Les Soeurs Boulanger

 

Aufgefallen war er mir an der Opéra-Comique. Dort war Cyrille Dubois in Aubers Le domino noir ein wendig quecksilbriger Horace vom Typ des tenoralen Adabeis mit mehr Singwitz als Stimme, genauso wie er in den opéra comiques der Zeit gefragt ist.  An der Opéra Bastille hat er auch Größeres gesungen, etwa 2017 Mozarts Ferrando. Der Tamino soll dort im kommenden Jahr folgen; ich kann mir das schwer vorstellen in dem großen Haus. Mit den im März 2018, also genau zwischen den Aufführungsserien des Domino Noir  in Liège und Paris, im Palazzetto Bru Zane in Venedig aufgenommenen Mélodies der Boulanger-Schwestern (apartemusic AP224) zeigt sich der 35jährige Tenor nochmals von einer anderen Seite, nämlich der des klugen Gestalters, des erfahrenen Interpreten, der Verse zum Klingen bringt. Die 21 Lieder aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wandeln noch auf den Spuren des Bonne Chansons und halten in der Nachfolge von Fauré und Debussy Tugenden wie Textdeutlichkeit, Klarheit und gestalterische Phantasie hoch.

Die Bekanntere der Soeurs Boulanger ist natürlich Nadia Boulanger, die 1979 mit über 90 Jahren starb (und deren Oper La ville morte gerade in Göteborg aufgeführt wurde – ein Beitrag liegt schon bereit/ G. H.). Sie ist eine Legende, Lehrerin zweier Generationen von Komponisten von Milhaud bis Glass, Dirigentin, die als erste Strawinskys Dumberton Oaks dirigierte und die Orgel bei der ersten Aufführung der Symphony for Organ and Orchestra ihres Schülers Copland spielte. Heute würde man sie wohl als eine Netzwerkerin bezeichnen, sie kannte jeden und alle kannte sie. Als Komponistin scheint sie nicht so avantgardistisch zu sein, wie sie es als Frau und Künstlerin war. Die Lieder bieten geistreich gepflegte Unterhaltungen zwischen Singstimme und Klavier, melancholisch umflort und verinnerlicht. Im ersten Teil des Programms trägt Dubois die Zeilen von Henry Bataille (Poème), Armand Silvestre (Poème d’amour), Albert Samain (Versailles und Élégie) und Paul Verlaine (Écoutez la chanson bien douce) so souverän und eloquent, so pointiert und spitz vor, dass man sie mitschreiben könnte: „O Versailles, par cette après-midi fanée“, da stellt sich Poesie wie von selbst ein. Dubois singt das mit morbider Sanftmut, doch wenn er eine mittlere Dynamik überschreitet, wird sein kleiner Tenor grell, näselnd penetrant. Vor allem in den fast klanglosen, pianofeinen Details erweist sich Dubois aber als wunderbarer Gestalter dieser Seelenwelten

Die Lieder stammen aus den Jahren zwischen 1905 (Verlaines Écoutez la chanson bien douce) und 1922 mit Le couteau/ Das Messer (nach Camille Mauclair), das sich brutal ins Herz bohrt, ohne dass sich der elegische, blutbetröpfelte Ton ändert. Mit den 35 Jahre älteren Pianisten Raoul Pugno, mit dem sie eine lange künstlerische Partnerschaft verband und für den sie ihre Fantasie varitée pour piano et orchestre komponierte, erarbeitete Nadia 1909 den achtteiligen Zyklus L‘ Heures claires/ Die klaren Stunden auf Gedichte des belgischen Schriftstellers Émile Verhaeren, deren symbolistische Verse sie mit einem aufgeregt sprechenden Klavierpart unterlegten.

Ihre sechs Jahre jüngere, aber bereits mit 25 Jahren an Tuberkulose verstorbene Schwester Lili Boulanger ist die Unbekannte. Ihre Kantate Faust et Hélène (bei Chandos), mit der sie 1913 den Prix de Rome gewann,  zeigte, welche originelle Komponistin sie war; Nadia hielt sie für die begabtere der beiden Schwestern und konzentrierte sich nach Lilis Tod auf ihre pädagogische Begabung. Lilis zwischen 1911 und 1916 entstandenen Quatre Chants sind noch ernster als die mélodies der Schwester Nadia, extremer und bezwingender in Ausdruck und musikalischer Anlage und von einer schwarztriefenden Schwermut, als habe die frühbegabte, chronisch kranke Komponistin ihr nahendes Ende im Frühjahr 1918 geahnt: In Dans l’immense tristesse nach einem Gedicht der blinden und tauben Bertha de Calonne ist die Verzweiflung und Tragik mit Händen zu greifen. Freilich passt diese Stimmung auch zu den beiden Maeterlinck-Vertonungen Attente – Lilis erster Komposition von 1911 – und Reflets sowie den Zeilen eines anderen Symbolisten, Georges Delaquys, der in Le retour über die Rückkehr des Odysseus nach Ithaka schreibt. In diesem für den hochberühmten Hector Dufranne, den ersten Golaud, geschriebenen Lied, klingt Dubois, dem die Leichtlebigkeit der Bonvivants geradezu in die Stimme gelegt scheint, dunkel, schwer und elegisch, das Farbenspektrum verändert sich. Nicht nur im raffinierten Wellenspiel der Begleitung zeigt Tristan Raël welch eingespieltes Duo er und Dubois bilden, die sich als einstige Gewinner des Boulanger Wettbewerbs den Schwestern besonders verpflichtet fühlen. Rolf Fath