Kerstin Meyer

 

Der Vorteil der frühen Geburt macht zwar nicht  jünger, aber der Vorrat an Erinnerungen macht einen Rückblick auf Begegnungen mit Personen, die einen beeindruckt haben, reicher. Kerstin Meyer erinnere ich gut. Sie war meine Fidalma  in Ciimarosas Heimlicher Ehe im entzückenden  Drottningholmer Schloss-Theater in Michael Hampes Kölner Inszenierung: lustig, immer noch sehr attraktiv, und immer noch mit viel Stimme. Beim Premierenempfang sprühte sie vor guter Laune, als wir beim Schwatz auf dem Königlichen Rasen in lauer Sommerabend-Luft standen. Und sie war eine der vielen Carmen-Vertreterinnen an der Deutschen Oper Berlin, als ich dort meine Lehrjahre im Repertoire durchlief. Alternierend mit Patricia Johnson (sehr britisch!) und Vera Little (sehr füllig) und – auch, glaube ich – Sieglinde Wagner (hmmm) war die Meyer eine Offenbarung in ihrer eleganten Erscheinung, selbst wenn konventionelle Stirnlocke und Riesenohringe zum Stufenrock eher das Zwerchfell reizten. Sie hatte eine tolle Stimme, wie man auf dem Berliner Rosenkavalier neben der statuösen Grümmer hören kann, den mein Kollege Rüdiger Winter in seinem Resümee ihres Wirkens nachstehend erwähnt. Und sie war eine nachdrückliche Persönlichkeit, die mir eben so lebendig im Gedächtnis haften geblieben  ist. G. H.

 

Ihr Name tauchte auf den Besetzungslisten vieler großer Opernhäuser und Festivals auf. Nicht immer hinter Hauptrollen. In Salzburg ist sie in den 1950er Jahren als Marzelline im Figaro, als Magd in Elektra, als Kartenaufschlägerin in Arabella sowie als Agaue in den Bassariden in Erscheinung getreten. Bei den von Herbert von Karajan  begründeten Osterfestspielen übernahm sie die Magdalene  in den Meistersingern. In Bayreuth tauchte sie 1962 erstmals als Brangäne im Tristan auf und sang in den Folgejahren auch Floßhilde und eine beklemmende Waltraute in der Götterdämmerung. Zwischen 1960 und 1964 war sie ein gern gesehener Gast an der Metropolitan Opera in New York. Große Erfolge bescherten ihr dort die Carmen,  die sie bereits kurz nach Abschluss ihrer Ausbildung am Konservatorium ihrer Heimatstadt Stockholm, wo sie am 3. April 1928 geboren worden war,  gegeben  hatte (Foto oben/ Discogs). Stationen waren auch Kopenhagen, Wien. Mailand, Glyndebourne. Ihr Beitrag zur vorbildlichen Berlioz-Pflege in London war die Didon in den Troyens. In Edinburgh, und in Aix kreierte sie mit der Küsterin in Jenufa eine ihrer späten dramatischen Partien. Sie wirkte in etlichen Uraufführungen mit, so in der Oper Die Heimsuchung von Gunther Schuller 1966 in Hamburg, und fühlte sich auch zur Barockmusik hingezogen. Vielseitigkeit scheint der passende Begriff, um ihre Wirkung zu beschreiben. Kerstin Meyer verstand es auch, Nebenrollen kurzzeitig ins Zentrum zu rücken. Wenn sie in der berühmten Rosenkavalier-Aufnahme der EMI von 1956 unter Karajan am Ende des zweiten Aufzugs als Annina am Lager des Ochs erscheint, um ein Briefchen des vermeintlichen Mariandl zu überbringen, breitet sie stimmlich und darstellerisch ein intrigantes  Spinnennetz aus, in dem sich nicht nur der verdutzte Landbaron, sondern die ganze Wiener Gesellschaft würde verfangen. Drei Jahre stieg sie dann von der Intrigantin zu Octavian, dem jungen Herr aus großem Haus, auf – und zwar im berühmten Mitschnitt aus der Deutschen Oper Berlin an der Seite der Marschallin von Elisabeth Grümmer und der Sophie von Lisa Otto (ehemals Gala). Der Octavian blieb eines der Markenzeichen von Kerstin Meyer, die während ihrer gesamten Karriere Mitglied des Opernhauses ihrer Geburtsstadt blieb. Am 14. April 2020 ist sie im Alter von 92 Jahren gestorben. Rüdiger Winter