Maßstäbliches aus der Wiener Staatsoper

 

„Das Unmögliche hat auch das Operntheater nicht möglich machen können“, berichtete Julius Korngold in der Neuen Freien Presse über einen Abend, der eine neue Ära der Wiener Oper einläuten sollte, die, nachdem sie im Oktober zeitweise wegen einer Grippeepidemie geschlossen war, sich Kaiser Karl von den Staatsgeschäften zurückgezogen und die Nationalversammlung das Land zur Republik erklärt hatte, am 4. Dezember 1918 von der „K. und K. Hofoper“ in einen schlichtes „Operntheater“ unbenannt worden war. Am letzten Abend der „Hofoper“ wurde „Salome“ gespielt, jenes Werk, um dessen Aufführung Mahler lange und vergebens gekämpft hatte. Sein Nachnachfolger Franz Schalk trat vier Tages nach des Kaisers Abdankung sein Amt an und brachte 1919 fünf Premieren heraus, worunter die Wiener Erstaufführung des von Pfitzner inszenierten Palestrina, vor allem aber am 10. Oktober 1919 Die Frau ohne Schatten, die einzige Uraufführung einer Strauss-Oper, am wichtigsten waren; mit der Verpflichtung von Mahlers Mitstreiter Alfred Roller als Ausstatter hatte man an die wehmütig verklärte Mahler-Ära angeknüpft. Die Frau ohne Schatten, bis heute nur rund 100mal im Haus am Ring aufgeführt, blieb ein Glanzstück des Wiener Repertoires und wurde 1955 bei der Wiedereröffnung der Staatsoper unter Karl Böhm (1977 mit Goltz, Rysanek, Höngen, Hopf und Weber bei Orfeo) gespielt, der das Werk im internationalen Repertoire verankerte (in Wien auch mit Nilsson, Rysanek, Hesse, King, Berry bei DG). Karajan führte die Frau ohne Schatten (1964 mit Ludwig, Rysanek, Hoffmann, Thomas, Berry bei DG) in Wien auf, das, zusammen mit München, bis heute das Frosch-Zentrum bildete. Münchner Aufführungen: unter Kempe (1954 bei Walhall), 1963 zur Wiederöffnung des Nationaltheaters unter Keilberth (mit Borkh, Bjoner, Mödl, Thomas, Fischer-Dieskau bei DG) oder Sawallisch (mit Nilsson, Bjoner, Varnay, Kind, Fischer-Dieskau bei Melodram).

Zum 150jährigen Bestehen der Wiener Staatsoper und als Vorfeier zum 100. Geburtstag der Frau ohne Schatten dirigierte Christian Thielemann am 25. Mai 2019 eine Neuinszenierung der Oper, die unter dem Chéreau-Assistenten Vincent Huguet derart glanzlos ausgefallen war, dass man dankbar sein will, nur das akustische Ereignis (3 CD Orfeo C991203) in Händen zu halten. Das freilich ist außerordentlich. Und offenbar vollständig (3. Akt!). Die Wiener Philharmoniker, genauer das Orchester der Wiener Staatsoper, überziehen die „Prüfungsoper für Primadonnen und Tenoristen“ (Julius Korngold) mit einem seidigen Streicherglanz von sinnlich-süßer Intensität, deuten an und aus, lassen kein sehrendes Flattern des Falken unbeachtet, sind verführerisch im Chor der Dienerinnen, erzielen  mit dem Gesang der Wächter am Ende des ersten Aktes „Ihr Gatten in den Häusern dieser Stadt“ eine magische Zartheit, die sich im dritten Akt wiederholt. Thielemann dirigiert das Märchen mit magistraler Souveränität, entfaltet einen großartig konzentrierten Klangrausch, ohne die Sänger zuzudecken, dabei fein und pianogenau koloriert, etwa in der zweiten Falknerhaus-Szene des Mittelaktes, anfangs etwas sehr breit, im zweiten Akt auch mit abgefederter Kraft, doch die Aufführung hat durchgehend erzählerischen Fluss und weitbögige Dichte, dass man dieser jugendstilhaften Schönheitstrunkenheit geradezu verfällt.

Die Besetzung ist gut, ohne bedeutende Vorbilder vergessen zu machen: Evelyn Herlitzius ist mal plärrend ordinär, mal großartig als Amme. Eine Tiefe hat sie nicht, auch nicht die geforderte Beweglichkeit, doch eine sängerische Intensität (“Der Tag ist da, der Menschentag“), wo sie der Amme eine Großartigkeit und ein bissiges Pathos gibt, die sicher noch überzeugender ausfallen, wenn man sie auf der Bühne sieht. Auf der CD klingt die Stimme denn doch zu ruiniert. Ein wenig anonym, doch von gläserner Akkuratesse in der Höhe und in den Koloraturen ist Camilla Nylund eine alles in allem ziemlich gute Kaiserin, die durch den Glanz ihrer Stimme immer wieder zu überraschen versteht. Nina Stemme verfügt bei ihrem Rollendebüt als Färberin über eine Wärme, die man bei der oft als zänkisches Weib angelegten Partie, die sie bereits im ersten Akt mit bewegenden Nuancen singt, nicht oft findet. Stemmes Sopran ist schön und ausdrucksvoll („Barak, ich hab‘ es nicht getan“), etwas kurz vielleicht, die Tiefe könnte voller sein, eine ideale Partie ist das bei aller Schönheit möglicherweise nicht für sie. Stephen Goulds Kaiser ist die Zuverlässigkeit in Person, Wolfgang Koch ist gut als Barak, oft auch ein wenig nölig und ohne die tiefe Menschlichkeit von solchen Zeilen wie „Mir anvertraut“ auszuloten. Gut besetzt die Brüder Baraks (Samuel Hasselhorn, Ryan Speedo Green, Thoms Ebenstein).   Rolf Fath