Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Elinor Ross

 

In strengem, krümeligem Schwarz-Weiß geistert in den Video-Sammlungen der Fans eine etwas obskure Norma aus (Ost-)Berlin 1967 herum. Einmal abgesehen davon, dass in Ost wie West allein schon die (Gast-) Aufführung des Teatro La Fenice damals wie eigentlich auch noch heute als eine Sensation zu werten war und ist, belegt diese Fernsehaufzeichnung auch das Wirken der darüber hinaus kaum noch erinnerten amerikanischen Sopranistin Elinor Ross, die am 6. März 2020 verstarb. Diese Norma (in der neben der Mezzospranistin Giovanna Vighi vor allem der stramme Mario Del Monaco unter Ettore Gracis mit den Kräften der venezianischen Oper mitwirkt – auch von ihm gibt es nicht all zu viele Filmaufnahmen als Pollione).

Elinor Ross war eine dieser vielen tüchtigen Amerikanerinnen mit eben jener typischen Stimme, die ich in dem Artikel über Eileen Farrell zu beschreiben versuchte: blond, gut produziert, nicht unbedungt konsonantenreich, mehr Stimme als Charakter, eben „tüchtig“. Ihre Norma ist nicht unrecht, nicht aufregend, aber sehr verlässlich. Das gilt auch für die zahlreichen Dokumente, die youtube von ihr bietet: Forza-Leonore, Aida, Trovatore-Leonora, Turandot (mit Tucker), Maddalena (mit Corelli als Andrea Chénier), Tosca, Alzira (die gerade bei Sammlern wieder komplett auftauchte) sogar Fidelio und manche mehr. Sie war im Europa in jener Jahre gut im Geschäft, eine der unendlich vielen Sängerinnen aus Übersee, ohne die ein Opernbetrieb in dem nötigen Umfang nicht möglich gewesen wäre. Und insofern war sie Teil dieses großen Nachkriegserbes, an das wir uns mit Sehnsucht erinnern. Und heute wäre se ein Weltstar, damals war sie selbst für die Met eine Hausbesetzung, in einer Reihe mit so weiteren „tüchtigen“ wie Lucine Amara oder Maria Curtis-Verna. Was waren das für reiche Zeiten.

 

Das amerikanische Wikipedia schreibt: Elinor Ross (August 1, 1926[1] – March 6, 2020) was an American opera singer, a dramatic soprano particularly associated with the Italian repertory. She made an international career, appearing regularly at the Metropolitan Opera in New York City and at major opera houses in Europe and the Americas, in roles such as Puccini’s Tosca and Turandot.

Born Elinor Marylin Rosenthal in Tampa, Florida, Ross studied at Syracuse University, and later came to New York to study with William Herman, Stanley Sontag and Leo Resnick. She made her debut with the Lyric Opera of Chicago in 1958, as Leonora in Il trovatore, alongside Jussi Björling, Giulietta Simionato and Ettore Bastianini.

She went on to sing at the opera houses of Boston, Chicago, Baltimore, Philadelphia, San Francisco, New Orleans, Houston, and Hartford, among others. In 1968, she appeared at Carnegie Hall in New York, in the American premiere of Verdi’s Alzira. She sang regularly at the Metropolitan Opera, first in 1970 in the title role of Puccini’s Turandot, stepping in on short notice for Birgit Nilsson, alongside Franco Corelli as Calaf and Pilar Lorengar as Liu.

A reviewer for The New York Times wrote: Her voice is big and assertive in the upper range and it can be quite effective when put to powerhouse use. In this performance, however, it was not smoothly produced at all times nor equally attractive in all registers. Nevertheless, Miss Ross achieved a vocal and dramatic interpretation of the role of the haughtly princess that was substantial and admirable.

She also appeared at the Met as Donna Anna in Mozart’s Don Giovanni, in the title roles of Verdi’s Aida and La traviata, as Amelia in Un ballo in maschera, Elisabetta in Don Carlo, Lady Macbeth in Macbeth, Leonora in Il trovatore, Puccini’s Tosca and Turandot, Ponchielli’s Gioconda, and Santuzza in Mascagni’s Cavalleria rusticana.

Ross also enjoyed a successful international career, appearing at La Fenice in Venice as Bellini’s Norma in 1965 and as Leonora in La forza del destino in 1967, and as Sinaïde in Rossini’s Mosè in Egitto in 1968. She performed at the Vienna State Opera as Amelia and Santuzza in 1967, and at La Scala in Milan as Santuzza in 1970. She performed at the opera houses of Bologna, Palermo, Florence, Verona, the Berlin State Opera, and the Teatro Colón in Buenos Aires, among others. Her repertoire included additional roles such as Abigaille in Verdi’s Nabucco, Maddalena in Giordano’s Andrea Chénier and Cherubini’s Médée.

Ross was forced into retirement in 1979 due to illness. She died on March 6, 2020. (Foto oben: Ross als Turandot/ Publicity-Foto der Met/ Melancon/ Met Opera Archive)

 

 

Aus dem Imperium der Unterhaltungskultur

 

Eigentlich müsste man ein abgeschlossenes Studium in Jura, Betriebswirtschaft, Musikwissenschaft, Geschichte und Theaterwissenschaft aufweisen, um das Wirken und Schicksal der Gebrüder Rotter angemessen würdigen zu können, die in den Zwanzigern in Berlin und anderswo ein Imperium der Unterhaltungskultur errichteten, Deutschland noch vor Hitlers Machtergreifung fluchtartig verließen und elendiglich starben: Alfred 1933 auf der Flucht vor Liechtensteiner und deutschen Nazis einen Abhang hinunterstürzend, Fritz 1939 noch vor Kriegsausbruch in einem französischen Gefängnis, in dem er wegen Scheckbetrugs einsaß.

Peter Kamber hat die Mammutaufgabe übernommen, auf 500 Seiten ihr Schicksal nachzuzeichnen in wohlabgewogener Mischung aus Anteilnahme und Distanz und noch ganz am Schluss des nach Art einer Tragödie in fünf Akte, dazu Vor- und Nachspiel gegliederten Buchs die nachdenkenswerte Formulierung findend: „Er“ (ein Neffe der Brüder) „wird später durchsetzen, dass in seiner Geburtsstadt Berlin „Stolpersteine“ an Fritz, Alfred und Gertrud Rotter erinnern“. Es scheint sich bei den Rotter-Brüdern, die eigentlich Schaie heißen, aber auch noch weitere Namen annehmen, nicht um eine Berliner Familie wie viele andere jüdische in der Reichshauptstadt zu handeln, die sich in nichts von ihren christlichen Nachbarn unterscheiden, deren Söhne 1914 begeistert in den Krieg ziehen, Ernüchterung und Nachkriegselend durchmachen, von ihrer Ausgrenzung durch die Nazis überrascht werden und eines Tages abgeholt, auf Lastkraftwagen verladen und in den Tod geschickt werden. Diesen gelten die Stolpersteine, neben denen heutige Hausbewohner am 9. November Blumen und Kerzen aufstellen.

Rückblickend werden sich das Vortäuschen einer psychischen Krankheit, das Wechseln der Staatsbürgerschaft bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, um der Einberufung zu entgehen, als schlauer, nachvollziehbarer Schachzug erweisen, damals dürfte es dem Eingeweihten in einem anderen Licht erschienen sein. So auch der Fluchtgrund, der nicht in der Sorge wegen des wachsenden Einflusses der Nazis besteht, sondern in der Vorladung durch den Staatsanwalt wegen einer mehr als unsoliden Buchführung, die schließlich zur Zahlungsunfähigkeit der Brüder und damit zur Existenzgefährdung für alle, die für sie tätig waren, vom Pförtner bis zum Operettenstar, führt. Bereits 1931 hatten sich die Brüder die Liechtensteinische Staatsbürgerschaft und damit die Möglichkeit erkauft, sich der Verantwortung zu entziehen. Tragisch dabei ist, dass ihre Flucht eigentlich nicht notwendig war, durch eine Auffanggesellschaft das Unternehmen hätte gerettet werden können.

Der Autor beginnt sein 500 Seiten umfassendes Buch mit der Schilderung der Pfändung des Mobiliars in der nur gemieteten Grunewald-Villa der Brüder im Sommer 1932, denen auch zum Verhängnis wurde, dass Sachwerte, einschließlich der Grundstücke, die sie besaßen, weit unter Wert verschleudert wurden. Er schildert das Ganze wie einen Roman, nicht aber, ohne regelmäßig ein „vermutlich“ oder ein „womöglich“ und ähnliche Vokabeln einzufügen, so die Balance zwischen wissenschaftlicher Arbeit und Belletristik haltend, zugleich informierend wie unterhaltend zu sein. Generell überlässt er es dem Leser, sich selbst ein Urteil zu bilden, zieht eine Fülle von Zeitzeugenberichten, Kritiken, so von Kerr und Jhering, Zeitungsartikeln und Memoiren heran, um ein möglichst vollständiges Bild seiner „Helden“ wie der turbulenten Zeit zu zeichnen. Dabei wird klar, dass die Ablehnung des künstlerischen und Geschäftsmodells der Rotters keine nur nationalsozialistische war, sondern dass linke Zeitungen ebenso heftig gegen sie polemisierten, die gleichzeitig das Metropoltheater (heute Komische Oper), den Admiralspalast, das Theater des Westens, das Lessing-Theater, das Zentraltheater und das Lustspielhaus in Berlin, dazu Bühnen in Breslau, Hannover und Dresden bespielten. Angefangen hatten sie allerdings mit dem Schauspiel, hatten Ibsen, Strindberg, Shaw aufgeführt. Waren den Linken die Seichtheit der Operetten, ihr Personal aus Adel und Künstlerschaft, die die Massen vom Klassenkampf abhielten, zuwider,  so störten sich die Rechten u.a. an der ihrer Meinung nach überproportionierten Beschäftigung ausländischer Künstler. So sehr standen die Brüder im Zentrum der Kritik, dass  Vokabeln wie „verrottert“, „Rotte der Rotters“ im Umlauf waren. Der Autor jedoch hebt hervor, welch echte Begeisterung die Rotters für das Theater hatten, welch gutes Gespür für bühnenwirksame Stücke und welches Geschick, Stars an sich zu binden, seien es Tauber und Albers oder Gitta Alpar, Käthe Dorsch und Fritzi Massary.  Sogar Gründgens zählt zu ihren Künstlern. Zum Verhängnis wurden ihnen ihre Spekulationen an der Börse, ihre Sorglosigkeit bei der Buchführung und ihr Fehler, gerade in dem Augenblick, als mit „ Ball im Savoy“ die große auch finanzielle Sanierung mit ausverkauften Vorstellungen im riesigen Schauspielhaus in Aussicht stand, alle Einnahmen an den Vorsitzenden der Zentralstelle der Bühnen-Autoren und Verleger abzugeben, um sich erst einmal finanziell Luft zu verschaffen. Bereits vorher war die Beziehung zum größten  Verein für den Verkauf von Theaterkarten eine zwiespältige gewesen, hatte eine gewisse Sicherheit beim Absatz derselben, aber auch deren Verschleudern zu Billigpreisen bedeutet. Immer wieder werden Konzessionen für den Theaterbetrieb verweigert, der „Vorwärts“ fordert sogar die Enteignung der Brüder, Alfred Kerr nennt sie „übelste Schädlinge“, es wird sogar 1924 in der Deutschen Zeitung die Zurücknahme der Gleichstellung der Juden von 1812 in diesem Zusammenhang gefordert. Kein Wunder, dass durch solche Unmöglichkeiten die Sympathie des Verfassers für seine Antihelden auf den Plan gerufen wird.

Eine Vielzahl von Texten aus Operetten, die in dem Buch abgedruckt sind, kann nicht verhehlen, dass Seichtheit vorherrschte, die aber weniger als die Frivolität mancher Figuren („Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ aus „Eine Frau, die weiß, was sie will“) Anstoß erregt. Das aber dürfte nicht der Grund dafür gewesen sein, dass SA die Aufführung stört.

Sogar dem Leser des Buchs wird schwindlig beim Lesen all der  finanziellen Verpflichtungen der Rotters, die schließlich nicht einmal die Sozialabgaben wie Krankenkasse für die Angestellten bezahlen können. Kein Wunder, dass Morphium her muss, um Spannungen zu lösen (Alfred), Abwechslung darin gesucht wird, sich in Frauenkleidern ins sündige Treiben des nächtlichen Berlins zu stürzen (Fritz).

Im Januar 33 kommt es zum Prozess um die Entlassung einer Sängerin, der die Rotters in schlechtem Licht erscheinen lässt. Ab 16.1. können Gagen nicht mehr bezahlt werden, Fritz Rotter bekommt eine Vorladung vor die Staatsanwaltschaft und flieht, statt sich zu stellen, wodurch die Rettung durch eine Auffanggesellschaft unmöglich gemacht wird, obwohl die Grundstücke im Besitz der Rotters mehr wert sind als ihre Schulden. Peter Kamber, der sich generell auf eine Darstellung der Fakten beschränkt, meint zu dem tragischen geschehen: „…das Tollhaus ist das weltweit in seine tiefste Krise geratene System der Wirtschaft selbst- die Rotters versuchen bloß, nicht auch noch unterzugehen.“ Und er erkennt auch ihr unbestreitbares Verdienst: sie  „machen die Operette…zum weltweit willkommenen und globalverbindlichen deutschsprachigen Exportartikel.“

In Deutschland wie in Liechtenstein kursieren nach dem dortigen Auftauchen der Brüder Irrsinnsgerüchte über das aus dem Land gebrachte Millionenvermögen, das es nicht gibt. Liechtenstein wird als Zufluchtsort für kriminelle Bankrotteure verunglimpft, was dortige Nazis auf die Idee bringt, die Rotters gewaltsam nach Deutschland zurückzubringen. Gemeinsam mit deutschen Nazis scheitern sie bei einem Entführungsversuch, der trotzdem tragisch endet, weil Alfred und seine Frau auf der Flucht einen Abhang herabstürzen. Fritz geht nach Frankreich, wird zeitweise verhaftet auf Ersuchen der deutschen Behörden, hat sich wohl auch ungerechtfertigter Weise einen Doktortitel zugelegt, wird aber wieder freigelassen. Die Entführer erhalten nur lächerliche Strafen, sind bald wieder frei. Der Prozess in Liechtenstein ist ausführlich im Buch dokumentiert.

Im abschließenden Nachspiel wird von einem sich als Fritz Rotter ausgebendem Betrüger, angeblich aus Palästina nach Deutschland 1948 zurückgekehrt, berichtet, der versucht, die Identität des längst Verstorbenen zu benutzen,  um sich Vorteile zu verschaffen.

Der Anhang umfasst Fußnoten, ein Personenregister und Quellenangaben.

Das Buch wird den Brüdern Rotter, ihrer wilden Theaterleidenschaft, ihrer Naivität und Unbekümmertheit in finanziellen Dingen und ihrem Gratwandel zwischen Großzügigkeit und Großmäuligkeit weit eher gerecht, als es die Stolpersteine tun können. Hätte sie Alfred Kerr ihnen versagt, der schrieb:“Die Rotters haben… die Zeit nicht produziert. Die Zeit produziert solche Rotters. Entschuldigt werden sie dadurch nicht.“ (500 Seiten Henschelverlag 2020; ISBN: 9783894878122).  Ingrid Wanja

Falling in love again

 

Da liegt sie nun, die dicke (no pun), glamourös aufgemachte Geburtstagsbox mit allen Aufnahmen, die Eileen Farrell ab 1947 für die amerikanische Plattenfirma Columbia (die spätere CBS und heutige Sony) gemacht hat, beginnend mit dem epochalen Wozzeck unter dem großen griechischen Dirigenten Mitropoulos. Was für ein Paukenschlag als Debüt bei einem Weltlabel.

Parallel dazu, und das erinnert man heute kaum noch, war die Farrell für die amerikanische Decca tätig, spielte dort nach einer eigenen Bach-Serie im Radio bereits auf 2 LPs Kantaten/“Arien“ mit illustren Kollegen wie Carol Smith und Jan Peerce 1959/1960 ein (eine weitere 2-LP-Ausgabe war dem bei RCA 1953-54 vorausgegangen). Sie hatte ohnehin seit 1940 eine Radiosendung bei CBS („Eileen Farrell sings“), wirkte in vielen Opern- und Pop-Sendungen mit (eines der schönsten Zeugnisse aus dieser Zeit ist die „Air de Lia“ aus dem Enfant prodigue Debussys unter Bernard Herman von 1949), nahm bei Decca ebenfalls eine  Pop-LP („Songs America loves“) auf,  dann wieder beim Radio Arien aus La Juive, Hérodiade, Die tote Stadt und vieles, vieles mehr. Nicht zu vergessen ihre Mitwirkung in Toscaninis Neunter bei NBC/ RCA. 1958 ging sie bei Angel/EMI für eine interessante LP mit französischen, italienischen und englischen Arien (Eileen Farrell in Grand Opera, auch später bei Testament herausgekommen) ins Studio, später für „Songs And Ballads“ ebendort. Und sang absolut alles als Stimme von Eleonor Parker in der Verfilmung des spektakulären Lebens von Majorie Lawrence („Interrupted melody), von Musettas Walzer über „Over the rainbow“ bis zur Dalila. Bei RCA gibt es zudem eine der zahlreichen „Wesendonck-Lieder“. Dokumente unter Charles Münch sowie Siegfried-Ausschnitte mit Set Svanholm unter Erich Leinsdorf, die jüngst bei Testament (mit Einschluss ihrer Stokowski-Wagner-Einspielungen) wiederbelebt wurden. Nicht zu vergessen die phlegmatische Elisabetta (einer seltenen Sopranbesetzungen) neben Beverly Sills´ zwirnsfadendünner Maria Stuarda bei Westminster/nun DG. Sehr spätes Pop-Glück erreichte die Fans mit einigen Torch-Songs bei Reference, Arabesque etc. Soweit die „offiziellen“ Aufnahmen.

Eileen Farrell – The Complete Columbia Album Collection; A Centenary Tribute to a Great American Singer. Sony Classical 16 CD 19075991902

An Live-Opern gibt’s noch einiges von Verdi, Gluck, Giordano, Ponchielli & Wagner (reichlich Tristan-Ausschnitte)  bei Vai und grauen Labels. Optisch werden bei Vaia-DVD (was für ein bullbeißiges Cover-Foto als Gioconda) und anderen Eindrücke aus Fernsehauftritten jener Zeit, auch ihr Wirken im italienischen Spoleto, dokumentiert. Und youtube bietet erstaunlich vieles, auch visuelle clips.

Wie mein sehr verehrter Kollege Jürgen Kesting nachstehend viel kenntnisreicher im uns dankenswert überlassenen Artikel aus dem sensationell habenswerten Beiheft zur Sony-Box ausführt, war Eileen Farrell eine außerordentlich umtriebige und mit allen Wassern des Showgeschäftes gewaschene Sängerin. Sie war nicht nur für mich eine zutiefst amerikanische und darin die erste All-America-Classics-Diva, sozusagen eine Rosa Ponselle für´s Volk. Die Ponselle wurde an der Met zum Superstar und trat wie die Farrell kaum in Europa auf (einzig La Vestale in London). Die Farrell kam von unten, aus der bürgerlichen Mitte Amerikas. Sie sang zu Beginn für die Massen im Radio, auf Kleinkunst- und großen Bühnen, in Turnhallen und Glee-Club-Locations. Sie war sich für nichts zu schade, hatte wenig Dünkel – wenngleich sich ihre Biographie „Can´t help singing“ (Northwestern University Press 1999) nicht so nett liest, weil sie sich zu oft abfällig über Kollegen äußert und zu viel sich selber rühmt. Es fehlte ihr durchaus nicht an Selbstbewusstsein, wie viele Anekdoten, auch die berühmte mit „Tommy“ Schippers, belegen.

Zu Eileen Farrell kam ich durch amerikanische Freunde im Berliner Villenviertel Dahlem, bei denen ich als junger Student mit großen Augen diese wunderbaren Columbia-LPs entdeckte. Was für Cover! Diese putzigen Fotos mit der Farrell und dem gruselig  toupée-behafteten Richard Tucker auf den Puccini-Arien, die Farrell selbst nicht wirklich elegant und hochpersönlich auf ihren Verdi- und Puccini-Beiträgen, das toll gestylte Cover des Medea-Querschnittes. Diese Stimme! So etwas hatte ich vorher nicht erlebt. Wie goldener Ahorn-Sirup ergoss sich dieses Riesenvolumen über die Musik, machte Rezias „Ozean“ zu einem gefahrlosen Ritt durch die Brandungen, ließ Verdis „Lied von der Weide“ die Bäume des Yellow Stone rauschen und Händels Erlöser seinem Grabe entweichen. Aber ganz ehrlich: Am meisten begeisterte mich diese LP „I´ve got a right to sing the blues“, denn so hatte ich den Pop Amerikas noch nicht gehört. Diese machtvolle Sopranstimme ohne Grenzen (naja, in der Höhe gibt´s klug umschiffte Töne) servierte solche Dauerbrenner wie Arlens „Blues in the night“ oder Lanes „Old fashioned moon“ als total unorpernhafter Profi, als toughe Showsängerin, die sich vor Dinah Washington oder Jo Stafford nicht zu fürchten brauchte. Was für ein Organ.

Natürlich war bei mir Maria Callas das erste und mich zutiefst prägende Erlebnis gewesen, noch vor der Farrell. Und vielleicht hatte mir die Callas (Norma!) das Ohr doch zu sehr gerückt, dass alles, was danach kam, durch diesen Filter musste, damals zumindest. Und eben – beide Stimmen verkörpern für mich die beiden Pole meines Musik-Erlebens. Über die Callas ist alles gesagt, auch dass sie vielleicht nicht die schönste (?) Stimme besitzt, sich nicht in die gängige Stimmenkategorie eines Soprans einfügt. Sie war eine Interpretin mit außerordentlicher Empathie für ihre Figuren.( „Bub´“, sagte meine alte Freundin Hanna Ludwig immer, „es gibt Stimmbesitzer, und es gibt Künstler!“)  Die Callas war eine Künstlerin. Kein Zweifel.

Die Farrell, will mir heute scheinen, war die Besitzerin einer wirklich grandiosen Stimme: leuchtend, furchtlos, immer rund, immer fließend wie der besagte Ahorn-Sirup, auch kraftvoll-zupackend, aber nie riskant. Darin dem amerikanischen Ideal einer ebenmäßigen, gut geführten und bestens platzierten Stimme mit dem nötigen Quäntchen Metall oben durchaus entsprechend, eben nie grell, nie brustig und ohne außermusikalische Ausdrucksmittel. Nach der Revolution waren zahlreiche Stimmlehrer aus dem zaristischen  Russland nach Amerika geflohen und hatten dort eine Art nationale amerikanische Schule etabliert, ein Ideal-Gesicht auf der Stimme geschaffen, das sich bei vielen Sängerinnen jener Zeit wiederfindet, von der Harshaw bis zur Steber, von der Farrell bis zur Bampton. Natürlich gilt das nicht für alle, aber eine Art nationales Stimmen-Gesicht kann man in jener Zeit durchaus konstatieren. Eigentlich bis heute (Jessye Norman oder Renée Fleming, wortarm und cremig).

Eileen Farrell beim einzigen Auslandsbesuch in Eiuropa, in Spoleto 1959, hier im Teatro Romano: es ist unklar, ob es sich nicht um einen gestellten Auftritt nur für einen Film-Bericht über Spoleto handelt wie er auf der VAI-DVD „Eileen Farrell – An American Diva“ zu erleben ist/ Foto VAI

Im Vergleich zu Europäerinnen wie selbst Renata Tebaldi (der man Risiko nun wirklich nicht nachsagen kann), bestimmt wie Gina Cigna, Clara Petrella, Maria Caniglia oder Pia Tassinari, die im Repertoire das Gegenstück zur Farrell im Italienischen wären, muss man ein ganz anderes, beherztes Zupacken feststellen: eine italienische kontinentale Attacke, die die Farrell nicht hören lässt. Vielleicht aber ist dieses sich Nicht-wirklich-Einlassen auf die einzelnen Figuren, die die Farrell auf diesen vielen CDs vorstellt, auch eine Folge ihrer vergleichsweise geringen Bühnenerfahrung. Den überwiegenden Teil ihrer musikalischen Karriere  hatte Eileen Farrell auf Konzertpodien und vor den Mikrophonen der Radio-Anstalten bzw. Plattenfirmen verbracht. Dort gab es eben immer „nur“ Einzelstücke, Songs und  Arien. Erst spät kam sie trotz Bings Zähneknirschen an die Met (1960 – 66 mit Alceste in der Flagstad-Nachfolge, Giordanos  Maddalena, der Gioconda und Forza-Leonora, alle natürlich bei rabiaten Sammlern zu Hause), hatte allerdings bereits 1956 in Tampa/Florida als Santuzza debütiert, kurz vorher die Wozzeck-Marie im Konzert gesungen und dann aufgenommen sowie  wenig später die erste amerikanische Medea Cherubinis gegeben (von 1955 haben Sammler die Gesamtaufnahme aus der New Yorker Town Hall in solidem Sound). Eine wirkliche Bühnen-Ausbildung bzw. –Erfahrung besaß sie nicht. Und das – denke ich – hört man. Vielleicht war die Showkarriere doch das ihr Entsprechende, darin ist sie auch eine amerikanische Sängerin ihrer Zeit, in der Oper als etwas sehr Exotisches galt und sich eher in Musikfilmen wie San Francisco oder Der Fischer von Louisiana vermittelte. High brow Opera wurde an der Met und auf deren Touren durchs Land zelebriert. Erst in den Sechzigern etablierte sich Oper als eigene Kunstform Nation weit.

Eileen Farrell ist für mich eine der bedeutendsten amerikanischen Sopranistinnen ihrer Zeit, die erste Real American Diva, made in USA. Mit ihr begann das Selbstbewusstsein der amerikanischen Sänger, die damals noch nach Europa gehen mussten, um sich dort einen Namen zu machen und um dann im  Triumph an die Met „zurückzukehren“. Farrell war nur einmal in Europa, 1959 in Spoleto zum Menotti-Festival (wovon ein wirklich hochunterhaltendes Video bei VAI zeugt, das sie im Abendkleid in dem dortigen antiken Teatro Romano am Klavier zeigt, unglaublich!). Europa war ihr Ding nicht, daran lässt sie auch in ihrem Buch keinen Zweifel. Sie hatte genug zu Hause zu tun, sang unter fast allen bedeutenden Dirigenten ihrer Zeit, namentlich unter Bernstein, de Sabata und Mitropoulos. Sie brachte Wagner in die Konzertsäle und Oper zu den Hörern in der Küche. Dies mit einer lässigen Selbstverständlichkeit und beeindruckenden Professionalität.

Die besagte dicke Sony-Columbia-Box zu ihrem 100. Geburtstag am 13. Februar (sie starb am 23. März 2002) lässt diese bemerkenswerte Stimme von vielen Seiten erleben, als Popsängerin (gleich dreimal) ebenso als Konzert- und Opernsängerin. Und es gibt viel Bemerkenswertes, so die  „First performance at Lincoln Center“ mit Vaughn Williams´“Serenade to Music“ 1962 als Eröffnungskonzert unter Bernstein mit einem Staraufgebot an Kollegen. Oder – unglaublich fast – als CD-Erstausgabe die Cherubinische Medea im Querschnitt  in einer recht abenteuerlichen Bearbeitung durch Arnold Gamson. Sogar eine bislang unbekannte Einspielung kann Sony mit Offenbachs Exzerpt aus der Geneviève de Brabant (hier frech als „The Marines Hymn“ ) bieten. Überhaupt lernt man beim Studieren der wieder einmal vorbildlich abgedruckten Aufnahmedaten (jaja Hänssler!), dass sich die geliebte Pop-LP „I´ve got a right to sing the blues“ eigentlich aus ehemaligen Schellacks (bereits 1947) und späteren Einzelausgaben zusammensetzt. Spannend.

Heute, gütiger geworden und viel weniger dogmatisch als in meiner Jugendzeit, habe ich mich erneut in Eileen Farrell verliebt! I´m falling in love again. In die kitschigen Weihnachtslieder mit dem abenteuerlichen Familien-Cover, in die tempestuöse Medea, in den Schmelz Händels, in den Swing bei Rodgers oder die Schwermut bei  Arlen und Weill. Just love Maple Syrup over my breakfast. Yeah (Eileen Farrell – The Complete Columbia Album Collection; A Centenary Tribute to a Great American Singer.  Sony Classical 16 CD  19075991902). Geerd Heinsen

 

Und nun Jügen Kesting zu Eileen Farrell im Beiheft zur Sony-16-CD-Box. Die Niagarafälle des Gesangs: Auf die Frage nach den drei entscheidenden Qualitäten, über die ein Sänger verfügen müsse, antwortete Gioachino Rossini einmal: »Erstens: Stimme; zweitens: Stimme; und drittens: Stimme.« Das ist ein hintersinniges Bonmot und keineswegs Ausdruck einer fetischistischen Bewunderung des stimmlichen »Materials«. Es geht vielmehr um eine besondere, eine ma­gische Eigenschaft und Wirkung, die von keinem anderen Instrument ausgeht. Ernst Bloch hat dazu in seinem Aufsatz Zauberrassel und Menschenharfe gesagt: »Kein Flötenton ist eine Holzerschließung, kein Trompetenton die >Seele< des Metalls.« Anders verhält es sich bei den »singenden Körperinstrumenten«: Es gibt Momente, in denen die Musik allein durch das Material ihres Instruments tönt und spricht – durch die Stimme.

Diese ganz eigene Magie war es, welche die Stimme der amerikanischen Sopranistin Eileen Farrell auszeichnete – die Stimme eines dramatischen Soprans von einzigartiger Klangpracht. Wie seltsam und sonderbar aber, dass Eileen Farrell, von Winthrop Sargeant in The New Yorker als »der beste dramatische Sopran unserer Tage« bezeichnet (und das in der Zeit von Maria Callas, Renata Tebaldi und Zinka Milanov!), im amerikanischen Opernleben eine Außenseiterin blieb; dass sie, obwohl wie keine andere prädestiniert für Partien wie Isolde und Brünnhilde, keine einzige Wagner-Partie auf der Bühne verkörpert hat. Sie selbst sagt dazu in ihrem Erinnerungsbuch Can’tHelp Singing (das von einer unverblümten Offenheit und Selbstironie ist, wie man sie bei Primadonnen nur selten antrifft), sie habe »eine komische Karriere« gehabt.

Es war eine typisch amerikanische Karriere. »Ich glitt von der einen Sache in die andere, ohne darüber nachzudenken, wohin ich ging oder wie schnell.« Alles fiel ihr leicht, alles kam wie von selbst: Wenn Türen hinter ihr zufielen, öffneten sich sogleich andere in eine neue Arena des Music Business.

Eileen Farrell (*13. Februar 1920; t23. März 2002) kam in Willimantic, Connecticut, zur Welt, als Tochter irischstämmiger Vaudeville-Sänger. Von der Altistin Merle Alcock mit einer wenig belastbaren Gesangsausbildung versehen, bewarb sie sich bei CBS um eine Choristinnen- Stelle. Schon nach zwei Monaten bekam sie ihre eigene Sendung: Eileen Farrell Sings – gleichsam ein Schaufenster, in dem sie große Arien ebenso ausstellte wie populäre Songs, mitunter sogar im Duett mit Frank Sinatra. Technischen Schliff bekam sie bei ihrer nächsten Lehrerin, Eleanor McLellan: Verbesserung ihrer Atemtechnik und Kontrolle der Dynamik. Als CBS ihre Radioserie nach sieben Jahren einstellte, fand sie sogleich den Weg auf die Konzertpodien. Zu ihren wichtigsten Partnern gehörte der »hypnotische« Leopold Stokowski, der sie im Radio gehört hatte und einlud, Wagners Wesendonck-Lieder mit ihm aufzunehmen: Musik, die sie nicht kannte und die ihr zunächst auch wenig sagte. Vier Monate lang studierte er die Gesänge »Zeile für Zeile« mit ihr ein. Der vielgerühmten Aufnahme folgte ein Dacapo unter Leonard Bernstein, der, wie er mir in einem Gespräch sagte, »wie im Rausch war, wenn ich mit ihr musizierte«. In der Saison 1950/51 gab sie ihr Debüt-Konzert in der Carnegie Hall, wo sie in drei konzertanten Aufführungen unter Dimitri Mitropoulos auch die Marie in Alban Bergs Wozzecks ang. Als MGM 1955 unter dem Titel Interrupted Melody und mit Eleanor Parker in der Hauptrolle die bitter­traurige Geschichte der an Polio erkrankten Opernsängerin Marjorie Lawrence verfilmte, lieh Farrell ihre Stimme aus, für Musik aus Madama Butterfly, Carmen, Götterdämmerung, Le nozze di Figaro, ll trovatore, Samson et Da lila und Songs wie Waltzing Matilda und Don’t sit Under the Apple Tree.

 

Als sie immer öfter aufgefordert wurde, selbst auf die Opernbühne zu gehen, reagierte sie zunächst zögerlich. Der wichtigste Grund war wohl: »Ich war der Meinung, ich hätte nicht unbedingt die richtige Figur für die Opernbühne.« Auf ihrer Audition Card an der Met notierte der damalige General Manager Edward Johnson: »Amateurhaft – fett.« Sie begann umzu­denken, nachdem sie 1955 auf Bitte von Allen Sven Oxenburg für die American Opera Society in einer konzertanten Produktion die Titelpartie in Luigi Cherubinis Medea gesungen hatte – eine Rolle, die damals gleichsam im alleinigen Besitz von Maria Callas war. Sie hatte keine Vorstellung vom Charakter der Figur und hielt sich einfach an das Wort, mit dem Oxenburg sie beschrieben hatte-. Medea sei »a bitch«. Die Aufführung, in der auch Maria Callas und Zinka Milanov saßen, geriet zu einem Triumph. »In stimmlicher Hinsicht ist sie«, so heißt es im dritten Band von Opera on Record über ihre später entstandene Aufnahme mit Auszügen aus dieser Oper, »auf süperbe Weise sicher, mit felsenfesten und präzise plazierten Tönen in der Höhe, einer schönen Klangqualität und einem warmen tiefen Register; ihre Aussprache ist ein Schulbeispiel für alle Sänger.«

Dem Bühnendebüt als Santuzza in Tampa (1956) folgten Gastengagements in Chicago und San Francisco – und hymnische Kritiken. »Für den Gesang ist sie, was Niagara für die Wasserfälle ist«, schrieb der Kritiker Alfred Frankenstein im San Francisco Chronicle. Franco Corelli, ihr Tenorpartner in Ponchiellis La Gioconda, stürzte nach einer Probe mit dem Ausruf von der Bühne: »Ma, chi e questa donna? Lei m’assordava!« (Wer ist diese Frau? Sie hat mich taub gemacht.) Die Jahre von 1960 bis 1966 waren an der Met für sie frustrierend, denn Manager Rudolf Bing bestätigte, was ein Regisseur über ihn gesagt hatte: »Lassen Sie sich von seinem strengen, kühlen, formvollendeten Äußeren nicht täuschen. In seiner Brust schlägt wirklich ein Herz aus Stein.« Sie erlebte ihn als »bösartigen, sarkastischen Snob«, der das Theater mit Mitteln der »Furcht und Einschüchterung« leitete und sie kaltstellte, nachdem sie abgelehnt hatte, die Wozzeck-Marie in englischer Sprache zu singen. Ihr lakonisches Resümee über ihre Opernkarriere lautete: »Ich wäre eine lausige Diva gewesen.«

Nach dem Bruch mit der Met setzte sie ihre Karriere als Konzertsängerin fort – auch mit großen Opernszenen. Das letzte Kapitel ihrer Laufbahn lässt sich überschreiben mit dem Titel eines Songs von Harold Arien: I Gotta Right to Sing the Blues. Das Album Together with Love mit Andre Previn von 1962; eine Sammlung von »torch songs«, in denen sie die Grenzen zwischen Süße und Sentimentalität nie überschreitet; Songs von Rodgers & Hart oder Harold Arien – sie alle stehen in der Sphäre des Crossover für sich und sollten jedem Sänger eine Warnung sein, sich nicht leichtfertig an dieses Repertoire zu wagen. Über die Versuche einiger Kolleginnen und Kollegen sagte Farrell in einem Interview ebenso treffend wie beißend ironisch: »Entweder kann man es oder man kann es nicht. Was man aber nicht kann, ist es zu lernen.«

Zurück zu Rossinis Diktum. Eileen Farrells Stimme zeichnete sich nicht allein durch ihr immenses Volumen und ihre überströmende Klangfülle aus, sie gebot überdies über eine außergewöhnliche Agilität, eine reiche Palette an Farben und eine breite Skala an dynami­schen Nuancen. Ihre Fähigkeit, dem Piano großen Klang zu geben und dem Forte einen unangestrengt weichen und sanften, hat der Theaterautor und Kritiker Albert Innaurato mit einem treffenden Oxymoron beschrieben: »softly immense«. Das scheinbare Paradox-weich und sanft auf der einen Seite, immens und gewaltig auf der anderen – löst sich auf, wenn man zum Beispiel Brünnhildes »Starke Scheite« hört: die klangliche Majestas des Beginns-, das hell aufleuchtende hohe A in der Phrase »des hehrsten Helden«; das sanfte Lächeln im Klang, wenn sie – »Wie Sonne lauter strahlt mir sein Licht« – in die Betrachtung von Siegfrieds Antlitz versinkt; die weiche Fülle der tiefen Lage in den »softly immense« gesungenen Phrasen nach »Wisst ihr, wie das ward?« oder in den fünf Takten von »Ruhe, ruhe, du Gott«. Und gleich der Fackel, die Brünnhilde laut Szenenanweisung schwingt, lodert Farrells Stimme auf bei »Fliegt heim, ihr Raben« und in den Ekstasen des Schlusses. Nicht weniger eindringlich ist die von Erich Leinsdorf dirigierte Aufnahme des Schlussgesangs aus Siegfried mit dem schwedischen Tenor Set Svanholm als Partner.

Der Autor: Jürgen Kesting, geboren 1940 in Duisburg, studierte in Köln und Wien Germanistik, Anglistik und Philosophie. Nach vier Jahren als Presse-Chef bei zwei Schallplattenfirmen arbeitete er seit 1973 als Redakteur, Ressortleiter, geschäftsführender Redakteur und Autor für den Stern. 1993 wechselte er als Autor zu der neu gegründeten Zeitung Die Woche. Nach vielen Musiksendungen im Rundfunk veröffentlichte er 1986 die dreibändige Studie „Die großen Sänger“. 1990 folgte eine Monographie über Maria Callas, 1991 ein Buch-Essay über Luciano Pavarotti. Im NDR lief zehn Jahre seine wöchentliche Musikreihe über große Sänger. Für vier ARD-Sender produzierte er eine 26-teilige Folge über Maria Callas, für die ARD einen 13-teilige TV-Serie „Die großen Tenöre“. Er arbeitet seit mehr als zehn Jahren als freier Autor für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und für Fachzeitschriften wie Opernwelt und Fono Forum/ Foto Cornelius Meffert/Hoffmann & Campe Verlag, (Quelle Hoffmann & Campe)

In Opera on Record ist zu lesen, Brünnhildes Schlussgesang sei »schön gesungen« und das Duett klinge wie eine »konzertante Aufführung«. Dieser Einwand ist, so scheint mir, diktiert vom Wissen des Rezensenten, dass sie keine Wagner-Partie auf der Bühne gesungen hat. Es ist allerdings ein Einwand, der gegen viele, wenn nicht die meisten Studio-Recitals mit aus dem dramatischen Kontext gelösten Arien vorgebracht werden kann. Viele, sehr viele Arien-Solos, die Eileen Farrell uns hinterlassen hat, schenken uns jedenfalls die schönsten Wonnen der Ahnung: die Vorstellung von der idealen Klanggestalt der Alceste von Christoph Willibald Gluck, Wagners Brünnhilde und Isolde, Webers Agathe oder der Magda Sorel in Menottis Der Konsul. Dass sie das Idiom der Musik von Verdi und Puccini nicht so sicher sprach wie das von Wagner, führte wohl zu einer Unterschätzung ihrer Aufnahmen in italienischer Sprache. In Leonoras »D’amor sull’ali rosee« erweist sie sich als soprano drammatico d’agilitä – mit magischen mezza vooce-Abstufungen im Rezitativ, rund schwingenden Trillern an den Phrasenenden zu Beginn des Cantabile und einer sublimen Kadenz, makellos in der technischen Ausführung. Solche stimmliche Elastizität besaß kein anderer dramatischer Sopran oder Spinto der letzten 70 Jahre. Wie oft (und völlig zu Recht) wurde Zinka Milanovs messa di voce  zu Beginn von Leonoras »Pace«-Arie aus La forza del destino gerühmt – und warum hat man sie bei Eileen Farrell überhört? Wie wenige andere besaß sie die Spinto-Energien für Amelias »Ma dall’arido stelo« und für Aidas »Ritorna vincitor« – und die Elastizität für »softly immense« gebildete Seelentöne. Das Schlusswort zu ihrem Buch Can’tHelp Singingfand sie in einem alten Song von Bart Howard: »All in all, it was worth it… Well-yes. Itsureas hell was.« (Alles in allem war es das wert… Verdammt nochmal, das war es.) Jürgen Kesting

 

Dank an den ebenso liebenswürdigen wie renommierten Musikkritker und Musikjournalisten Jürgen Kesting und die Firma Sony für die freundliche Überlassung dieses Textes zur Wiedergabe hier bei operalounge.de. Das Foto oben zeigt einen Ausschnitt aus dem reproduzierten LP-Cover des „Eileen Farrell Song Recital“ im Booklet zur Sony-Ausgabe, wie denn überhaupt das wirklich vorbildlich gestaltete und ausgestattete Beiheft akribisch die Aufnahmedaten auflistet. Zudem sind die Cover (und deren dto. Rückseiten) der alten Columbia-Originale auf den jeweiligen Papphüllen ab gebildet – eine wirklich Nostalgie weckende Hymne an diese große Sängerin Amerikas. G. H.

 

 

Eileen Farrell – The Complete Columbia Album Collection; A Centenary Tribute to a Great American Singer.  Sony Classical 16 CD  19075991902; mit Werken von: Luigi Cherubini (1760-1842)Alban Berg (1885-1935)Ludwig van Beethoven (1770-1827)Carl Maria von Weber (1786-1826)Christoph Willibald Gluck (1714-1787)Giacomo Puccini (1858-1924)Harold Arlen (1905-1986)Irving Berlin (1888-1989)Richard Rodgers (1902-1979)Kurt Weill (1900-1950)Franz Schubert (1797-1828)Claude Debussy (1862-1918) und weitere; Mitwirkende: Eileen FarrellEzio FlagelloKim BorgRichard TuckerAndre PrevinJuilliard String QuartetLuther Henderson OrchestraNew York Philharmonic OrchestraDimitri MitropoulosArnold GamsonMax RudolfFausto Cleva und weitere (cpo)

 

Idiomatisch

 

Janáček war ein fleißiger Zeitungsleser. Im Mai 1916 fand er in der Lidove noviny, in der er vier Jahre später auch auf die Motive für sein Schlaues Füchslein stieß, die Notizen über einen jungen Bauernburschen, der vom elterlichen Hof verschwunden war. In seiner Kammer habe man Aufzeichnungen gefunden, die sein Verschwinden mit der Liebe zu der jungen Zigeunerin Zefka erklären, mit der in der Fremde ein neues Leben beginnen wolle. Als Verfasser der Aufzeichnungen wurde erst achtzig Jahre später der Schriftsteller und Mundartdichter Ozef Kalda identifiziert. Die Geschichte des damals unbekannten Poeten mit dem Titel Aus der Feder eines Autodidakten über eine glühende Liebe und den Aufbruch zu einem neuen Leben faszinierte den 62jährigen Komponisten, der kurz darauf die mehr als drei Jahrzehnte jüngere Kamila Stösslova kennenlernte, die bis zu seinem im Todesjahr 1928 entstandenen Streichquartett Intime Briefe sein Fühlen bestimmte: „du warst meine Zefka“. Die schöne Zigeunerin hatte sich in Kamila verwandelt. Zwei Jahre arbeitete Janáček an der Sammlung von 22 Gedichten im volkstümlichen Stil bis daraus der am 18. April 1921 im Brünner Reduta Theater uraufgeführte Liedzyklus Tagebuch eines Verschollenen für Tenor, Mezzosopran, drei Frauenstimmen und Klavier wurde, dem sich in der Folge alle bedeutenden tschechischen Tenöre von Beno Blachut bis zuletzt Alex Briscein zuwandten. Nun widmet sich auch Pavol Breslik zusammen mit dem Pianisten Robert Pechanec diesen aufwühlenden Liedern (Orfeo C989201), die er nicht mit den Zigeunerliedern von Brahms, die einen falschen Gypsy-Ton in Janáčeks in Anlehnung an die Sprachmelodie gefassten Zyklus spielen würden,  mit den Sechs Volksliedern, welche Janáček 1909 auf der Grundlage von Liedern der Volkssängerin Eva Gabel aufgezeichnet hatte, sowie den acht, auch als Rebellenlieder bezeichneten Lieder aus Detva von 1916, verband,.

Breslik gibt in der im Mai 2019 in Wien entstandenen Aufnahme die Gefühle des geradezu besessenen Jan bzw. Janiček mit großer stimmlicher und emotionaler Bandbreite zwischen romantischer Leidenschaft, Verführung und Gewalt wieder, aus der klar wird, wie sehr der Komponist hier seine eigenen Gefühle spiegelte. Der innere Konflikt wird auch in dem feingezeichnet sprechenden Klavierpart ausgetragen, mit dem der Tenor viel intensiver in einen Dialog eintritt als mit der in drei Liedern gegenwärtigen Zefka (sehr prägnant: Ester Pavlu), der in zwei Liedern drei Frauenstimmen beistehen. Mit bannender Intensität und am Schluss ekstatischen Höhen schafft Breslik den unmerklichen Übergang vom dem als redlich beschriebenen naiven jungen Mann zu dem sich in Wahnvorstellungen flüchtenden Liebhaber, dessen letzte Äußerung in Max Brods deutscher Übersetzung „Lebe den wohl, Heimatland“ lauten würde; stets mit weicher Tongebung, behutsam ausgedeuteten, am Rande der emotionalen Überdrucks balancierenden Akzenten und sprachmalerischer Magie entwirft er ein Psychogramm, in dem die sämige Mittellage und der edle Mischlang seines Tenors von großer Wirkung sind.  Rolf Fath

Typisch Castorf

 

 

„Schlimmer geht’s nimmer“, denkt  sich der naive Opernfreund bereits beim Lesen der Inhaltsangabe im DVD-Booklet zu Janáceks Lageroper Aus einem Totenhaus, aber weit gefehlt: Wenn Frank Castorf die Regie übernimmt strömt das Blut statt in Bächen in Strömen, wird alles Schreckliche doppelt, nämlich zusätzlich noch auf einer Videowand gezeigt, inspiriert nicht ein verletzter Raubvogel die Freiheitsideen der Lagerinsassen, sondern ein Paradiesvogel wie aus einer Revue im Moulin Rouge. Dazu kommen die üblichen Ingredienzien einer Castorf-Inszenierung wie zusätzliche Personen, Texte, Handlungen- hier u.a. der Selbstmord durch Erhängen in Video-Großaufnahme- und neben viel Körperflüssigkeit auch auf Boe Skovhus‘ an sich angenehmem Gesicht grässliche große Eiterbeulen – etwa schon Aids? Denn natürlich werden auch Zeit und Ort nicht respektiert, denn mexikanischer Totenkult verweist zwar auf Leo Trotzki und dessen Tod durch Eispickel, Reklame für Pepsi Cola auch nicht gerade auf das zaristische Straflager, das Dostojewski erdulden musste, sondern, bedenkt man das Erscheinen der Iswestija, auf die Stalinzeit. Immerhin herrscht kein sexueller Notstand, denn anstelle der einen armseligen Prostituierten bei Janácek gibt es im Castorf-Lager einige sehr hübsche Mädchen in attraktiver Gewandung. Das so praktikable wie atmosphärereiche Bühnenbild auf der Drehbühne stammt von Aleksandar Denić, kann ohne Umbauten Lazarett, Kommandantenstube oder Appellplatz mit Stacheldraht und Elektrozaun zeigen. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzni beschränken sich nicht auf Lagertrübnis, sondern legen der Phantasie besonders, wenn die Häftlinge Theater spielen, keine Fesseln an. Sehr stimmungsvoll ist die Lichtregie von Rainer Casper. Zu ihr passt am besten die ein feines akustisches Farbspektrum auffächernde Leistung von Simone Young am Dirigentenpult der Bayerischen Staatsoper. Ihr entströmen auch Trost und Heilsversprechen, die optisch nur in der Freilassung des Adlers und der Entlassung des Adligen Häftlings Gorjančikov ihre Entsprechung haben. Alle anderen müssen ihr elendigliches Leben im Lager fortführen, einige profilieren sich im Verlauf der drei Akte durch die Erzählung, eher das Wiederaufleben ihrer blutigen Taten, die sie (im Original) nach Sibirien gebracht haben.

Peter Rose ist als Gorjančikov die sympathischste der Figuren, gewinnt Profil eher durch seine schauspielerische Leistung, da er wenig zu singen hat, das aber bassabgrundtief. Berührend  mit kristallklarem Sopran gibt Evgeniya Sotnikova den jungen Tartaren, dem er das Lesen beibringt, spielt zugleich den Adler im prunkvollen Federkleid. Charles Workman singt den Skuratov, der seinen Nebenbuhler ermordet hat, mit höhensicherer Stimme. Eine ganze Oper für sich ist Bo Skovhus als Šiškov, der die von ihm geliebte Frau aus Eifersucht umgebracht hat. Vokale und darstellerische Leistung überbieten einander. Von der Kamera bevorzugt wird Galeano Salas als Betrunkener, der mit drei Wodkaflaschen im Arm immer wieder ins Bild geholt wird. Sehnsüchtige Volksliedtöne steuert Dean Power als Stimme aus der kirgisischen Steppe bei. Auch der Kommandant, Christian Rieger in beeindruckender Starrheit, dürfte, so meint es eine tiefe Narbe im Gesicht, einst Opfer von Gewalt gewesen sein.

Die Kamera holt die jeweils auch stimmlich Agierenden ins Bild, der Opernhausbesucher hatte stets die gesamte Bühne mit unzähligen Nebenhandlungen vor Augen, so dass man davon ausgehen kann, dass man am häuslichen Fernseher die Einzelschicksale mehr zu würdigen weiß als im Theater. Das dürfte wohl auch eher im Sinne von Dostojewski und Janácek sein (BelAir BAC573).   Ingrid Wanja           

Von Berg bis Zemlinsky

 

Brilliant Classics hat alle Lieder von Alban Berg herausgegeben; einschließlich des Melodrams auf den Goethe-Text Klagegesang der edlen Frauen des Asan-Aga (prägnant die Sprecherin Stefanie Köhler) und zwei Duetten sind es insgesamt 93 Lieder, von denen die meisten in der Frühzeit des Komponisten, etwa 1901 bis 1909 entstanden sind und einige von ihnen Welt-Ersteinspielungen sind. So herrscht der spätromantische Duktus vor, in dem sich der junge Alban Berg in der Zeit vor seinem Unterricht bei Arnold Schönberg versuchte. Als Haupt-Verantwortlicher der Gesamtaufnahme kann der Pianist Filippo Farinelli bezeichnet werden, ein Spezialist für Kammermusik und Liedkompositionen. Er ist ein zuverlässiger Begleiter der vier Sängerinnen und Sänger, die sich quasi abwechseln, so dass die manchmal bei Gesamtaufnahmen zu erlebende Eintönigkeit vermieden wird, wenn auch der Bariton Mauro Borgioni fast die Hälfte der Lieder singt. Bei ihm beeindrucken gute Textverständlichkeit, durchweg kluge Gestaltung und sorgsam abgestimmte Führung seiner warmen Stimme. Mit 24 Liedern, dabei die bekannten Sieben Frühen Lieder und die Vier Lieder op. 2, entstanden 1909/10 und sozusagen auf dem Weg in die Atonalität, ist Elisabetta Lombardi beteiligt. Leider klingt ihr heller Mezzo mit starkem Tremolo viel zu unruhig und wird nicht ausgewogen genug durch die Lagen geführt. Mark Milhofer und  Myung Jea Kho singen nur je 10 Lieder: Der britische Operntenor nutzt die wenigen Lieder in recht hoher Tessitura, um guten Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme zu demonstrieren und seine Stimme mit Glanz zu versehen. Die Sopranistin interpretiert die 1911/12 für Singstimme und Orchester komponierten Fünf Lieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg op.4.  Das Klavier kann das geforderte stark besetzte Orchester natürlich nicht ersetzen, so dass der Skandal bei der Uraufführung 1913, der zum Abbruch durch den Dirigenten Arnold Schönberg führte, nicht so recht nachvollziehbar ist, Die Koreanerin kommt mit den hohen stimmtechnischen Anforderungen gut zurecht und führt ihren klaren Sopran sicher und intonationsrein durch die schwierigen Intervallsprünge alle Lagen. Das gilt ebenso für die beiden späteren, mit vertrackten Rhythmen und ungewohnten Tonfolgen versehenen Lieder „Schließe mir die Augen beide“ (1925) und das „Lied der Lulu“ (1934) (BRILLIANT CLASSICS 955490, 3 CD).

 

Albert Rubenson (1826-1901) ist und war vor allem in seinem Vaterland Schweden geachtet; liebevoll wird er als „schwedischer Grieg“ tituliert. Rubenson studierte in den 1840er-Jahren Violine und Komposition in Leipzig und spielte dort auch im Gewandhausorchester. 1872  wurde er in die Königlich Schwedische Musikakademie berufen,  wo er bis zu seinem Tod als Direktor der Bildungseinrichtung der Akademie tätig war. Von seinen Kompositionen im Geiste von Mendelssohn und Schumann sind zwei Sinfonien, die Oper En Natt bland fjeilen (Eine Nacht im Gebirge), Klavierstücke, Streichquartette und mehrere Liedsammlungen zu nennen. Das schwedische Label Sterling hat jetzt eine kleine Auswahl seiner Lieder herausgebracht. Die mit dem Komponisten entfernt verwandte schwedische Sopranistin Caroline Gentele und die Pianistin Victoria Power interpretieren fünf Lieder nach Gedichten von Heinrich Heine op.5 und insgesamt zwölf in der Zeit von 1866 bis 1869 komponierte Lieder nach Gedichten des Norwegers Björnstjerne Bjarnson, des im 18. Jahrhundert lebenden Schotten Robert Burns und des Dänen Christian Hostrup. Bei der Ausdeutung dieser Lieder romantischen Inhalts, die sämtlich in schwedischen Übersetzungen gesungen werden, gelingt es der Sängerin, ihren Sopran durchweg intonationsrein mit dahingleitendem Legato zu führen und ihn an passenden Stellen schön aufblühen zu lassen, wie z.B. im Heine-Lied „Wenn ich in deine Augen seh‘“, im traurigen Maria-Stuart-Lied nach Björnson oder in den verschiedenen Liebesliedern von Burns. Am Klavier spürt die Pianistin allen Nuancen der Sängerin nach und ist so eine partnerschaftliche Mitgestalterin. Diese Aufnahme ist eine gute Gelegenheit, die Liedkompositionen des zumindest hierzulande weithin unbekannten Albert Rubenson kennenzulernen (STERLING CDA 1839-2).

 

Das Musée d’Orsay und die Royaumont Foundation haben sich zusammengeschlossen, um im Rahmen einer Akademie junge Sängerinnen und Sänger mit ihren pianistischen Partnern zu fördern und gleichzeitig Brücken zwischen der Welt der Musik und der bildenden Kunst zu schlagen. Die 1. Académie fand in der Saison 2018-2019 statt; es  waren vier Duos, die in Meisterkursen von renommierten Gesangslehrern wie Véronique Gens, Bernarda Fink oder Helmut Deutsch unterrichtet wurden. Dem folgte ein Kunstgeschichtskurs im Musée d’Orsay, bevor es eine Konzerttournee u.a. in Frankreich gab und eine CD der Preisträger aufgenommen wurde. B-RECORDS hat das Konzert der vier Duos im Juni 2019 in der Abtei Royaumont aufgezeichnet und eine CD herausgebracht. Die sehr unterschiedlichen Lieder von Loewe über Schumann und Zemlinsky bis zu André Caplet sind unter dem Titel der drei Debussy-Lieder über die Ode Le Promenoir des deux amants von Tristan L’Hermite (1633) zusammengefasst.

In Bezug auf die Interpretation, die jeweils gekonnte Stimmführung und das pianistische Vermögen beeindruckt das hohe Niveau aller jungen Künstlerinnen und Künstler: Die Debussy-Lieder werden von den Franzosen Jean-Christophe Laniéce (Bariton) und Romain Louveau ausgedeutet; dazu kommen drei Lieder von Robert Schumann, dabei die berühmte Mondnacht. Mit seinem weichen Bariton gelingt es dem jungen Sänger vorzüglich, die impressionistische Stimmung der Debussy-Lieder nachzuvollziehen und die traurigen Kerner-Lieder Stirb, Lieb‘ und Freud‘!“ und „Sehnsucht“ ebenso wie die ausschwingende „Mondnacht“ schön auszusingen, ohne manieriert zu wirken.

Der Amerikaner Alex Rosen (Bass) und der Pole Michal Biel haben sich der deutschen Balladen Der Nöck von Carl Loewe und Schuberts Erlkönig angenommen. Dabei wird die melodische Vielfalt in der Loewe-Ballade mit in allen Lagen abgerundeter Stimme ausgekostet; mit spannender Gestaltung und differenzierter stimmlicher Charakterisierung wartet das Duo im „Erlkönig“ auf.

Die Französin Marielou Jacquard (Mezzosopran) und der Amerikaner Kunal Lahiry interpretieren Maurice Ravels Histoires naturelles. Mit ausgesprochen flexiblem Mezzo und technisch versiertem Klavierspiel werden die poetisch-witzigen Tierporträts und Fabeln in tonmalerischer Atmosphäre wiedergegeben.

Schließlich gestaltet Marie-Laure Garnier (Sopran), aus Französisch-Guayana stammend, gemeinsam mit der Französin Célia Oneto-Bensaid zwei Lieder von Alexander von Zemlinsky (Elend/Afrikanischer Tanz), drei Lieder nach Fontaine-Fabeln von André Caplet (1878-1925) und Schuberts Romanze aus Rosamunde. Im kurzen „Afrikanischen Tanz“ gibt es dramatisches Aufbegehren des voll timbrierten Soprans, während in den Fabeln die Gespräche der Tiere mit Witz und farbenreicher Ausdruckspalette nachgezeichnet werden; nach den aufgeregten Tier-Fabeln endet das Konzert mit Schuberts in ruhigem Legato gesungener „Romanze“ (B RECORDS LBM 021).  Gerhard Eckels

 

Der 1551 in Rom geborene Komponist Giulio Caccini war Mitglied der Florentiner Camerata – einer Gruppe von Musikern, Dichtern und Intellektuellen, die den Stil der griechischen Tragödie wieder beleben wollten und bei ihren Bemühungen zu jener Kunstform fanden, die wir heute Oper nennen. Er selbst trug mit einer Sammlung von Liedern und Arien dazu bei, die in Florenz als Le Nuove Musiche in zwei Bänden veröffentlicht wurden. Dies ist auch der Titel einer neuen CD bei BRILLIANT CLASSICS (9794) mit dem römischen Tenor Riccardo Pisani und dem Ensemble Ricercare Antico. Die fünf Instrumentalisten musizieren unter der Leitung von Francesco Tomasi, der selbst die Theorbe, Laute und Barockgitarre spielt. In der Toccata per spinettina e violino von Girolamo Frescobaldi haben sie auch Gelegenheit für einen  instrumentalen Auftritt.

Der Tenor beginnt das Programm mit zwei Arien von Caccini – „Amor io parto“ und „Dalla porta d’Oriente“. Er hat eine in den Registern ausgeglichene Stimme von schöner Rundung und gebührender Flexibilität für die Melismen der Kompositionen. Das erste Stück ist von schmerzlicher Färbung, das zweite von heiterem Duktus. Danach erklingen noch weitere 13 Stücke dieses Komponisten. Zart getupft mit schmeichelnder Stimme wird „Aur’amorosa“, mit ernstem Unterton vorgetragen „Dovrò duunque morire“. Von heiterer Stimmung ist „Al fonte al prato“, zurückhaltend in der Emotion das getragene „Udite amanti“, während „Amor ch’attendi“  übermütig auftrumpft. Von besonderer Klangfülle und sonorem Reiz ist Pisanis Stimme in „Vedrò“l mio sol“ und „Tu ch’hai le penne“.  „Dolcissimo sospiro“ leitet die letzte Caccini-Gruppe mit fünf Titeln ein – ein in der sensiblen Auslotung besonders gelungenes Stück. Auch „Amarilli“ und „Odi Euterpe“ berühren durch die zarte Tongebung. Mit „Non ha’l ciel contanti lumi“ bietet der Sänger einen munteren Ausklang von heiterem Gestus.

Werke von Zeitgenossen Caccinis ergänzen die Sammlung, so als Weltpremieren zwei Instrumentalkanzonen von Filippo Nicoletti – „La Trictella“ und „La Capricciosetta“, in denen das delikate und rhythmisch pointierte Spiel des Ensembles zu besonders schöner Wirkung kommt. Von Stefano Landi erklingt die instrumentale  Canzona a 3 detta „L’Alessandrina“. Bernd Hoppe

 

Das komische Intermezzo zwischen den Akten einer Opera Seria scheint bei aller Liebe zur historischen Aufführungspraxis als Besonderheit heutzutage kaum noch vorstellbar. La Serva Padrona ist eines der populärsten und bekanntesten Werke dieser Gattung, die Charaktere stammen aus der Commedia dell’Arte, ursprünglich diente es Giovanni Battista Pergolesi 1733 in Neapel als Aufheiterung zwischen den Akten seiner Opera Seria Il prigionier superbo. La Serva Padrona war schon damals beliebt, es existieren viele Abschriften, aber kein Original. Die umfängliche Manuskriptvielfalt wurde erforscht, der maßgebliche Pergolesi-Experte Francesco Degrada erstellte für eine Aufführung beim Pergolesi Spontini Festival 2004 eine kritische Edition, die bis heute leider nicht publiziert wurde. Dirigent Flavio Emilio Scogna orientierte sich an den ihm zugänglichen Material und Expertenaussagen, um seine eigene Version zusammenzustellen, die auch Degradas Forschungen -soweit zugänglich- integrierten. Die Handlung dreht sich um drei Figuren, der in die Jahre gekommene Junggeselle Uberto beauftragt seinen stummen Diener Vespone damit, ihm eine passende Kandidaten als Ehefrau zu suchen, wobei „passend“ als fügsam und unterwürfig übersetzt werden kann. Ubertos aufmüpfige Dienerin Serpina deichselt es mit Unterstützung Vespones durch eine Täuschung, daß Uberto letztendlich sie heiraten will. Der Komponist Aldo Tarabella (*1948) schuf vor wenigen Jahtren für ein Festival eine Fortsetzung auf Basis eines Librettos von Valerio Valoriani. In Il Servo Padrone sind Uberto und Serpina ein Paar, aber noch nicht verheiratet. Uberto steht unter der Fuchtel seiner Verlobten. Der nun mit einer Stimme versehene Diener Vespone ist immer noch Serpinas Verbündeter, wäre aber auch gerne ihr Geliebter. Diesmal täuscht Uberto die beiden, er verkleidet sich als seine Ex-Frau Madama Uragano und fordert sich zurück. Der Trick gelingt, Uberto schmeißt die aufrührerischen Bediensteten nicht aus dem Haus. Sie können bleiben, wenn sie sich gegenseitig heiraten. Die Verhältnisse werden wieder so, wie sie waren – die Ergänzung ist eine Restauration der Machtverhältnisse. Pergolesi benötigt fünf Arien und zwei Duette, die Fortsetzung bedient sich der tradierten Formelemente mittels vier Arien, zwei Duette und vier Terzette. Tarabella kombiniert Tradition und Innovation, er bleibt gebunden an den berühmten Vorgänger, die instrumentelle Besetzung unterscheidet sich nicht wesentlich, die Musiksprache ähnelt einer Collage von Vorbildern mit modernistischer Tonsprache. Den komödiantischen Reiz beim Anhören zu finden, ist nicht immer einfach, das Beiheft enthält kein Libretto, eine Bewertung des potentiellen Unterhaltungswerts dieser Kombination bleibt offen. Musikalisch ist man engagiert, aber ohne konsequente Charakteristik. Erika Liuzzi fehlen als Serpina Verführungskraft und attraktive Höhe, Donato Di Gioia als Pergolesis Uberto und Tarabellas Vespone sowie Paolo Pecchioli als Tarabellas Uberto singen mit klarer Diktion und wohlklingenden Stimmen, Di Gioia klingt fast zu jung und zu attraktiv, zwei Attribute, die eher Serpina zugeschrieben werden sollten und hier fehlen. Das Vincenzo Galilei Orchestra setzt sich aus Studenten des Musikkonservatoriums in Fiesole zusammen, für die vorliegende Aufnahme sind 15 Musiker -Streicher, Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott- beteiligt, für Pergolesi wird durch Cembalo, Laute und Viola da gamba ergänzt, bei Tarabella mit einem Klavier. Die Aufnahme erfolgte im November 2017 im Auditorium Sinopoli in Fiesole. (2 CD, Brilliant 95360)

Ebenfalls bei Brilliant ist Alessandro Scarlattis Oratorium Sedecia, re di Gerusalemme in der Einspielung des Alessandro Stradella Consort unter der Leitung von Estevan Velardi aus dem 1999 neu aufgelegt worden. Zusammen mit dem Folgewerk Il primo omicidio gehört Sedecia zu den biblischen Oratorien und entstand 1705 in der Zeit der opera proibita, dem päpstlichen Bühnen- und Opernverbot für Rom. Das Oratorium entwickelte sich zum musikdramatischen Schlupfloch und Opernersatz Il primo omicidio wurde bspw. im Januar 2019 an der Pariser Opéra Garnier in Szene gesetzt und auch Sedecia erzählt Dramatisches, es geht um Sieg und Niederlage, Mord und Heroismus. Die Geschichte von Zedekia und sein Konflikt mit dem babylonischen König Nebukadnezar II. (Verdis Nabucco) findet sich im Buch der Könige. 1999 entstanden zwei Aufnahmen dieses Werks: eine erschien beim Label Virgin mit Il Seminario Musicale und u.a. Gérard Lesne (Sedecia) sowie dem jungen Philippe Jaroussky (Ismaele), die andere ohne Countertenöre bei Bongiovanni und nun bei Brilliant stand dagegen stärker im Hintergrund. Musikalisch ist Velardi getragener, langsamer und wirkt weniger organisch als die Aufnahme bei Virgin. Amor Lillia Perez ist als Sedecia keine Idealbesetzung, der Stimme fehlt es an Agilität und Glanz, Gérard Lesne ist überzeugender – man höre sich bspw. in beiden Aufnahmen „Per punire il mio pubblico errore“ an. Die verschiedenen Ansätze sind auch im bekannten „Caldo sangue“ hörbar, Rosita Frisani als Ismaele fehlt die Jugendlichkeit Philippe Jarousskys. (2 CD, Brilliant 95537) Marcus Budwitius

Guter Jahrgang

 

Natürlich wäre man gern selbst dabei gewesen, allein schon wegen der wahrscheinlich prächtigen Roben der Sängerinnen, für die zumindest Simone Kermes immer ein Garant ist, aber wenn man nur die CD von der inzwischen 26. AIDS-Gala der Deutschen Oper Berlin besitzt, steht es einem frei, ob man die acht (!) Grußworte im Booklet lesen will, die sich die Besucher der Veranstaltung samt und sonders anhören mussten, ehe es losging mit der Musik.  Diese begann schwungvoll mit der Polonaise aus Tschaikowskis „Eugen Onegin“, es dirigierte bewährt John Fiore,  und Max Rabe, der Nachfolger des unvergessenen Loriot, moderierte. Das gelingt ihm mit jedem Jahr vorbildnaher, auch wenn er immer noch nicht gelernt hat, dass Rossini nicht Giacomo heißt und man in Italien das S scharf ausspricht, dass Simone Piazzola (männlichen Geschlechts) nicht klingt wie Simone Kermes (weiblichen Geschlechts).

Wie eigentlich schon üblich, hat zunächst Mozart das Wort zunächst mit „La ci darem la mano“ aus „Don Giovanni“, in dem Kristina Mlchitaryan eine empfindsam klingende Zerlina gibt und Andrea Mastoni einen eher väterlich klingenden Don verkörpert. Er ist dann auch viel mehr mit Osmins „Oh, wie will ich triumphieren“ in seinem Element, als der er die Extremtiefen genüsslich auskostet. Der Sopran ist noch im Quartett aus „I Puritani“ zu hören, vor allem aber als Sonnambula mit „Care amiche“, deren  Fragilität sie mit reichen Mitteln darzustellen weiß. Damit wären wir bereits im italienischen Fach und gelangen zu den Tenören, derer gleich drei und allesamt italienisch zu hören sind. Antonio Poli singt Rezitativ und Arie des Rodolfo aus „Luisa Miller“, zum Glück nicht die Cabaletta, denn der Tenor ist noch sehr lyrisch und kommt mit schönem Timbre besonders im elegischen „Quando le sere“ zur Geltung, die recht dunkle Färbung der Stimme weist in eine Zukunft als lirico spinto. Der zweite Tenor des Abends ist Stefano La Colla mit „Cielo e mar“, das leider jede Poesie vermissen lässt, schön ist das Crescendo auf dem Spitzenton, zu spannungslos langsam ist hier die Begleitung, die Stimme bleibt recht stumpf. Auch im zweiten Teil des Duetts aus dem ersten Akt von Tosca mangelt es der Stimme an tenoralem Glanz. Der dritte Tenor ist der leichteste der drei, René Barbera, auch vertreten im Quartett aus den Puritani, vor allem aber mit Höhenstärke prunkend als Tonio im berühmt berüchtigten „Ah! Mes amis“.

Verdi wird am häufigsten bemüht an diesem Abend, so singt Elena Stikhina die erste Arie der Trovatore-Leonora, die allerdings nicht, wie Rabe meint, eine Klage ist, mit gut im Piano ansprechendem Sopran, flexibel und mit intensiver Farbgebung. Nur die Cabaletta könnte mehr Nachdruck vertragen. Der Sopran ist auch Tosca auf der zweiten der beiden CDs. Die reichste Stimme von allen  hat Nino Machaidze, die Rusalkas Lied an den Mond betörend schön und zu Herzen gehend singt. Bliebe bei den Sopranen noch Simone Kermes deren Barock-Arie sicherlich die bessere Wahl im Vergleich zu den maltraitierten Masnadieri von einst ist, und die einen wilden Jubel des Publikums mit einer Bravourarie von Riccardo Broschi auslöst, allerdings matt klingt, wenn die Stimme ihre hoch gelegene Komfortzone verlässt. Zwei Mezzosoprane bescheren reine Hörfreude, die von der Staatsoper kommende Marina Prudenskaja mit dem rasanten Rataplan aus La Forza del Destino und Emily D’Angelo mit Angelinas „Naque all’affano“ in hochvirtuoser Darbietung eines Mezzos wie aus einem Guss. Natürlich gibt es auch einen Bariton: Simone Piazzola, der das in der Stimme hat, was man bei Tenören liebt: la lacrima, die auch einem Bariton gut ansteht, vor allem, wenn dann ein doch ziemlich ausgesungenes Stück wie „La provenza il mar“ wie gerade erst frisch komponiert erscheint, um die Rührung des Publikums zu provozieren. Der oft gelobte Chor der Deutschen Oper darf sein Können in den Puritani und im „Rataplan“ unter Beweis stellen, und zum Schluss führt Simone Kermes das Ensemble, wie auf ihrer letzten CD Klassikgrenzen überschreitend, in Sartoris „Time to say goodbye“ an. Ein sehr guter Jahrgang ist der von 2019! (Naxos 8.551427-28). Ingrid Wanja   

Sicher geleitet

 

Ergänzt, erweitert, überarbeitet haben Petra Dießner und Anselm Hartinger ihr 2005 in erster und nun 2020 in vierter Auflage beim Henschelverlag erschienenes Buch Spaziergänge durch das musikalische  Leipzig- Bach, Mendelssohn und Schumann, das neben den drei ganz großen Namen auch viele weniger bekannte, aber durchaus wichtige ins rechte Licht rückt. Sechs Spaziergänge durch Leipzig und Umgebung führend zu den Stätten, an denen die Komponisten und andere der Musik verbundene Menschen wirkten, dazu gibt es ein Kapitel über die Baugeschichte bedeutender Gebäude, in denen musikalisches Wirken stattfand oder noch zu erleben ist. Wichtige Ratschläge und Hinweise finden sich schließlich als zusätzliche Informationen für das Erleben einer Stadt, die chronologisch in das barocke, das gründerzeitlich und das moderne Leipzig gegliedert ist. Kartenskizzen und Leitsysteme sowie ein umfangreiches Register vervollständigen den handlichen Band, „Vertiefungstexte“ runden das Ganze sinnvoll ab.

Das erste Kapitel ist Johann Sebastian Bach gewidmet und exemplarisch für die weiteren gegliedert. Auf der Karte sind auch nicht mehr vorhandene Gebäude, die bereits vor dem Krieg abgerissen, in diesem zerstört oder trotz geringer Zerstörung von der DDR abgerissen wurden, eingezeichnet. Bilder dieser Bauwerke regen die Phantasie an und lassen den Betrachter des heutigen Leipzig etwas von der verloren gegangenen Vergangenheit erahnen. Auch Grundrisse oder Schilderungen der Lebensweise von Musikern vergangener Zeiten, Zitate und vor allem die reiche Bebilderung machen es dem Reisenden leicht, seine Phantasie anzuregen. So wird Bachs Leipzig erlebbar, nicht zuletzt durch die Zitate von Zeitzeugen oder die Berichte über Kuriositäten wie die falschen Orgeldarstellungen oder Diskussionen um Porträts des großen Komponisten, die zumeist nicht nach dem Leben gemalt worden sind. Einblicke werden in die Zwänge des gesellschaftlichen Lebens zur Bachzeit gewährt, und in diejenigen, die zum unermüdlichen Komponieren nötigten wie der allsonntägliche Gottesdienst oder Beerdigungen.

Der vierte Spaziergang trägt den Titel „Kein Platz für neue Töne?“ und widmet sich u.a. Richard Wagner, der als Sohn der Stadt nicht besonders beliebt war in Leipzig- warum, verrät das Buch überzeugend. Es geht um die Debatte um die Wiedererrichtung der  Paulinerkirche, die Ulbricht abreißen ließ, um Häuser, in denen musiziert wurde wie das des Vaters von Clara Wieck, um das typisch bürgerliche Leipziger Publikum und für die Musik wichtige Einrichtungen wie das Verlagshaus Breitkopf & Härtel oder die Bedeutung der Freimaurer für das musikalische Leben in Leipzig.

Im 5. Kapitel wird unter vielem anderem zu der Stelle geführt, an dem sich einst der bedeutende Musikalienladen Alfred Dörffel befand, auch das Zweite Gewandhaus, ebenfalls trotz relativ geringer Zerstörung in der DDR bewusst nicht wieder aufgebaut, anders als das davor stehende Denkmal Mendelssohn-Bartholdys, das die Nazis 1936 während eines Urlaubs des Bürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler  abreißen ließen, worauf dieser zurücktrat, sich später den Widerstandskämpfern des 20 Juli anschloss und hingerichtet wurde, nachdem ihn ein „Blitzmädel“ auf seiner Flucht erkannt hatte. Das sechste Kapitel schließlich führt auch ins Umland, so zu einem Gut, auf dem die Schumanns und Wagner erholsame Tage verbrachten.

Ein besonderes Kapitel ist besonderen Bauwerken wie dem Bosehaus mit Bachmuseum, dem Mendelssohnhaus und dem Schumannhaus gewidmet. Wer sich dem musikalischen Stadtführer anvertraut, kann gewiss sein, dass er einen umfassenden, detaillierten Blick auf die Musikstadt Leipzig geworfen hat und dass er bereichert wieder abreisen kann. Gibt es gar nichts zu beanstanden? Doch- das Buch ist schlecht gebunden und verliert, selbst wenn man es sehr pfleglich behandelt, einzelne Blätter (128 Seiten, Verlag Henschel 2020; ISBN: 9783361005976). Ingrid Wanja         

Russen in Jugoslawien

 

Wie an der Käsetheke und der obligaten Frage, darf es etwas mehr sein, hat die Edition Günter Hänssler bei ihrer ohnehin schon übervollen und ausgesprochen preisgünstigen Ausgabe der sieben russischen Opern, welche die Decca 1955 in Belgrad aufnahm, noch etwas draufgepackt. Das wäre nicht nötig gewesen. Und man muss sich diese beiden geschenkten CDs auch nicht ausgiebig zuwenden, schon gar nicht darf man die restlichen zwanzig CDs danach bewerten, was das Belgrader Opernhaus seinerzeit bei seinen zahlreichen Gastspielen im Westen als eine seiner Trumpfkarten ausspielte: Massenets Don Quichotte in einem merkwürdigen serbokroatischen Französisch, leicht gekürzt, vom Geist und Klang doch alles etwas vage und wie eine buntscheckige Aufführung durch eine Vagantenbühne. Aber seinerzeit war das Werk, dessen Wiederentdeckung durch Christoff, Ghiaurov, Raimondi, Furlanetto, Ramey und van Dam noch ausstand, weitgehend unbekannt. Die Hänssler Ausgabe ist überaus fair, nennt den Don Quichotte, der auch durch das Aufnahmedatum 1965 etwas aus der Reihe tanzt, nicht auf der Vorseite der Seven Great Russian Operas from 1955 aus dem Nationaltheater Belgrad und verzeichnet ihn nur auf der Rückseite schamhaft als Bonus. Hänssler-Berater und alter Electrola-Mann Dieter Fuoss merkt dazu an, „wohl wissend, dass sie mit den späteren Studioaufnahmen nicht konkurrieren kann, auch nicht mit der Produktion der RAI Mailand aus dem Jahr 1957 (mit Boris Christoff und der jungen Teresa Berganza – ital. gesungen) haben wir uns entschlossen, die Aufnahmen wegen ihres dokumentarischen Wertes als Bonus exklusiv für diese Box wieder zugänglich zu machen“. Viele Schallplattensammler werden sich an sie erinnern. Irgendwo stand die als Stereo-Aufnahme auf Everest veröffentliche Plattenbox – mit dem Hinweis „World Premiere Recording“ – und dem markanten Cover immer herum. Die alten LP-Cover wurden für die CD-Papphüllen beibehalten.

Geliebte alte Ausgaben der russischen Serie bei Decca-Belgrad

Massenet ist nur die Zugabe zu Glinka, Mussorgsky, Rimski-Korsakow, Borodin und Tschaikowsky, also den Seven Great Russian Operas from 1955, die Decca kostengünstig in Belgrad aufnahm, um ihren Katalog auf Vordermann zu bringen und der EMI auf ihren 1952 entstandenen Boris Godunow mit einer breiten Front russischer Opern zu antworten. Es war ein einmaliges Unterfangen, das nach 1955, mit Ausnahme des Don Quichotte, keine Fortsetzung fand. Die Umstände und Hintergründe um dieses Aufnahmeprojekt in Zeiten des Kalten Kriegs sind so spannend wie die Aufnahmen selbst und müssen unbedingt in dem Beiheft, das auch Inhaltsangaben und eine Geschichte der russischen Oper bietet, nachgelesen werden. Ich mache es mir einfach und lasse die Decca sprechen:

The story of how Decca came to record seven classics of the Russian opera repertoire in 1955 begins with a somewhat shadowy figure. The project was partly arranged and facilitated by a film and record executive, Gerald Severn. Born in Moscow, Severn worked in the US but had connections in countries behind the Iron Curtain; he assisted Russian actors in defecting to the West and, after working with Decca, became the artists and records executive for Artia, an American label which issued eastern-European recordings of folk and classical music such as Romanian folk-songs and dances and the ‘Gypsy King in Hi-Fi’, starring the Hungarian fiddler Sandor Lakatos, father of the best-selling classical musician of our own time, Roby Lakatos. Severn’s connections extended farther east, to the Red Army Chorus and even a locally produced ‘Passport to China’; his own long-standing passion for ballet (he had worked with Serge Diaghilev) produced a ‘Teach your child ballet’ album and accompanying book.

Geliebte alte Ausgaben der russischen Serie bei Decca-Jugoslawien

Severn agreed with Decca to underwrite a series of Russian opera recordings to be made with the company of the Belgrade Opera. One of the company’s senior recording supervisors, Arthur Haddy, was dispatched to Belgrade to find a suitable recording venue. He settled upon the cinema in the city’s House of Culture complex. By this stage in his long Decca career, however, Haddy was delegating onsite studio work to his junior colleagues, and the job was assigned to the Australian conductor-turned-producer James Brown, who had worked with Haddy on the company’s first stereo recordings in Geneva the previous year.

As was common in the early days of stereo, when the great majority of consumers were still listening on mono equipment, the recordings were made in both formats. The engineer responsible for the mono set-up was Kenneth Wilkinson, who alongside Haddy devised the Full Frequency Range Recording technique (ffrr) that made Decca a household name in the 1950s. His stereo colleague was Roy Wallace, hired by Haddy in 1953 as a brilliant young engineer who had already been developing the new technology for several years.

Interviewed in 1999 by Malcolm Walker, Wallace recalled: ‘James Walker, Kenneth Wilkinson and Joe van Biene and I flew out to Milan, from where we travelled on the Orient Express to Belgrade. Our gear had been flown out. The cinema wasn’t available until the nightly showings finished around 11pm. All the seats then had to be removed first, the gear unpacked, the microphones run out. Around midnight we were ready to start recording, which would continue until the early hours of the morning, sometimes until 8am. Everything then had to be taken down and the seating replaced. We worked very hard for 19 days but somehow managed to get through the sessions.’

Melanijia Bulgarinovic war der Sopranstar jener Jahre und auch bei Deccas Jugoslawien-Ausflug/ Vojvodina info

Warum, fragt sich jetzt jeder, diese Box, nachdem die Serie seit 2018 auf Eloquence (und bei  Naxos!) in Einzelausgaben veröffentlicht wurde. Dort jedoch in Stereo, bei Hänssler in Mono, wozu es heißt, „Wir haben uns hier für die nach unserer Meinung weniger scharf klingenden Mono-Versionen der russischen Opern entschieden“. Wie immer glaube ich Dieter Fuoss unbedingt, denn der alte Mono-Sound überzeugt.

Es begann Februar 1955 mit Fürst Igor und Chowanschtschina, dann reiste der aufnehmende Wanderzirkus 400 Kilometer weiter nach Zagreb, um dort im März/ April Boris 1955 einzuspielen, worauf im September/ Oktober des gleichen Jahres in Belgrad Iwan Sussanin, Eugen Onegin und Sneguroschka folgten; die Pique Dame, bei der kein exakter Aufnahmemonat angegeben ist, wurde irgendwann dazwischen gequetscht. Ein unglaubliches Unternehmen, das mit Ausnahme des erwähnten Boris der EMI alle Opern offenbar ungekürzt erstmals im Westen vorstellte. Das ist der immense Wert dieser Edition, die eine Ensemblearbeit dokumentiert – ich muss in diesem Zusammenhang an die Pariser EMI-Aufnahmen französischer Opern denken –  der wir vierzig Jahre später in Gergievs Mariinsky-Aufnahmen russsicher Opern nochmals begegnen: keine himmelstürmenden Einzelleistungen, kein Boris Christoff, doch die sehr ansprechende, teilweise vorzügliche Leistung eines Ensembles, das gar nicht so riesig aufgestellt war, wie wir an den immer wieder gleichen Namen unschwer erkennen und das die Opern alle auf russisch einstudierte; nur zwei der sieben Opern befanden sich (in serbokroatisch) im Repertoire der Belgrader Oper. Doch so möchte man russische Oper irgendwo im Osten an sieben aufeinanderfolgenden Abenden hören.

Miroslav Čangalović war der Boris-Chrstoff-Ersaatz der Decca und singt u. a. den Boris bei Decca/ Belgrad/ enemities/wordpress

Die Hänssler-Edition beginnt auf CD 1 mit Iwan Sussanin, d. h. der 1939 streng auf Parteilinie gebrachten Fassung von Mikhail Glinkas Ein Leben für den Zaren. Da in dieser Fassung Sobinins brillante Tenorarie fehlt, hat Fuoss die Arie mit Nicolai Gedda aus der Markevitch-Aufnahme von 1957 angehängt. Mich hat diese Entscheidung beim Lesen des Beihefts anfangs eher verstört als begeistert, doch sie funktioniert, klanglich wie technisch, und Gedda ist immer ein Gewinn.

Ansonsten ist die Fassung vollständig und zeigt wie tanz- und chorlastig die Oper, die zuletzt an der Frankfurter Oper etwas übersichtlicher daherkam, doch ist. Der in Sarajewo geborene Oscar Danon (1913-2009), der zwei Jahre später bei den EMI-Aufnahmen von Ein Leben für den Zaren in Paris unter Igor Markevitch die Chöre leitete, hat einen dichten und strengen Zugriff, hält das Geschehen in einem wunderbaren Fluss. Danon leitete die Belgrader Oper 1944-65 und hat offenbar eine perfekte Aufbauarbeit geleistet; seine Autorität vermittelt sich in dem in manchen Aufführungen leicht zersplitternden Fürst Igor noch eindrucksvoller. Der damals Mittdreißiger Miroslav Čangalović, eine der zentralen Sängerpersönlichkeiten der Edition, singt den Iwan Sussanin. Sein eigenwilliger Bass kann manchmal etwas unruhig, auch unschön klingen, etwas maulig im Ansatz, doch das alles fällt überhaupt nicht ins Gewicht, da das Singen stets Ausdruck und Persönlichkeit zeigt und seine Szene im letzten Akt von großer Eindringlichkeit ist. Viele der serbischen Stimmen verleihen ihren Figuren  ein Gesicht. Marija Glavacevic ist als Antonida allerdings so scharf und schrill, wie man es hierzulande wenig schätzt. Drago Starc (Sobinin) hat einen tränenumflorten weichen Tenor, wie wir es bei russischen Tenören lieben, und Milica Miladinovic singt die Hosenrolle des Vanja mit durchschlagskräftigem Mezosopran.

Es folgt auf bei Hänssler der Boris, der mich nicht anspricht. Woran mag’s liegen. Ach ja, Das ist die Aufnahme aus Zagreb. Zwar mit dem Belgrader Chor und Orchester – in Iwan Sussanin und Fürst Igor übernimmt der Chor der Jugoslawischen Volksarmee doch mit dem bedächtigen Kresimir Baranović, der meinem Empfinden nach nicht den richtigen Zugriff hat. Den Chören fehlt die Inbrunst, Čangalović, der ein junger Boris ist und nicht das richtige Kaliber für diese Partie – wie auch für den Dosifei –  hat, macht das dennoch erstaunlich gut; die Bässe sind nicht überwältigend, Žarko Cvejićs Warlaam ist besser als Branko Pivnićki als Pimen, Stepan Andrashevichs fieser Charaktertenor ist richtig für den Schuiski. Erstmals treffen wir als Marina auf Melanija Bugarinović, die serbische Sängerin mit der damals bedeutendsten internationalen Karriere. Gespielt wird die mit dem Tod des Zaren endende Fassung; der Polenteil ist um die erste Szene des dritten Aktes gekürzt. Hänssler und Fuoss zeigen sich auch hier großzügig: angehängt ist die wirkungsvolle Szene vor dem Basiliuskathedrale aus dem Erstfassung in einer einst auf Telefunken veröffentlichten Aufnahme unter Wassili Nebolski mit Mark Reizen und Ivan Koslowski. Das macht Sinn.

Sehr gut überspielt: Glinka aus Belgrad bei Naxos

Baranović dirigiert auch die zweite Mussorgsky-Oper, die Chowanschtschina aus der ersten, am 9. Februar 1955 startenden Aufnahmesitzung, wobei er auch hier, trotz der sorgfältig gepinselten chorischen und instrumentalen Breitwandgemälde nicht so überzeugt wie mit Pique Dame und Sneguroschka. Bugarinović und Čangalović sind Marfa und Dosifei, Žarko Cvejić und Alexander Marinković die Fürsten Chowanski. Im Lauf der Durchhör-Aktion merke ich, dass ich zu den Tracks mit deutschen und englischen Arien- bzw. Szenenanfängen auf der Rückseite der CD-Hüllen gerne die jeweiligen Figuren hätte. Spätestens bei Sneguroschka wird es schwierig die Übersicht zu behalten. Chronologisch würde nun der im Gegensatz zur EMI-Aufnahme strichlose Fürst Igor folgen, mit dem knapp 30jährigen kernigen Kavaliersbariton Dušan Popović als edlem und starkem Igor. Neu hinzu kommt die slowenische Sopranistin Valerija Heybal als fast kindlich fragile Yaroslavna. Žarko Cvejić ist ein leichter Konchak, Bugarinović ist als Konchakowna so sinnlich hingebungsvoll wie zuvor als Marina, Biserka Cvejić, in den 1960er Jahren als Azucena, Amneris, Laura, Dalila häufig an der Met, wo sie beim Abschied vom alten Haus gemeinsam mit Crespin das Gioconda-Duett sang, und besonders beliebt in Wien, ihre Amme.

Aus dem Herbst 1955 stammen die beiden Tschaikowskys Opern. Der von Danon dirigierte Onegin galt vielen als beispielhafte Aufführung, vergleichbar der quasi gleichzeitig entstandenen Bolschoi-Aufnahme unter Boris Kkaikin mit der jungen Vishnevskaya. Danon gelingt es die romantische Atmosphäre und Poesie und die aufwühlenden Gefühle der Puschkin-Szenen perfekt einzufangen. Heybal ist bezaubernd als mädchenhafte, individuelle Tatjana, die Briefszene ist einer der gelungensten Momente der Serie. Popović ist ein fast unnahbarer charakterstarker Onegin, Starc richtig besetzt als Lenki, Cvejić eine auffallende Olga, Bugarinović schaut als Amme nach dem rechten. Čangalović singt den Gremin. Für Pique Dame übernahm Baranović den Stab. Die Aufnahme erreicht nicht ganz das Niveau des Onegin, obwohl Marinković ein sowohl lyrisch leidender wie heldisch wütender Hermann ist, Heybal dagegen ist eine wenig einnehmende dünne Lisa, Bugarinović eine fulminante Gräfin und Cvejić eine opulent besetzte Polina ist.  Baranović dirigiert auch Rimski-Korsakows Märchenoper Sneguroschka, die er trotz ihrer scheinbar desperaten Handlung um Hirten, Kaufleute und heidnische Gottheiten und Naturgeister über fast 3 ½ Stunden als eindringliche Legende erzählt und zu einem Hymnus steigert. Gute Porträts liefern die allenfalls etwas anämische Sofija Jakovic in der Titelrolle, Biserka Cvejić als Frühling, Heybal als Kupawa, Popović als Misgir und Čangalović als Väterchen Frost.  Rolf Fath

 

Ein kritisches Wort zum Schluss: Waren die Originale denn sowohl in Stereo wie AUCH in  Mono aufgenommen worden (die Engländer neigten ja länger zum Mono als vergleichsweise die Amerikaner)? Oder hat Dieter Fuoss den Klang auf Mono reduziert?  Von welchem Satz LPs wurden diese Mono-Aufnahmen gemacht? Den englischen oder den amerikanischen London? Oder den frühen deutschen? Wie oft bei Hänssler bleiben technische Informationen eher vage.

Und in Sachen angeklebter Gedda-Arie im Susannin: Man kann sich wieder mal über die historische Korrektheit einer solchen Edition streiten – die Arie gab es eben damals nicht, warum nicht dabei belassen? Naxos und Warner bieten doch die Gedda-Ausgabe. G. H.

Petibon goes Berberian

 

An die großen Zeiten der legendären Cathy Berberian mit ihren bemerkenswerten Aufnahmen muss man zurückdenken, wenn man Patricia Petibons neue CD bei Sony hört, die im September und November 2019 in Paris aufgenommen wurde (19439719552). Ihr Titel L´Amour, la Mort, la Mer klingt poetisch und lässt französische mélodies vermuten. Derer gibt es in der Anthologie aber nur wenige – Gabriel Faurés „Au bord de l` eau“ und das noch berühmtere „Clair de Lune“, Francis Poulencs träumerisches  „Sanglots“ aus den Banalités sowie Reynaldo Hahns „Néère“ aus den Études latines. Tatsächlich umfasst das Programm mit 22 Titeln französische, englische und spanische Kompositionen des gesamten 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Auch Traditionnels aus Schottland und Irland (ein Instrumentaltitel mit Ronan Lebars am Dudelsack) finden sich in der Anthologie.

Die französische Sopranistin ist bekannt für ihre extremen Interpretationen. Virtuos wechselt sie die Register, Sprachen, Stile und Kulturen. Ihrem Ruf als Diva des Exzentrischen setzt sie mit dieser CD die Krone auf. In „Dona Janaina“ von Francisco Mignone, der von 1897 bis 1986 lebte, zwitschert, gackert, flötet, gurrt und kreischt sie – ein ganzer Vogelbauer wird hier geöffnet. Ihrem Sohn Léonard hat sie diese Einspielung gewidmet.

Für L´Amour stehen ein Titel („All trough eternity“) aus den Three Love Songs des 1961 geborenen Komponisten Nicolas Bacri und John Lennons „Oh my love“, das sich in Vokalisen bis in die Extremhöhe hinaufschraubt. La Mort sind vertreten durch Samuel Barbers „The Crucifixion“ aus dem Speckled Book und das lamentierende „Dolorosa“ aus Enrique Granados´La Maja dolorosa, bei dem die reiche Substanz in der unteren Lage auffällt. La Mer wird repräsentiert durch „A la mar“ aus den Melodias de Melancolia von Bacri, das mit heulendem Ton erklingt, während Faurés „Au bord de l`eau“ in seinem Charme ein angenehmes Intermezzo ist. „Alfonsina y el mar“ von Ariel Ramirez (1921 – 2010)  ist erfüllt von jammernden Tönen und auch den „Cancao do Marinheiro“ von Heitor Villa-Lobos bestimmen klagende Laute von bohrender Intensität.

Petibon eröffnet ihr Programm mit „Le rencontre“ aus den Trois chansons  bretonnes von Jean Cras (1879 bis 1932) – ein melancholisches Lied, das mit akustischem Meeresrauschen eingeleitet wird und das die Sängerin beendet, als würde der Wind heulen. Am Flügel begleitet sie Susan Manoff, außerdem wirkt der Akkordeonist David Venitucci mit. In „Le chant des lendemains“ von Thierry Escaich (geboren 1965) gesellt sich als Sänger Oliver Py, von dem auch der Text stammt, mit aggressiv lärmendem Sprechgesang zur Sopranistin. Mit „Danny Boy“ endet das Programm in Melancholie, die den Charakter der gesamten CD bestimmt, was die Gefahr der Eintönigkeit in sich birgt. Es ist eine den Zuhörer fordernde Platte mit den vielen lamentierenden Titeln und  außermusikalischen Effekten. Bernd Hoppe

 

Rinascimento Romano

 

Jahrelang hörte man nur Hiobsbotschaften vom offensichtlich gar nicht capitale-würdigen, krisengeschüttelten römischen Opernhaus, nun kommen vom Label Major Aufsehen erregende Blu-rays aus der italienischen Hauptstadt, nach Tristan und Isolde jetzt Rossinis La Cenerentola aus dem Jahr 2016 in einer zugleich originellen wie Augen und Ohren schmeichelnden Inszenierung von Emma Dante. Sie betont weniger das Märchenhafte als das Komische bis Slapstickhafte am Dramma Giocoso, stellt den beiden Helden, Angelina und Ramiro, ein Gefolge von aufziehbaren Ebenbildern an die Seite, als wäre die Puppe Olympia vielfach geklont worden, womit zumindest im Fall Aschenputtel die Situation nicht mehr eine so verzweifelte ist, denn die Klone erweisen sich als im Putzen überaus erfahrene Kreaturen, denen das Original bequem vom Sofa aus bei der Hausarbeit zuschauen kann. Die Heerschar dieser Geschöpfe erfordert natürlich choreografische Eingriffe, die Manuela Lo Sicco mit viel Sinn für Situationskomik vornimmt. Für das Bühnenbild, einen hohen Saal mit vielen Fenstern auf zwei Etagen ist Carmine Maringola verantwortlich, mit wenigen Möbelstücken kann angezeigt werden, ob man sich bei Don Magnifico oder im Palast des Prinzen befindet, die Fensterfronten lassen sich öffnen und geben dann den Blick auf meist Überraschendes frei. Bekanntlich gibt es nur einen Herrenchor in der Cenerentola, was die Regie damit aufhebt, dass Emma Dante eine Fülle von Mitbewerberinnen um des Prinzen Hand auftreten lässt, die sich nach erfolgter Entscheidung des Begehrten massenselbstmörderisch mit Gewehren oder Pistolen erschießen. Bei einer so spektakulären Produktion sind natürlich die Erwartungen an die Gewitterszene hoch und werden nicht enttäuscht. Einfallsreich sind die ironisierenden (Ramiro) bis karikierenden (Tisbe), dem Rokoko verpflichteten Kostüme von Vanessa  Sannino.

Dirigent Alejo Pérez lässt sich von der turbulenten Szene zu manchmal ebenso irrwitzigen Tempi inspirieren, ist insgesamt aber ein aufmerksamer Begleiter der Solisten, führt sie sicher durch das überraschungsreiche Geschehen. Der Chor (Roberto Gabbiani) koordiniert perfekt brioreichen Gesang und exakte Bewegung.

Im Zentrum des turbulenten Geschehens steht der Don Magnifico von Alessandro Corbelli, der vielleicht Letzte aus der Garde der famosen italienischen Buffi, der mit ungebrochener Stimmkraft ein wahres Kabinettstück von „Noi Don Magnifico“ abliefert, unangefochten vom Trubel um ihn herum sein „Sia qualunque delle figlie“ zum Besten gibt, trotz aller Komik immer geschmackvoll bleibt und in dieser Ausgewogenheit Beispielhaftes leistet. Leider sehr dumpf oder hauchig klingt der Alidoro von Ugo Gugliardo, dessen großer Arie man deshalb nicht viel abgewinnen kann. Dass er ein stattlicher Mann ist, spielt bei dieser Partie keine entscheidende Rolle. Mit dunklem Timbre und angenehmer Geschmeidigkeit singt Vito Priante, auch im Prestissimo ohne Probleme, den Dandini. Wie eine Zelluloidpuppe sieht der Don Ramiro von Juan Francisco Gatell mit angepapptem Blondhaar aus, sein Tenor passt zu Rossinis Musik, er singt stilsicher, das Timbre ist etwas zu trocken, als dass es entzücken könnte.

Optisch ein wahrer Besen, vokal durchaus angenehm ist die Tisbe von Annunziata Vestri, lieblicher ihre Schwester Clorinda, Damiana Mizzi, was ebenfalls auf deren Sopran zutrifft. Mit angemessenem Stimmmaterial nimmt sich Serena Malfi der Titelpartie an, die Stimme ist weich und dunkel, wie aus einem Guss und vollmundig vom „Una volta..“ bis zum Schlussrondo. Selten ist die Höhe nicht ganz frei, sind die Extremtöne nicht ganz sauber, aber das dürfte bei einer Live-Aufnahme und der insgesamt bewundernswerten Brillanz und bei so beherztem Körpereinsatz, der ihr abverlangt wird, keine große Rolle spielen. Insgesamt ist die Aufnahme ein großes, fast ungetrübtes Vergnügen (C-Major 752504). Ingrid Wanja      

Fairies at the Theatre

 

One charming night heißt eine neue CD bei SIMAX (PSC 1367), die im Mai 2018 in der Norwegischen Oper Oslo aufgenommen wurde. So verlockend ihr Titel, so reizvoll das Programm. Es versammelt Songs und Instrumentalstücke aus Werken von Henry Purcell. Der Titel ist der Fairy  Queen entnommen und natürlich Bestandteil der Anthologie. Aus der Fairy finden sich noch der „Dance for  the fairies“, der „Dance oft he Chinese man and woman“ sowie weitere Tanzeinlagen (Hornpipe, Rondeau, Jigg). Das Ensemble OSLO CIRCLES, gegründet 2015, ist in Skandinavien im Barock-Repertoire sehr renommiert und unterstreicht diesen Ruf auch in dieser Aufnahme. Das dynamische Spektrum ist weit gespannt, wie man es sogleich in den Tänzen aus Abdelazer hören kann, die den Auftakt des Programms bilden. Mit ihrem sprühenden Charme und den gefälligen Rhythmen sind sie ein passender Einstieg. Auch in den Divertissements aus der Fairy Queen erfreuen das vitale Musizieren und die reizvolle Betonung agogischer Kontraste.

Regelmäßig arbeitet das Ensemble mit dem australischen Countertenor David Hansen zusammen, der 2004 sein europäisches Debüt beim Festival von Aix in Purcells Dido and Aeneas gab. Er wirkt auch in dieser Produktion mit und interpretiert berühmte Titel des Komponisten. Seine Stimme ist von weicher, schmeichelnder Textur, zu hören gleich im ersten Titel, „Music for a while“ aus Oedipus, den er mit zärtlichen Tönen ausstattet. Stockende Akkorde des Orchesters leiten den „Cold Song“ aus King Arthur ein, während der Sänger eher das legato favorisiert, aber mit reicher Farbgebung aufwartet. Das folgende „Sweeter than roses“ ist in seiner Süße ein starker Kontrast zum frostigen Klirren des Vorgängers.In der exponierten Lage hört man vom Sänger hier merklich grelle Töne. Auch der bekannte Song „If music be the food of love” ist in seiner träumerischen  Stimmung ein delikates Stück. Dem „Love in their little veins inspires“ aus Timon  of  Athens verleiht Hansen einen ironischen Unterton, “Come all” aus dem selben Werk energischen Nachdruck.  Didos Lament ist ein Gipfel in Purcells musikdramatischem Schaffen. Ungewohnt ist die Interpretation durch einen Counter, aber Hansen sorgt mit seiner emotionsstarken Wiedergabe zweifellos für den Höhepunkt der CD. Mit der „Fairest isle“ aus King Arthur gibt er dem Programm am Schluss eine Wendung hin zu magischem Liebeszauber und lässt seine Stimme nochmals in all ihrer betörenden Sanftheit erklingen. Bernd Hoppe

OPERA RARA AND CASA RICORDI

 

Opera Rara and Casa Ricordi have signed a worldwide distribution agreement for the Opera Rara editorial catalogue. Through the Ricordi sales network, it will now be possible to rent material for the performance of all 35 works published by Opera Rara, including the performing edition of Donizetti’s L’ange de Nisida of which Opera Rara gave the world premiere at the Royal Opera House, London in July 2018 and the live recording of which won the 2019 Oper! Award for best opera recording. Performing editions will be available through online platforms like Zinfonia and Nkoda, as well as through the offices of Universal Music Publishing Classical, a group of which Ricordi is a part, and through all Ricordi agencies internationally.

The brain-child of Patric Schmid and Don White, Opera Rara has been in the business of bringing back forgotten operatic repertoire since its conception in 1969, with the bel canto repertory as a particular focus. Under Sir Mark Elder’s eight-year tenure as Artistic Director, Opera Rara expanded its repertoire to include French grand opera, French operetta and Italian verismo works. In September 2019, Opera Rara announced Carlo Rizzi as its new Artistic Director who will mark the beginning of his tenure with the June 2020 recording and Barbican concert performance in London of another Donizetti rarity, Il furioso all’isola di San Domingo. In their 50th year, the company will also release Donizetti’s Il Paria and Ermonela Jaho’s debut recital disc featuring music championed by the Italian soprano Rosina Storchio, the creator of Cio-Cio San in Puccini’s Madama Butterfly in 1904. Both recordings will be distributed internationally by Warner Classics. The new editions of Il Paria and Il furioso will be the two newest titles in the Opera Rara editorial catalogue to be distributed by Casa Ricordi.

Founded in 1808, Casa Ricordi is the oldest and biggest Italian classical music publisher. The story of Casa Ricordi is inseparable from the history of the last two centuries of Italian music, and in particular, Italian opera, with a catalogue featuring composers like Bellini, Donizetti, Puccini, Rossini and Verdi.

Of the new partnership with Casa Ricordi, Henry Little, CEO of Opera Rara, said “I am delighted to be starting this new partnership with Casa Ricordi. There is a natural affinity between Opera Rara’s world leading and award winning work to rediscover, restore, record and perform the forgotten Italian operatic heritage of the 19th and early 20th century, and Ricordi’s role as the preeminent publisher of this repertoire. In our 50th anniversary year, we look forward to working with Ricordi to ensure that these wonderful pieces receive as many performances as possible, reaching audiences worldwide and consolidating their places in the current repertory.”

Cristiano Ostinelli, General Manager of Casa Ricordi, said that “the Opera Rara catalogue is an incredible addition to Ricordi’s opera catalogue. The works in the Opera Rara catalogue not only supplement Ricordi’s bel canto catalogue with numerous operas by Donizetti that have been rarely performed, but in some cases complete Ricordi’s Italian opera collection with new additions from composers like Mercadante, Paer and Pacini. Ricordi’s collaboration with Opera Rara will extend into the future as we continue to present musical gems that have been unfairly forgotten.” (Quelle Opera Rara)

Morlacchis „Tebaldo e Isolina“

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Bezüge zwischen den unterschiedlichen Produktionsstätten bestimmen unser Leben. Wir essen italienisch, schlafen in türkischem Makko und bedienen chinesische Technik. Interkulturelle Verbindungen finde ich eines der spannendsten Themen.

Im Bereich der Kunst, in diesem Falle der Musik, ist das genau so interessant, namentlich auf dem Gebiet der Oper, wenn man sich das (angebliche) Spannungsfeld zwischen Rossini und Weber ansieht, in dem der Komponist Francesco Morlacchi (who???) stand, von dem gerade bei Naxos eine Oper herausgekommen und der zwischen dem sächsischen Dresden und dem italienischen Venedig künstlerisch wie auch karrieremäßig angesiedelt ist: Einer von den vielen Komponisten zwischen den Zeiten und Strömungen im post-napoleonischen Europa. Das ähnliche Fälle in Schweden (Jacopo Foroni) oder Portugal (Marco Antonio Portugal) oder Griechenland (Pavlos Carrer) aufweist (von früheren Übersiedlern wie Georg Friedrich Händel, Agostino Steffani, Giovanni Mayr oder Johann Christan Bach ganz zu schweigen).

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Francesco Morlacchi/ Deutsche digitale Bibliothek

Mit Spannung wurde deshalb 2014 die konzertante Aufführung von Francesco Morlacchis Oper Tebaldo e Isolina (1822/25) in Bad Wildbad im Rahmen von Rossini in Wildbad ebenso wie die angekündigte Veröffentlichung erwartet. Und das Ergebnis liegt nun – nach Aufnahme und Sendung durch den SWR – bei Naxos in einer schmalen Ausgabe vor  (8.660471-72 mit Netzhinweis auf das italienischen Libretto), einschließlich Michael Wittmanns abgespecktem, klugem Text (dessen Original für eine Wiedergabe bei uns zu viele musikalische Details enthält, aber auf Wunsch Interessierten zugeschickt werden kann).  Das Konzert in der hübschen Trinkhalle unter Antonio Foglianos fescher Leitung litt (und leidet) unter zu jungen Stimmen (mit Ausnahme des etwas angestaubten Mezzos von Laura Polverelli in der Hosenrolle, in weiteren Rollen singen Anico Zorzi Giustiniani, Raul Baglietto, Gheorghe Vlad, Sandra Pastrana und Angelina D´Agosto; Antonio Fogliani dirigiert den Camerata Bach Choir Poznan sowie die Virtuosi Bunensis; Silvano Zaboo hört man am Fortepiano) .

Die Aufnahme zeigt nebenbei auch das Problem auf, dass der Markt mit Aufnahmen hochspannender Opern verstopft wird, die eine ganz andere Equipe benötigen (und die dafür geschrieben sind), um der Komposition gerecht zu werden. Dennoch – der Opernfan ist mehr als dankbar, dieses Werk ebenso wie viele andere ebenso rare hören zu können und flicht dem Intendanten Wildbads, Jochen Schönleber, ebenso wie der Firma Naxos dicke Kränze, diese interessante Oper  zwischen dem Dresden und dem Venedig der post-napoleonischen Zeit zugänglich gemacht zu haben Reto Müllers ausgiebige Inhaltsangabe merkt man nützlich an). Allen sei ebenso Dank wie dem streitbaren  Musikwissenschaftler Michael Wittmann, dem wir für den „Nachdruck“ seines Textes einmal mehr verpflichtet sind. G. H.

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Francesco Morlacchi: „Tebaldo e Isolina“ aus Bad Wildbad 2014 bei Naxos (2 CD 8.660471-72)

Und nun Michael Wittmann: Im Jahre 1836 war in dem von Carl Herloßsohn in Leipzig herausgegebenen Damen Conversations Lexikon folgender Eintrag zu lesen: Morlacchi, Francesco, königl. sächs. erster Kapellmeister. In Italien zu Perugia den 14. Juni 1784 geb., gebildet und mit den ersten Ruhmesblüthen geschmückt, fand er in Deutschland eine zweite Heimath, und eroberte sich in deutscher Kunst das Ehrenbürgerthum. M. gehörte vor der Rossini’schen und Bellini-Donizetti’schen Periode zu den ersten Operncomponisten seines Vaterlandes, aber sein Geist war weniger gemacht, eine neue Epoche aufzubauen, als eine alte bis zur neueren würdig fortzuführen. M’s. Talent ist nach verschiedenen Richtungen hin gleich thätig gewesen; seine Compositionen zeigen seinen, gebildeten Geschmack, und verrathen die Bildung der älteren, gediegenen italienischen Schule, welche die leichtsinnige, flüchtigere der Gegenwart verwirft, aber ihrem genialen Fluge nicht nachzueilen vermag. […]

Was hier in gönnerhaften Worten formuliert wird, ist in Wahrheit ein vernichtendes Urteil. Denn gemäß der geltenden Genieästhetik des 19. Jahrhunderts wird der Komponist Francesco Morlacchi (1784 – 1841) damit als einer der poetae minores charakterisiert, deren Werke letztlich vor der Geschichte keinen Bestand haben werden. Die vorliegende Aufnahme seines anerkannten Hauptwerks Tebaldo e Isolina bietet Anlass, den Fall Morlacchi neuerlich zur Verhandlung zu stellen.

Morlacchi: Die konzertante Aufführung von „Tebaldo e Isolina“ in Bad Wildbad 2014/ Foto Elias Glatzle

Morlacchi wurde am 14. Juni 1784 in Perugia geboren. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er von seinem Onkel, der als Domorganist in Perugia tätig war. 1803/4 studierte er bei Nicolo Zingarelli, damals Kapellmeister in Loreto, später Direktor des Konservatoriums in Neapel. Den letzten Schliff holte er sich in den Jahren 1805/07 bei Padre Mattei in Bologna, bei dem seit 1806 auch Rossini zur Schule ging. Es folgte ein rasches Debüt als Opernkomponist mit der einaktigen Farsa II poeta disperato (Firenze 1807), das den Start einer typischen Opernkarriere zu markieren schien. In rascher Folge entstanden bis 1810 neun weitere Opern, die ihn durch die Theaterprovinz bereits bis in die Mailänder Scala und das Teatro Argentina in Rom führten. Persönliche Beziehungen mit einer ihm befreundeten Opernsängerin führten ihn jedoch überraschend nach Dresden, wo er 1810 zunächst als Vizekapellmeister angestellt wurde. Nach dem Erfolg seines Raoul de Crequi wurde er 1811 zum Kapellmeister auf Lebenszeit ernannt. Damit befand er sich in einer für einen italienischen Opernkomponisten nahezu idealen Position, die ihn von dem Zwang massenhafter Produktion befreite und ein weitgehend freies Schaffen ermöglichte. Es ist sehr verständlich, dass er diese Stelle ein Leben lang inne behielt, wiewohl er 1822 Nachfolger Rossinis in Neapel hätte werden können.

Die Spätphase der napoleonischen Kriege war indessen für die Produktion von Opern in Dresden nicht sonderlich günstig, so dass zunächst eine fünfjährige Periode folgte, während der Morlacchi ausschließlich als Komponist geistlicher Musik hervortat. Erst ab 1816 nahm er die Komposition von Opern wieder auf. Dies freilich unter geänderten Vorzeichen: War der Unterhalt einer italienischen Operntruppe im 18. Jahrhundert ein selbstverständliches Markenzeichen absolutistischer Hofhaltung, so erschien sie nach dem Wiener Kongress als Anachronismus. Hinzu kam der nicht zuletzt durch Rossini bewirkte Ansehenswandel der Gattung Italienische Oper in Deutschland, die unter musikalisch Gebildeten eben nicht mehr als Vorbild, sondern als Zerrbild eines musikalischen Kunstwerkes gesehen wurde. Wobei man komische Opern noch eher zu dulden bereit war als italienische opere serie.

Morlacchi hat diesem Umstand Rechnung getragen: In den Jahren 1816 bis 1829 hat er gerade mal fünf Opern für Dresden komponiert, ausnahmslos opere buffe. Gleichzeitig – und wohl auch als Vorsorge im Falle einer allzeit im Raum stehenden Auflösung der italienischen Operntruppe in Dresden – versuchte er ab 1817 auch wieder in Italien als Opernkomponist präsent zu sein. Dazu unternahm er vier Kunstreisen (1818,1821/22, 1824,1828) nach Italien, bei denen er sieben neue Opern präsentierte.

Morlacchi: „Tebaldo e Isolina“/ „Deputazione“ zur Aufführung in Perugia 1825/ Omnia

Tebaldo e Isolina wurde für die zweite Reise 1822 konzipiert und erlebte in Venedig ihre triumphale Uraufführung. Die Oper wurde sodann in circa vierzig Städten nachgespielt und damit zu Morlacchis erfolgreichster Oper überhaupt. Zugleich ist sie die einzige, von der auch ein vollständiger Klavierauszug gedruckt wurde.

Interessant ist, dass Morlacchi auch im Falle seiner für Italien geschriebenen Opern ein genauer Beobachter der Szene war: War man in Deutschland in den 1820er-Jahren vor allem bereit, komische italienische Opern zu goutieren, so verlief in Italien die Entwicklung genau gegenläufig. Morlacchi hat denn auch nach seiner zweiten Italienreise nur noch ernste Stoffe auf italienischen Bühnen vorgestellt. Erwähnenswert ist auch, dass Morlacchi von den sieben für Italien geschriebenen Opern nur zwei, Gianni di Parigi und Colombo, unverändert in Deutschland herausbrachte. Tebaldo e Isolina (1822/1825) und I Saraceni in Sicilia (1828/1832 als II renegato) erlebten beachtliche Umarbeitungen. Boadicea, Donna Aurora und llda d’Avenel schließlich wurden in Deutschland überhaupt nicht aufgeführt.

Ein Blick auf die Morlacchi- Aufführungen in Dresden, zehn Inszenierungen in 21 Jahren, zeigt überdies, dass Morlacchi, allem Lamento Webers zum Trotz, seine dortige Stellung keineswegs dazu missbraucht hat, sich selbst ungebührlich in Szene zu setzen.

Morlacchi: Der Kastrat Giovanni Battista Vellutti sang den Tebaldo in der venezianischen Uraufführung/ Wikipedia

Mit Carl Maria von Weber ist nun, neben Rossini, der andere Fels genannt, zwischen denen Morlacchi sein Schaffen notgedrungen hindurchmanövrieren musste. Die persönliche Animosität wurde dabei von der älteren Weber-Biographik übertrieben dargestellt. Tatsächlich stellte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten ein durchaus erträgliches Verhältnis zwischen Morlacchi und dem als deutschem Kapellmeister neu verpflichteten Weber ein. Überdies ging es auch gar nicht um persönliche Rivalitäten: Sachsen gehörte durch die Allianz mit Napoleon zu den großen Verlierern des Wiener Kongresses. Nicht nur büßte es große Teile seines Territoriums ein, auch die Machtstellung des Königs wurde entscheidend geschwächt, so dass dieser gezwungen war, innenpolitisch einen Ausgleich mit dem aufstrebenden Bürgertum zu suchen.

In diesen Zusammenhang gehörte auch die Neuorganisation des Hoftheaters, das aus einem Ort aristokratischer Zerstreuung zu einer Einrichtung auch bürgerlicher Unterhaltung werden sollte. Die Trennung von italienischer und deutscher Compagnie (unter Weber) 1817 war dabei nur ein erster Schritt; 1832 folgte die Auflösung der italienischen Truppe. Das hieß freilich nicht, dass keine italienischen Opern mehr gespielt wurden; das bedeutete lediglich, dass diese nunmehr in deutscher Übersetzung gesungen wurden. Dirigiert hat diese nach wie vor Morlacchi, der ja als Kapellmeister hoch geschätzt war. Als Komponist konzentrierte sich Morlacchi in den letzten Jahren dann auf die Komposition von geistlicher Musik, die bislang ungedruckt dringend einer Neuaufführung bedürfte.

Vergegenwärtigt man sich Morlacchis Biographie, so wird deutlich, dass eine wesentliche Schwierigkeit darin lag, dass sich die institutionellen ebenso wie die ästhetischen Bedingungen, die 1810 zu seinem Dresdener Engagement führten, im Lauf der Jahre grundlegend geändert hatten. Morlacchi war gezwungen, auf diese Veränderungen zu reagieren und hat das zumindest auch versucht. Sichtbar wird das im Falle von Tebaldo e Isolina (Libretto von Gaetano Rossi) durch die Umbenennung der Oper: In Venedig ist sie ein melodramma eroico, in Dresden wird daraus ein melodramma romantico.

Das freilich bedeutet mehr als eine Umetikettierung. In Venedig wurde die Oper ganz auf den letzten großen Kastraten, G. B. Velluti, zugeschnitten. In Dresden musste diese Partie notgedrungen für einen Contralto umgeschrieben werden. Typisch venezianisch ist auch das Festhalten an Secco-Rezitativen. Das war allerdings in Dresden weniger ein Problem, da man dort ja mit der deutschen Singspieltradition und deren gesprochenem Dialog vertraut war.

Morlacchi: Auditorium des ersten Dresdner Hoftheaters von Semper in der Wiedergabe von J. C. A. Richter/ Wikipedia/Andreas Praefcke

Die Handlung ist im Mittelalter angesiedelt und zwar in der Gegend von Altenburg und Meißen. Für Venedig exotische Orte, für Dresden eher eine Geschichte aus der Heimat. Der Plot der Oper ist schnell erzählt: Es ist der Stoff von Romeo und Julia mit Happy End. Dieses wird freilich nur möglich, indem die beiden Familienoberhäupter Boemondo und Ermanno, aber auch Tebaldo in hartem inneren Kampf Hass und Rachsucht überwinden. Der Schilderung dieser inneren Kämpfe ist denn auch ein großer Teil dieser Oper gewidmet, und es spricht für Morlacchis Talent der Personen-Charakteristik, dass er sich dieser Herausforderung gestellt hat. Am Ende verzichten alle Beteiligten auf die Blutrache und feiern die Blutversöhnung. Diese Lösung – und das ist der Trick an der Sache – kann man nun mit Piaton bei allen drei Hauptfiguren als Sieg der Vernunft über die Rache verstehen, aber auch als ein im Grunde nicht zu erwartendes Wunder. Akzentuiert man die Selbstüberwindung, erhält man eine heroische Oper, akzentuiert man das Wunderbare, erhält man eine Romantische Oper (aber eben kein melodramma romantico im italienischen Sinn).

Morlacchi trägt diesen unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung, indem er nach dem Erfolg der venezianischen Fassung für Aufführungen in Deutschland dieser eine eigene Dresdener Fassung gegenüberstellt: Tebaldo e Isolina war in Venedig zunächst eine arienlastige Oper: Die Hauptfiguren Isolina, Boemondo und Tebaldo sind in jedem Akt mit einer Kavatine bzw. Arie vertreten. Weiterhin findet sich eine Arie für die Nebenfigur der Clemenza. Ferner gibt es drei Duette, die zweimal die Kombination Musico-Tenor und einmal die Kombination Musico-Sopran ausschöpfen.

Morlacchi: Der Tenor Crivelli (hier in einer Opernkostümierung von John Partridge 1835 gemalt) sang der Boemondo/ Wikipedia

Dass die Oper trotz dieser altertümlich anmutenden Konzeption zu Morlacchis größtem Bühnenerfolg werden konnte, belegt, dass sich um 1822 Rossinis grundlegende Neuerungen in Venedig noch nicht zur Norm verfestigt hatten. Indessen wurde der Erfolg der Oper auch getragen durch eine starke Besetzung (Boemondo: Gaetano Crivelli; Tebaldo: Giovanni Battista Velluti) sowie eine Handlung, die mit den Figuren Boemondo und Tebaldo zwei Personen auf die Bühne brachte, die es Morlacchi, ohnehin eher ein lyrisches Talent und kein Meister der Cabalette, ermöglichten, seine Fähigkeit zur genauen Personenzeichnung vorteilhaft zum Einsatz zu bringen. Gerade die Cavatine des Boemondo, eigentlich ein raffiniert instrumentiertes Accompagnato-Stück mit eher deutsch klingender Harmonik, und die Romanze des Tebaldo galten als die Glanzstücke der Oper. Für den internationalen Erfolg der Oper war indessen nicht zuletzt der Plot verantwortlich, der sich im Sinne der literarischen Romantik ausdeuten ließ.

Nicht zu vernachlässigen ist darüber hinaus, dass Morlacchi die Oper 1825 für Dresden auch musikalisch gründlich überarbeitet hat. Zuerst wurden vier Solonummern aus Venedig ersatzlos gestrichen, wodurch sich zumindest eine modernere Dramaturgie ergab. Diese Verringerung ermöglichte ihm umgekehrt, die verbleibenden Nummern musikalisch auszuweiten, so dass sich auch in dieser Hinsicht eine Annäherung an die rossini’schen Normen einstellte.

Betrachtet man das spätere Opernschaffen Morlacchis im Zusammenhang und sowohl aus italienischer wie aus deutscher Perspektive, so wird sehr deutlich, dass er ab Tebaldo e Isolina eine Art von Spagat wagte, der in der Ambivalenz von heroischer Selbstüberwindung und Einwirkung des Wunderbaren es sowohl dem italienischen wie dem deutschen Publikum ermöglichen sollte, die Oper jeweils auf eigene Weise zu rezipieren. Diese Ambivalenz kann man auch in Colombo und II renegato wiederfinden.

Morlacchi: Auditorium des Teatro La Fenice in Venedig/ Wikipedia

Musikhistorisch gesehen liegt daher die Vermutung nahe, dass es sich beim Spätwerk Morlacchis um eine Art Sonderfall handelt, indem der Versuch unternommen wurde, zwei sich auseinander entwickelnde Kulturen der Musik noch einmal zusammenzubringen. Was in den 1820er-Jahren noch ein gangbarer Weg schien, konnte in den 1830er- Jahren jedoch nicht mehr gelingen, nachdem sich die in unterschiedliche Richtungen zielenden Entwicklungen der 1820er-Jahre verfestigt hatten: Aus dem Versuch einer Synthese wurde ein Hybrid, das weder den italienischen noch den deutschen Ansprüchen an eine zeitgemäße Oper entsprechen konnte. Womöglich könnte aber gerade in diesem ambivalenten Charakter seiner Spätwerke für heutige Aufführungen eine Chance liegen: Ihrer Anlage nach vermeiden diese Stücke allzu simple Rollencharaktere und vorhersehbare Handlungsmuster. Und im Gegensatz zu vielen reinen Belcanto-Opern verfügen die Plots über Situationen, die aus heutiger Sicht ein kritisches Hinterfragen seitens der Regie erlauben würden. Das sollte eigentlich Anreiz genug sein, diese einmal in szenischer Realisierung zu erproben (Foto oben: Caravaggio: „Die Wahrsagerin“/ Ausschnitt/Meisterwerke.de). Michael Wittmann

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Abbildung oben: Der Kastrat Giovanni Battista Vellutti sang den Tebaldi in der Venezianischen Uraufführung/ Wikipedia. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Repertoire-Gewinn

 

Heiter bis stürmisch: Wieder bringt Naxos in der Reihe Ouvertüren (bereits in der 6. Folge) eine reizvolle Platte heraus, welche Kompositionen von Domenico Cimarosa versammelt (8.574046). Das Czech Chamber Philharmonic Orchestra Pardubice musiziert unter der inspirierenden Leitung des französischen Dirigenten Patrick Gallois mit ansteckender Vitalität und Frische. Als Auftakt erklingt die Ouverture zum bekanntesten Opernwerk des Komponisten, Il matrimonio segreto, uraufgeführt im Wiener Burgtheater 1792. Cimarosa war ein Zeitgenosse Mozarts und das ist in jedem Takt hörbar. Besonders zu den da-Ponte-Opern stellt sich ein Bezug her – das Musik sprüht, wirbelt und nimmt all die Turbulenzen der Handlung vorweg. Das nächste Stück, Gli Orazi e i Curiazi, ist weniger populär, erklingt aber sogar in zwei Versionen – der von 1797 (Venedig) und der von 1800 aus Paris. Das Werk trägt die Gattungsbezeichnung tragedia per musica, doch ist die Musik durchaus von gemessen heiterem Charakter und zuweilen sogar witzig mit Tönen, die an das Quaken von Fröschen erinnern.

Und auch auf die Vorgängerin in der Ouvertüren-Sammlung bei Naxos soll hingewiesen werden, Vol. widmete sich ebenfalls Cimarosa (8.573568)

Den Kreis der Opern sprengt Track 3 mit der Cantata per Ferdinando IV aus dem Jahre 1799 – eine Huldigung anlässlich des Niedergangs der Monarchie mit patriotischen Klängen. Auch die folgenden Einleitungen zu Artemisia, die 1801 am La Fenice eine Woche nach des Komponisten Tod zur Premiere kam und ernstere Töne anschlägt, Penelope, die1795 in Neapel uraufgeführt wurde, bald darauf in Livorno, Lissabon, London und St. Petersburg nachgespielt wurde, sowie L’imprudente fortunato (ein munteres dramma giocoso für die römische Karnevalsaison 1797) sind Raritäten. In einzelnen Stücken können sich Markéta Cepická an der Violine, Barbora Tomecková an der Oboe und der Hornist Jan Karas solistisch profilieren.

Es folgen weitere unbekannte Werke mit I traci amanti (1793), Achille all’assedio di Troia (1797), L’impegno superato (1795) und L’apparenza inganna (1784). Ersteres schrieb Cimarosa für das Teatro Nuovo Neapel. Es hatte sogleich immensen Erfolg und kam schnell in vielen europäischen Musikzentren zur Aufführung. Den Achille, ein dramma per musica, komponierte Cimarosa als Auftrag von Camillo Alliati, Impresario des Teatro Argentina Rom, dem er das Werk auch widmete. Es ist mit fast zehn Minuten die längste Ouvertüre der Anthologie und in ihrem ungestümen, drängenden Duktus sehr eindrucksvoll. Auch der Impegno mit seinem reizvollen Melos konnte sich nach der Premiere in Neapel schnell auf vielen Bühnen durchsetzen, ebenso die Apparenza, welche in einem Jahr entstand, in dem der Komponist besonders beschäftigt war und im Zeitraum von nur wenigen Monaten mehrere Opern zu liefern hatte.

Zum Ausklang gibt es mit Il maestro di capella (1780) noch einen Klassiker, hier in einer neuen Orchestrierung von Simone Perugini, welche die Kantate, ursprünglich für Bass und Cembalo gesetzt, im Stil des Komponisten der 1780er Jahre erklingen lässt. Bernd Hoppe

 

Max Bruch (1838-1920) ist unter den deutschen Komponisten des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts heutzutage, anders als zu seinen Lebzeiten, ein eher Unbekannter, sieht man einmal von seinem ersten Violinkonzert und seiner Schottischen Phantasie ab. Dabei trug er zu nahezu jeder Werkgattung etwas bei, schrieb zahlreiche Orchesterwerke, Konzerte, viel Vokal-. Klavier- und Kammermusik, Oratorien und vier Opern. Musikproduktion Dabringhaus und Grimm (MDG) legt nun zwei bereits einzeln erschienene Produktionen von der Jahrtausendwende in einer Doppel-CD neu auf (MDG 335 2129-2).

Enthalten sind zum einen das dritte Violinkonzert mit dem Solisten Andreas Krecher sowie die zweite Sinfonie, beides mit den Sinfonieorchester Wuppertal, dirigiert von Gernot Schmalfuß; zum anderen die Schwedischen Tänze, die Streicherserenade sowie die Ballade Schön Ellen, wieder mit den Wuppertaler Sinfonikern, diesmal unter der Leitung von George Hanson.

Allzu viele Konkurenzeinspielungen gibt es bei keinem der vorliegenden Werke. Die drei Sinfonien wurden bis dato von Kurt Masur (Philips) und James Conlon (EMI) eingespielt; hinzu gesellen sich Chandos-Produktionen unter Richard Hickox (Nr. 1 & 3) sowie Naxos-Produktionen unter Michael Halász (Nr. 1 & 2) und Manfred Honeck (Nr. 3). Während das g-Moll-Violinkonzert mannigfaltig aufgenommen wurde, fristet die beiden in d-Moll ein Schattendasein. In der Sinfonik zwischen Schumann und Brahms stellt Bruch die Verbindung dar. Ausgezeichnet gelungen und mit einer Betonung der lyrischen Stellen präsentiert sich die hier enthaltene, nur dreisätzige zweite Sinfonie in f-Moll von 1870. Hochdramatisch der Kopfsatz, himmlisch das Adagio mit seinen Solostimmen, versöhnlich der Ausklang im sich nahtlos anschließenden Finale. Schmalfuß wählt ein breiteres Zeitmaß als Masur, nicht zum Nachteil der sich einstellenden Wirkung. Der Conlon-Aufnahme ist die vorliegende vor allem tontechnisch überlegen. Das dritte Violinkonzert von 1891 erfährt eine referenzträchtige Darbietung, woran gerade Andreas Krecher poetisches Spiel großen Anteil hat. Obwohl nicht zur vordersten Riege der Orchesterlandschaft gerechnet, fällt auch das Sinfonieorchester Wuppertal keinesfalls ab, sondern bietet die hörenswerte Musik mit Herzensblut dar. In den beiden, jeweils knapp vierzigminütigen Werken finden sich gewisse Anklänge an Beethoven und mehr noch an Brahms. Beide Stücken verdienten eine Aufnahme ins Konzertrepertoire.

In den auf der zweiten CD inkludierten Werken entfaltet sich ein nordischer Tonfall, der in den hier in der Orchesterfassung vorliegenden Schwedischen Tänzen (1892) bereits im Werktitel zum Ausdruck kommt. Auch in der Streicherserenade ist ein skandinavischer Touch unbestreitbar, was nicht wundernimmt, handelt es sich doch um eine Umarbeitung der bereits 1904 komponierten Serenade nach schwedischen Volksmelodien für Streichorchester, zusammengekürzt auf 15 Minuten. Der suitenhafte Charakter ist beiden Stücken gemein, ein Vergleich mit Griegs Aus Holbergs Zeit tut sich auf. Schön Ellen schließlich, eine heroische Ballade auf eine Vorlage von Emanuel Geibel, ist ein ein knapp zwölfminütiges Chorwerk für zwei Solisten, Chor und Orchester. Sowohl die Sopranistin Claudia Braun als auch der Bariton Thomas Laske erweisen sich als absolut adäquate Besetzung und punkten mit Wortdeutlichkeit; die Kantorei Barmen-Gemarke unter Chorleiter Wolfgang Kläsener verdient ein besonderes Lob. Obwohl in Indien angesiedelt, ist ein Bezug zur schottischen Volksmusik ersichtlich, ein Land, mit dem Bruch eine lebenslange Affinität verband. Das heutzutage praktisch vergessene, seinerzeit aber höchst populäre Chorwerk endet triumphal und rundet die Doppel-CD wunderbar ab. Die natürliche und räumliche Klangqualität all dieser in Wuppertal entstandenen Einspielungen ist ohne Fehl und Tadel. Daniel Hauser

 

Der österreichische Komponist Karl Goldmark ist heute wahrscheinlich nur noch Kennern bekannt, obwohl sich einige seiner Werke immer im Repertoire gehalten haben (so sein Violinkonzert und die Königin von Saba, kürzlich in Budapest und Freiburg, wobei von letzterer nun die Mitschnitt bei cpo erscheinen wird). Jetzt ist bei der Firma cpo sein bekanntestes Instrumental-Werk erschienen, seine Sinfonie Ländliche Hochzeit. Letztere ist zwar als Sinfonie etikettiert, aber eigentlich handelt es sich um eine Suite aus fünf Sätzen, die lose zusammenhängen, mit sinnigen Titeln wie Serenade, Im Garten oder Brautlied. Der phantasievolle Opernkomponist Goldmark kann seine musikdramatischen Prinzipien hervorragend auf seine Sinfonik übertragen. Zu Recht berühmt war er deswegen für seine einsätzigen sinfonischen Dichtungen (hier als Bonus auf der

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Goldmark irritiert sein Publikum mit witzigen Einfällen und unterläuft immer wieder das, was die Musik zu sein vorgibt. Beispiel: Sein erster Satz heißt „Hochzeitsmarsch“, ist aber eigentlich eine viertelstündige Variation auf ein Marschthema, wobei sein endloser Marsch schon bei zeitgenössischen Kritikern die Frage aufwarf, wohin denn da die Eheleute so lange marschieren. Es kommt noch besser – es gibt Variationen, in denen der Hochzeitsmarsch sich in einen Trauermarsch verwandelt. Das dürfte Satirikern wie Karl Kraus gefallen haben, der übrigens Goldmark sehr liebte. Insgesamt ist dies ohnehin ein Täuschungsmanöver, denn nichts an dieser Hochzeit ist ländlich, es ist so, als wenn reiches städtisches Brautpaar sagt: Lass uns doch originellerweise ein bisschen rustikal feiern! Das Ganze bleibt trotz mancher pastoraler Attitüde ein ironisch-wehmütiges Stadt-Spektakel.

Ein unorthodoxer Dirigent: Eigentlich hat man es als Interpret bei zwei Dritteln der Musik von Goldmark recht leicht, denn das meiste davon ist gar nicht oder selten eingespielt worden. Das gilt aber nicht für die Ländliche Hochzeit, von der es eine ganze Menge Aufnahmen gibt. Und es spricht für Frank Beermann und die Chemnitzer Schumann-Philharmonie, dass beide sich hier überhaupt nicht verstecken müssen. Beermann ist überhaupt einer der ganz spannenden deutschen Dirigenten der Gegenwart, die immer auf der Suche sind nach interessanten Alternativen zum ausgeleierten Konzert- und Opernrepertoire. Auf der Suche sind viele, aber gefunden hat vor allem Beermann die großen wirklich lohnenden Kracher, wie unbekannte Opern von Otto Nicolai oder seinen preisgekrönten Vasca da Gama von Meyerbeer. Die Leistung in dieser Aufnahme besteht darin, dass er Goldmark weder bieder noch avantgardistisch klingen lässt, sondern erfreulich unprätentiös und doch konfliktreich – wir hören einen klugen, einfallsreicher Komponisten mit einer geradezu romanhaften Neigung zum Abschweifen in einer erfreulich schlanken, ambitionierten und sehr respektvollen Aufnahme.

PS: Tolles Booklet: Das wäre ein schöner Schlusssatz, doch gerechtigkeitshalber sei ausnahmsweise etwas ungelenk, aber voller Bewunderung für den Kollegen als Postscriptum angefügt, dass der 10seitige Goldmark-Bookletessay von Eckhard van den Hoogen ein absolutes Highlight in Sachen CD-Einführungstext darstellt. Endlich mal ein neuer Akzent – keine gravitätisch-verschwurbelten Erklärungen von Eingeweihten an Eingeweihte, sondern feuilletonistische Lust am Erzählen. Verständlich für alle, die neugierig sind. So soll es sein (cpo 777484-2). Matthias Käther

 

Beethovens vollständige Schauspielmusik zu Goethes Drama Egmont wurde nicht allzu häufig komplett eingespielt. Zu diesen Aufnahmen gesellt sich seit kurzem eine weite, die nun Ondine mit dem Helsinki Baroque Orchestra unter Aapo Häkkinen vorlegt (ODE 1131-2). Das nicht übermäßig berühmte Ensemble wird verstärkt durch die Sopranistin Elisabeth Breuer und den Erzähler Robert Hunger-Bühler. Enthalten sind alle zehn von Beethoven komponierten Musiknummern; die Gesamtspielzeit beträgt gut 52 Minuten. Was diese Neuproduktion nun von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass auf historischen Instrumenten gespielt wird. Im Zuge der Originalklangbewegung war es nur eine Frage der Zeit, bis die historisch informierte Aufführungspraxis auch den Egmont erreicht. Ein völliges Novum legt Ondine indes mitnichten vor, hat Alpha doch bereits 2016 eine Originalklangeinspielung mit dem Orchester Wiener Akademie unter Martin Haselböck herausgebracht (noch dazu jeweils in deutscher und englischer Sprachfassung, in letzterer gar mit John Malkovich als Sprecher). Rein orchestral ist Häkkinens Interpretation über weite Strecken eher gediegen als wirklich mitreißend – die Konkurrenz gerade in der häufig auch im Konzert gespielten Ouvertüre ist allerdings auch erdrückend (man denke unter anderem an Furtwängler, Klemperer oder auch Prêtre). Das Helsinkier Barockorchester ist weit entfernt vom kratzbürstigen Image früher HIP-Aufnahmen, aber erreicht auch nicht völlig die Perfektion bekannterer Orchester. Dies mag auch der Live-Situation (inklusive einiger Publikumsgeräusche) geschuldet sein, entstand die Einspielung doch als Mitschnitt mehrerer Konzerte zwischen 31. Dezember 2018 und 2. Jänner 2019 in der Musiikkitalo in Helsinki. Deren brillante Akustik überzeugt allerdings durchgehend. Breuers Sopran weiß durch Ausdruck und Wortdeutlichkeit zu punkten, doch erreicht sie nicht ganz die Klasse einer Gundula Janowitz (unter Herbert von Karajan, DG) oder einer Pilar Lorengar (unter George Szell, Decca). Sehr gut Hunger-Bühler als Rezitator, selbst wenn er im Finale nicht an die überbordende Expressivität eines Klausjürgen Wussow (unter Szell) herankommt. Als Geheimtipp sei auf eine (leider vergriffene) DDR-Rundfunkproduktion aus Leipzig von 1960 unter Hermann Scherchen verwiesen, in der Rosemarie Rönisch den Sopranpart und der Schauspieler Karl Paryla den Sprechpart übernimmt (Tahra). Das Beiheft ist erfreulich ausführlich und enthält den kompletten Text auf Deutsch und in englischer Übersetzung von Jenifer Ball. Insgesamt handelt es sich bei der Neuproduktion aus Finnland um eine sehr beachtliche Einspielung, die indes keine neuen Maßstäbe setzen kann und wohl auch in Zukunft eher unter ferner laufen wird. Daniel Hauser