Das Liszt-Jahr ist zwar vorüber, doch glücklicherweise bedeutet das nicht, dass die Fülle an teils hochkarätigen Neueinspielungen damit verebben würde. Die Staatskapelle Weimar unter ihrem damaligen, aus der Ukraine stammenden Chefdirigenten Kirill Karabits ließ bereits aufhorchen in Sachen Liszt, als Audite das Opern-Fragment Sardanapalo (plus Mazeppa) auf den Markt brachte. Es ist insofern schade, dass Karabits‘ Weimarer Amtszeit 2019 nach gerade drei Spielzeiten auch schon wieder endete. Ob die nun vorgelegte Liszt-Neuaufnahme (Audite 97.760) in dieser Kombination bereits die letzte war, bleibt abzuwarten. Eingespielt wurde wieder neben ziemlich bekannten Werken, der Dante-Sinfonie und der Sinfonischen Dichtung Tasso, wiederum eine absolute Rarität, der sogenannte Künstlerfestzug zur Schillerfeier, der hier sogar seine Weltersteinspielung erfährt. Aufgenommen wurden die drei Werke während Karabits‘ finaler Spielzeit im Congress Centrum Neue Weimarhalle (die Dante-Sinfonie zwischen 17. und 20. August 2018, der Rest am 14. und 15. April 2019).
Von den beiden großen Programmsinfonien, die Liszt vorgelegt hat, steht diejenige, die dem Florentiner Renaissance-Dichter Dante Alighieri und seiner Göttlichen Komödie gewidmet ist, etwas im Schatten der Faust-Sinfonie. Dies gewiss zu Unrecht, zeigt sich die musikalische Umsetzung doch schlechterdings genial. Sie besteht trotz ihrer erheblichen Länge von einer dreiviertel Stunde lediglich aus zwei Sätzen, bezeichnet mit Inferno sowie Purgatorio – Magnificat. Liszt stellte also lediglich das Jüngste Gericht und das Fegefeuer musikalisch dar; den Himmel hielt er letztlich in musikalischer Form für nicht angemessen umsetzbar. Der Schlusschor (mit Harmonium) gibt lediglich eine, allerdings im wahrsten Sinen des Wortes himmlische Vorahnung auf denselben wieder. Ad libitum, auf Anraten der Fürstin Sayn-Wittgenstein, fügte er freilich noch einen „pomphafte[n], plagialische[n] Schluß“ (Wagner) hinzu, der heutzutage fast immer weggelassen wird, so auch hier, so dass die Sinfonie mit einem „sanften, edlen Verschweben“ (ders.) ausklingt. Allzu viele Einspielungen des Werkes gibt es – anders als bei der Faust-Sinfonie – nicht. Daniel Barenboims Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern (Teldec) hat mich seinerzeit jedenfalls mehr beeindruckt als jene von Giuseppe Sinopoli mit der Staatskapelle Dresden (DG). Ausgezeichnet ein kommerziell nicht erhältlicher Rundfunkmitschnitt des Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti, der tatsächlich den alternativen Schluss anhängt. Die Neuproduktion aus Weimar kann sich dort sehr gut einreihen und wartet zumal mit einer phantastischen Klangqualität auf. Im Inferno und im Magnificat wählt Karabits mit 21:03 und 7:31 nahezu identische Spielzeiten wie Barenboim, um im Purgatorio allerdings fast drei Minuten flotter zur Sache zu gehen (18:02) – und ganze fünf Minuten schneller ist als Sinopoli. Die Damen des Opernchores des Deutschen Nationaltheaters Weimar sowie der Knabenchor der Jenaer Philharmonie unterstützen das herrlich aufspielende Orchester kongenial.
Tasso. Lamento e Trionfo ist vermutlich eine der drei am häufigsten gespielten Liszt’schen Tondichtungen (neben Les Préludes und Mazeppa). Wiederum steht ein italienischer Dichter, diesmal Torquato Tasso, im Zentrum, der am Ende wahnsinnig wurde und einen Tag vor seiner geplanten Dichterkrönung starb. Mit seiner zu Unrecht völlig im Schatten stehenden dritten Trauerode Le Triomphe funèbre du Tasse schuf der Komponist später gar eine Art Fortsetzung. Berühmtheit erlangte Tasso insbesondere wegen der ohrwurmartigen „venezianischen Melodie“, welche Tassos nagenden Schmerz widerspiegelt. Karabits wählt gemessene Tempi, kommt auf 21:25 Minuten und erreicht damit beinahe die Ausmaße, welche Herbert von Karajan 1975 in seiner Einspielung für die Deutsche Grammophon wählte, die für mich nach wie vor die Referenz darstellt. Und ohne Frage gelingt Karabits auch hier eine Interpretation, die zu den besten gerechnet werden muss, vom zaghaften Beginn bis zum triumphalen Abschluss.
Die Weltpremiere, auf der vorliegenden CD als erster Track gelistet, ist das heimliche Highlight. Sicherlich reicht der Künstlerfestzug künstlerisch schwerlich an die beiden anderen Stücke heran, doch ist die Umsetzung dieser etwa elfminütigen Triumphalmusik trotz fehlender Vergleichsoptionen wiederum tadellos und lässt diese Komposition nicht als hohlen Pomp dastehen.
Eine feine diskographische Erweiterung in Sachen Liszt also, bei der man eine Fortsetzung der Audite-Reihe erhoffen würde. Daniel Hauser