Im Treppenhaus

 

Verdutzt lugt Dr. Cajus durch die schmutzigen Scheiben des vollgeramschten Pubs, in dem Sir John Falstaff die „Sun“ liest und vor leergegessenen Tellern die Reste seines Frühstücks verdrückt. Dabei wird er bewacht von seinen beiden furchterregenden Kumpanen, dem Koloss Bardolfo  und dem frettchenhaften Pistola. Falstaff geht immer. Und überall. In seiner 200. Spielzeit 2018/19 hat das Madrider  Teatro Real dessen Geschichte natürlich etwas älter ist als der jetzige Bau –  Komödienspezialist Laurent Pelly, der das Stück erstaunlicherweise noch nie inszeniere, damit beauftragt, im April 2019 Verdis Komödie in Szene zu setzen. Das funktioniert recht gut. Die Typen sind herrlich: beispielsweise der züngelnde Tenor Mikeldi Atxalandabaso als Bardolfo und das kolumbianische Buffoschwergewicht Valeriano Lanchas als bulliger Pistola. Mit ihnen möchte man nicht frühstücken, geschweige denn in diesem klebrig staubigen Etablissement. Nachdem sich rasch die Wände des schlauchschmalen Ladens verschieben, zaubert Barbara de Limburg die abendlich beleuchteten Fenster der umliegenden Wohnblocks herbei, vor denen Falstaff über die Ehre philosophiert, was man von dem Alten mit dem filzigen Bart und der abgewetzten Strickweste nicht erwartet hätte. Flugs gelangen wir daraufhin ins weitläufige Treppenhaus der Fords. Viele gedrechselte Handläufe, braune Karomuster, die auch in Brüssel, Bordeaux und Tokio zu sehen sein werden. Dazu die Damen in der tüchtigen Bürgerlichkeit der 1960er und 1970er Jahre in geschmackvollen Twinsets und mit Perlenketten und passenden Handtaschen. Das läuft wie von selbst, ein bisschen komisch, ein bisschen nostalgisch, vor allem sehr grau eingetrübt, als liege Windsor in den einstigen Hochburgen des Kohleabbaus in Schottland. Und wie Pelly das Ensemble auf den vielen Stufen verteilt, treppauf, treppab wuselnd, hat etwas mechanisch Aufgedrehtes, eher Rossini als Verdi. Es fehlt mir an rechtem Spielwitz und Komik, an Tiefe und Trennschärfe zwischen den Sphären des Falstaff und der Weiber, so sehr Pelly seiner Inszenierung eine sozialkritische Ebene einziehen möchte. Wenig überzeugend der grotesk übersteuerte Schluss mit dem kalkgesichtigen Mob, der auf Falstaff eindrischt und Gericht hält. Zu lachen gibt es in dieser Welt nicht viel.

Roberto De Candia ist ein gutmütiger Falstaff mit einer warmen Stimme, die auf der Bluray (BelAir BAC 477) erstaunlich groß klingt, dabei ausreichend beweglich und witzig, allenfalls ein wenig zu einförmig. Nach Maestri ist De Candia einer der versiertesten Interpreten der Partie, was man an Nuancen und der feinen Diktion merkt, doch manches bleibt auch ein wenig großflächig und, bei wenig profunder Tiefe, angedeutet. Weshalb sich die Damen, die kaum mit einem derart Gestrandeten in Kontakt kommen dürften, abgeben, bleibt schleierhaft. Einstige Größe oder einen gesellschaftlichen Abstieg kann dieser Falstaff nicht vermitteln. Die Damen sind mit der im dritten Akt lyrisch zupackenden Ruth Iniesta als Nannetta, der als Alice wenig verführerischen und unraffiniert singenden Rebecca Evans als Hausfrau auf Abwegen, der hübsch timbrierten Maite Beaumont als blasser Meg Page und der in guter Tradition stehenden, bei manchen Tönen etwas fahl klingenden, aber komischen Daniela Barcellona als einem Gläschen nie abgeneigter Quickly schlüssiger besetzt als die Herren. Diese werden angeführt von dem tölpelhaften Ford des nicht besonders überzeugenden Simone Piazzola. Joel Prieto ist mit schmelzend leichtem Tenor ein rechter Fenton-Darling, Christophe Mortagne dreht mächtig auf und macht viel aus dem Cajus. Daniele Rustioni dirigiert das Orchester des Teatro Real bei diesem verzichtbaren Erlebnis sauber, rhythmisch flexibel und exakt, es fehlen Farben, Atmosphäre und alles, was zwischen den Zeilen verborgen ist. Da greife man dann doch lieber vielleicht zu Giulini oder einer der anderen AufnahmenRolf Fath