mitwirken am „Guglielmo Tell“ von Muti in den Jahren 1972 und 1977. Noch vor knapp einem Jahr sang er in Genua den Simone in Puccinis „Gianni Schicchi“.

Seine Karriere war auch eine internationale, der Met blieb er bis 2016 treu.  Seine Karriere führte ihn  an alle anderen bedeutenden Opernhäuser der Welt, auch In Berlin sang er an der Deutschen Oper. I. W.

Französisch-ungarische Gemeinschaftsarbeit

 

Die beachtliche Serie seiner Einspielungen von französischen Barockopern erweitert das Label GLOSSA um die Tragédie Jephté von Michel Pignolet de Montéclair (1667 – 1737), welche 1732 an der Pariser Académie royale de musique uraufgeführt wurde (GCD 924008).

Bei der im März 2019 in Budapest eingespielten Aufnahme handelt es sich um eine schon mehrfach (so bei manchen Einspielungen des Palazzetto Bru Zane) praktizierte Koproduktion zwischen Müpa Budapest, dem Centre de musique baroque de Versailles und der Orfeo Music Foundation. Das Orfeo Orchestra und der Purcell Choir werden geleitet von György Vashegyi, der sich für die dritte Fassung der Oper (von 1737) entschieden hat, die bisher noch nicht veröffentlicht wurde.

Dass eine biblische Geschichte auf der Opernbühne aufgeführt wurde, stieß auf die Kritik namhafter Zeitgenossen (so Voltaire), doch fand das Stück großen Anklang beim Publikum und wurde bis 1761 immer wieder (in drei verschiedenen Fassungen) gezeigt. Erst danach musste es in der Gunst der Zuhörer den Meisterwerken Rameaus weichen.

Jephté ist die einzige französische Oper des 17. und 18. Jahrhunderts auf einen Bibel-Text und verfolgt zwei Handlungsstränge – Jephté, der als Vater seine Tochter Iphise opfert, um sein Versprechen an den Herrn einzuhalten, und die Liebesbeziehung seiner Tochter zu seinem Feind Ammon. Nur Almasie, Jephtés Gattin und Iphises Mutter, greift in beide Handlungsebenen ein, die sich erst im 5. Akt verbinden.

Nach dem Prolog mit den mythischen Gottheiten Apollon, Polymnie, Terpsichore, Vénus und La Verité führt der 1. Akt in das Lager der Israeliten diesseits des Jordan. Nach langem Exil kehrt Jephté zurück in das Land seiner Vorfahren, entschlossen, gegen seinen Feind Ammon zu kämpfen. Er bittet Gott um Unterstützung und schwört, den ersten Menschen zu opfern, der ihm bei seiner Rückkehr begegnet.

Wegen seiner Gefühle für Iphise weigert sich der gefangene Ammon zu fliehen. Sie teilt seine Zuneigung, leidet jedoch unter ihrer verwerflichen Leidenschaft. Als Jephtés Sieg angekündigt wird, läuft sie ihrem Vater als Erste entgegen. Gemeinsam mit seiner Gattin Almasie beklagt er das schreckliche Los, das ihm auferlegt ist, sein eigenes Blut zu vergießen. Almasie offenbart ihrer Tochter das Vorhaben des Vaters. Würdevoll ist sie bereit zu sterben, lehnt auch Ammons Angebot ab, sie mit Waffengewalt zu retten. Dieser ist entschlossen, sich an dem Gott, der seine Geliebte tötet, zu rächen.

Der 5. Akt führt in den Tempel von Maspha, wo am Altar alles für das Opfer bereit ist. Da ertönen Rufe der Aufständischen unter Führung Ammons, denen sich Jephté entgegenstellen will, doch trifft ein Blitz seinen Feind. Wieder grollt Donner, und in einer Vision erkennt der Oberpriester Phinée, dass der Zorn Gottes besänftigt und das Leben Iphises zu schonen ist. Alle preisen die göttliche Gerechtigkeit.

Die Einspielung profitiert von der exzellenten Qualität des Orchesters, welches vom Dirigenten zu lebhaftem Musizieren inspiriert wird. Die Ouverture zum Prologue und die Préludes zu den Akten sind schwungvoll und Affekt betont, die zahlreichen Tänze lebendig und von straffem Rhythmus – von martialischem Pomp die Marche und Airs des Guerriers, fulminant die Marche au son des tambourins, lebhaft und in ihren Dudelsackanklängen von schottischer Anmutung die Première et deuxième Pastourelle. Auch der Chor besticht mit klangreichem und vitalem Gesang, wirkt oft auch mit großem Anteil in Duos oder Trios mit (z. B. „Esprit de feu“ im letzten Akt oder im Finale „Du plus beau de nos jours“).

Die stimmige Besetzung wird angeführt von Tassis Christoyannis in der Titelrolle mit hellem, wohllautendem Bariton. In seiner Auftrittsarie zu Beginn des 1. Aktes, „Rivages du Jourdain“, evoziert er mit expressivem Nachdruck den Konflikt der Figur. Nicht weniger eindrucksvoll ist der Oberpriester Phinée von Thomas Dolié, dessen Bariton etwas dunkler getönt, aber gleichfalls von imponierender Eindringlichkeit ist. Beider Duo „Viens, répands le trouble et l’effroi“ ist von kämpferischem Impetus. Erschauernd tönt Jephtés Rezitativ „Que vois-je?“, welches das Entsetzen widerspiegelt, als er seine Tochter Iphise erblickt. Chantal Santon Jeffery singt sie mit lyrischem Sopran von berührender Empfindsamkeit. Ihr Air vor dem Opfertod, „Je meurs“, ist in seiner Schlichtheit besonders ergreifend. Reifer und gleichfalls gefühlvoll klingt die Stimme von Judith van Wanroij als ihre Mutter Almasie. Das Duo der beiden Frauen im 2. Akt, „Maître des vastes cieux“, spricht von Auflehnung gegen das Unvermeidliche. Ihr Zwiegesang im 4. Akt, „Seigneur, tout mortel“, ist erfüllt vom gemeinsamen Schmerz über das bevorstehende Opfer. Im Finale preisen beide gemeinsam mit Jephté in einem lebhaften Trio mit Chor den glücklichen Ausgang. Bernd Hoppe

Im Treppenhaus

 

Verdutzt lugt Dr. Cajus durch die schmutzigen Scheiben des vollgeramschten Pubs, in dem Sir John Falstaff die „Sun“ liest und vor leergegessenen Tellern die Reste seines Frühstücks verdrückt. Dabei wird er bewacht von seinen beiden furchterregenden Kumpanen, dem Koloss Bardolfo  und dem frettchenhaften Pistola. Falstaff geht immer. Und überall. In seiner 200. Spielzeit 2018/19 hat das Madrider  Teatro Real dessen Geschichte natürlich etwas älter ist als der jetzige Bau –  Komödienspezialist Laurent Pelly, der das Stück erstaunlicherweise noch nie inszeniere, damit beauftragt, im April 2019 Verdis Komödie in Szene zu setzen. Das funktioniert recht gut. Die Typen sind herrlich: beispielsweise der züngelnde Tenor Mikeldi Atxalandabaso als Bardolfo und das kolumbianische Buffoschwergewicht Valeriano Lanchas als bulliger Pistola. Mit ihnen möchte man nicht frühstücken, geschweige denn in diesem klebrig staubigen Etablissement. Nachdem sich rasch die Wände des schlauchschmalen Ladens verschieben, zaubert Barbara de Limburg die abendlich beleuchteten Fenster der umliegenden Wohnblocks herbei, vor denen Falstaff über die Ehre philosophiert, was man von dem Alten mit dem filzigen Bart und der abgewetzten Strickweste nicht erwartet hätte. Flugs gelangen wir daraufhin ins weitläufige Treppenhaus der Fords. Viele gedrechselte Handläufe, braune Karomuster, die auch in Brüssel, Bordeaux und Tokio zu sehen sein werden. Dazu die Damen in der tüchtigen Bürgerlichkeit der 1960er und 1970er Jahre in geschmackvollen Twinsets und mit Perlenketten und passenden Handtaschen. Das läuft wie von selbst, ein bisschen komisch, ein bisschen nostalgisch, vor allem sehr grau eingetrübt, als liege Windsor in den einstigen Hochburgen des Kohleabbaus in Schottland. Und wie Pelly das Ensemble auf den vielen Stufen verteilt, treppauf, treppab wuselnd, hat etwas mechanisch Aufgedrehtes, eher Rossini als Verdi. Es fehlt mir an rechtem Spielwitz und Komik, an Tiefe und Trennschärfe zwischen den Sphären des Falstaff und der Weiber, so sehr Pelly seiner Inszenierung eine sozialkritische Ebene einziehen möchte. Wenig überzeugend der grotesk übersteuerte Schluss mit dem kalkgesichtigen Mob, der auf Falstaff eindrischt und Gericht hält. Zu lachen gibt es in dieser Welt nicht viel.

Roberto De Candia ist ein gutmütiger Falstaff mit einer warmen Stimme, die auf der Bluray (BelAir BAC 477) erstaunlich groß klingt, dabei ausreichend beweglich und witzig, allenfalls ein wenig zu einförmig. Nach Maestri ist De Candia einer der versiertesten Interpreten der Partie, was man an Nuancen und der feinen Diktion merkt, doch manches bleibt auch ein wenig großflächig und, bei wenig profunder Tiefe, angedeutet. Weshalb sich die Damen, die kaum mit einem derart Gestrandeten in Kontakt kommen dürften, abgeben, bleibt schleierhaft. Einstige Größe oder einen gesellschaftlichen Abstieg kann dieser Falstaff nicht vermitteln. Die Damen sind mit der im dritten Akt lyrisch zupackenden Ruth Iniesta als Nannetta, der als Alice wenig verführerischen und unraffiniert singenden Rebecca Evans als Hausfrau auf Abwegen, der hübsch timbrierten Maite Beaumont als blasser Meg Page und der in guter Tradition stehenden, bei manchen Tönen etwas fahl klingenden, aber komischen Daniela Barcellona als einem Gläschen nie abgeneigter Quickly schlüssiger besetzt als die Herren. Diese werden angeführt von dem tölpelhaften Ford des nicht besonders überzeugenden Simone Piazzola. Joel Prieto ist mit schmelzend leichtem Tenor ein rechter Fenton-Darling, Christophe Mortagne dreht mächtig auf und macht viel aus dem Cajus. Daniele Rustioni dirigiert das Orchester des Teatro Real bei diesem verzichtbaren Erlebnis sauber, rhythmisch flexibel und exakt, es fehlen Farben, Atmosphäre und alles, was zwischen den Zeilen verborgen ist. Da greife man dann doch lieber vielleicht zu Giulini oder einer der anderen AufnahmenRolf Fath

Krzysztof Penderecki

 

Er zählte den den wenigen Komponisten der Avantgarde, die einer breiten Öffentlichkeit geläufig waren, und war ohne Frage der bedeutendste lebende Komponist Polens. Krzysztof Penderecki am 23. November 1933 im polnischen Dębica geboren, kam auf Initiative des Vaters bereits früh mit Musik in Verbindung. Von Anfang an war er breit aufgestellt, studierte nicht nur Komposition an der Krakauer Musikakademie, sondern auch Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte an der dortigen Universität. Bereits 1958 übernahm er eine Professur in Krakau und trat ab dem Folgejahr als Komponist in Erscheinung, als ihm beim Zweiten Warschauer Wettbewerb junger polnischer Komponisten der Durchbruch gelang. Von 1972 bis 1987 amtierte er als Rektor der Musikakademie Krakau und dozierte daneben, sicherlich begünstigt durch seine fließenden Deutschkenntnisse, zwischen 1966 und 1968 an der Folkwang-Hochschule in Essen. Den größten Ruhm fuhr er durch die Verwendung seiner Musik in zahllosen Filmen ein, am bekanntesten freilich in Der Exorzist (1973) und in Shining (1980), zuletzt noch in Das Massaker von Katyn (2007) sowie Shutter Island (2010). Daneben schrieb er in seinen früheren Jahren auch spezifische Filmmusik für Die Handschrift von Saragossa (1965) und Ich liebe dich, ich liebe dich (1968). Seine wirkungsmächtigste Oper, Die Teufel von Loudun, datiert in diese künstlerisch besonders kreative Phase (1968/69). Überhaupt waren ihm die (zeit)geschichtlichen Zusammenhänge wichtig, denkt man an das an Hiroshima gemahnende Threnos (1960/61), das Klavierkonzert Auferstehung (2001/02, rev. 2007) mit Bezug auf den 11. September 2001 oder das Polnische Requiem (1980-1984, rev. 1993). Es gab keine klassische Gattung, an der sich Penderecki nicht versucht hätte, darunter nicht weniger als acht Sinfonien, mehrere Konzerte für Soloinstrument und Orchester, ein Te Deum, A-Capella-Stücke, Klavierwerke und Kammermusik. Ebenso zahlreich die Preise, Auszeichnungen und Ehrungen, welche Penderecki im Laufe seines Lebens einfuhr, darunter der Prix Italia (1968), die Mitgliedschaft in der Royal Academy of Music (1995), der Orden des Weißen Adlers – das höchste Ehrenzeichen Polens – (2005), ein Emmy (1996) und ein Grammy (2013), daneben etliche Ehrendoktorate und Ehrenprofessuren sowie die Ehrenmitgliedschaft unter anderem in der Akademie der Künste (Berlin) und der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Zudem trat er als Dirigent auf. Am 29. März 2020 ist Krzysztof Penderecki nun im 87. Lebensjahr stehend in Krakau nach langer, schwerer Krankheit verstorben (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Barocke Team-Arbeit

 

Auf einer Blue-ray Disc veröffentlicht DYNAMIC als Weltpremiere unter dem Titel Intermedi della Pellegrina ein Open-air-Spektakel, das im Juni 2019 im Giardino di Popoli des Palazzo Pitti von Florenz aufgezeichnet wurde (57856). Es vereint die sechs Intermedien, welche 1589 für die Feierlichkeiten anlässlich der Hochzeit von Don Ferdinando I. mit Cristina di Lorena (Christine von Lothringen), Großherzogin der Toscana, aufgeführt wurden. Es war eine frühe Form des Gesamtkunstwerkes – noch lange vor Richard Wagners Idee – mit einer Kombination von allen Künsten: Musik, Theater, Dichtung, Tanz, Malerei, Architektur. Ursprünglich stammen diese Zwischenspiele aus Komödien, in die sie eingefügt wurden (in diesem Fall in Girolamo Bargaglis La Pellegrina), doch hat der Regisseur des Abends, Valentino Villa, sie in dieser Koproduktion des Maggio Musicale Fiorentino mit den Gallerie degli Uffizi zusammengefasst zu einer neuen Geschichte, welche die Hochzeit von Ferdinando und Cristina zum Inhalt hat. Er erdachte eine Wanderaufführung, teilte das Publikum in farblich differenzierte Gruppen auf, die dann einem Führer mit entsprechendem Banner von einem Spielort zum nächsten folgen.

Von Atem beraubender Schönheit ist die historische Kulisse der Aufführung im Garten des Palastes mit seinen alten Mauern, den Grotten, Skulpturen und Terrakotten – alles in unterschiedliche und wechselnde Farben getaucht (Light Designer: Alessandro Tutini). Leider hat Gianluca Sbicca schrill-bunte Kostüme in schlecht verstandener Vivienne-Westwood-Manier beigesteuert. Da werden Farben abenteuerlich gemixt, Stofffetzen wüst kombiniert und den Sängern schräge Perücken, scheußliche Klunkern und Strass besetzte Butterfly-Brillen verordnet. Auch die Inszenierung bedient sich fragwürdiger Mittel, die eher einer Persiflage entsprechen. Statisten agieren nicht nur angemessen als Fahnenträger und Bogenschützen, sondern auch als Butler, Tennis- und Golfspieler sowie Ringer in Schutzhelmen. Oft sind sie von Marco Angelilli choreografisch geführt, allerdings vielfach profan und ridikül. Sie jonglieren mit Disko-Kugeln, üben sich in der Gebärdensprache, spielen im Sandkasten.

Sechs Komponisten haben an den Intermedien mitgewirkt, das erste mit dem Titel „L’Armonia delle Sfere“ – wie alle komponiert im Stil des recitar cantando – stammt von Cristofano Malvezzi (1547 – 97). Hier sorgt Rossana Bertini als Sopran I in einem abenteuerlichen rot-grünen Outfit mit strenger, bohrender Stimme für irritierende Eindrücke. Danach kommt der Chor in weißen Anzügen zum ersten Einsatz; und das Coro Ricercare Ensemble (Einstudierung: Alberto Allegrezza) hat Gelegenheit, in der Lobpreisung auf das hohe Paar seinen wohllautenden Gesang hören zu lassen. Im nächsten Titel, der Sinfonia a 6, leitet der renommierte Dirigent der Alten Musik, Federico Maria Sardelli, sein Ensemble Modo Antiquo und signalisiert auf Anhieb, mit diesem auf historischen Instrumenten musizierenden Klangkörper das herausragende Ereignis der Aufführung zu sein. Der Dirigent verfügte über die Originalinstrumentierungen sowie den Bericht eines Zeitzeugen, des Komponisten Cristofano Malvezzi, aus dem Jahre 1591, der die musikalische Pracht der Aufführung minutiös schildert. Die Blechbläser, spezialisiert auf die Musik der Renaissance und des Barock, sorgen für ein überwältigendes Klangbild, das die pompös-feierlichen Instrumentalstücke in imponierender Manier wiedergibt. Als Sopran II lässt Elena Bertuzzi, gleichfalls im Vogelscheuchen-Outfit, eine angenehmere, weil weichere Stimme hören. Das Gesangs-Sextett komplettieren die Altistin Candida Guida, der Tenor Paolo Fanciullacci, der Bariton Marco Scavazza und der Bass Mauro Borgiono.

Die nächsten beiden Intermedien, „La Contesa fra le Pieridi e le Muse“ und „Il Combattimento di Apollo col serpente Pitone“, komponierte Luca Marenzio (1554 – 99). In der einleitenden Sinfonia a 5 imponiert Modo Antiquo erneut mit funkelndem Bläserglanz.

Schöpfer des Intermedio IV mit dem Titel „Demoni celesti annunciano l’avvento di un’epoca felice“ sind Giulio Caccini (1550 – 1618), wiederum Cristofano Malvezzi und Giovanni de’ Bardi (1534 – 1612). Von letzterem stammt der ungemein wirkungsvolle Teil „Miseri abitator del cieco Averno“ mit düsteren Akkorden, welche eine apokalyptische Stimmung erzeugen.

Das fünfte Intermedio, „Arione e il delfino“, komponierten Malvezzi und Jacopo Peri (1561 – 1633), Schöpfer der ersten (verschollenen) Oper der Musikgeschichte, Dafne. Der letzte Beitrag, „Appare in cielo Giove con il concilio degli dei“, stammt von Malvezzi und Emilio de’Cavalieri (1550 –1602). Eingeleitet von Trommelklängen, marschiert ein Zug mit Bannerträgern und Spielleuten herein und stimmt den finalen Hymnus „O che nuovo miracolo“ an, in den alle Solisten und der Chor einfallen, um das Glück des Paares zu preisen. Bernd Hoppe

Opernhafte Marienfrömmigkeit

 

Unter dem Titel Salve Regina bringt BRILLIANT CLASSICS eine CD heraus, welche das Antiphon der Maria, das vom Dreifaltigkeitssonntag bis zum Advent gesungen wird, in vier verschiedenen Vertonungen vorstellt (96092). Darunter sind zwei Weltersteinspielungen, so Nicola Porporas Version in G-Dur, welche das Programm eröffnet. Die Sopranistin Federica Napoletani interpretiert alle vier Stücke mit einer klaren, obertonreichen Stimme, kann in dieser ersten, eher der Oper nahen Komposition auch eine angemessene Virtuosität zur Schau stellen. Im einleitenden „Salve Regina“, das als Lento notiert ist, und dem Adagio „Ad te suspiramus“ weiß sie dagegen mit leuchtenden Tönen und innigem Ausdru30ck zu überzeugen. Begleitet wird sie vom Ensemble Imaginaire unter Leitung von Cristina Corrieri, die im Booklet in einer Einführung die einzelnen Werke kommentiert und sich durchweg als einfühlsame Partnerin der Solistin erweist.

Auch Giovanni Battitsta Pergolesis Fassung in g-Moll ist eine Neuheit auf dem Musikmarkt. Der 1710 in Jesi geborene und bereits 1736 in Pozzuoli verstorbene Komponist ist vor allem für sein Stabat Mater für Sopran und Alt berühmt. Das Salve Regina (eine von seinen  insgesamt drei Vertonungen) umfasst fünf Teile und ist – im Gegensatz zu Porporas Idiomatik – eher von meditativem Charakter. Der lebhafte vierte Teil, „Eja ergo“, mit einem virtuosen Cello-Solo unterscheidet sich deutlich von den übrigen Abschnitten mit ihrem introvertierten Charakter.

Leonardo Leo war ein Komponist und Lehrer an der Pietà dei  Turchini und am Conservatorio Sant’Onofri in Neapel – zu seinen Schülern zählen Jommelli und Piccinni. Er schrieb mehr als 60 Opern, darüber hinaus eine Vielzahl von geistlichen und Instrumentalwerken. Das Salve Regina in c-Moll besteht bei ihm aus sechs Abschnitten. Eine weitere Vertonung von seiner Hand in F-Dur mit gleichfalls sechs Teilen und der identischen Textfolge unterscheidet sich vor allem im „Et Jesum benedictum“, welches in der ersten Version in polyphoner Manier ertönt, in der zweiten dagegen in opernhaft-rezitativischem Duktus daherkommt. Die Sopranistin stellt auch in diesen beiden Werken ihre Kompetenz in dem Genre nachdrücklich unter Beweis, besticht besonders im virtuosen Allegro „Ad te clamamus“ der F-Dur-Fassung mit brillanten Koloraturläufen. Bernd Hoppe

 

Das mittelalterliche Reimgebet Stabat Mater setzte sich erst im 18. Jahrhundert als Ausdruck der Marienfrömmigkeit durch, 1727 führte Papst Benedikt XIII. am Freitag nach dem Passionssonntag das Fest der sieben Schmerzen Mariä ein, die Anzahl der Kompositionen stieg an. Pergolesis Stabat Mater aus dem Jahr 1736 wurde populär, Vertonungen gab es bereits zuvor, bspw. von Palestrina und Orlando di Lasso. Der in Oberbayern geborene Johann Simon Mayr (1763-1845) besaß in Bergamo eine gut besetzte Musikbibliothek, darunter einige instrumentalbegleitete Werke dieses Typs, an deren Beispielen er sich Anregungen holte. Mayr komponierte sein Stabat Mater in f-Moll in zwei Grundversionen mit unterschiedlichen textlichen Ausmaßen und nachträglichen Ergänzungsstimmen – eine praktikable Handhabung, die keine endgültige Version hervorbrachte. Dirigent Franz Hauk ist als Mayr-Forscher mit umfangreicher Mayr-Diskographie bei Naxos bereits sehr verdienstvoll in Erscheinung getreten und legt mit dieser CD-Veröffentlichung drei Ersteinspielungen vor: das aus Manuskripten von ihm rekonstruierte Stabat Mater, ein Eja Mater in F-Dur und ein eingängiges Ave maris stella in G-Dur. Musikalisch wirkt einiges in Mayrs Stabat Mater für heutige Ohren opernhaft vertraut, man kann sich beim Anhören die Verknüpfung zu einem Bühnengeschehen gut vorstellen. Das O quam tristis et afflicta wirkt nicht trist oder schmerzvoll, sondern virtuos und aus einer Buffa entlehnt, das Quis est homo muss sich ebenfalls nicht des Jammers erwehren, sondern hat etwas von einer nachdenklichen, melancholischen Opernarie. Im alternativen Eja Mater verzichtet Mayr auf die hohen Streicher und setzt Hörner und Holzbläser zur Unterstützung des Sängerquartetts. Die Assoziation zur heiteren Oper und zum virtuosen Konzert liegt öfters näher als die zur sakralen Ernsthaftigkeit des Themas, entsprechend melodiös und reizvoll klingt die Musik. Der musikalische Schönklang in Mayrs geistlichen Werken wird hier durch schlanke, manchmal auch etwas dünn anmutende Stimmen unterstützt. Zu hören sind der Sopran der Koreanerin Jaewon Yun, die Altistin Theresa Holzhauser, der Bariton Jens Hamann sowie die Tenöre Markus Schäfer und Robert Sellier. Der von Franz Hauk gegründete Simon Mayr Chor wird ergänzt durch Mitglieder des Chors der Bayerischen Staatsoper. Das Münchener Concerto de Bassus setzt sich aus Studenten und Graduierten der Münchener Musikhochschule zusammen. Das Ave maris stella ist mit dem italienischen Ensemble I Virtuosi Italiani entstanden, die amerikanische Sopranistin Andrea Lauren Brown, der Bassist Virgil Mischok und wiederum die Altistin Theresa Holzhauser sorgen für den stimmlichen Wohlklang dieser interessanten Entdeckung. (Naxos 8.573781)
Das Stabat Mater von Rossini liegt mehrfach für CD eingespielt vor und es ist müßig, über die schönste Aufnahme zu diskutieren. Dass Dynamic nun eine Live-Aufnahme aus der Opera Vlaanderen aus Antwerpen/Gent aus dem Jahr 2011 veröffentlicht, hat Gründe. Rossini-Experte und Dirigent Alberto Zedda starb im März 2017 im Alter von 89 Jahren in Pesaro – wo auch sonst!?! Zedda dirigierte diese Aufnahme nicht altersbedingt langsam (Antonio Pappanos ebenfalls opernhafte Einspielung mit Anna Netrebko, Joyce DiDonato, Lawrence Brownlee und Ildebrando D’Arcangelo sowie dem Orchestra dell‘ Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Roma braucht fast durchgehend mehr Zeit), sondern mit Leidenschaft, klangvoll und atmosphärisch dicht – die Aufnahme ist innig und mit Inbrunst musiziert und gesungen. Namhafte opernerfahrene Sänger unterstützen Zedda. Der Sopran von Serena Farnocchio und der Mezzosopran von Anna Bonitatibus kontrastieren eher, als dass sie verschmelzen, das Duett im Quis est homo ist ein teilweise herb klingendes Largo. Der Tenor Ismael Jordi zeigt die Stärken seiner beweglichen Stimme im Cujus animan, Bassbariton Alex Esposito  überzeugt, bspw. im Allegro Maestoso des Pro Peccatis mit profundem Ausdruck. Dynamic überzeugt bei seinen Veröffentlichungen nicht immer mit optimaler Aufnahmebalance, hier allerdings gelingt eine gute Einspielungsakustik. Für Fans des verstorbenen Alberto Zedda ist das eine weitere lohnenswerte Einspielung. (Dynamic, CDS7799 Marcus Budwitius

Gelungene diskographische Erweiterung in Sachen Liszt

 

Das Liszt-Jahr ist zwar vorüber, doch glücklicherweise bedeutet das nicht, dass die Fülle an teils hochkarätigen Neueinspielungen damit verebben würde. Die Staatskapelle Weimar unter ihrem damaligen, aus der Ukraine stammenden Chefdirigenten Kirill Karabits ließ bereits aufhorchen in Sachen Liszt, als Audite das Opern-Fragment Sardanapalo (plus Mazeppa) auf den Markt brachte. Es ist insofern schade, dass Karabits‘ Weimarer Amtszeit 2019 nach gerade drei Spielzeiten auch schon wieder endete. Ob die nun vorgelegte Liszt-Neuaufnahme (Audite 97.760) in dieser Kombination bereits die letzte war, bleibt abzuwarten. Eingespielt wurde wieder neben ziemlich bekannten Werken, der Dante-Sinfonie und der Sinfonischen Dichtung Tasso, wiederum eine absolute Rarität, der sogenannte Künstlerfestzug zur Schillerfeier, der hier sogar seine Weltersteinspielung erfährt. Aufgenommen wurden die drei Werke während Karabits‘ finaler Spielzeit im Congress Centrum Neue Weimarhalle (die Dante-Sinfonie zwischen 17. und 20. August 2018, der Rest am 14. und 15. April 2019).

Von den beiden großen Programmsinfonien, die Liszt vorgelegt hat, steht diejenige, die dem Florentiner Renaissance-Dichter Dante Alighieri und seiner Göttlichen Komödie gewidmet ist, etwas im Schatten der Faust-Sinfonie. Dies gewiss zu Unrecht, zeigt sich die musikalische Umsetzung doch schlechterdings genial. Sie besteht trotz ihrer erheblichen Länge von einer dreiviertel Stunde lediglich aus zwei Sätzen, bezeichnet mit Inferno sowie Purgatorio – Magnificat. Liszt stellte also lediglich das Jüngste Gericht und das Fegefeuer musikalisch dar; den Himmel hielt er letztlich in musikalischer Form für nicht angemessen umsetzbar. Der Schlusschor (mit Harmonium) gibt lediglich eine, allerdings im wahrsten Sinen des Wortes himmlische Vorahnung auf denselben wieder. Ad libitum, auf Anraten der Fürstin Sayn-Wittgenstein, fügte er freilich noch einen „pomphafte[n], plagialische[n] Schluß“ (Wagner) hinzu, der heutzutage fast immer weggelassen wird, so auch hier, so dass die Sinfonie mit einem „sanften, edlen Verschweben“ (ders.) ausklingt. Allzu viele Einspielungen des Werkes gibt es – anders als bei der Faust-Sinfonie – nicht. Daniel Barenboims Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern (Teldec) hat mich seinerzeit jedenfalls mehr beeindruckt als jene von Giuseppe Sinopoli mit der Staatskapelle Dresden (DG). Ausgezeichnet ein kommerziell nicht erhältlicher Rundfunkmitschnitt des Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti, der tatsächlich den alternativen Schluss anhängt. Die Neuproduktion aus Weimar kann sich dort sehr gut einreihen und wartet zumal mit einer phantastischen Klangqualität auf. Im Inferno und im Magnificat wählt Karabits mit 21:03 und 7:31 nahezu identische Spielzeiten wie Barenboim, um im Purgatorio allerdings fast drei Minuten flotter zur Sache zu gehen (18:02) – und ganze fünf Minuten schneller ist als Sinopoli. Die Damen des Opernchores des Deutschen Nationaltheaters Weimar sowie der Knabenchor der Jenaer Philharmonie unterstützen das herrlich aufspielende Orchester kongenial.

Tasso. Lamento e Trionfo ist vermutlich eine der drei am häufigsten gespielten Liszt’schen Tondichtungen (neben Les Préludes und Mazeppa). Wiederum steht ein italienischer Dichter, diesmal Torquato Tasso, im Zentrum, der am Ende wahnsinnig wurde und einen Tag vor seiner geplanten Dichterkrönung starb. Mit seiner zu Unrecht völlig im Schatten stehenden dritten Trauerode Le Triomphe funèbre du Tasse schuf der Komponist später gar eine Art Fortsetzung. Berühmtheit erlangte Tasso insbesondere wegen der ohrwurmartigen „venezianischen Melodie“, welche Tassos nagenden Schmerz widerspiegelt. Karabits wählt gemessene Tempi, kommt auf 21:25 Minuten und erreicht damit beinahe die Ausmaße, welche Herbert von Karajan 1975 in seiner Einspielung für die Deutsche Grammophon wählte, die für mich nach wie vor die Referenz darstellt. Und ohne Frage gelingt Karabits auch hier eine Interpretation, die zu den besten gerechnet werden muss, vom zaghaften Beginn bis zum triumphalen Abschluss.

Die Weltpremiere, auf der vorliegenden CD als erster Track gelistet, ist das heimliche Highlight. Sicherlich reicht der Künstlerfestzug künstlerisch schwerlich an die beiden anderen Stücke heran, doch ist die Umsetzung dieser etwa elfminütigen Triumphalmusik trotz fehlender Vergleichsoptionen wiederum tadellos und lässt diese Komposition nicht als hohlen Pomp dastehen.

Eine feine diskographische Erweiterung in Sachen Liszt also, bei der man eine Fortsetzung der Audite-Reihe erhoffen würde. Daniel Hauser

Weniger und mehr

 

Walter Rauschers Buch Charleston, Jazz & Billionen ist nicht schlechter, aber es ist anders, als man nach dem Betrachten des Covers erwartet hat. Zwar erweckt es mit seinem Titel den Anschein, es gehe um die Unterhaltungskultur in Zeiten von Inflation, was durch die Konterfeis einer kurzberockten Dame mit Zigarettenspitze und eines befrackten Herrn mit Spazierstock, jeweils zu Seiten des Titels, noch unterstützt wird. Um Musik und Tanz geht es aber nur in einem Bruchteil des Werks, Politik, Wirtschaft, Technik und sogar Sport nehmen einen mindestens ebenso umfangreichen Raum ein. Und auch die klassische Musik steht durchaus gleichberechtigt neben der reinen Unterhaltung, ebenso wie Literatur oder Architektur. Allerdings hätte der potentielle Erwerber des Buchs angesichts des kleingedruckten Untertitels stutzen können. Da heißt es nämlich „Europa in den verrückten Zwanzigerjahren“, die hier offensichtlich zum in einem Wort geschriebenen feststehenden Begriff geworden sind.

Der deutsche Leser ist erstaunt und erfreut darüber, dass von dem österreichischen Autor auch das Schicksal des nach 1918 zwangsaufgelösten Habsburgerreichs, noch dramatischer als das Deutschlands,  in seine Betrachtungen einbezogen wird, und er nimmt erstaunt zur Kenntnis, wie intensiv die Bestrebungen waren, sich mit Deutschland zu einem Staat zu vereinigen.

Wie umfassend und damit notwendigerweise auch recht knapp für die einzelnen Gegenstände der Betrachtung die Ausführungen sein müssen, sieht man daran, dass der Prolog sich neues „Hoffnung auf ein Zeitalter 1920“ nennt, nach diesem wird in themenübergreifende Kapitel wie „Suche nach einer neuen Weltordnung“ gegliedert, während innerhalb derer wieder an sich bücherfüllende Themen wie Versailles, die Emanzipation der Frau oder Österreichs Staatsvertrag abgehandelt werden. Da kann natürlich vieles nur angetippt werden, kann aber Ausgangspunkt für eine intensivere Beschäftigung mit dem jeweiligen Gegenstand sein, denn im Anhang gibt es außer den Anmerkungen noch eine Fülle von Literaturhinweisen, die den Leser tiefer in das ihn interessierende Kapitel führen können. Nicht nur thematisch, auch geographisch spannt das Buch weite Flügel aus, so gibt es ein schillerndes Kapitel „Ϛa c‘est Paris“, ehe Berlin und Wien als bemerkenswerte Städte berücksichtigt werden. Hier werden zum ersten Mal das Nachtleben und damit die titelgebende Musikrichtung berücksichtigt.

Geht es um Berlin, dann könnte man beinahe vermuten, es handele sich um die Stadt des Jahres 2020, wenn berichtet wird: „Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen wie die Pilze“, auch wenn man nicht so weit gehen würde, den Trubel als „ fiebriges Nachäffertum“ zu bezeichnen, wie es Stefan Zweig für das Berlin der Zwanziger tat.

Das den Musikfreund besonders interessierende Kapitel „Die neue Musik“ ist untergliedert in Ausführungen über den „Klassiker“ Strauss, ein weiteres Unterkapitel widmet sich Ravel, dann kommen Schönberg und Strawinski zu ihrem Recht, gefolgt von den Russen Prokofjew, Rachmaninow und Schostakowitsch.

Berg, Webern und Bartók ist ein eigener Abschnitt gewidmet, während in „Zwischen Provokation und Erfolg“ Hindemith und Honegger sowie Schreker berücksichtigt werden. Schließlich werden noch Krenek und Korngold erwähnt. Manchmal wird nur ein Namen genannt, oft aber auch ausführlicher über den Komponisten und seine Werke berichtet. Ein weiteres Kapitel ist „Operette und Schlager“ gewidmet, der „silbernen Ära“ durch Lehár, Benatzky und Stolz. „Jazz zwischen Kunst und Kommez“ entspricht den durch das Cover geweckten Erwartungen am meisten, Paul Whitman mit seinen 31 Nummer-1-Hits wird gewürdigt. Dann ist schon wieder Schluss mit Jazz und Charleston, geht es über zu Literatur, zum Expressionismus, dann zur Neuen Sachlichkeit, Bauhaus, Saalschlachten wie die von Schnitzlers Reigen ausgelöste, um schließlich die „Rückbesinnung auf die „gute alte Zeit“ heraufzubeschwören.

Nach einem recht umfangreichen Kapitel über den Sport, indem sogar der Läufer Nurmi ausführlicher vorkommt, wird noch einmal weit ausgeholt mit einem Blick auf „Europa in einem labilen Jahrzehnt“, werden Fluchtbewegungen durch Gebietsabtretungen und Sowjets, die drei großen europäischen Demokratien, Russland mit Lenin und Stalin, Italien mit Mussolini, das „neue Mitteleuropa“ (wo ein Österreicher es sich leisten kann, Polen zu kritisieren) und der „Geist von Locarno“ beschrieben.

Das Buch ist eine vorzügliche, angenehm zu lesende Einführung in die Zwanziger mit Berücksichtigung von allem und jedem. Von dieser ausgehend kann sich der Leser, gestützt auf die so umfangreichen wie gewissenhaften Literaturangaben, in dem ihn ganz besonders interessierenden Wissensgebiet informieren und weiterbilden. Natürlich auch, was Charleston, Jazz und Billionen betrifft ( Amalthea Verlag, ISBN 978 3 99050 146 7). Ingrid Wanja        

Barocke Gender-Gesänge

 

Der Auftritt der Amme in einer Barockoper wird stets mit Spannung erwartet – ist dieser doch zumeist von kurioser Anmutung, Denn die Rolle wird entweder von einem Counter- oder einem Charakter-Tenor gesungen, also en travestie besetzt. In Monteverdis L’incoronazione di Poppea gibt es sogar einen Ammen-Wettstreit, denn sowohl die Titelheldin als auch Ottavia, verstoßene Gattin des Kaisers Nerone, werden von solch einer dienstfertigen Nutrice umsorgt. Unter dem Titel Il Canto della Nutrice (Nurse Tenor Arias) hat der italienische Tenor Marco Angioloni im Oktober 2019 bei DA VINCI CLASSICS eine CD mit einem originellen Programm aufgenommen, welches Ammen-Szenen von sechs verschiedenen Komponisten versammelt (C00240). Darunter finden sich nicht eweniger als 13 Weltpremieren. Die Idee zu diesem Projekt kam dem Sänger nach der Interpretation einer Ammen-Rolle in Richard Löwenhertz bei den Telemann-Festspielen 2018 in Magdeburg.

Am meisten vertreten ist Francesco Cavalli (1602 – 76), der nicht weniger als 114 Ammen-Partien komponierte. Im Programm erklingen Ausschnitte aus acht seiner Opern. Den Beginn markiert die Sinfonia aus Muzio Scevola, in der das begleitende Ensemble Il Groviglio mit musikantischem Schwung sowie dynamisch differenziertem Einsatz aufwarten und seinen hohen Anteil am Gelingen der CD unterstreichen kann. Das betrifft gleichermaßen die Sinfonie aus Pietro Antonio Cestis Il Tito und Alessandro Melanis Il Girello. Erster Vokalbeitrag ist die Arie „A scherzi lasciuetti“ aus Doriclea. Schon hier entzückt der exaltierte Ton des Sängers, der einer Amme bestens ansteht und die Bizarrerie einer solchen Figur plastisch umreißen kann. Die weiteren Cavalli-Beiträge stammen aus Eritrea, Erismena, Orimonte, Calisto, Egisto und Eliogabalo. In ihnen wartet der Interpret neben affektiertem Gehabe und fiebrig-hitziger Tongebung auch mit bemerkenswert lyrischer Substanz auf.

Von Antonio Sartorio, der von 1630 bis 1680 lebte, gibt es eine Arie aus Orfeo, „Non ho core per mirar“, in der die Nutrice mit nachdrücklich-autoritärem Duktus aufwartet. Zum Abschluss der Anthologie erklingen zwei Szenen aus Domenico Scarlattis L’Ottavia restituita al trono – die Arie „Le fravolette di questa bocca“, in welcher der Sänger zwischen jammerndem und hektischem Tonfall wechselt, sowie das lebhafte Duett „Arrogantaccio, va via“, in dem sich die Sopranistin Francesca Martini mit aufgeregtem Tonfall zum Tenor gesellt.   Bernd Hoppe

Altbekanntes Geräusch

 

Hatte er vor Jahrzehnten noch in Macerata mit einer heroinsüchtigen Mimi die damals noch heile Welt der Oper in Angst, Schrecken und Empörung versetzt, so sind die Empfindungen, die Keith Warner beim heutigen Opernbesucher, so dem der Walküre in London, weckt, nur die  eines mühsam unterdrückten Gähnens. Welche optischen Herausforderungen und Möglichkeiten bietet gerade dieser Teil des Ring mit Walkürenritt oder Feuerzauber, allesamt verschenkt zugunsten einer langweiligen drehbaren weißen Wand oder von Wunschmädchen, die mit wehenden Umhängen wie aufgescheuchte Fledermäuse mit Pferdeschädeln wedeln, um Aktivität vorzutäuschen. Und Wotans Abschied als langsames über die Bühne Schleichen, Hand in Hand mit Brünnhilde, die nicht weiß, wie ihr geschieht bei dem Domingo-verdächtigen Abschiedskuss, das alles spricht von Verlegenheit und Einfallslosigkeit, die beinahe noch schlimmer sind als Provokation. Auch die vielen Farbwechsel, dazu auch in Rot, tragen dazu bei, den Feuerzauber um seine optische Wirkung zu bringen. Ein Goldregen, wie ihn Frau Holle hätte verursachen können, oder ein Kanapee mit Widderhörnern, zwischen denen Hunding sein Gebet an Fricka verrichtet, scheinen auch eher Verlegenheitslösungen als durchdachtes Regiekonzept zu sein. Dabei genießt der Video-Betrachter noch den Vorzug, durch eine kluge Kameraführung meistens vor dem Totalanblick einer hoffnungslos zugemüllten Bühne bewahrt zu werden.

Ein Opernhaus, das auf sich hält, engagiert, falls Jonas Kaufmann nicht zu haben ist, als Siegmund Stuart Skelton, der die längsten und kraftvollsten „Wälse“-Rufe aller Zeiten zum Besten gibt, so auch in dieser Aufführung, der zudem für die recht tief liegende Partie auch eine wohltönende Mittellage hat, dessen Tenor von einheitlicher Farbe ist und der ein schönes, fast italienisches Legato singt. Ausgerechnet die „Winterstürme“ klingen verhuscht und gehen fast unter, während der Schwellton auf „Frauen“ höchst erfreulich ist. Optisch ist der Australier eher an Johan Botha gemahnend als an seinen deutschen Kollegen und dementsprechend ist auch sein Spiel ein eingeschränktes. Seine Sieglinde ist Emily Magee in zunächst schlimm verunstaltendem Kostüm, aber einem Sopran von rundem, vollem Klang, präsent auch in der Mittellage. Die Sängerin  gibt manchmal mehr, als die Rolle an Dramatik erfordert und wird dann leicht schrill. Ihr „Rettet die Mutter“ treibt dem Hörer Tränen in die Augen, warum sie zu Beginn sich wie in Wehen auf einem Podest hin- und herwinden muss, bleibt unerfindlich.

Fast zu attraktiv für den Hunding ist Ain Anger  mit bassgewaltiger Stimme, die auch sotto voce noch höchst präsent ist. Sein Todeskampf ist hollywoodwürdig. Optisch wie vokal ihm ebenbürtig ist Sarah Connolly als Götter-Gattin Fricka, so hoheitsvoll wie verführerisch, deren Kostüm so farbenprächtig ist wie ihre Stimme, die viele unterschiedliche Emotionen hörbar macht.

Der Schwachpunkt der Aufführung ist der Wotan von John Lundgren, der optisch nur in Bezug auf das verloren gegangene Auge überzeugen kann, dazu einen eher eines Brunnenvergifters als Göttervaters würdigen Bariton vorweisen kann, ein gar nicht edles Timbre, eine im Piano wenig tragfähige Stimme, wie das fast tonlose „so küsst er die Gottheit von dir“ zeigt und der erst in der Beschwörung Loges angemessenes akustisches Format zeigt.

Der unbestrittene Star der Aufführung aber ist die verdienstvolle Brünnhilde vom Dienst, Nina Stemme, die eine sehr menschliche Walküre voller Wärme und Entschlossenheit spielt, deren Sopran ein warmes Leuchten auszeichnet, ein farbiges Piano für „War es so schmählich“, eine wunderschöne Todesverkündigung, sehr, sehr viele Schattierungen und die durchgehend zeigt, dass Wotan zwar die Macht, sie aber die unbeirrbare Stärke hat. Dass das „Hojotoho“ nicht besonders eindringlich ist, liegt an dem unglücklichen Regieeinfall, dass es beim Hinabklettern von einer Leiter gesungen werden muss.

Antonio Pappano dirigiert sängerfreundlich, aber wenn angebracht auch angemessen rauschhaft und auf Überwältigung setzend, wie Nina Stemme wird er ganz besonders vom Publikum gefeiert. Aber ist das alles genug (Opus arte BD7270D)? Ingrid Wanja

Les Soeurs Boulanger

 

Aufgefallen war er mir an der Opéra-Comique. Dort war Cyrille Dubois in Aubers Le domino noir ein wendig quecksilbriger Horace vom Typ des tenoralen Adabeis mit mehr Singwitz als Stimme, genauso wie er in den opéra comiques der Zeit gefragt ist.  An der Opéra Bastille hat er auch Größeres gesungen, etwa 2017 Mozarts Ferrando. Der Tamino soll dort im kommenden Jahr folgen; ich kann mir das schwer vorstellen in dem großen Haus. Mit den im März 2018, also genau zwischen den Aufführungsserien des Domino Noir  in Liège und Paris, im Palazzetto Bru Zane in Venedig aufgenommenen Mélodies der Boulanger-Schwestern (apartemusic AP224) zeigt sich der 35jährige Tenor nochmals von einer anderen Seite, nämlich der des klugen Gestalters, des erfahrenen Interpreten, der Verse zum Klingen bringt. Die 21 Lieder aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wandeln noch auf den Spuren des Bonne Chansons und halten in der Nachfolge von Fauré und Debussy Tugenden wie Textdeutlichkeit, Klarheit und gestalterische Phantasie hoch.

Die Bekanntere der Soeurs Boulanger ist natürlich Nadia Boulanger, die 1979 mit über 90 Jahren starb (und deren Oper La ville morte gerade in Göteborg aufgeführt wurde – ein Beitrag liegt schon bereit/ G. H.). Sie ist eine Legende, Lehrerin zweier Generationen von Komponisten von Milhaud bis Glass, Dirigentin, die als erste Strawinskys Dumberton Oaks dirigierte und die Orgel bei der ersten Aufführung der Symphony for Organ and Orchestra ihres Schülers Copland spielte. Heute würde man sie wohl als eine Netzwerkerin bezeichnen, sie kannte jeden und alle kannte sie. Als Komponistin scheint sie nicht so avantgardistisch zu sein, wie sie es als Frau und Künstlerin war. Die Lieder bieten geistreich gepflegte Unterhaltungen zwischen Singstimme und Klavier, melancholisch umflort und verinnerlicht. Im ersten Teil des Programms trägt Dubois die Zeilen von Henry Bataille (Poème), Armand Silvestre (Poème d’amour), Albert Samain (Versailles und Élégie) und Paul Verlaine (Écoutez la chanson bien douce) so souverän und eloquent, so pointiert und spitz vor, dass man sie mitschreiben könnte: „O Versailles, par cette après-midi fanée“, da stellt sich Poesie wie von selbst ein. Dubois singt das mit morbider Sanftmut, doch wenn er eine mittlere Dynamik überschreitet, wird sein kleiner Tenor grell, näselnd penetrant. Vor allem in den fast klanglosen, pianofeinen Details erweist sich Dubois aber als wunderbarer Gestalter dieser Seelenwelten

Die Lieder stammen aus den Jahren zwischen 1905 (Verlaines Écoutez la chanson bien douce) und 1922 mit Le couteau/ Das Messer (nach Camille Mauclair), das sich brutal ins Herz bohrt, ohne dass sich der elegische, blutbetröpfelte Ton ändert. Mit den 35 Jahre älteren Pianisten Raoul Pugno, mit dem sie eine lange künstlerische Partnerschaft verband und für den sie ihre Fantasie varitée pour piano et orchestre komponierte, erarbeitete Nadia 1909 den achtteiligen Zyklus L‘ Heures claires/ Die klaren Stunden auf Gedichte des belgischen Schriftstellers Émile Verhaeren, deren symbolistische Verse sie mit einem aufgeregt sprechenden Klavierpart unterlegten.

Ihre sechs Jahre jüngere, aber bereits mit 25 Jahren an Tuberkulose verstorbene Schwester Lili Boulanger ist die Unbekannte. Ihre Kantate Faust et Hélène (bei Chandos), mit der sie 1913 den Prix de Rome gewann,  zeigte, welche originelle Komponistin sie war; Nadia hielt sie für die begabtere der beiden Schwestern und konzentrierte sich nach Lilis Tod auf ihre pädagogische Begabung. Lilis zwischen 1911 und 1916 entstandenen Quatre Chants sind noch ernster als die mélodies der Schwester Nadia, extremer und bezwingender in Ausdruck und musikalischer Anlage und von einer schwarztriefenden Schwermut, als habe die frühbegabte, chronisch kranke Komponistin ihr nahendes Ende im Frühjahr 1918 geahnt: In Dans l’immense tristesse nach einem Gedicht der blinden und tauben Bertha de Calonne ist die Verzweiflung und Tragik mit Händen zu greifen. Freilich passt diese Stimmung auch zu den beiden Maeterlinck-Vertonungen Attente – Lilis erster Komposition von 1911 – und Reflets sowie den Zeilen eines anderen Symbolisten, Georges Delaquys, der in Le retour über die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka schreibt. In diesem für den hochberühmten Hector Dufranne, den ersten Golaud, geschriebenen Lied, klingt Dubois, dem die Leichtlebigkeit der Bonvivants geradezu in die Stimme gelegt scheint, dunkel, schwer und elegisch, das Farbenspektrum verändert sich. Nicht nur im raffinierten Wellenspiel der Begleitung zeigt Tristan Raël welch eingespieltes Duo er und Dubois bilden, die sich als einstige Gewinner des Boulanger Wettbewerbs den Schwestern besonders verpflichtet fühlen. Rolf Fath

Weder konzertant noch szenisch

 

Sergei Rachmaninow, bekannt als Pianist und Schöpfer bedeutender Klavierwerke, hatte sich nach seiner Emigration 1917 in die Schweiz und später in die USA  nicht mehr an wortbetonten Kompositionen versucht, wohl ein Zeichen für den tiefgehenden Verlust seiner Heimat. Seine vier Opern sind sämtlich vor der Emigration entstanden; es sind dies neben der Fragment gebliebenen Monna Vanna (1907 nach Maurice Maeterlinck) Aleko (1892 nach Puschkins Zigeuner), Der geizige Ritter (1905 nach Puschkins gleichnamiger Kleinen Tragödie) und Francesca da Rimini (1906 aus Dante Alighieris Göttlicher Komödie).

Rachmaninows Erstling Aleko spielt im Zigeuner-Milieu, wo der Titelheld und Semfira mit dem gemeinsamen Kind leben. Als sich Semfira in einen jungen Zigeuner verliebt, tötet der eifersüchtige Aleko beide. Wider Erwarten üben die Zigeuner keine Rache, sondern verstoßen ihn aus ihrer Mitte.

Der geizige Ritter ist eine fast wortgetreue Vertonung von Puschkins „kleiner Komödie“ aus dem Mittelalter: Ein besitzgieriger Ritter hält entgegen den Standespflichten seinen Sohn Albert so arm, dass dieser fast den Einflüsterungen eines jüdischen Geldverleihers nachgibt, den Vater zu töten. Als dieser seinen Sohn des Diebstahls beschuldigt und der Herzog als Landesherr zwischen beiden vermitteln will, trifft den Alten der tödliche Schlag.

Im Zentrum von Francesca da Rimini steht eine tragische Liebesgeschichte: Heerführer Lanceotto Malatesta, der eine Liebesbeziehung zwischen seiner Frau Francesca und seinem Bruder Paolo vermutet, stellt beiden eine Falle. Beim Vorlesen der Geschichte vom Ritter Lancelot und der schönen Ginevra, der Gemahlin des Königs Artus, erkennen sich Paolo und Francesca im Schicksal beider wieder und gestehen einander ihre Liebe; Malatesta hat sie belauscht und tötet sie.

Die drei Kurzopern wurden unter dem Titel Troika zusammengefasst und 2015 während der Renovierung des Théâtre de la Monnaie am Brüsseler Theatre National produziert; ein Mitschnitt vom Juli 2015 ist bei BelAir erschienen. Für die Inszenierung der äußerst selten gespielten Opern hatte man die Dänin Kirsten Dehlholm verpflichtet, die auch als Performance- und Medienkünstlerin bekannt ist. Das Orchester ist vorn auf dem Podium postiert, die Sängerinnen und Sänger dahinter auf einer großen, nach hinten aufsteigenden Treppe, die durch Bäume mit Herbstlaub und meist abstrakt-farbigen Videos „bebildert“ wurde (Maja Ziska/Magnus Pind Bjerre). Während in Aleko und Francesca da Rimini das Orchester zu sehen ist, erscheint es im Geizigen Ritter nur schemenhaft hinter einem Vorhang Leinwand, vor der die Sänger ihren Part nur selten Emotionen zeigend ins Publikum singen. Solisten und Choristen sind in allen Opern abenteuerlich bunt, teilweise übermäßig unförmig gekleidet, offenbar um in nichts die Personen zu kennzeichnen, die sie darstellen (Manon Kündig). Die Personenführung ist mit unverständlichen Gesten derart stilisiert á la Robert Wilson, dass man die tragische Dramatik der Stücke nur ahnen kann. Manche mögen das  – ich kann mich damit nicht anfreunden. Ein großer Nachteil ist auch, dass so von der Musik, die man ja bei so selten gespielten Werken eigentlich kennenlernen will, allzu viel ablenkt, denn sichtbar gibt es keine Handlung, und die Videos illustrieren im Grunde nur. Also, entweder man führt solch unbekannte Stücke konzertant auf, oder versucht sich an der szenischen Gestaltung – aber bitte nicht so ein Misch-Masch!

Bleibt die Musik – wenigstens die findet eine niveauvolle Wiedergabe: Mikhail Tatarnikov, Chefdirigent am St. Petersburger Mikhailovsky-Theater, hat ein gutes Gespür für die vorwärtsdrängende, romantisierende Musik mit zahlreichen folkloristischen Anklängen in Aleko, aber auch für das Parlando im „geizigen Ritter“ und die Leitmotivik in Francesca da Rimini. Das in allen Gruppen ausgezeichnete Orchestre symphonique de la Monnai folgt seinem temperamentvollen, aber stets präzisen Dirigat und leistet damit eine ansprechende Ausdeutung der unterschiedlichen Werke. Dazu trägt auch der Chor des Theaters (Einstudierung: Martino Faggiani) durch ausgewogene Klangpracht bei. Die sängerische Besetzung zeigt ebenfalls recht hohes Niveau: Als Zemfira und Francesca gefällt Anna Nechaeva, die beide Partien mit hoher Tessitura glänzend und blitzsauber ausfüllt und die Ensembles überstrahlt. Den jeweiligen Liebhaber, den jungen Zigeuner und Paolo, präsentiert ausgesprochen stimmschön Sergej Semishkur. Mit dunklem, weich geführtem Bassbariton gefällt Kostas Smoriginas als Aleko. Den Alten im Geizigen Ritter gibt Sergei Leiferkus mit der ganzen Ausdrucksstärke seiner immer noch tragfähigen Stimme. Der prägnante Bariton von Dimitris Tiliakos passt bestens zur Rolle des eifersüchtigen Malatesta in Francesca da Rimini. In weiteren kleineren Partien überzeugen mit markantem Tenor Dmitry Golovnin als Albert und Dante, die Mezzosopranistin Yaroslava Kozina als Zigeunerin, Alexander Kravets als jüdischer Geldverleiher, der Bassist Alexander Vassiliev als alter Zigeuner, Diener (im Geizigen Ritter) und als Vergils Schatten sowie mit weichem Bariton Ilya Silchukov als Herzog.

Insgesamt ist die Aufnahme trotz aller szenischer Vorbehalte eine gute Gelegenheit, sich den unbekannten, äußerst selten aufgeführten Kurzopern Rachmaninows zu nähern (BelAir BAC133, 2 DVD). Gerhard Eckels

Bedauerlicher Irrtum

 

Meint man nach dem Anhören spätestens des dritten Tracks einer CD, es müsse sich bei der Aufnahme um einen Irrtum handeln, dann schaut man bei Operabase nach, welches Repertoire denn nun das tatsächlich auf den Opernbühnen der Welt vom Künstler gesungene ist. Meistens stellt sich dann heraus, dass Live- und CD-Repertoire nicht übereinstimmen, die Arien auf der CD weitaus dramatischer sind, als es die Stimme hergeben kann, wobei sogar oft noch das jeweils am wenigsten dramatische Stück einer Partie ausgesucht wurde, diese in ihrer Gänze für die Stimme eine Unmöglichkeit darstellen würde. Im Booklet von I Vespri Verdiani – Verdi Arias, gesungen von Olga Mykytenko,  wird zwar  die Frage gestellt: „Gibt es das, den „Verdi-Sopran“, und man kann man sich immerhin zu einer überzeugenden Antwort durchringen. Danach ist ausschlaggebend „der Anspruch – besonders im mittleren Register – eine getragene cantabile Linie bieten zu können; ein großer stimmlicher Umfang, der sowohl eine leicht-schwebende Höhe als auch eine gut gestützte Bruststimme umfasst; eine ausreichende Wärme des Tons, um die Charaktere durch den Text mit Leben zu erfüllen, wobei allein die Stimme das Drama entstehen lässt“.

Gäbe es diesen Text nicht, würde manch unbedarfter Hörer mit der vorliegenden CD recht zufrieden sein können, vergleicht man jedoch Anspruch und Ausführung miteinander, werden bedauerliche Defizite offenbar. Zwar ist die Partie der Amalia aus I Masnadieri einst für Jenny Lind komponiert worden, aber trotzdem sollte die Stimme nicht den Eindruck von Kindlichkeit erwecken, sollte sie nicht zu mädchenhaft und zerbrechlich wirken, sollte der Unterton ein tragischer, nicht ein trübsinniger sein, auch wenn die Cabaletta vom leichten Tonansatz des Soprans profitiert.

Das Gebet der Ballo-Amelia wird zwar stimmtechnisch bewältigt, lässt aber keine reife Frau und Mutter vernehmen, klingt zu bemüht eindringlich und in der Kadenz zu zirpend. Hier und dann bei der Trovatore-Leonora klingt das Italienische nicht besonders idiomatisch, fehlen für die Rolle corpo, Rundung, Fülle, ist die Partie einfach eine Nummer zu groß – wurde von der Sängerin übrigens, zumindest in den letzten Jahren, auch nicht auf der Bühne gesungen, auf der man sie nur als Amalia, Luisa und Violetta sowie Gilda in Verdi-Partien erlebte. In dieser Arie kann nur die leichte Höhe, kann die Cabaletta gefallen. Die Arie der Elena aus den Vespri vermittelt in der Darbietung durch Mykytenko wenig von der tragischen Situation, in der sie gesungen wird, alles klingt viel zu idyllisch, der Sopran ist einfach zu leicht für die Partie, und selbst für den anschließenden Bolero aus dem selben Werk fehlt notwendiger Nachdruck. Zur Medora aus Il Corsaro passt die Stimme besser, vor allem zur Harfenbegleitung, sanft-elegisch kann sie sich ergehen und damit gefallen. Fehlgeleitet hingegen ist sie wieder mit Odabella, da passt der Charakter der Figur einfach nicht zum Stimmmaterial, kann Nachdrücklichkeit nicht Substanz ersetzen, wird die Cavatine silbenverschluckend gesungen, und auch „Liberamente or piangi“, in dem die Stimme schön geflutet wird, ist allzu lieblich, selbst wenn das Orchester zusätzliche Farben beisteuert. Besonders in der Auftrittsarie der Elvira aus Ernani wird deutlich, wie sehr es sich zurücknimmt und doch nicht verhindern kann, dass man ein Schulmädchen und keine stolze spanische Adlige zu vernehmen glaubt. Keine glückliche Wahl ist auch die Lady Macbeth. Da ist im“ Ambizioso spirto“ weder ein grandioso noch ein maestoso zu hören, Spreizen des Timbres ist kein Mittel, die Stimme größer erscheinen zu lassen. Der Schluss des Nachtwandelns wird gut gesungen, insgesamt aber ist der Sopran zu hell. Luisa Miller bedarf für ihr Gebet einer präsenteren Mittellage, die große Arie aus dem ersten Akt von Traviata ist am besten für die Stimme geeignet- aber der Rest der Partie? Kirill Karabits stellt sich mit dem Bournemouth Symphony Orchestra gut auf die Bedürfnisse der Solistin ein. Kehrt man zum Ausgangspunkt, zu den Behauptungen des Booklets, zurück, muss man mit Bedauern feststellen, dass die Stimme Olga Mykytenkos leider keine typische Verdi-Stimme ist (Chandos 20144). Ingrid Wanja

Rundum beglückend

 

Bereits die Ehre, in der Box 250 Jahre Wiener Staatsoper“ vertreten zu sein, hatte Strauss‘ Ariadne auf Naxos aus dem Jahre 2014 in der Regie von Sven-Erich Bechtolf und unter dem Dirigat von Christian Thielemann. Nun ist die Produktion als Blu-ray bei Arthaus erschienen und damit auch zu einer posthumen Ehrung von Tenor Johan Botha und Peter Matić geworden, die Ariadne Soile Isokoski hat inzwischen ihre Karriere beendet.

Ein glücklicher Einfall der Regie ist es, drei für die Handlung wichtige Personen, nämlich Komponisten, Musiklehrer und Haushofmeister nicht nach dem Prolog in der Versenkung verschwinden, sondern auch im einzigen Akt mitwirken zu lassen, den wunderbar snobistischen Haushofmeister von Peter Matić als Teil des Publikums, das das Geschehen auf der wüsten Insel verfolgt, den Musiklehrer als im Hintergrund Arrangierenden und den Komponisten als Begleiter am Flügel für Zerbinetta, ihr ständig neue Notenblätter reichend und schließlich von dieser seinen Liebeslohn für sein künstlerisches Bemühen einfordernd und erhaltend. Die Geschichte ist in die Fünfziger oder Sechziger des vergangenen Jahrhunderts verlegt ( Kostüme Marianne Glittenberg), wunderschön ist die Bühne von Rolf Glittenberg für das Vorspiel, ein lichter Saal mit Blick auf den Park, für den Einakter bilden Flügel in unterschiedlichem Zustand der Zerstörung die Wüstenei. Dahinter erheben sich die Reihen von Stühlen für die Gäste im Haus des reichen Wieners. Auch ihre Reaktionen auf das Spiel zeugen von neureicher Kulturfremdheit. Der Optik mangelt es also nicht an Einfällen, aber diese werden zwanglos und niemals entstellend in das Werk eingefügt.

Natürlich kein „reizender Knabe“ ist Johan Botha als Bacchus, dem es offensichtlich schwer fällt, die Rolle stehend durchzuhalten, der aber unvergleichlich in der Entfaltung prachtvollen Stimmmaterials ist, unangefochten von allen Schwierigkeiten, die Strauss so gern den Tenören auferlegte. Eine gleichwertige Partnerin ist ihm Soile Isokoski, auch sie optisch nicht die Erfüllung und streng altjüngferlich aussehend, aber mit einem ungemein farbigen Piano, mit ausnahmslos runden, nie scharfen Tönen erfreuend, mit vokalem Reichtum für „Du wirst mich befreien“, großzügiger Linie für „Ich grüße dich“ und kristallklarem „Licht“ und leuchtendem „Ein Schönes“. Optisch wie akustisch pure Freude bereitet der Komponist von Sophie Koch, der voller Emphase, aber stets vokaler Façon auch den heftigsten Ausbrüchen gewachsen , dessen „In ihren Augen“  und „sie gibt sich dem Tod hin“ voll schöner dunkler Schwärmerei ist. Einen kraftvollen Musiklehrer singt Jochen Schmeckenberger mit gefühlvollem „Ariadne“. Sehr hübsch anzusehen ist Daniela Fally als umtriebige Zerbinetta mit staunenswerten Spitzentönen, der man den ein oder anderen quietschigen Ton gern verzeiht. Unter den vier Maschere befindet sich Benjamin Bruns, inzwischen bereits aufgegangener Stern am Tenorhimmel, als Brighella.

Christian Thielemann schwelgt mit den Wiener Philharmonikern in betörendem Wohlklang und kann bei so stimmstarken Sängern auch ungehemmt farbenprächtig auftrumpfen. In schweren Zeiten ermöglicht diese Aufnahme ein Eintauchen in eine bessere Welt (Arthaus 109398)Ingrid Wanja 

Legendäres vom Arno

 

Im Vorfeld der Beschäftigung mit Agnes von Hohenstaufen 2018  in Erfurt stieß ich beim Browsen auf die Neuausgabe des bekannten Mitschnitts der Agnese di Hohenstaufen vom Maggio Musicale Fiorentino 1954 unter Vittorio Gui – laut Aufschrift von den Originalbändern!. Den kannte man nur von mehr oder weniger stumpfen Klanggemengen bei Cetra und manchen anderen grauen Labels. Und so war mein Misstrauen gegenüber der relativ neuen Ausgabe vom Theater selbst, der Opera di Firenze, die ich bei jpc entdeckte (preiswerter als bei Amazon, weil ohne Porto), groß. Dennoch – Corelli in seiner Glorie zu erleben und eine ganze Riege von ersten italienischen Sängern der Nachkriegszeit dazu (leider in der italienischen Fassung, die sprachlich wenig vom Original übrig lässt) war die Anschaffung wert. Also bat ich den liebenswürdigen Marketingmann Giovanni Vitali um Presseexemplare.

Und wer beschreibt meine Überraschung, dass – ähnlich wie bei den Callas-Vespri bei Testament ebenfalls (1951) aus Florenz – die originalen Masterbänder verwendet wurden, der Sound sich absolut drastisch verbessert hatte, die Stimmen und selbst die Chormassen relativ durchhörbar über die Zeit herüber klangen. Eine Offenbarung! Lucille Udovic überzeugt wesentlich mehr als die mulschigen Mitschnitte der Kolleginnen Leyla Gencer und Montserrat Caballé  unter Muti in Florenz und Rom, und die Florentiner Besetzung im Ganzen unter Vittorio Guis energischer, viriler Leitung allemal. Anita Cerquetti, von der es die überirdisch gesungene Arie gibt („Oh re dei cieli“) hat m. W. die Oper nicht ganz gesungen. Wenn man sich einstweilen mit der italienischen Bastardversion begnügen muss  (Agnese di Hohenstaufen;  Florenz 1954/ OF 007, 2 CD).

Spontinis „Agnese di Hohenstaufen“ Florenz 1954/ OF 007, 2 CD

Die Ausgaben der auf der website des Maggio Musicale Fiorentino angebotenen Mitschnitte sind also von den Originalbändern vorgenommen worden – es ist unklar, ob dies die eigenen sind oder die Radiobänder der RAI. Das wird noch zu klären sein. Fakt ist aber, dass diese nachstehend besprochen Aufnahmen ungleich viel besser klingen als alles, was davon bislang auf dem grauen Markt zu hören war. Das beste Beispiel dafür  sind neben der Agnese auch Cherubinis Abencerragi, wieder mit der wunderbaren Anita Cerquetti, woraus oben ein Szenenbild/ Maggio Musicale einen Eindruck gibt, denn die CD-Ausgaben enthalten auch schöne Bühnen- und Rollenfotos in strengem Schwarz-Weiß. Die Artikel in den beiliegenden Booklets sind zweisprachig gehalten (italienisch/ englisch). Nun also eine Auswahl, die Kollege Rolf Fath vorstellt. G. H.

 

Etwas Altes. Etwas Neueres. Und etwas Neues. In der Reihe Opera di Firenze finden sich einige Schätze des Fiorentiner Festivals. Wobei Neueres relativ ist, denn ein Teil  der vorliegenden Aufnahmen sind auch schon rund 40 Jahre alt, der Werther von 1978, die Butterfly von 1979 und die Traviata von 1984. Seinerzeit, also im Dezember 1984, war die Traviata ein unbedingtes Muss. Kleiber dirigierte, Gasdia war die Kurtisane, die Inszenierung stammte von Zeffirelli.

Doch der Reihe nach. Am Anfang steht vier Jahre nach der legendären Medea mit der Callas von 1953 eine weitere bedeutende Cherubini-Wiederentdeckung des Festspielleiters Francesco Siciliani: Gli Abencerragi, die ebenso wie die Medea in einer italienischen Fassung (von Libero Granchi) gespielt wurden. Anders als Medea (1799), die in Deutschland einst vielgespielten Les deux journées bzw. Der Wasserträger (1800) oder Démophon (1788) stammt die im April 1813 in Gegenwart Napoleons und seiner Gattin Marie-Louise an der Pariser Grand Opéra uraufgeführten Geschichte aus dem im 15. Jahrhundert von den Mauren besetzten Spanien Les Abencérages ou L’Étendard de Granade aus Cherubinis letzter Schaffensphase. Étienne de Jouy führte seine in Fernand Cortez für Spontini begonnene Beschäftigung mit historisch genau definierten Stoffen mit den ebenfalls historischen Figuren Almanzor und Gonzalve de Cordoue fort (letztere kommt dieser Tage/ April 2020 als Video-Mitschnitt vom Maggio Musicale 2019 bei Dynamic heraus), verknüpfte sie mit konventionellen Mustern, so dass Les Abencérrages im Wechsel zwischen Intimität und großen Aufzügen etwas schematisch anmuten. Kalkül und geschickte Machart, akademische Kühle und Glätte wurden der Musik vorgeworfen.

Cherubinis „Abencerragi“ mit Anita Cerquetti (OF 609)

Die Oper war eng mit dem Schicksal Napoleons verknüpft. Mit dem Fall des Kaisers gerieten auch die Abencérages zeitweise in Vergessenheit und lebten erst wieder auf, als Spontini sie 1828 für die Berliner Hofoper als Das Feldpanier von Granada nochmals recycelte. Die Fiorentiner Aufführung im Mai 1957 war anscheinend die erste Aufführung der Oper in Cherubinis Heimat, die sich der revitalisierenden Clans der Abencerragen und Zegris und dem Kampf um die heilige Standarte von Granada annahm. Zwanzig Jahre später leitete Peter Maag 1975 bei der RAI Milano eine französische Aufführung, die trotz oder wegen Margherita Rinaldi relativ wenig Beachtung fand. Philologische Anmerkungen zur Fassung interessieren nicht mehr. Die Aufnahme For the first time from the original recording klingt tatsächlich angenehmer als bisherige Ausgaben (2 CD Maggio Live 609, ital./engl. Beiheft) und bietet beim Wiederhören angenehme Überraschungen, beispielsweise den 2017 im Alter von 96 Jahren verstorbenen amerikanischen Tenor Louis Roney, der mit dem Sänger der Uraufführung, Nourrit, nicht nur den Vornamen teilt, sondern sich auch als stilsicherer und überaus geschmeidiger Sänger in der Partie des Almansor, des Heerführers der Abencerragen, erweist, die mich ein bisschen an den Max erinnert. Wir finden noch weitere Sänger, die das Operngeschehen der 1950 und 60er Jahre am Laufen hielten, wie Alvino Miscino als großherziger spanischer Ritter Gonzalvo, der in seinen Nummern im ersten Akt, der Arie mit anschließendem Solo und Romanze, seinen Rossini-Tenor ausbreitet, aber offenbar ganz hinten auf der Bühne stand, die Bässe Mario Petri als Almansors Gegner Alemar, sowie den bis in die 1990er Jahre tätigen Paolo Washington als Alamir. Sie umkreisen den Star der Aufführung, die damals 26jährige Anita Cerquetti, deren Karriere bereis wenige Jahre darauf ihr Ende fand. Die Partie bietet Cerquetti nicht solch atemberaubende Momente wie Spontinis Agnese di Hohenstaufen, doch ihre Noraime bläst in der Alhambra nicht Trübsal, denn Cerquetti singt die spanische Prinzessin mit großer Allüre, breit und sicher strömendem pastosem Sopran und Kraft sowohl in der großen Arie zu Beginn des zweiten Aktes wie in der berückend schlichten Lyrik in der nächtlichen, Weber nahen Szene zu Beginn des dritten Aktes. Es ist schön, diese sich im Glanz kaiserlicher Klassizität sonnende, nicht an Pomp und Ballett und Festbläsern sparende, teilweise auch etwas dekorativ äußerliche und von Carlo Maria Giulini mit Geschmack dirigierte Aufnahme wieder zu hören.

 

Verdis Oper „La Traviata“ (OF 004) mit Cecilia Gasdia

Den von der Aufführung am 20. Dezember 1984 stammenden Mitschnitt der Traviata darf man ebenfalls als historisches Dokument bezeichnen. For the first time from the original recording heißt es bei (2 CD OF 004); meine bereits im eigenen Arichiv vorhandene Live-Aufnahme in der blauen Box vernebelte die Quelle und den Tag der Aufführung. Bei OF handelt sich um die vorletzte Aufführung der Serie; die Premiere war am 9. Dezember, man fuhr also von der Scala-Eröffnung mit Abbados Carmen nach Florenz  Es war Kleibers einziger Auftritt beim Maggio Musicale, vorausgegangen waren 1976 das Debüt an der Scala mit dem Rosenkavalier und sein Einspringen für Karl Böhm bei einem Konzert 1979 mit dem Santa Cecilia Orchester. Vorausgegangen war auch die Aufnahme mit der Cotrubas. Die Traviata in Florenz, wo Vater Erich Kleiber 1951 mit Vespri siciliani und Callas Sensation gemacht hatte, ist nicht so mustergültig wie die Münchner Studioaufnahme von 1977, doch nicht weniger bemerkenswert: hier stimmt alles. Vom schwermütigen Vorspiel über die Attacke der Ballgeschehen und die Idylle des Landhauses bis zur moribunden Stimmung des letzten Bildes. Kleibers Zugriff hat packenden Drive, ist dabei sowohl intensiv wie brillant und gibt dem Text Raum Die 24jährige Cecilia Gasdia, die zwei Jahre zuvor mit ihrem Einspringen für Caballé in Anna Bolena an der Scala ihren Durchbruch erlebt hatte, steigert sich als Heroine eines bürgerlichen Rührstücks im Lauf der Aufführung. Anfangs wirkt ihr dunkler, weißer Sopran etwas wächsern, doch langsam kommt Farbe in ihren Gesang und die Figur erhält bei aller Zerbrechlichkeit Konturen. Gasdia ist in den Koloraturpassagen des ersten Aktes virtuoser als in Erinnerung, dabei sowohl von erhabener Zartheit und Sensibilität wie rauschhafter Hitzigkeit, in der Begegnung mit Germont, wo Kleiber die Musik wie die Untermalung zu einem Sprechstück zurücknimmt, von delikater Textbehandlung und in den dramatischen Szenen („Amami Alfredi“) von einer Leidenschaft, dass man sich fragt, wo sie die Kraft und Energie hernimmt. Man nimmt Anteil. Peter Dvorsky gibt den Alfredo mit robustem Tenor als nach Paris verschlagenes Landei, fast schon vergessen ist Giorgio Zancanaro, der ein klangschöner, nicht unbedingt persönlichkeitsstarker Germont ist. Die Sänger der kleineren Partien wurden nicht handverlesen, die Zigeunerinnen und Matadore erhalten großen Szenenapplaus. Nicht auszudenken, wie es geklungen hätte, wenn Gasdia ein Partner wie Alfredo Kraus zur Seite gestanden hätte.

 

Kraus war regelmäßiger Gast beim Maggio Musicale, wie Ausschnitte aus Aufführungen der Jahre 1965 bis 1985 belegen, die den passenden Titel Il canto come arte, Gesang als Kunst, tragen (2 CD OF 027). Es gibt Favorita mit Cossotto unter Bartoletti, Traviata mit Nicolesco unter Schippers, Lucrezia Borgia mit Ricciarelli und der unverwüstlichen Zilio unter Ferro, Lucia mit Gruberova und Elisir mit Serra unter Gelmetti sowie Fille du régiment mit Welting unter Gavazzeni. Die Partnerinnen, die bollerige Cossotto, die resolute Nicolesco, die unausgeglichen Ricciarelli, die puppige Serra, reichen nicht immer an ihn heran, doch Kraus singt alle romantischen Helden und Bauernburschen mit ebenmäßiger Eleganz, beeindruckendem Farbenspiel, perfekter Technik, feinen Verzierungen und klarer Akzentuierung – hinreißend sein „T’amo, qual s’ama un angelo“ aus dem zweiten Akt der Lucrezia Borgia – und schaut mit aristokratischer Haltung über die Faiblessen der Damen hinweg; manchen ist sein Tenor zu farblos, neutral und kühl, auf der Bühne scheint es mir, habe ich manche Partien nie kunstvoller gehört. Giancarlo Landini bringt es im Beiheft zu Werther auf den Nenner, „Kraus had a fresh, elastic light-lyric tenor voice with an uncommonly penetrating projection und vibrato. The perfect use of mask resonance enabled him to rise to the high notes without difficulty and to maintain consistency across the whole range“.

 

Massenets „Werther“ mit Alfredo Kraus und Lucia Valentini-Terrani (OF 011)

Der Werther von 1978 wurde ausgespart, den gibt es auf OF 011 komplett. Als Charlotte, in einer Partie, die man nicht unbedingt mit ihr verbindet, ist die in Italien adorierte Lucia Valentini Terrani zu erleben. Zu wünschen wäre auch die Veröffentlichung ihrer Mignon von 1983 mit Serra, McCauley, Siepi. Ihre Domäne war Rossini, doch sie sang auch die Marina, Dulcinée, plante Marfa, Dalila, dazu mehr Verdi. Bei Valentini Terrani ist immer die mit Leidenschaft unzureichend übersetzte passione zu spüren, etwas Glühendes, das sich bei der Charlotte ideal mit der Figur verbindet,  die reiche dunkle, etwas opake Tiefe, dramatische Geballtheit und sonore Textausdeutung verleihen dem dritten Akt mit der Brief- und Tränenarie vibrierende Intensität. Seit seinem ersten Werther 1966 in Piacenza – damals noch in italienisch, später sang er ihn in der Originalsprache – hat Alfredo Kraus wenig an seiner Interpretation geändert. Es gibt mehrere Live-Aufnahmen, darunter von der Scala 1976 mit Obraztsova, dazu die Studio-Aufnahme mit Troyanos unter Plasson von 1979. In Florenz wandelte er in der schönen Inszenierung von Pier Luigi Samaritani auf den Spuren Franco Tagliavinis, der den Werther hier vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gesungen hatte, und zeigt alle Vorzüge seiner sublimen Verkörperung. Georges Prêtre leitete eine drängende Aufführung, zu der (arg bemüht) Rolando Panerei als Albert und Anastasia Tomaszewska Schepis und die charaktervollen Comprimari gefällige Skizzen beisteuern.

 

Raina Kabaivanskas Madama Butterfly ist eine Star-Aufführung. Mehrere Aufnahmen gibt es von ihrer Butterfly, u.a. ist sie zweimal 1983 und 1997 aus der Arena in Verona zu sehen, 1982 ging sie in Bulgarien ins Studio. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ist sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, im Januar 1979 in Florenz (2 CD

Puccinis „Madama Butterfly“ mit Raina Kabaivanska (OF 011)

), von wo aus sie zu einer Butterfly-Serie unter Prêtre an die Scala fuhr, „she is capured in a state of grace and at the height of her artistic and vocal maturity“.

Man muss sie live erlebt haben. Auf der CD wirkt ihr Ton keinesfalls außerordentlich, doch die Hingabe und der Ausdruck, die Fähigkeit ein Drama zu gestalten sind immens, man spürt förmlich die überlebensgroßen Gesten, die bei der Kabaivanska immer echt wirkten. Ab „Un bel di vedremo“ über „Che tua madra“ und „Una nave di guerra“ bis zu „Trionfa il mio amore“ gelingt ihr eine eindringliche Steigerung, die sich im dritten Akt fortsetzt. Dazu der Pinkerton des selbstbewussten Giorgio Merighi, der Sharpless des gütigen Giorgio Zancanaro, detailreich und kundig, drängend und unsentimental dirigiert Gavazzeni,

 

Auf einer Einzel-CD gestaltet Gavazzeni zu dessen 50. Todestag 1995 ein reines Mascagni-Programm mit Vor- und Zwischenspielen aus L’amico Fritz, Guglielmo Ratcliff, Le maschere und der Meditation Guardando la Santa Teresa del Bernini sowie dem vierten, von Mascagni nach der Premiere 1913 an der Scala gestrichene Akt der Parisina (OF 008). Gavazzeni hatte die Oper bereits 1952 in Mascagnis Geburtsstadt Livorno sowie 1978 in Rom (bei Bongiovanni) dirigiert. Der vierte Akt ist nicht mehr handlungstragend: Parisina (Gattin Denia Mazzola) und ihr Stiefsohn Ugo d’ Este (Kaludi Kaludov) sehen dem gemeinsamen Tod auf dem Schafott entgegen, mit dem Parisinas Gatten Niccolò sie wegen ihrer verbotenen Liebe bestrafte. Ugo hat nur noch Augen für Parisina und hört die klagenden Worte seiner Mutter Stella dell’ Assassino nicht mehr (Martha Senn). Ein von Gavazzeni mit magistraler Autorität geleitetes Gedenkkonzert, bei dem sich die Protagonisten in die tristanesken Züge des vierten Aktes der Parisina versenken.

 

Eine weitere Vignette beschäftigt sich mit einer Azione teatrale, die Manuel Garcia 1831 für seine Studenten in Paris nach dem u. a. von Gluck vertonten Libretto des Metastasio schrieb: I Cinesi (0F 016). Das Stück, das die China-Mode des 18. Jahrhunderts mit der Leidenschaft für den Belcanto in den Pariser Salons des 19. Jahrhunderts verbindet, lohnt in der 2016 im Teatro Goldoni gastierenden Produktion von Rossini in Wildbad  wegen Patrick Kabongo, der als Silvango, der einzigen Männerpartie, bereits auf seine kommenden Rossini-Taten vom Almaviva über Lindoro bis Comte Ory hinweist. Bei diesem Theater im Theater wirken, begleitet am Klavier von Michele D’Elia, die Sopranistin Francesca Longari und die Mezzosopranistinnen Giada Frasconi und Ana Victoria Pitts mit. Und 2019 gab die von Raina Kabaivanska ausgebildete, als Carmen, Adalgisa, Preziosilla und Santuzza auch international gastierende römische Mezzosopranistin  im Teatro del Maggio Musicale einen französischen Liederabend, dessen diskographischer Gewinn überschaubar bleibt (OF 029).

Mit einigem Geschmack, doch im Lauf des gut 60minütigen Programms ermüdendem Ton widmet sich Simeoni den Nuits d’été, Romanzen von Debussy, Liedern von Hahn, Bizets Adieux de l’hôtesse arabe, Donizettis Voix d’espoir und drei Verlaine-, Rimbaud- und Baudelaire-Vertonungen des 1965 geborenen Federico Biscione.   Rolf Fath