Weniger und mehr

 

Walter Rauschers Buch Charleston, Jazz & Billionen ist nicht schlechter, aber es ist anders, als man nach dem Betrachten des Covers erwartet hat. Zwar erweckt es mit seinem Titel den Anschein, es gehe um die Unterhaltungskultur in Zeiten von Inflation, was durch die Konterfeis einer kurzberockten Dame mit Zigarettenspitze und eines befrackten Herrn mit Spazierstock, jeweils zu Seiten des Titels, noch unterstützt wird. Um Musik und Tanz geht es aber nur in einem Bruchteil des Werks, Politik, Wirtschaft, Technik und sogar Sport nehmen einen mindestens ebenso umfangreichen Raum ein. Und auch die klassische Musik steht durchaus gleichberechtigt neben der reinen Unterhaltung, ebenso wie Literatur oder Architektur. Allerdings hätte der potentielle Erwerber des Buchs angesichts des kleingedruckten Untertitels stutzen können. Da heißt es nämlich „Europa in den verrückten Zwanzigerjahren“, die hier offensichtlich zum in einem Wort geschriebenen feststehenden Begriff geworden sind.

Der deutsche Leser ist erstaunt und erfreut darüber, dass von dem österreichischen Autor auch das Schicksal des nach 1918 zwangsaufgelösten Habsburgerreichs, noch dramatischer als das Deutschlands,  in seine Betrachtungen einbezogen wird, und er nimmt erstaunt zur Kenntnis, wie intensiv die Bestrebungen waren, sich mit Deutschland zu einem Staat zu vereinigen.

Wie umfassend und damit notwendigerweise auch recht knapp für die einzelnen Gegenstände der Betrachtung die Ausführungen sein müssen, sieht man daran, dass der Prolog sich neues „Hoffnung auf ein Zeitalter 1920“ nennt, nach diesem wird in themenübergreifende Kapitel wie „Suche nach einer neuen Weltordnung“ gegliedert, während innerhalb derer wieder an sich bücherfüllende Themen wie Versailles, die Emanzipation der Frau oder Österreichs Staatsvertrag abgehandelt werden. Da kann natürlich vieles nur angetippt werden, kann aber Ausgangspunkt für eine intensivere Beschäftigung mit dem jeweiligen Gegenstand sein, denn im Anhang gibt es außer den Anmerkungen noch eine Fülle von Literaturhinweisen, die den Leser tiefer in das ihn interessierende Kapitel führen können. Nicht nur thematisch, auch geographisch spannt das Buch weite Flügel aus, so gibt es ein schillerndes Kapitel „Ϛa c‘est Paris“, ehe Berlin und Wien als bemerkenswerte Städte berücksichtigt werden. Hier werden zum ersten Mal das Nachtleben und damit die titelgebende Musikrichtung berücksichtigt.

Geht es um Berlin, dann könnte man beinahe vermuten, es handele sich um die Stadt des Jahres 2020, wenn berichtet wird: „Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen wie die Pilze“, auch wenn man nicht so weit gehen würde, den Trubel als „ fiebriges Nachäffertum“ zu bezeichnen, wie es Stefan Zweig für das Berlin der Zwanziger tat.

Das den Musikfreund besonders interessierende Kapitel „Die neue Musik“ ist untergliedert in Ausführungen über den „Klassiker“ Strauss, ein weiteres Unterkapitel widmet sich Ravel, dann kommen Schönberg und Strawinski zu ihrem Recht, gefolgt von den Russen Prokofjew, Rachmaninow und Schostakowitsch.

Berg, Webern und Bartók ist ein eigener Abschnitt gewidmet, während in „Zwischen Provokation und Erfolg“ Hindemith und Honegger sowie Schreker berücksichtigt werden. Schließlich werden noch Krenek und Korngold erwähnt. Manchmal wird nur ein Namen genannt, oft aber auch ausführlicher über den Komponisten und seine Werke berichtet. Ein weiteres Kapitel ist „Operette und Schlager“ gewidmet, der „silbernen Ära“ durch Lehár, Benatzky und Stolz. „Jazz zwischen Kunst und Kommez“ entspricht den durch das Cover geweckten Erwartungen am meisten, Paul Whitman mit seinen 31 Nummer-1-Hits wird gewürdigt. Dann ist schon wieder Schluss mit Jazz und Charleston, geht es über zu Literatur, zum Expressionismus, dann zur Neuen Sachlichkeit, Bauhaus, Saalschlachten wie die von Schnitzlers Reigen ausgelöste, um schließlich die „Rückbesinnung auf die „gute alte Zeit“ heraufzubeschwören.

Nach einem recht umfangreichen Kapitel über den Sport, indem sogar der Läufer Nurmi ausführlicher vorkommt, wird noch einmal weit ausgeholt mit einem Blick auf „Europa in einem labilen Jahrzehnt“, werden Fluchtbewegungen durch Gebietsabtretungen und Sowjets, die drei großen europäischen Demokratien, Russland mit Lenin und Stalin, Italien mit Mussolini, das „neue Mitteleuropa“ (wo ein Österreicher es sich leisten kann, Polen zu kritisieren) und der „Geist von Locarno“ beschrieben.

Das Buch ist eine vorzügliche, angenehm zu lesende Einführung in die Zwanziger mit Berücksichtigung von allem und jedem. Von dieser ausgehend kann sich der Leser, gestützt auf die so umfangreichen wie gewissenhaften Literaturangaben, in dem ihn ganz besonders interessierenden Wissensgebiet informieren und weiterbilden. Natürlich auch, was Charleston, Jazz und Billionen betrifft ( Amalthea Verlag, ISBN 978 3 99050 146 7). Ingrid Wanja