Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Anneliese Rothenberger

 

Sie war viel mehr als die „Operetten-Tante“ aus dem ZDF, als die sie oft etwas herablassend abgetan wurde. Nein, sie war eine bedeutende Künstlerin, eine Sängerin, die nicht nur der angeblich so „leichten Muse“  mit hoher Professionalität zum Leben verhalf, sondern die als herausragende Lyrische einen hohen Maßstab setzte, der kaum wieder erreicht worden ist. Natürlich ist sie als Sophie neben den beiden anderen Legenden Schwarzkopf und Jurinac akustisch wie optisch selber zur Legende geworden, aber sie hat auch sehr oft die Grenzen ihres lyrischen Mediums ausgetestet, ob als Martha, Undine, Butterfly, Gilda oder als Violetta. Und natürlich als ganz individuelle Lulu, auch optisch auf ihre Art hocherotisch.

Dennoch ist Anneliese Rothenberger auch für mich eine der ganz ganz Großen im Operettenfach in Erinnerung. Niemand singt so wie sie den „Künstlerball bei Kroll“ in der Lockenden Flamme der Hamburger Nachkriegszeit, niemand wie sie die wunderbaren Operetten jener Jahre beim Rundfunk. Diese silbrige und ungemein leistungsstarke und vor allem unverkennbare Stimme sitzt im Ohr, absolut.

Anneliese Rothenberger/ Foto Thomas Voigt

Sie hat wie der Dirigent Marszalek und seine Sänger der deutschsprachigen Operette eine Qualität gegeben, die mit ihr verloren gegangen ist, die aber das Genre damals noch einmal neu belebt hat, als es nach dem Krieg am Boden lag und verloren schien. Wie nur wenige ihrer Generation hatte sie nichts Süßliches in der Stimme, keinen Kitsch, aber Sentiment. Was ein großer Unterschied ist. Dass sie denn doch – mit Betonfrisur – wie Ruth Leuwerik zum Symbol einer Epoche von Sahnetorte und Mercedes am Gardasee wurde:  Dafür kann sie nichts. Sie hat – muss man leider sagen – auch einige unglückliche Aufnahmen gemacht: eine eiserne Schöne Helena oder eine marmorne Ilia, zu spät und schlecht beraten. Die Storjohann-Schablone der Electrola drückte sie zu oft in das ewig lächelnde Klischee des heiteren Genres. Aber darunter litten auch Gedda und manche andere. Es war die Politik der Kölner Firma. Und die blockierte auch einen anderen Eindruck von der Rothenberger. Und andere Rollen. Worunter sie sehr litt.

Die Rothenberger war klug und konzentrierte sich auf das neue Medium Fernsehen, wo sie mit ihrer Präsentation junger Künstler wirklich vielen Gutes getan hat. Dass sie als die eherne und ewig strahlende Gallionsfigur dieser Sendungen aufgebaut wurde, kann man ihr ja kaum verdenken.

Aber ich erinnere sie auch in einem bezaubernden Liederabend in der Berliner Philharmonie zu West-Zeiten, wo sie mit großem Charme Werke von Mendelssohn und Schubert („Der Hirt auf dem Felsen“) präsentierte und eine ganz unerwartete Seite an Intimität miterleben ließ.

Anneliese Rothenberger: Lortzings „Undine“ bei Electrola, nun Warner. Als Bonus-CD wurde in dieses Album eine Schallplatte mit Probeausschnitten und Interviews integriert, die während der Aufnahme der Oper im November 1966 in der Berliner Grunewaldkirche entstand. Auch die Rothenberger kommt ausführlich zu Wort. / Foto, wie auch oben als Ausschnitt,  Electrola

Sie starb 2010, und wir finden, es ist Zeit, an sie zu erinnern. Mit einer Hommage an sie, die unser Freund, der Musikjournalist, Filmemacher und Opernfachmann Thomas Voigt (operalounge.de-Lesern natürlich vertraut) zu ihrem ersten Todestag am 24. Mai 2011 in Schloss Mainau vor illustren Gästen gehalten hat. Seine Emotionen kommen in diesen Sätzen auch zu uns bewegend herüber, danke Thomas. G. H.

 

Thomas Voigt am 24. Mai 2011: Wir haben uns heute getroffen, um einer Frau zu gedenken, die in unserem Leben etwas Besonderes bedeutet hat, als Künstlerin, als Kollegin, als Freundin; einer Frau, die viele Gesichter und Facetten hatte. Und damit meine ich nicht allein die ganze Bandbreite ihrer Opernrollen, die von der kleinen unschuldigen Gretel in Humperdincks Märchenoper bis zur Mörderin Lulu reichte. Damit meine ich auch die ganz unterschiedlichen Bilder, die man mit ihrem Namen assoziiert. Für Klassik-Liebhaber war und ist sie eine Opern- und Liedsängerin von Weltrang, eine Künstlerin, die vor allem im Mozart- und Strauss-Repertoire Maßstäbe setzte, die seither selten erreicht, geschweige denn übertroffen wurden.

Anneliese Rothenberger als Sophie neben Sena Jurinac in der Salzburger Rank-Verfilmung des „Rosenkavalier“/ Screenshot/BMG

Für das so genannte „breite Publikum“ aber ist sie das Synonym für „Klassik im Fernsehen“. Anneliese Rothenberger hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet, sie hat mit ihren Sendungen Millionen von Menschen erreicht, die nie ein Opernhaus oder einen Konzertsaal von innen gesehen haben. Laut Umfragen war sie in den Siebziger Jahren, „die beliebteste Frau im deutschen Fernsehen“.

Es gab nicht wenige Hardcore-Klassikfans und auch einige Journalisten, die ihr diese Breitenwirkung übel genommen haben. „E“ und „U“, Ernste und Unterhaltungsmusik waren zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum viel strenger getrennt als z. B. in den USA, wo man es keineswegs als ehrenrührig empfand, wenn Opernstars wie Birgit Nilsson oder Franco Corelli in Fernsehshow auftraten. Dass sie in Deutschland für ihre Fernseherfolge oft angegriffen wurde, vor allem von einem pseudo-intellektuellen Teil der Presse, machte ihr auch Jahre später noch zu schaffen. Nach einem besonders gemeinen Artikel in einer Tageszeitung schrieb sie mir: „Wahrscheinlich wäre es diesen Leuten lieber, wenn sie schreiben können: Sie hat sich konsequent von den Niederungen des Fernsehens fern gehalten, auch mit der Konsequenz, dass sie heute von der Fürsorge lebt!“

Schon als Schüler brachte es mich auf die Palme, wenn man über ihre TV-Erscheinung die Bedeutung der Sängerin verkannte. Und wenn später Elke Heidenreich alias Else Stratmann meine geliebte Anneliese auf das Image der Yellow Press reduzierte, war ich drauf und dran, ihr einen gesalzenen Hörerbrief zu schreiben. Wusste sie denn nicht, dass die Frau als Künstlerin Weltklasse war? Kannte sie nicht ihre Aufnahmen und Opern-Filme? Hatte sie nicht gelesen, dass sie laut Lotte Lehmann die „beste Sophie der Welt“ war? Dass Renata Tebaldi ihr nach einer gemeinsamen Bohème an der Metropolitan Opera coram publico die Hand geküsst hatte? Hatten sie nicht den berühmten Salzburger Rosenkavalier unter Karajan oder die Münchner Arabella mit Lisa Della Casa gesehen? Wollte sie nicht wahrhaben, dass die Rothenberger in so konträren Partien wie Konstanze und Lulu selbst notorische Skeptiker überzeugt hatte?

Um so wohltuender war es, als man bei ihren Auftritten in August Everdings da capo-Sendung in Alfred Bioleks Boulevard Bio und zuletzt bei Beckmann statt der Yellow-Press-Figur die „wahre“ Rothenberger erleben konnte: Direkt, ehrlich und nicht immer nur „nett“. Everding konnte selbst schlagfertige Künstler in Grund und Boden reden; doch Anneliese war eine der Wenigen, die ihm kontra gaben. Als er wieder mal die Frage stellte: „Wie war ihr Verhältnis zum Regisseur?“, schoss sie zurück: „Ich hatte nie ein Verhältnis mit einem Regisseur!“

Der Mann ihres Lebens, Gerd W. Dieberitz, war zugleich ihr Manager. In der Branche galt er als ruppig, und bei Proben sollen schon mal die Fetzen geflogen sein. Bei den wenigen Malen, wo ich mit beiden zusammen traf, u. a. bei einem Gesangswettbewerb in Wien, hatte ich den Eindruck eines perfekt aufeinander eingespielten Teams.

Was hat, von der Stimme einmal abgesehen, ihre Persönlichkeit ausgemacht?, fragte mich der Moderator beim Nachruf im Deutschlandradio. Die ersten Begriffe, die mir in den Sinn kam, waren „Professionalität“ und „Gewissenhaftigkeit“. Anneliese war sehr gewissenhaft, auch in Dingen, die man für weniger wichtig halten mag. Zum Beispiel im Beantworten von Fanpost. „Du beantwortest wirklich jeden Brief?“, fragte ich ungläubig, „Jawohl, jeden!“, antwortete sie, „die Leute haben sich die Mühe gemacht, mir zu schreiben, und ich finde es selbstverständlich, dass ich ihnen antworte.“

Anneliese war eine Arbeiterin, die sich alles abverlangte. Allein, was sie in den Studios der Rundfunkanstalten, Plattenfirmen und Fernsehsender leistete, muss ihr erstmal eine nachmachen. Wenn ich mir heute ihre NDR-Aufnahme von Künnekes Künstlerball bei Kroll (NWDR 1950) anhöre, fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser rasante „Rap“ als Direktsendung über den Äther gegangen sein soll. Solch hochvirtuoses Geplapper, noch dazu mit so vielen Zungenbrechern – LIVE gesendet, ohne Schnitt und Korrektur? Aber ich trau’s ihr zu. Sie war halt erzprofessionell.

Ihre „Ehe“ mit der Schallplatte war lang und glücklich. Der Electrola-Produzent Fritz Ganss hatte in ihr die geeignete Nachfolgerin für Erna Berger gefunden. Wie diese war auch Anneliese Rothenberger eine Sopranistin zwischen Lyrik und Koloratur; als Martha beherrschte sie die volksliedhafte Schlichtheit der „letzten Rose“ genauso wie die virtuosen Verzierungen in den Ensembles.

Was neben der hervorragenden Textverständlichkeit bei ihren Aufnahmen immer wieder auffällt: Die Unverkennbarkeit des Timbres. Eine einzige Phrase reicht aus, um sie zu erkennen (was man von manchen lyrischen Sopranen, die heute als Weltklasse gelten, schwerlich behaupten kann). Sie selber hatte kein sonderliches Interesse an ihren eigenen Platten. Als ich sie auf die Neuausgabe der Wiener Fledermaus unter der Leitung von Oscar Danon ansprach, wusste zunächst gar nicht, was ich meinte. Sie hatte diese herrlich vitale, großartig besetzte Einspielung völlig vergessen.

Im Gegensatz zu manchen Profis, die sich selbst viel abverlangen, war sie großzügig gegenüber den Schwächen anderer. Bei Gesangswettbewerben war sie ausgesprochen fair im Umgang mit den jungen Sängern, jedenfalls habe ich von ihr nie ein hartes Wort gehört. Und wenn es hervorragende Talente gab, so wie hier vor zwei Jahren, bei ihrem letzten Wettbewerb auf der Mainau, konnte sie sich freuen wie ein Kind.

Beim Abschlusskonzert im Jahr 2009 übernahm sie wie gewohnt die Moderation. Alles lief glatt, und so waren wir Juroren ziemlich überrascht, als sie nach dem Konzert total zerknirscht auf uns zu kam und meinte: „Bitte, entschuldigt! Das hätte mir nicht passieren dürfen!“ – „Ja, um Gottes Willen, was denn?“ – „Dass ich Euch nicht vorgestellt habe!“ Noch Wochen später machte sie sich Vorwürfe, uns „vergessen“ zu haben.

Den Grund für solch extreme Gewissenhaftigkeit kann man ahnen, wenn man ihre Memoiren liest. Dort beschreibt sie das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens, den Tod ihres kleinen Bruders. Die beiden hatten auf der Straße Kriegen gespielt, und der 5jährige war dabei vor einen Lastwagen gerannt. Der Vater gab ihr die Schuld an diesem Unfall, redete monatelang kein Wort mit ihr. Und da er sehr herzkrank war, gab ihm der Tod des Jungen den Rest: er überlebte ihn nur um ein Jahr. Führte die Kompensation von Kindheits-Trauma und Schuldkomplex zu einer besonderen Ausprägung von Gewissenhaftigkeit und Professionalität? Es mag allzu sehr nach Küchenpsychologie klingen, aber ich bin überzeugt, dass es bei ihr so war.

Thomas Voigt, renommierter Gesprächspartner für viele Diven, Musikjournalist und Autor /Foto: Facebook

Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1999 fürchtete ich eine zeitlang, sie würde nicht mehr auf die Beine kommen. Doch sie raffte sich wieder auf. Trotz ihrer mädchenhaften Statur war sie körperlich ziemlich robust: immer wieder hat sie sich von Krankheiten und Rückschlägen erholt. Ein echtes Steh-Auf-Mädchen.

Ihre Freundschaft hat mir viel bedeutet. Ihre Platten und Filme haben mir unzählige schöne Stunden beschert, ihre Mitwirkung als Interviewpartnerin hat unsere Filme über Fritz Wunderlich (2006), Lisa Della Casa (2008) und Robert Stolz (2009) um eine unverwechselbare Farbe bereichert. Und nicht zuletzt war sie es, die mich auf diese Insel holte, zusammenführte mit der Familie Bernadotte, mit Brigitte Stephan und den Juroren des Wettbewerbs. Auch posthum hat sie uns viel Freude geschenkt, durch ihre Stimme, durch ihre Kunst, durch ihre Gegenwart in unseren Gefühlen und Gedanken. Dafür möchte ich an dieser Stelle, im Namen all ihrer Freunde, von ganzem Herzen danken. Thomas Voigt (Rede zum 1. Todestag am 24. Mai 2011, Schloss Mainau/ nachzulesen auf der Website von Thomas Voigt)

 

Jaja der deutsche Wald …

 

Schwer tun sich die deutschen Opernbühnen mit Webers Oper Der Freischütz, hat dieses Werk doch einige Prädikate und Vorkommnisse, die fortschrittlichen, modernen Regisseuren ein Gräuel sein müssen, so der Ruf, die Nationaloper der Deutschen zu sein, den deutschen Wald als Handlungsort, einen Geistlichen als Konfliktlöser und deus ex machina, einen Chor von Männern mit Gewehren, auch wenn diese nur zu friedlicher Jagd eingesetzt werden, und der „Wir winden dir den Jungfernkranz“-Chor, weil einst zu populär, darf sowieso nur als Karikatur seiner selbst auf eine deutsche Bühne. Das alles sind so schreckliche Ingredienzien, dass nur eine komplette Demontage und die Verdrehung der Handlung wie der Charaktere als Ausweg bleiben, und der Hauptstadt Berlin war es nach dem Lehnhoff-Freischütz an der Staatsoper, der wiederum einer Berghaus-Produktion gefolgt war, nicht mehr möglich, einen annehmbaren Freischütz auf die Bühne zu bringen. Komische Oper und Staatsoper versuchten sich mit Demontage des Werks an demselben, die Deutsche Oper ließ lieber ganz die Hände davon.

Das Aalto-Theater Essen bringt seit einiger Zeit mit schöner Regelmäßigkeit seine Aufführungen als CDs unter das Publikum, Marschners Hans Heiling, Meyerbeers Le Prophéte, Suks Asrael, auch Mahler-Sinfonien sind bereits auf dem Markt und nun auch der Freischütz aus dem Jahr 2018. Sieht man die Fotos im Booklet, ist man über die Beschränkung auf das Hörerlebnis dankbar, denn in moderner Kleidung und im Heute spielend, werden die Figuren zu Deppen, die in einer Zeit voller Aberglaubens, von einem schrecklichen Krieg gebeutelt und verunsichert, glaubwürdig erscheinen.

Angenehm an der CD ist erst einmal die schöne Ausgewogenheit zwischen Orchester und Sängern, zudem, wenn auch manchmal im Verhältnis zum Gesang zu leise, der gar nicht peinlich-künstlich wirkende gesprochene Dialog, der sich zwanglos und sehr natürlich wirkend in das Ganze einfügt. Durch eine klangvolle Präzision fällt der Chor bereits im „Viktoria“ und dann immer wieder auf (Jens Bingert). Sehr gut schlagen sich insbesondere die Bläser, sich effektvoll steigernd macht das Orchester unter Tomas Netopil einen sehr guten Eindruck. Es hat hörbar die unter der langen Leitung von Stefan Soltesz gewonnene Qualität bewahren können.

Fast sämtliche Rollen sind aus dem Ensemble heraus besetzt. Heiko Trinsinger hat für den Kaspar zwar nicht die ganz abgrundtiefschwarzen Farben, aber sein „Schweig, schweig“ klingt doch böse genug, und zudem ist sein Bariton koloratursicher. Ausgeglichen zwischen viril und sensibel gibt sich der Tenor von Maximilian Schmitt für den Max, ein vorzüglicher deutscher Zwischenfachtenor mit auch unangestrengten dramatischen Ausbrüchen. Etwas spröde klingt der Kilian von Albrecht Kludszuweit, zunächst ein feudaler Wüterich ist der Ottokar von Martijn Cornet, dann aber höchst angenehm, markant vertritt Karel Martin Ludvik als Kuno seinen Standpunt, und als letzte dunkle Stimme verbreitet der Eremit von Tijl Favevts vokale Autorität.

Die beiden Damen sind vokal einander ähnlicher, als es eigentlich wünschenswert ist. So klingt die Agathe von Jessica Muirhead manchmal recht kindlich, als wenn sie ein Ännchen sein wollte, ist das Ännchen von Tamara Banješević ganz und gar nicht soubrettig, nicht neckisch, sondern beherzt, frisch und den Eindruck erweckend, als hätte sie mehr dramatisches Potential, als sie zugeben möchte. Die Agathe erreicht in „Und ob die Wolke“ nicht ganz die ruhige Klarheit, die man erwartet (es ist die falsche Stimme dafür), für die große Arie zuvor hätte man gern noch mehr Wärme und Rundung der Stimme. Alles in allem ist die Einspielung dieser schwierigen Oper eine passable, aber eher eine Essener Momentaufnahme (2 CDs Oehms OC 988)? Ingrid Wanja

Weltstar und Mätresse der Mächtigen

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Und nun ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Laurent Brunner über die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen, verführte. 1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um dort ihr Glück zu versuchen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte. 1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragenden Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand 1796/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: der Geiger und Komponist Pierre Rode /Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing: „Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite. „Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Tüchtig war sie ja, die Grassini: Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/ Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Cesar Ragani, der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone. „Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

 

Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Bawr) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini als Didon in Paers Oper/ Elfenbeinminiatur von Fredinando Quaraglia/ Wikipedia

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…)

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) 

Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Mann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia (. o.), das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

 

Den Artikel von Laurent Brunner entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur neuen Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Abbildung oben: Giuseppina Grassini par Marie-Guilhelmine Benoist, Musée des Beaux-Arts de Beaune/ Ausschnitt/ Wikipedia; Redaktion G. H.

Eine bedeutende

 

Die Hamburgische Staatsoper zeigte in diesen Tagen als Gratisstream den wunderbaren alten TV-Film der Elektra (unter Leopold Ludwig mit Regina Resnik, Ingrid Bjoner, Helmut Melchert, Hans Sotin und einer ganzen Garde von ersten Sängern jener Zeit – 1968 in der Regie von Joachim Hess im Deutschen Fernsehen gezeigt. Den Soundtrack gab´s mal bei Ponto (wie auch eine 3-CD-Box mit Live-Ausschnitten). Aber anders als andere Opern aus dieser Hamburger Serie ist Elektra nie als DVD herausgegeben worden – das selbe Schicksal teilen die Arabella mit Arleen Saunders und die Martha unter Stein. Elektra ist die Berliner Hochdramatische Gladys Kuchta.

Und bei erneutem Anschauen/Anhören verbeuge ich mich einmal mehr vor meiner Isolde, Turandot, Leonore, Senta oder Brünnhilde und eben Elektra meiner Lehrjahre an der Deutschen Oper Berlin.  Damals eher schnöde ihre Dauerpräsenz beklagend, bin ich heute demütig und preise sie als eine der wirklich wichtigen Nachkriegsstimmen, ohne die das große Repertoire in Deutschland und an der Deutschen Oper Berlin nicht hätte stattfinden können. Ich muss gestehen, wir haben damals im 2. Rang uns über die Schärfe der Stimme beklagt, auch über ihr nicht immer so liebenswürdiges und etwas nasales Timbre. Aber mit heutigen Ohren gehört, staune ich über ihr ungeheures Engagement, über ihre Emphase (Schluss Elektra und vor allem in ihrer Glanzpartie der Isolde), über ihr schieres Beharrungsvermögen (neben dem stentoralen Beirer damals keine kleine Leistung). Sie war eine Bedeutende, wie ich heute erkenne.

Gladys Kuchta in „Elektra“/ Produziert von Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft für NDR © Polyphon 1968; Regie: Joachim Hess; Ausstattung: Herbert Kirchhoff/ Screenshot wie oben

Die Kuchta war der Inbegriff der tüchtigen Amerikanerin an den deutschen Bühnen jener Jahre. Ihre Karriere reichte von Berlin bis nach Buenos Aires, mit Umwegen u. a. über die Met und San Francisco. Auch sie hatte das Pech, im immer größer werdenden Schatten der Nilsson zu stehen, neben der sie manche Sieglinde singen musste, während sie an anderen Häusern eben in den großen Rollen ihres Fachs glänzen konnte (ein Lebenslauf findet sich am Ende dieses Beitrags).

Ihre Dokumente auf dem offiziellen Markt sind wenige (der „berühmte“ Fidelio unter Bamberger von 1965/ Concert Hall/ Nonesuch, die Giulietta im quergeschnittenen, deutschen Hoffmann unter Kraus bei DG jener Jahre, die Sopranpartie in Beethovens Neunter/ dto. bei Concert Hall und anderen  sowie bei DG in Kagels Staatstheater 1971). Live ist sie besser repräsentiert, aber nur für Sammler (so als Senta und Isolde neben Beirer in Buenos Aires 1964, ebendort auch als Turandot neben der jungen Caballé 1965 sowie die Brünnhilde im dortigen Ring ebenfalls 1964; vom Berliner Stammhaus DOB gibt es Zeugnisse ihrer Lady Macbeth neben William Dooley 1963, Isolde neben Beirer 1964 und mehr; aus Bayreuth ist sie Sammlern ein Begriff als Götterdämmerungs-Brünnhilde 1968 und 1969; als Abigaille trifft man sie in San Francisco 1964 an; und an der Met ist sie mit der Sieglinde neben Vickers und Nilsson 1961 sowie als Donna Anna neben Peerce 1963 belegt – ganz sicher habe ich einige Auftritte ausgelassen, mea culpa).

Diese eindrucksvolle Wieder-Begegnung mit Gladys Kuchta als Elektra nun wollen wir mit einem Artikel würdigen.Also bringen wir noch einmal ein historisches Porträt von ihr, das wir 2017 bereits veröffentlichten und das  Peter Maria Katona, seit 1983 machtvoller Besetzungschef des Royal Opera House Covent Garden, für unsere Kollegen der großen deutschen Opernzeitschrift Opernwelt 1967 in Berlin geführt hatte und das sowohl seine Eindrücke von ihr auf der Bühne beschreibt, wie auch die Künstlerin selbst zu Wort kommen lässt. Dank an beide, den Autor wie die OpernweltG. H.

 

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Ihre Brünnhilde in Sellners neuem Berliner Ring (von 1967/ G. H.) ist wieder ein vorläufiger Höhe­punkt in der Karriere dieser sympathischen Sängerin und rechten Vollblutkünstlerin, die in den letzten Jahren in einer beständigen Entwicklung ganz in das große Fach des schweren Wagner-Soprans hineingewachsen ist. Beständigkeit – das scheint überhaupt einer der Momente zu sein, die für die Lauf­bahn von Gladys Kuchta leitend waren. Sie lässt sich nicht von der allgemeinen Hetze des Berufes mitreißen – obwohl sie nun eine der höchst raren echten „Hochdramatischen“ ist, die heute gewiss an einer Hand abzuzählen sind.

Natürlich singt sie mittlerweile an allen gro­ßen Häusern der Alten und der Neuen Welt, doch sie ist auch nunmehr zehn Jahre ihrer Berliner Oper treu geblieben. Während so manchem in den letzten Jahren Berlin bloß als Sprungbrett für dann recht unruhige und wechselhafte Karrieren diente. Gladys Kuchta weiß –  und sie betont es gerne -, was ein künstlerisches Domizil, eine kontinuierliche Arbeit mit wesentlichen Regisseuren an ein und demselben Haus bedeutet.

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

Diese Einstellung verrät auch unschwer ihr sehr folgerichtiger Aufstieg selbst: Geboren in Massachusetts und „solange sie sich besinnen kann“ zum Singen entschlossen, studierte sie fünf Jahre in New York und kam dann 1952 mit einem Fulbright-Stipendium nach Italien. Ein halber Zufall ergab es, dass sie schon wenige Wochen später von Tullio Serafin für den Don Giovanni nach Florenz geholt wurde (sie sang damals die Elvira und, pikanterweise, Birgit Nilsson die An­na).

als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Die Zeit in der Provinz – die fünf Jahre in Kassel zeigen es – hat sie keineswegs als raschen „Absprung“ nach oben betrachtet, sondern als ganz entscheidende und in Ruhe genutzte Vorbereitung: „Natürlich – manche Karrieren gehen gleich kurz und steil hinauf und werden als Sensation aufgemacht, doch dann geht es meist ebenso so steil wieder herunter, nur dann spricht niemand mehr davon. Es hat mir, gerade als Amerikanerin, die in Amerika und Italien im Grunde nur die Stagione kannte, sehr gut getan, hier in Deutschland in einem Ensemble und unter erfahrenen Regisseuren zu wachsen. Das ist eine absolute Notwendigkeit, schon um über­haupt erst einmal Sicherheit und solide Grundlagen zu gewinnen. Nur so kann sinn­voll gearbeitet werden, kann ein Sänger und eine Persönlichkeit sich entwickeln. Das ist ja genau der Punkt, warum es fast überhaupt keine Heldenstimmen mehr gibt und alles sich wundert, warum zum Beispiel keine Siegfried-Tenöre nachwachsen – Leute wollen sich einfach nicht in Ruhe entwickeln, sondern meinen, gar schon als schwere Hel­den auf die Welt zu kommen. Und bis sie kaum dreißig sind, ist das Material dann verbraucht, ehe es sich richtig entfalten konnte. Ich habe selbst ganz lyrisch angefan­gen und nichts forciert.“

Erst 1961, so erzählt sie, fragte Professor Seefehlner in Berlin sie, warum sie noch nicht das schwere Fach sän­ge. „Nun, ich habe gesagt: Man hat mir noch keine Chance gegeben. Und als wir dann da­nach über die Elektra-Neuinszenierung sprachen, in der ich die Chrysothemis singen sollte, sagte ich einfach: Lassen Sie mich doch die Elektra singen.  Und so kam es dann eben.“

as Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Als Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Sie ist ein Star ohne Allüren, nennt als Hob­by sehr hausfrauliche Neigungen und ist eine charmante Erzählerin, der man es so kaum glauben würde, dass ihr auf der Bühne die wilden Elektra-Figuren weitaus lieber sind als die freundlich-damenhaften. „Ich habe Mozart immer gerne gesungen, aber auch nicht zuviel – nach einiger Zeit fühle ich mich da eingeengt, es ist mir zu wenig Spielraum im Temperament. Die Gräfin etwa möchte ich nie wieder singen – stimm­lich ist das gar kein Problem, aber im Spiel“ – sie musste so sehr Dame sein – „und das widerstrebte mir immer.“ Es klingt wohl scherzhaft, aber man kann sie durchaus ver­stehen, wenn man gerade ihre Elektra gese­hen hat: Sie hat zum Stimmfach auch das fu­riose Temperament, das sie nicht so gerne zurückdrängen lässt.

Sie probt ausgesprochen gerne – „weil man in jeder neuen Arbeit an einer Partie auch immer wieder etwas Neues herausfinden und sich deutlich machen kann“. Die Gepflogen­heit, bis in die letzten Proben hinein nur zu markieren oder gar im Play-back-Verfahren nur stumm von einer Position in die andere zu agieren, liegt ihr gar nicht: „Eine Partie muss als Ganzes entstehen und nicht aus Stücken. Gestik, Aktion und voller stimm­licher Einsatz müssen organisch zusammen­passen und auch so immer wieder geprobt werden.“

als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

Als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

So wird schon deutlich – obwohl sie gern und viel reist -, dass sie doch das Ideal kon­zentrierter Ensemblearbeit ganz für sich angenommen hat und daran „deutscher als die Deutschen“ festhalten möchte. „Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich in Deutschland jetzt auch schon Stagione-Gewohnheiten aus­breiten, und das gerade von einigen ent­scheidenden Theatermännern auch noch ge­fördert wird. Das ist kein gesunder Nähr­boden für das Theater. Aber das kommt auch durch den Einfluss der viel schnelllebigeren Massenmedien; und besonders die Schall­platte tut ein Übriges. Gewiss: Die Schallplatte ist großartig, weil sie Musik zu Leuten bringt, die sonst nicht damit in Berührung kämen. Auf der anderen Seite aber vermittelt sie ein ganz falsches Bild, eine falsche Perfektion, die im Theater nie und nimmer zu erreichen ist. Und mancher Künstler setzt sich selbst im Studio einen Maßstab, vor dem er auf der Bühne glatt versagt.“

Nach den Dirigenten gefragt, unter denen sie gesungen hat, zählt sie eigentlich die meisten großen Namen auf, die heute zu nennen sind, und berichtet von manchem für sie bestim-menden Erlebnis. Eines allerdings ist beson­ders erzählenswert, zumal da es ihr nicht nur künstlerisch einen unvergesslichen Eindruck gemacht hat, sondern auch den Reiz des Ku­riosen besitzt. Und zwar war es während ihrer New Yorker Studienzeit, als für eine Benefiz-Aufführung von Verdis Requiem, das Arturo Toscanini leitete, ein Chor von hundertzwanzig Solisten (!) zusammenge­stellt wurde – überwiegend Studenten und Kirchensänger. „Die Auswahl war schon sehr streng. „Ich zählte dann sogar zu den vier Solosopranen des Kyrie. Grace Hoffman war übrigens auch dabei. Als wir zur ersten Probe kamen, hat wohl kaum die Hälfte von uns gesungen, so fasziniert waren wir von Toscaninis unerhört überlegener Persön­lichkeit und Ausstrahlung. Aber auch so einen Chorklang habe ich nie wieder gehört – das Rex tremendae, gesungen von dreißig aus­gesucht schönen Bass-Stimmen, hörte sich ein­fach unbeschreiblich an. Wir alle sangen übri­gens umsonst – auch die Solisten, darunter Di Stefano und Siepi.“ Ihr Bericht lässt sich nachprüfen – das Konzert wurde damals live mitgeschnitten und kam später als (noch heute im Katalog stehende) Plattenaufnahme heraus. Unter diesen Umständen kam es also zu Gladys Kuchtas erster Platte!

Gladys Kuchta als Färbersfrau mit Grace Hoffman in Berlin/Buhs/DOB

Doch nach dem Blick in die Vergangenheit – die Pläne für die Zukunft? „Nun, zu­nächst einmal Brünnhilden und kein Ende. Ein Ring nach dem anderen.“ Und auch sonst: Wagner über Wagner, wäre hinzuzu­fügen. So sehr sie da auch in ihrem Element ist: Interessante neue Rollen würden sie na­türlich besonders reizen, zumal in dem schwe­ren Fach eben relativ wenig Gelegenheit dazu gegeben ist. Sie würde gern moderne Partien singen – Liebermanns Penelope steht zum Beispiel auf dem Wunschzettel». Oder so etwas wie eine „Lulu für dramatischen So­pran“. Überhaupt ist sie aller modernen Mu­sik erstaunlich zugetan – von der Ansicht, die moderne Oper befinde sich in einer star­ken Krise oder nähere sich einem toten Grenzbereich, will sie gar nichts wissen. „Ich habe ein altes Lexikon von 1827. Da steht über Beethoven zu lesen: Er geht bis an die Gren­ze des Möglichen. Wo gibt es also absolute Grenzen? Wer will denn wissen, ob nicht all das, was heute schon als Grenze betrachtet werden soll, in fünfzig oder hundert Jahren einmal als Neuanfang gewertet werden wird? Ich würde nie eine Rolle ablehnen aus Be­quemlichkeit oder weil ich sie selbst nicht gleich begreife. Es müsste aber natürlich etwas sein, was mich zu singen und darzustellen wirklich reizt – wie eben die Penelope – und was nicht der Stimme schadet. Die Marie im Wozzeck habe ich zum Beispiel in Kassel ja gesungen – das war allerdings eine für die Stimme äußerst gefährliche Partie, die ich auch nicht mehr singen möchte. Ich sollte sie ja auch an der Met machen, aber das habe ich abgelehnt. Wenn man diese Rolle so sin­gen soll, wie sie im Notentext dasteht, ohne es sich bequem zu machen, und gleichzeitig mit allem Einsatz und Temperament – das zerreißt auf die Dauer wirklich die Stimme.“

Gerade dieses Beispiel zeigt vielleicht am klarsten, wie präzise und bewusst sie arbeiten will, eben „genau so zu singen, wie es da­steht“. Sie macht sich niemals etwas leicht. Ih­re Partien sind – und das verdient hervor­gehoben zu werden, gerade weil es nicht die Regel ist – musikalisch bis ins kleinste De­tail ausgearbeitet und gegenwärtig. Jede Ak­zentuierung, dynamische Werte und Abstu­fungen, die (besonders im italienischen Fach) gerne mit Sorglosigkeit übergangen werden, realisiert sie mit ganz auffälliger und er­staunlicher Konsequenz. Diese zunächst vom rein musikalischen ausgehende Ausformung ist dann eine denkbar sichere Basis für die dramatische Realisierung. In wirklich emi­nenter Weise verbindet sich die vorbildlich balancierte Gesangslinie – ohne je ins Grelle, Scharfe zu geraten – mit starker dramati­scher Projektion, fern von allem kalten, „keimfreien“ Glanz. Und dann eben natür­lich: Gladys Kuchta hat ein geradezu erup­tives Bühnentemperament, und ihre Lieb­lingsrollen, die ihr besondere Gelegenheit geben, dies zur Geltung kommen zu lassen – also Elektra, die Färberin, Isolde und Brünnhilde -, sind gleichzeitig nicht zufäl­lig auch ihre hervorragendsten Leistungen. Ihre Elektra hat vom Auftrittsmonolog bis hin zur Ekstase des Schlusses eine ständig zu­nehmende intensive Gewalt. Dabei breitet sie schon in dem ersten Monolog die ganze Ge­spanntheit der Figur aus, mit einer expressi­ven stimmlichen Vehemenz, die normaler­weise schon den Verbrauch der rein physi­schen Möglichkeiten bedeuten müsste, doch der Kuchta stehen, und das gilt generell, im­mer noch außerordentliche Steigerungen zur Verfügung. Ich habe eigentlich nie entdecken können, dass sie sich in irgendwelchen Passa­gen einmal ausruht, „auf halbe Kraft schal­tet“, was ja durchaus legitim wäre.

als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Ihre wichtigsten Rollen, mit denen sie zwischen Hamburg und Rom ein ebenso begehrter Gast ist wie etwa an der Met und in Buenos Aires, umfassen außer dem ganzen Wagner-Fach die großen dramatischen Partien: Turandot, Lady Macbeth, Ariadne, Fidelio und auch noch die Verdi-Amelia, Tosca, Donna Anna. Zwei seien hier noch herausgehoben: die Färberin in der Frau ohne Schatten und die Götterdämmerung-Brünnhilde. Beide Male verlangt in diesen Rollen der Mittelakt dramatische Ausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die lyrische Linie, die dann das Duett des dritten Aktes der Färberin abver­langt, ist eine kaum lösbare Aufgabe, doch gerade diese Stelle ließ Gladys Kuchta beide Male, wie ich sie sah, zum stärksten gesang­lichen Eindruck der Berliner Aufführung werden, die ja auch sonst wahrlich an sängerischen Höhepunkten nicht arm war. Vor kurzem schließlich die Götterdämmerung: Nach der exzessiven Dramatik von Eid und Racheschwur sang sie die „Starken Scheite“ mit einer herrlichen inneren Gelassenheit und stimmlichen Ruhe, die kein Zeichen vorheriger Beanspruchung verriet. Die kantablen, leisen Stellen dieses Schlussgesanges (vor allem die Anrufung „O ihr, der Eide ewiger Hüter!“) kamen mit einer fast liedhaften Lauterkeit des Tones, die ebenso im szenisch-dramatischen Ausdruckswert wie als persönliche Lei­stung und menschliche Äußerung zutiefst be­wegend erschien.

 

Noch kurz ein Blick in das tüchtige Wikipedia mit Dank: Gladys Kuchta (* 16. Juni 1915 in Chikopee, Massachusetts; † 7. Oktober 1998 in Hamburg) war eine US-amerikanische Opernsängerin (Sopran). Ihre Familie stammte aus Polen. Sie absolvierte ihre Gesangsausbildung an der Mannes School sowie an der Juilliard School of Music in New York. Eine ihrer Gesangspädagoginnen war Zinaida Lisitchkina. Anfang der 1950er Jahre setzte sie ihre Gesangsausbildung in Italien fort, wo sie 1952 in Florenz als Donna Elvira in der Oper Don Giovanni debütierte. Ein Jahr später übernahm sie ein Engagement am Stadttheater von Flensburg. Von 1954 bis 1958 gehörte sie zum Ensemble des Staatstheater Kassel. Anschließend war sie festes Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Dort gab die Künstlerin, einen Tag nach ihrem 60. Geburtstag, ihre Abschiedsvorstellung, als Isolde in Tristan und Isolde.

Gladys Kuchta sang auf den großen Opernbühnen dieser Welt u. a. in Wien, London, Dresden, Düsseldorf, Florenz, Stuttgart, München, Bayreuth, San Francisco, Buenos Aires, Edinburgh, Hamburg, Rom, New York, Stockholm, Paris etc. Dabei arbeitete sie mit den großen Dirigenten der Zeit zusammen, allen voran Karl Böhm, Herbert von Karajan, Lorin Maazel und Leopold Ludwig. Die Sopranistin wirkte 1968 an der ersten Studio-Operngesamtproduktion in Farbe für das Fernsehen mit. Sie verkörperte die Elektra in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Ein weiterer Höhepunkt ihrer internationalen Karriere war das Gastspiel der Deutschen Oper Berlin 1963 in Tokyo. Dort sang sie die erste Isolde im asiatischen Raum.

Neben ihrer Bühnenpräsenz war die Künstlerin weltweit als Lied- und Konzertsängerin engagiert. Ferner war sie als Gesangspädagogin an der Folkwang-Schule in Essen tätig. Zu ihren Schülern gehören Albert Dohmen, Hans-Peter König, Andreas Förster, Vuokko Kekäläinen u. a. m.

 

Wir danken der Opernwelt (und dort besonders der ehemaligen Archivarin Andrea Müller für ihre Grabungen im Archiv) für die Genehmigung zum Nachdruck dieses Artikels, der eben dort in der Nummer 8/1967 erschien. Der Autor Peter Katona ist berühmt als casting director des Royal Opera Hauses Covent Garden, und er wird sein Jugendwerk sicher mit einem Lächeln noch einmal sehen. Dank geht auch an die wie stets liebenswürdige Pressefrau Bettina Raeder damals von der Deutschen Oper, die die Fotos von Ilse Buhs heraussuchte und überhaupt für uns Berliner Journalisten unvergessen ist.  G. H.

Offenbachs „Voyage dans la Lune“

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Offenbachs Science-Fiction-Spektakel Le Voyage dans la lune kam 1875 am Théâtre de la Gaîté in Paris heraus – als opulente Raumfahrtrevue in vier Akten und 23 Bildern. Es geht um den Lebemann-Prinz Caprice, der auf der Suche nach neuen Liebesabenteuern zum Mond fliegt (auf Erden hat er schon alle Jagdgebiete durchstreift). Aber auf dem Mond weiß man nicht, was „Liebe“ ist. Das ändert sich allerdings schnell, als Caprice den keuschen Mondbewohnern sein Reiseproviant in Form von Äpfeln anbietet. Und plötzlich erotisches Chaos in den Mondkratern ausbricht, sehr zum Ärger des Mondkönigs Cosmos, der nun seine lüsterne Ehefrau Königin Popotte und die jugendliche Prinzessin Fantasia bändigen muss. Und seine Bevölkerung im Liebestaumel irgendwie wieder unter Kontrolle kriegen muss.

Das Ganze hat weniger etwas mit der Jules-Verne-Vorlage zu tun, als mit der typischen „schlüpfrigen“ Form von Operette, für die Offenbach im 19. Jahrhundert berühmt (und berüchtigt) war. „Voyage“ nannten er und seine Librettisten Eugène Leterrier, Albert Vanloo sowie Arnold Mortier eine „opéra-féerie“, d. h. es gab eine Vielzahl von Balletten und Szenen-mit-Schauwert, in diesem Fall sind das u. a. ein Ballett der Schneeflocken oder ein Vulkanausbruch. Nicht zu vergessen: Der Raketenflug zum Mond am Ende des 1. Akts. (Die Weltraumreise schildert denn das Zwischenspielt zum 2. Akt, mit sphärischen Chören aus dem Off.)

Einzelne Musiktitel aus der Voyage werden viele kennen, besonders eine Melodie aus der Ouvertüre wurde als „Spiegelarie“ in Les Contes d’Hoffmann weltberühmt. Aber auch Teile der Ballettmusiken wurden vielfach eingespielt. So kann man beispielsweise das „Ballet des Flocons de neige“ auf Marc Minkowskis Album „Offenbach Romantique“ hören (11 Minuten insgesamt).

Von der „Reise zum Mond“ zirkulierten bislang nur gekürzte Ausgaben auf CD. Eine wird von Paul Burkhard dirigiert, der 1958 in Hamburg für den NDR eine Aufnahme in deutscher Sprache dirigierte. Immerhin mit Mathieu Ahlersmeyer als König V’lan, Vater von Prinz Caprice. Dieser wiederum wurde damals – anders als von Offenbach vorgesehen – mit einem Tenor besetzt (Gerard Clair), statt mit einem cross-dressed Mezzo. Bei der Uraufführung hat Offenbachs Geliebte Zulma Bouffar (und Mutter mehrerer seiner unehelichen Kinder) die Rolle kreiert.

Auch bei einer Aufnahme des französischen Rundfunks unter Jean-Paul Kreder von 1961 singt mit Joseph Peyron ein Tenor den Caprice. Offensichtlich schien nach dem Krieg die Besetzung von zwei Frauen als Caprice und Fantasia anstößig – oder zu „lesbisch“. Wobei man ja beim Rosenkavalier und dem Figaro damit auch keine Probleme hat. Aber das war halt Oper. (Den Orlofsky in der Fledermaus singt bei Karl Böhm auch Wolfgang Windgassen, weil das vermeintlich „realistischer“ ist.)

Von der Hamburger Einspielung gibt’s eine Doppel-CD beim Hamburger Archiv für Gesangskunst, es fehlen aber große Teile der Partitur, vor allem die Tanzmusiken und alles, was als Untermalung für die szenischen Showmomente gedacht ist. Die Pariser Ausnahme von 1961wiederum liegt mit 24 Einzelnummern beim Label Malibran vor.

Beide Aufnahmen lohnen das Kennenlernen, denn Jean-Paul Kreder und das RTF-Orchester lassen Offenbach sehr spritzig und teils sogar schräg klingen, was wunderbar zur Geschichte passt. Auch ist Lucien Lovano ein idealer König V’lan, und Claudine Collart produziert als Mondprinzessin-die-in-den-Apfel-der-Sünde-beißt hinreißende Soprantöne. Das gilt übrigens auch für Stina-Britta Melander beim NDR 1958. Das ist ein Soubrettenklang alter Schule. Und der deutsche Text macht es deutschen Hörern einfacher, der Handlung zu folgen. (In Paris 1961 gibt’s einen Erzähler, der sehr lebendig durchs Geschehen führt.)

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Offenbachs „Voyage dans la lune“ in Montpellier 2021/ Foto Marc Ginot; nun als Mitschnitt beim Palazetto Bru Zane herausgekommen 

Nun hat Palazzetto Bru Zane eine Gesamtaufnahme auf Französisch vorgelegt, wo man endlich all die Musik hören kann, die vorher fehlte. Das ist wunderbar. Denn in allen drei Akten finden sich vor melodischer Einfallskraft nur so sprudelnde Szenen, die von Pierre Dumoussaud und dem Nationalorchester der Oper Montpellier Occitanie durchaus beschwingt gespielt werden. Die geschärfte Schrägheit von Kreder fehlt – wodurch auch ein bisschen der Biss verloren geht, den einige Passagen haben sollten. Im Gegensatz zu Burkhard ist hier alles (!) schneller.

Das bedeutete auch, dass Caprice mit einigen prestissimo genommenen Strophenliedern nicht hinterherkommt, etwa im Rondeau de l’Obus (Nr. 11), wo er das Erlebnis seines rasend schnellen Raketenflugs schildert. Immerhin – und glücklicherweise – ist Caprice hier endlich wieder ein Mezzo, nämlich Violette Polchi. Damit schlägt die Aufnahme die einschlägige Konkurrenz, was eine authentische Besetzung angeht.

Aber Polchi und vor allem Sheva Tehoval als Fantasia verbreiten in ihren Duetten nie den Liebreiz, den man auf den alten Aufnahmen hört. Tehoval wird in der Höhe schrill, während Polchi ein bisschen der herbe Reiz einer Brigitte Fassbaender oder Anne Sofie von Otter fehlt (die die Voyage-Musik leider nie aufgenommen haben).

„Le Voyage dans la lune“: Szene aus der Pariser Uraufführung/ Wikipedia

Drumherum: Kompetente Kräfte wie Matthieu Lécroat als V’lan, Thilbaut Desplantes als Cosmos, Marie Lenormand als Königin Popotte sowie Raphaël Brémard als Astronom Microscope (der die Mondrakete baut). Bei der Wiener Erstaufführung sang diese Partie der große Komiker Alexander Girardi. Hier ist von der Komik der Rolle nur eingeschränkt etwas zu merken.

Das spürt man besonders in den Dialogszenen, wo wirklich niemand aus dem Montpellier-Ensemble Charakter beweist und hörbaren Spaß an der Geschichte verbreitet. So als würden sie sich alle nicht trauen, in die berühmten Äpfel-der-Operettensündhaftigkeit zu beißen. Man könnte auch sagen: Diese Aufnahme ist „keusch“. Was bei Offenbach einem Widerspruch in sich gleichkommt.

Die Weltraummusik, die Offenbach komponiert, ist immer hell und fröhlich, selbst wenn es laut Handlung knallt und explodiert, verdunkelt sich der Klang nicht. Damit muss man arbeiten – vielleicht mit akustischen Extras, die dem Hörer vermitteln, was gerade passiert, wenn’s stürmt (Schnee) oder braust (Vulkan), wenn Heerscharen von Soldaten (cross-dressed) aufmarschieren oder wenn Hofzeremonielle mit viel Pomp & Circumstance angehalten werden, als hohle Staatsakte.

Da bleibt die Palazzetto-Bru-Zane-Einspielung ein bisschen einfallslos in Bezug auf Klangregie.  Aber das ändert nichts daran, dass es die erste Gelegenheit ist, Le Voyage dans la Lune komplett zu hören. Eine Aufführung in Montpellier fand auf der Bühne nur kurzzeitig statt, verschwand wegen Corona-Lockdown schnell wieder. Ob die Inszenierung nochmal hervorgeholt wird, muss man abwarten. Vermutlich wäre eine DVD-Veröffentlichung bei diesem Werk mehr als sinnvoll.

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„Le Voyage dans la lune“: Anstoss erregten „les filles“ beim „Ballet de la neige“/zeitgenössische Illustration/BNF/ Wikipedia

Auf YouTube kann man eine deutschsprachige Aufführung aus der Komischen Oper zu DDR-Zeiten sehen, wo die politischen Witze – rund um die vertrottelten Könige von Erde und Mond – einen anderen parodistischen Peng entwickeln. Dirigent Robert Hanell sorgt seinerseits für grandiose Peng-Momente, die sehr genaue Akzente setzen (da hätte Pierre Dumoussaud mal reinhören sollen). Günter Neumann ist der Caprice, Rudolf Asmus sein Vater V’lan. Daneben glänzen Hanns Nocker und vor allem Klemens Slowioczek als Cosmos. Die Inszenierung von Jerome Savary wartet mit etlichen Sci-Fi-Soundeffekten auf, die in Montpellier komplett fehlen. Sie tun der Geschichte aber gut.

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Das Booklet der neuen Bru-Zane-Ausgabe ist reich bebildert und bietet französisch-englische Texte von Jérôme Collomb zum Thema „opéra-féerie“ und von Jean-Claude Yon zu Offenbachs Zusammenarbeit mit Jules Verne. Alexandre Dratwicki steuert eine Zusammenstellung der historischen Pressestimmen bei, die spannend zu lesen sind. Das Libretto – so wie hier eingespielt – ist auf Französisch und Englisch abgedruckt. Kevin Clarke / Operetta Research Center Amsterdam

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„Le Voyage dans la Lune“, 1902 Géorges Mèllies/ Wikipedia

Das Farb-Foto oben zeigt eine sensationelle Bearbeitung eines handkolorierten Ausschnitts/ stills aus dem Film von Géorges Melliès 1902, der zu seiner Zeit ein riesiges Aufsehen erregte und ein Quantensprung in Sachen Filmgeschichte war.

In einem Artikel des amerikanischen Smithsonian Magazins schreibt Daniel Eagan 2021 dazu: A Trip to the Moon as You’ve Never Seen it Before. One of the landmark films in cinema can now be seen in color: It’s one of the most famous films in cinema, a special-effects, science-fiction extravaganza that became an international sensation when it was released in 1902. Almost instantly it was pirated, bootlegged, copied and released by competing studios under different names. And for decades it’s only been available in black-and-white copies.

Now, after a 12 year project that approached a half-million euros in cost, Lobster FilmsThe Technicolor Foundation for Cinema Heritage, and Fondation Groupama Gan pour le Cinéma are unveiling a new version of A Trip to the Moon, “resurrected,” in the words of preservationist Tom Burton, from an original, hand-colored nitrate print. For the first time in generations viewers will be able to see the color version of the film that stunned early 20th-century moviegoers.

Le voyage dans la lune, to use its French title, is one of over 500 movies made by Georges Méliès, perhaps the first filmmaker to fully grasp the potential of cinema. The son of a wealthy shoemaker, Méliès was born in 1861. Fascinated by magic and illusions, he left the family business in 1888. Buying the Robert-Houdin theater from his widow in Paris, he developed a successful act with illusions such as “The Vanishing Lady.” Méliès was in the audience when the Lumière brothers held their first public film screening on December 28, 1895, and within months was exhibiting movies at his theater.

Film-Pionier Géorges Mèllies/ Wikipedia

Méliès made his first film in November, 1896, built his own studio in 1901 and formed the Star Film brand to market his work in France and internationally. He made movies about current events and fairy tales, replicated his stage illusions on screen and developed a highly advanced technical style that incorporated stop-motion animation: double-, triple-, and quadruple-exposures; cross-dissolves; and jump cuts. More than any of his contemporaries, Méliès made movies that were fun and exciting. They were filled with stunts, tricks, jokes, dancing girls, elaborate sets and hints of the macabre. 

A Trip to the Moon had several antecedents, including the 1865 novel From the Earth to the Moon by Jules Verne and A Trip to the Moon, a four-act opera with music by Jacques Offenbach that debuted in 1877. Méliès may also have been aware of a theater show at the 1901 Pan-American Exhibition in Buffalo, New York, called A Trip to the Moon. Filming started in May, 1902. It was released on September 1 in Paris and a little over a month later in New York City.

At the time exhibitors and individuals could purchase films outright from the Star Films catalog. Color prints were available at an extra cost. Probably not too many color prints of A Trip to the Moon were ever in existence, but it came out right around that time color became a real fad. Within a couple of years, the hand-painting was replaced by tinting and stencil process, so color became more prevalent and less expensive. Several color Méliès films survive, but it was believed that the color Trip to the Moon had long been lost.

„Le voyage dans la lune“/Filmszene 1902/ Wikipedia

But in 1993, Serge Bromberg and Eric Lange of Lobster Films obtained an original nitrate print from the Filmoteca de Catalunya. The only problem: it had decomposed into the equivalent of a solid hockey puck. In 1999, Bromberg and Lange, two of the most indefatigable of all film historians, began to try to unspool the reel by placing it in the equivalent of a humidor, using a chemical compound that softened the nitrate enough to digitally document individual frames. (The process also ultimately destroyed the film.)

Years later, Bromberg had some 5,000 digital files, which he handed over to Tom Burton, the executive director of Technicolor Restoration Services in Hollywood. In a recent phone call, Burton described how his team approached this “bucket of digital shards.”

“What we got was a bunch of digital data that had no sequential relationship to each other because they had to photograph whatever frame or piece of a frame that they could,” Burton recalled. “We had to figure out the puzzle of where these chunks of frames, sometimes little corners of a frame or a half of a frame, where all these little pieces went. Over a period of about nine months we put all these pieces back together, building not only sections but rebuilding individual frames from shattered pieces.”

Burton estimated that they could salvage between 85 to 90 percent of the print. They filled in the missing frames by copying them from a private print held by the Méliès family and digitally coloring the frames to match the original hand colored source.

Der Autor und Filmwissenschaftler Daniel Eagan/Smithsonian Magazine

“It’s really more a visual effects project in a way than a restoration project,” Burton said. “A lot of the technology that we used to rebuild these frames is the technology you would use if you were making a first-run, major visual effects motion picture. You’d never have been able to pull this off 10 years ago, and certainly not at all with analog, photochemical technology.”

For Burton, A Trip to the Moon represents the beginnings of modern visual effects as we know them today. “Seeing it in color makes it a whole different film,” he said. “The technique involved teams of women painting individual frames with tiny brushes and aniline dyes. The color is surprisingly accurate but at times not very precise. It will wander in and out of an actor’s jacket, for example. But it’s very organic. It will never rival the way A Trip to the Moon first screened for audiences, but it’s still pretty amazing.”  Daniel Eagan (02.09.21 Smithsonian Magazin)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Buch zur Ausstellung

 

Wenn sie hält, was das sie begleitende Buch verspricht, dann wird die vom 8. Juli 2020 bis zum 11. April 2021 in München im Deutschen Theatermuseum stattfindende Ausstellung mit dem Titel Regietheater eine hochinteressante werden. Claudia Blank hat das Buch verfasst, C. Bernd Sucher das ebenso informationsreiche Nachwort geschrieben.

Mit dem Begriff Regietheater verbindet der gestresste Opernbesucher eine Wurststullen schmierende Amneris, Aldi-Tüten schleppende Timur und Altoum, die von ihren Sprösslingen abgemurkst werden, und einen mit Chemikalien entsorgten Simone-Leichnam. Um Oper geht es in dem Buch nur sporadisch, fast ausschließlich um Sprechtheater, aber auch aus einem anderen Grund erfährt man Erfreulicheres, denn es beginnt bereits mit Otto Brahm und Max Reinhardt, also in einem Zeitalter, als Regie an sich überhaupt erst zum Thema wurde, sie zuvor kaum eine Rolle gespielt hatte.

Das Buch ist vielfach gegliedert, einerseits chronologisch, gleichzeitig aber auch thematisch, so dass die Namen Otto Brahm,  Max Reinhardt, Leopold Jessner, Fritz Kortner, Gustav Gründgens, Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann immer wieder, aber stets in anderem Zusammenhang auftauchen, dazu noch viele weitere Regisseure aus jüngerer Zeit. Der Untertitel Eine deutsch-österreichische Geschichte weist darauf hin, dass besonders das Wiener Burgtheater eine große Rolle spielt neben vor allem Berliner, aber auch anderen deutschen Bühnen.

Die fünf Hauptkapitel, die ihrerseits wieder vielfältig untergliedert sind, nennen sich Intention und Ästhetik, Laufbahnen, Arbeitsstil und Probenarbeit, Inszenierungsstil und Repertoire.

Der Einleitung ist zu entnehmen, dass Regietheater in der Oper weit später als im Sprechtheater eine Rolle zu spielen begann, während in diesem sehr früh von einem „interpretierenden Dialog“, also einer Art Gleichwertigkeit von Dichter und Regisseur die Rede ist. Interessant ist, dass dem Feuilleton mit seiner „Sucht nach Neuem“ die „Schuld“ daran gegeben wird, dass Regisseure sich nicht mehr mit einer bescheiden dem Werk dienenden Rolle zufrieden geben mochten.

Das Buch zeichnet aus, dass eine Fülle von Primärquellen herangezogen wird und dass es mit Erfolg versucht, klar Tendenzen herauszuarbeiten, auch zu interessanten Feststellungen wie der zu kommen, dass es Generationenkonflikte waren, die die Entwicklung des Kultur, insbesondere des Theaterlebens, prägten. Einen solchen sieht die Verfasserin in der nie offen ausgetragenen Gegnerschaft zwischen Otto Brahm, der dem Naturalismus auf Berliner Bühnen zum Durchbruch verhalf, und Max Reinhardt, dem es um Schönheit und Überwältigung des Publikums mit seinen Inszenierungen ging. Generationenkonflikte spielten sich ebenso auch zwischen Kortner und Reinhardt, zwischen Stein und Kortner ab.

Interessant ist die enge Verbindung, die Regisseure zu zeitgenössischen Schriftstellern und Malern hatten, die sie sich, das auch konfliktträchtig für die Beziehung zwischen Brahm und Reinhardt, gegenseitig abzuwerben versuchten. Hofmannsthal Hauptmann, Schnitzler gehörten zu den Umworbenen. Dabei und auch in andren Fragen kommt Reinhardt längst nicht so gut weg, ist von seiner „gnadenlosen Konkurrenz“ die Rede und seinem nicht von jedem gern gesehenen „privaten Theater-Imperium“.

Für den Leser ist die bereits erwähnte Gliederung des Buches nicht immer einfach nachzuvollziehen, aber wohl dem Aufbau der Ausstellung geschuldet.

Die Gegnerschaft Kortners gegenüber Reinhardt beruht zum Teil auf dessen Erfahrungen bei der Einstudierung des Jedermann, aber auch die Gegenpole Theater als moralische Anstalt oder Tempel des Genusses und der Freude spielen mit hinein. Als Beispiele werden Brahms Weber-Produktion und Reinhardts Sommernachtstraum aufgeführt.

Der Leser kann quasi noch einmal miterleben, wie Aufführungen in der Theaterstadt Berlin Kritik und Publikum spalteten, so Leopold Jessners Wilhelm Tell, dessen Bühnenbild eine „Idee der Alpen“, nicht eine Illusion davon vermitteln soltel. Er trifft auf die Kritiker in vielen Zitaten, auf Namen, die ihm bereits in ebenfalls in letzter Zeit erschienenen Büchern über Lehar,  Kollo oder Furtwängler begegnet sind.

Mancher Leser wird sich noch um den erbitterten Streit zwischen Kortner und Gründgens erinnern, der in dem Düsseldorfer Manifest, das Kortner auf sich beziehen musste, seinen Höhepunkt fand. Davon ist allerdings erst später im Buch die Rede. Zunächst geht es um die unterschiedliche Auffassung vom Charakter König Philipps in Schillers Don Carlos, der Kortner zum bösen Begriff Leharisierung greifen ließ. Schüsse ins Publikum, die nicht Kortner, sondern eine mangelhafte Technik zu verantworten hatten, kosteten Kortner wohl die Intendanz des Schillertheaters.

Es wird auch weiterhin viel Aufregendes berichtet, so über Peymanns Aufarbeitung der Nazizeit, Peter Steins wundersame Wandlung, Peter Zadeks Einsicht, dass Beeinflussung durch das Theater reine Utopie sei.

Im Kapitel Laufbahnen werden diejenigen nachgezeichnet, die vom Schauspieler zum Regisseur führten oder über ein Studium oder in Verbindung mit einer Intendanz. Dabei tauchen die bereits bekannten Namen wieder auf. Ebenso ist es mit dem Vergleich der Arbeitsstile, seien sie das Vorspielen, Improvisieren, ein diktatorisches oder partnerschaftliches Verhalten gegenüber den Schauspielern. Auch Schauspieler kommen zu Wort, so wenn Curt Bois sich über den Probenstil Kortners, der sich für Stunden bei einem Satz aufhalten konnte, mokiert.

Natürlich kommt auch das Kapitel Werktreue oder vielmehr das Abweichen davon nicht zu kurz, und damit beginnen auch die schlimmen Fotos, so von einem Othello. Und verräterisch ist der Begriff „respektfrei“ anstelle von respektlos, der manchem gestressten Theaterbesucher zu positiv klingen mag, selbst wenn mit Goethe argumentiert wird:“ Und umzuschaffen das Geschaffene, damit sich’s nicht zum Starren waffne, wirkt ewiges, lebendiges Tun.“ Ob er damit seinen Faust in Castorfs Inszenierung an der Berliner Volksbühne mit eingeschlossen hätte, darf bezweifelt werden.

Schließlich werden noch die Allianzen von Regisseur und Bühnenbildner beschrieben, so die von Gründgens‘ und Theo Otto, Kortners und Caspar Nehers, Steins und Jürgen Roses oder Peymanns mit Achim Freyer. Auch neue Techniken, die Drehbühne, der Rundhorizont kommen zur Sprache. Bemerkenswert ist, dass nur Brahm und Zadek sich nicht mit Faust befassten, dass nicht nur die Altvorderen, sondern auch moderne Regisseure Kontakte zu Schriftstellern pflegten wie Peymann mit Thomas Bernhard, Stein mit Botho Strauß, Zadek mit Tankred Dorst.

Ein Nachwort in die Zukunft nennt C. Bernd Sucher seinen Beitrag und stellt fest, dass kein ästhetischer und ideologischer Konsens mehr unter den ganz jungen Regisseuren auszumachen sei. Er listet sie auf in den verliebten Spieler (Luc Bondy), den feinfühligen Choreographen (Andreas Kriegenburg), den radikalen Zertrümmerer (Frank Castorf), den gesellschaftskritischen Performer (Christoph Schlingensief), den intellektuellen Zweifler (Leander Haußmann), und nach so viel Sprechtheater kommt auch die Oper ins Spiel mit Schlingensiefs Parsifal und Davis Böschs Meistersingern.

Wer das Buch gelesen hat, wird die Ausstellung nicht verfehlen wollen. Und wer die Ausstellung gesehen hat, wird hoffentlich unbedingt das Buch lesen wollen. Das bietet im umfangreichen Anhang zudem Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Ergänzungen zum reichlichen Bildmaterial und ein Namensregister (425 Seiten, Henschelverlag 2020, ISBN 978 3 89487 815 3). Ingrid Wanja

 

Wer war Francesco Rasi?

 

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten im Musikleben Italiens um das Jahr 1600 herum ist der aus Arezzo stammende Francesco Rasi, zugleich Dichter und Komponist sowie Sänger und dazu noch Mörder, der versuchte seine Stiefmutter umzubringen und deren Gutsverwalter tötete. Seiner gerechten Strafe entging er nur, weil die Herrscherfamilie, in deren Dienst er fast sein gesamtes , von 1574 bis 1621 dauerndes Leben verbrachte, ihm vor der Vollstreckung des Todesurteils zur Flucht verhalf. An der Seite von Vincenzo I. Gonzaga reiste er nicht nur durch ganz Italien, sondern auch durch halb Europa, verbrachte einige Zeit am polnischen Königshof, wo Sigismund III. residierte, in Prag am Hof Kaiser Matthias‘ und in Salzburg, wo er Erzbischof Markus Sittikus acht selbst komponierte Arien widmete. Er war der erste Orfeo in Monteverdis Oper, wirkte auch bei der Uraufführung von Peris Euridice und Caccinis Il rapimento di Cefalo mit. Vieles, was er schrieb und komponierte, ist im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen, einige seiner vor allem für Tenor und damit für ihn selbst komponierte Werke blieben erhalten, befinden sich so wie Arien, die von anderen Komponisten geschrieben wurden, auf der CD, die der Tenor Emiliano Gonzalez Toro gemeinsam mit seinem aus Viola, Harfe und Laute bestehendem Ensemble I Gemelli eingespielt hat. Der Schweizer ist vor allem als Konzertsänger bekannt, hat auch bereits viel Bach neben italienischen Barockkantaten gesungen, dürfte es jedoch auf der Opernbühne wegen der Begrenztheit seiner stimmlichen Mittel, was die Qualität des Timbres und die Tragfähigkeit der Stimme angeht, eher schwer haben. Auf dem Cover der Soleil Noir betitelten CD schaut er so finster, ja dämonisch drein, als wolle er dem Hörer weniger den poeta, compositore, cantante näherbringen als den assassino.

Kläglich klingt das „Ohimè“ aus Rasis Indarno Febo, während ansonsten eher Beiläufigkeit das Bestreben des Sängers zu sein scheint. Fast ausschließlich die Mittellage wird nicht nur bei Rasi verlangt, die der Tenor mit dem eindeutigen Bestreben einsetzt, recht instrumental zu wirken. Es gibt auch feine Ausformungen der Melodie wie auf Del Biados „vieni su l’ale dei zefiretti“, jedoch dominiert Verhuschtes, scheint beinahe Gestaltungsprinzip zu sein und führt zum Verschlucken vorzugsweise von Konsonanten, aber auch ganzen Silben oder kurzen Wörtern. Schön ist das gleichberechtigte Wirken von Stimme und Laute in Gaglianos Lamento, sanfte Freude wird durch Rasis O che felice giorno verbreitet, ein schnelleres Tempo tut der Stimme in Caccinis Dalla Porta dell’Oriente gut und empfindungsreich wird D’Indias Amico, hai vinto gestaltet. Zudem erfreut Monteverdis „Quel‘ sguardo“ durch ungewohnte Munterkeit, die auch Falconieris  E vivere e morire zumindest teilweise zuteil wird. Das Rätsel aber, warum die CD sich Soleil noir nennt und warum der Sänger so finster schaut, bleibt bis zum Schluss ungelöst (Naȉve V5473). Ingrid Wanja

40 Jahre ORFEO

 

Der 19. Juni 2020 markierte den Auftakt zum offiziellen 40-jährigen Jubiläum des Labels ORFEO International in den nächsten Monaten. Das einzigartige und hochwertige Label ORFEO hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten bei Kritikern und Sammlern einen exzellenten Ruf als Referenz für erstklassige historische Live-Mitschnitte aus Bayreuth, München, Salzburg und Wien, als Referenz für romantische und spätromantische Liedkunst und – nicht zuletzt – als innovative Talentschmiede für kommende Weltstars erworben.

Mit der Veröffentlichung der ersten von vier geplanten 10-CD-Jubiläumsboxen (535007) erinnert ORFEO an herausragende Aufnahmen legendärer Dirigenten im Katalog: Sir John Barbirolli, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, Ferenc Fricsay, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, Otto Klemperer, Hans Knappersbusch, Dimitri Mitropoulos und Wolfgang Sawallisch dirigieren Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Prokofjew, Schubert, Strauss, Vaughan-Williams und Tschaikowsky. Das Doppelalbum „40 Ultimate Recordings“ (534826)  fasst 40 Highlights der Label-Geschichte zu einem musikalischen Kaleidoskop auf zwei CDs zusammen.

 

Daniel Hauser hat ein Ohr in die Box mit den legendären Dirigenten geworfen:  ORFEO wird vierzig. Ein Grund zum Feiern nicht nur für das Münchner Label, sondern auch für Klassikfreunde. Mehrere Boxen sind hierzu geplant. Die erste, 10 CDs umfassende Box ist mit Legendary Conductors betitelt (Orfeo C200011). Insgesamt elf legendäre Dirigentenpersönlichkeiten wurden darin bedacht, was bedeutet, dass neun der Dirigenten jeweils eine CD bekamen und sich zwei eine einzelne Silberscheibe teilen müssen. Die Dirigentenwahl ist nachvollziehbar, auch wenn dieser und jener einen seiner Lieblinge vermissen wird. Eine Auswahl muss schließlich getroffen werden. Berücksichtigt wurden Aufnahmen der Jahre zwischen 1951 und 1991, also wiederum ein Zeitraum von vierzig Jahren. Interessant ist, dass Zweidrittel der ausgewählten Aufnahmen nur in Mono vorliegen, also die 1950er und frühen 1960er Jahre einen breiten Raum einnehmen. Die Kollektion wendet sich weniger an den Klang-Enthusiasten denn an den Bewunderer historischer Interpretationskunst. Tatsächlich entstand die älteste der enthaltenen Aufnahmen unter der Stabführung von Wilhelm Furtwängler: Bruckners vierte Sinfonie, die Romantische, mit den Wiener Philharmonikern, mitgeschnitten im Kongresssaal des Deutschen Museums in München am 29. Oktober 1951. Eine wahrlich romantische Lesart, die einem Bruckner-Bild verhaftet ist, das heute als überholt erscheinen mag, gleichwohl nach wie vor seine Berechtigung in der Bruckner-Aufführungsgeschichte besitzt. Es ist keine so extreme Lesart wie die legendären Mitschnitte von Bruckners Fünfter und Neunter aus dem Kriege und doch so grundverschieden von dem, wie der Meister von Sankt Florian heutzutage dargeboten wird. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 30. Oktober 1952, dirigierte Sergiu Celibidache im Wiener Konzerthaus ein Konzert der Wiener Symphoniker mit Les Préludes von Franz Liszt und Brahms‘ erster Sinfonie, das glücklicherweise ebenfalls festgehalten wurde. Celibidache, der Furtwängler am Pult der Berliner Philharmoniker zwischen 1945 und 1952 interimistisch vertrat, lässt bereits in diesen frühen Jahren ansatzweise seinen später essentiell gewordenen Ansatz erkennen, der sich durch breite Tempi auszeichnete, dauert die Liszt’sche Tondichtung bei ihm doch beinahe achtzehn Minuten. Anders als die Brahms-Sinfonie, die er später noch häufig dirigieren sollte, scheint er Les Préludes danach nicht mehr aufgeführt zu haben, was angesichts der Qualität der Interpretation schade ist. Überhaupt beweist diese Programmauswahl, dass das von den Nazis propagandistisch so ausgeschlachtete Werk bereits in den frühen 50er Jahren durchaus wieder im Konzert gegeben werden konnte und nicht einmal ein rumänischer Dirigent zwangsläufig Berührungsängste verspürte.

Wieder zwei Jahre später, am 9. Juli 1954, leitete der aus Griechenland stammende Dimitri Mitropoulos das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz mit der fünften Sinfonie von Sergei Prokofjew; eine spektakuläre Darbietung, die einzig klanglich eingeschränkt ist. Dies gilt leider auch für den Rundfunkmitschnitt vom 25. Juni 1955 aus dem Wiener Musikverein, als Herbert von Karajan Beethovens Neunte am Pult der Wiener Symphoniker in höchst prominenter Besetzung leitete. Das Solistenquartett setzte sich aus Lisa Della Casa, Hildegard Rössel-Majdan, Waldemar Kmentt und Otto Edelmann zusammen. Es sang zudem der von Karajan stets geschätzte, allerdings nicht immer auf höchstem Niveau agierende Wiener Singverein. Diese Aufnahme bietet einen spannenden Vergleich zur fast zeitgleich entstandenen Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra für EMI in London. Wiederum mit den Wiener Symphonikern ist Otto Klemperer in einem Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 8. März 1956 berücksichtigt worden, in welchem die von ihm so geliebte dritte Sinfonie von Brahms sowie die siebente Sinfonie von Beethoven gespielt wurden. Es handelt sich um ein Tondokument, das noch vor Klemperers schwerem Brandunfall entstand und ihn auf der uneingeschränkten Höhe seiner dirigentischen Vitalität zeigt und insgesamt spritziger daherkommt als die viel berühmteren Studioeinspielungen. Mit Hans Knappertsbusch wurde eine weitere Dirigentenlegende in der Box aufgenommen, die bis heute eher als Opern- denn als Konzertdirigent in Erinnerung geblieben ist. Wie einseitig solch eine Betrachtungsweise ist, zeigt sich anhand der inkludierten Mitschnitte zweier Beethoven-Werke, der Coriolian-Ouvertüre (17. Jänner 1954) sowie der Eroica (17. Februar 1962), wiederum aus dem Musikverein in Wien. Dieser monumentale Beethoven-Stil, der das Pathos zu einer Tugend erhebt, gemahnt an das späte 19. Jahrhundert. Den Abschluss der Mono-Aufnahmen bildet sodann ein am 24. November 1960 im Herkulessaal entstandener Live-Mitschnitt der Symphonie Pathétique von Tschaikowski mit dem BR-Symphonieorchester unter der Leitung des allzu früh verstorbenen Ferenc Fricsay. Dieser feurige Mitschnitt übertrifft in seiner Unmittelbarkeit gar die offizielle Studioeinspielung bei der Deutschen Grammophon. Die Stereo-Ära beginnt sodann mit einem in München selten gesehenen Gastdirigenten, Sir John Barbirolli, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hier, gesundheitlich bereits schwer angeschlagen, am 10. April 1970 abermals in der Münchner Residenz leitet, keine vier Monate vor seinem Ableben. Neben der sechsten Sinfonie seines Landsmannes Vaughan Williams brilliert er insbesondere in seiner liebevollen Interpretation der zweiten Sinfonie von Brahms, die eine lohnende Ergänzung darstellt zu seinem späten Zyklus der vier Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern für EMI. Der akustisch so gerühmte Herkulessaal in München kommt in der Box ein letztes Mal im dirigentischen Beitrag von Karl Böhm zum Zuge, der dort am 29. September 1973, wiederum mit dem BR-Orchester, Ein Heldenleben von Richard Strauss sowie Schuberts zweite Sinfonie aufführte. Gerade für Schuberts Jugendwerk, wohl die bedeutendste unter dessen frühen Sinfonien, hatte Böhm eine Schwäche, wie man aufgrund einiger weiterer Konzertmitschnitte weiß. Die Darbietung gelingt sodann auch tadellos mit wahrlich wienerischem Charme. Fast ein Jahrzehnt später, am 3. Mai 1982, wurde ein Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Carlos Kleiber im Münchner Nationaltheater mitgeschnitten, aus welchem in diesem Zusammenhang Beethovens vierte Sinfonie beigefügt wurde. Der jüngere Kleiber, der sich durch sein winziges Repertoire und seine Eigenwilligkeit schon zu Lebzeiten den Ruf eines Exzentrikers par excellence erarbeitet hatte, liebte Beethovens häufig unterschätzte Vierte hörbar, auch wenn man nüchtern hinzufügen sollte, dass der Nimbus der absoluten, alles andere in den Schatten stellenden „Überinterpretation“ reichlich übertrieben erscheint. Den Abschluss bildet schließlich eine Coproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk, die am 28. und 29. September 1990 sowie zwischen dem 18. und 20. März 1991 eingespielt wurde und Bruckners gewaltige fünfte Sinfonie zum Thema hatte. Abermals spielt hier das Bayerische Staatsorchester, diesmal allerdings unter der musikalischen Leitung des langjährigen Bayerischen Generalmusikdirektors Wolfgang Sawallisch. Aus unerfindlichen Gründen wurde dieser nie so recht für seinen Bruckner berühmt, doch stellte jüngst der ob seiner apodiktischen Urteile zuweilen gefürchtete amerikanische Kritiker David Hurwitz genau diese Aufnahme an die Spitze der Diskographie. Das mag angesichts der hochkarätigen Konkurrenz sehr hinterfragbar sein, doch besitzt diese Aufnahme tatsächlich höchste Qualität sowohl in künstlerischer als auch in klanglicher Hinsicht und bildet damit eine gelungene Krönung der Jubiläumsedition. All diese hier versammelten Aufnahmen sind übrigens zuvor bereits einzeln erschienen, teils freilich in anderer Kombination. Orfeo ist die Gesamtauswahl insgesamt ausgezeichnet geglückt, auch wenn der Fokus sehr eindeutig auf München und Wien liegt. Die wertige Aufmachung und der kundige Einführungstext von Jens F. Laurson tun ihr Übriges, eine volle Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Claude Heater

 

Der amerikanische Tenor Claude Heater, der am 28.  Mai  2020 im Alter von 92 Jahren starb, gehörte während meines Opernerlebens zu den schönsten Männern auf der Bühne. Er toppte für mich (und viele andere) sogar noch Siegfried Jerusalem (als Lohengrin zum Beispiel) oder Peter Seiffert oder Jonas Kaufmann. Claude Heaters Tristan damals in Hannover  (und in der Rolle 1969 auch auf Melodram nachzuhören)  ist eine der unvergesslichen Erinnerungen für mich, später auch in Berlin als Siegmund. Als Tristan ist er in einem abendfüllenden Film neben Jacqueline van Quaille aus Brüssel dokumentiert (youtube hat Ausschnitte davon) und ebenfalls in (nur erhaltenen) Ausschnitten beim französischen Fernsehen neben Hannelore Kuhse konzertant (ORTF). Er bedient(e) das Auge in hocherotischer Weise, und das in einem Fach, das sich sonst nicht gerade durch die optische Attraktivität der Tenöre auszeichnet (de gustibus). Berlins DOB profitierten wie andere Häuser von der physischen Anziehungskraft dieses stupenden jungen Mannes, dessen Karriere leider nicht seinen optischen Qualitäten standhielt. Denn nach einem internationalen Strohfeuer verglomm sein Ruhm rasch. Die Stimme hielt nicht. Aus Tristan wurde Melot (so auf Böhms Bayreuther Tristan bei DG), aber ganz sicher stahl er auch in dieser kleinen Partie seinem berühmten Protagonisten die Schau. G. H.

 

 Dazu ein Auszug aus dem unersetzlichen Kutsch-Riemens Großem Sängerlexikon: Heater, Claude, Tenor, * 1930 Oakland (Kalifornien); nach seinem Militärdienst wurde er Platzanweiser in einem Theater in Los Angeles, ließ jedoch während dieser Zeit seine Stimme ausbilden. 1954 debütierte er in den USA als Bariton im Konzertsaal und trat bereits am New Yorker Broadway in Musicals, außerdem im amerikanischen Rundfunk wie im Fernsehen, auf. Mitte der fünfziger Jahre kam er nach Europa und sang als Bariton 1956-57 am Stadttheater von Basel, 1957-59 an der Städtischen Oper Berlin und 1959-61 an der Wiener Staatsoper. Nachdem er erkannt hatte, daß er eigentlich eine Tenorstimme besaß, studierte er nochmals bei zwei berühmten Tenören, in Mailand bei Mario del Monaco und in München bei Max Lorenz. 1964-68 war er dann als Heldentenor Mitglied der Staatsoper München. Er hatte dort ein sehr erfolgreiches Debüt in der zeitgenössischen Oper »König Hirsch« von H.W. Henze. Er kam dann vor allem als Wagner-Sänger zu großen Erfolgen. Er trat als Gast in Amsterdam und Brüssel, an den Staatsopern von Hamburg und Stuttgart, an der Deutschen Oper Berlin und an der Mailänder Scala auf. Er gastierte auch an der Staatsoper Dresden (1968), beim Festival von Spoleto (1968 als Tristan), am Teatro Liceo Barcelona (1968-69), an der Oper von Bordeaux (1969-70), am Grand Théâtre Genf (1969), an der Nationaloper  Budapest (1970) und am Teatro Fenice Venedig (1970). 1966 hörte man ihn bei den Festspielen von Bayreuth als Siegmund in der »Walküre« und als Melot im »Tristan«. Neben seinen Wagner-Heroen standen Partien wie der Othello von Verdi, der Samson in »Samson et Dalila« von Saint-Saëns, und der Florestan im »Fidelio« an erster Stelle in seinem Bühnenrepertoire. Aus seinem Bariton-Repertoire für die Bühne vom Anfang seiner Karriere sind noch Partien wie der Escamillo in »Carmen«, der Germont-père in »La Traviata«, der Sharpless in »Madame Butterfly« und der Silvio im »Bajazzo« anzumerken. Der Künstler lebte in München und ging von dort aus seiner Gastspiel- und Konzerttätigkeit nach, die ihm in Europa, in Nord- und Südamerika wie auch in Afrika anhaltende Erfolge eintrug.

Schallplatten: Frühe Aufnahmen als Bariton auf HMV (Conte Cornaro im »Zigeunerbaron«). Als Tenor singt er auf Melodram den Melot im »Tristan« (Bayreuth, 1966).

[Nachtrag] Heater, Claude; an der Oper von Frankfurt a.M. sang er u.a. 1961 den Enrico in »Lucia di Lammermoor« als Partner von Joan Sutherland. An der Deutschen Oper Berlin hörte man ihn 1957 als Melot im »Tristan«. Anscheinend war seine Karriere früh beendet, nach 1971 finden sich keine Auftritte. mehr an größeren Opernhäusern. – Schallplatten: DGG (»Mord in der Kathedrale« von I. Pizzetti). [Lexikon: Heater, Claude. Großes Sängerlexikon, S. 10408; (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 364-365) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto: Claude Heater/ www.claudeheater.com)

Zum 450. Geburtstag

 

Die große Geburtstagsfeier, falls eine solche vorgesehen war, dürfte ausgefallen sein, ein schönes Geburtstagsgeschenk zum 450. hat  die Staatskapelle Berlin nicht nur sich selbst, sondern auch ihren vielen Freunden gemacht mit einer CD-Kassette mit nicht weniger als 15 CDs, Aufnahmen von 1916, der ersten Aufzeichnung, bis zum heutigen Tage enthaltend. Einige von ihnen wurden bisher noch nie veröffentlicht. Aus dem Jahre 1570 stammt der erste Beleg für das Bestehen des Orchesters,  eine Kapellordung, die einige für das Ansehen des Orchesters wichtig erscheinende „Benimmregeln“ enthielt. Chronologisch geordnet, sind die Generalmusikdirektoren der Staatskapelle vertreten, beginnend mit Richard Strauss, gefolgt von Leo Blech, Otto Klemperer, Erich Kleiber, Herbert von Karajan, Wilhelm Furtwängler, Joseph Keilberth, Franz Konwitschny, Otmar Suitner und schließlich Daniel Barenboim. Dazu kommen dem Orchester besonders verbundene Dirigenten wie Sergiu Celibidache, Pierre Boulez, Michael Gielen, Zubin Mehta und auf der Bonus-CD vor allem Komponisten, die ihre Werke an der Staatsoper dirigierten, nämlich  Mascagni mit der Sinfonia zu Le Maschere und Pfitzner mit Palestrina, außerdem Max von Schillings, Karl Muck, Selmar Meyrowitz, Robert Heger, Johannes Schüler Paul van Kempen.

Obwohl die Staatskapelle das Orchester der Lindenoper ist, sind Opernaufnahmen eher wenig vertreten, ja eher die Ausnahme. Dazu gehören Auszüge aus dem Ring, dirigiert von Leo Blech mit Friedrich Schorr als Wotan. Kurt Weills Dreigroschenoper hingegen ist nur in Form einer Suite vertreten. Karajan dirigiert zwar Oper, aber nur die Ouvertüren zu Die  Zauberflöte und La Forza del Destino. Von Furtwängler ist der zweite Akt von Tristan auf CD Nr. 6 mit Erna Schlüter, Ludwig Suthaus, Gottlob Frick, Margarete Klose und Jaro Prohaska zu hören, kurz nach dem Entnazifizierungsprozess, durch Intrigen besonders nervenaufreibend gestaltet, entstanden. Man meint die lange zwangsweise aufgestaute Energie sich in dieser Aufnahme entladen zu hören. Leider noch auf Deutsch, aber doch nicht minder eindringlich gestaltet ist Verdis Macbeth unter Keilberth mit Martha Mödl und Josef Metternich. Mit Franz Konwitschny sind Auszüge aus den Meistersingern überliefert. Den ersten Akt singen Josef Herrmann , Theo Adam, Erich Witte, Gerhard Unger, Ruth Keplinger und Anneliese Müller.

Das umfangreiche und informationsreiche Booklet wurde vom Dramaturgen des Hauses, Detlef Giese, zweisprachig, in Deutsch und Englisch, gestaltet. In 450 Jahre Staatskapelle Berlin- Eine Chronik werden alle wichtigen und auch überlieferten Ereignisse, die das Orchester betreffen, berücksichtigt, beginnend mit 1570 und endend mit 2020, als noch nicht abzusehen war, dass die zu Ostern stattfindenden Festtage wegen der Corona-Krise nicht das vorgesehene und hier noch erwähnte Programm bieten konnten. Auch Daniel Barenboim konnte in seinem Grußwort noch nicht ahnen, dass einmal nicht ein Musiker, sondern eine Epidemie Staatskapellen-Geschichte schreiben sollte.

Ebenso wertvoll für den Leser ist der Aufsatz Die Staatskapelle Berlin und ihre großen Dirigenten, ebenfalls von Detlef Giese verfasst. Er verweist auf die Musiker, die in ihrer Eigenschaft als Dirigenten keine Zeugnisse ihres Schaffens hinterlassen konnten wie Gaspare Spontini, Felix Mendelssohn-Bartoldy, Giacomo Meyerbeer, Otto Nicolai, Joseph Sucher u.a., auf die mehrere Tausend Aufzeichnungen ab 1916 und widmet sich den auf den CDs vertretenen Aufnahmen. So erfährt man, dass der in Till Eulenspiegels lustige Streiche mitwirkende Enrico Mainardi Strauss‘ Lieblingscellist war,  Leo Blech mehr als 2500 Aufführungen bzw. Konzerte leitete, 700  Mal bei Carmen am Dirigentenpult stand. Die von ihm dirigierte Sinfonia zu Figaros Hochzeit stammt von 1916 und dürfte zu den ältesten Aufnahmen überhaupt für Schallplatte zählen. Eng mit der gegenüber dem Reichstag stehenden Krolloper, die nach dem Brand des Parlaments dieses ersetzen musste, ist die Karriere von Otto Klemperer verbunden, hier brachte er die Kleine Dreigroschenmusik zur Uraufführung. Erich Kleiber ist die Uraufführung von Bergs Wozzeck zu verdanken und eine aufrechte Haltung, die ihn auf den Posten des Generalmusikdirektors verzichten ließ, weil die wieder aufgebaute Staatsoper in der DDR nicht die Inschrift „Fridericus Rex Apollini et Musis“ tragen sollte. Von ihm sind Beethoven, Smetana und Dvorak zu hören. Das viel diskutierte „Wunder Karajan“ nahm seinen Anfang mit Tristan und Isolde, Beethoven und Bruckner sind nebst den beiden bereits erwähnten Ouvertüren zu hören. Von Furtwängler war bereits die Rede, Joseph Keilberth hat den Macbeth mit Mödl und Metternich zu verantworten, Franz Konwitschny, trotz oder vielleicht wegen Nazibelastung zum Einspringen für Kleiber bereit, ist der erste Akt der Meistersinger zu verdanken, Celibidache hat nur drei Konzerte mit der Staatskapelle bestritten, Dvorak, Hindemith und Brahms standen auf dem Programm, das aufgezeichnet wurde, mehr als ein Vierteljahrhundert lang stand Otmar Suitner im Orchestergraben, Dessau, Reger und Schubert beweisen, dass er nicht nur Operndirigent war.

Seit 1991 steht Daniel Barenboim der Staatskapelle vor, seit 2000 als Chefdirigent auf Lebenszeit. Aus dem Bruckner-Zyklus von 2010 stammt die Aufnahme der 5. Sinfonie.

Gerade in Corona-Zeiten, in denen der Genuss von Opernaufführungen und Konzerten in den großen Häusern unmöglich geworden ist, bietet dieses Geburtstagsgeschenk der Staatskapelle die Möglichkeit, in Erinnerungen zu schwelgen und Vorfreude auf zukünftige Musikfreuden aufflackern zu lassen (Deutsche Grammophon 15 CD   483 7887). Ingrid Wanja      

Verschachtelte Gefühle

 

Populär sind die alljährlich stattfindenden Aufführungen bekannter Opern auf der Seebühne von Bregenz, verdienstvoll die Wiederentdeckungen oder Uraufführungen an Land, im Jahre 2018 die der Kammeroper Das Jagdgewehr von Thomas Larcher nach einer Novelle des Japaners Yasushi Inoui. Es ist dies seine erste Opernkomposition und zugleich die erste Opernregie von Karl Markovics. So wie die Novelle eine Rahmenhandlung hat, so findet das Bühnengeschehen innerhalb eines weißen Rahmens statt, aus dem sich die Personen in Richtung Publikum und Orchester hinausbewegen oder in dem sie sich immer weiter in den Hintergrund hinein verlieren können (Bühnenbild und Kostüme Katharina Wöppermann). Ein breites weißes Band kann mal schneeverwehte Straße, mal Wasserfall oder Fluss darstellen. Den Video-Hintergrund kann abwechselnd Schneelandschaft, Meer oder in Bewegung befindliches Baumgeflecht sein.

Die Rahmenhandlung besteht darin, dass ein Schriftsteller, der ein Gedicht über einen Jäger und sein Jagdgewehr geschrieben und veröffentlicht hat, von einem solchen, der sich darin zu erkennen glaubte, drei Briefe empfängt, je einen von des Jägers Frau, seiner Geliebten und deren Tochter, die zugleich des Jägers  Nichte ist.  Der Dichter tritt zu Beginn in einem Prolog, zu Beginn des ersten Akts und zum Schluss auf, Robin Tritschler verleiht ihm mit guter Diktion und einem höhensicheren  Tenor viel Präsenz, seine Musik erinnert teilweise an romantisches Liedgut, das von den Schlagzeugern des kleinen Orchesters eher harsch konterkariert wird.

Nachdem der Dichter die drei Briefe von dem Jäger Josuke Misugi empfangen hat, beginnt die Handlung an ihrem eigentlichen Schluss, nachdem Misugis Geliebte Saiko Selbstmord nach einer langen, dreizehn Jahre gedauert habenden Beziehung mit ihm begangen hat, seltsamerweise, nachdem sie erfahren hat, dass ihr ehemaliger, geschiedener Mann sich wieder verheiratet hat. Davon erfahrt man allerdings erst im dritten Akt, der zeitlich vor dem ersten liegt, der zweite wiederum spielt sowohl vor dem ersten wie vor dem dritten Akt,  Jahre nachdem sich Saiko und Misugi angesichts eines brennenden Schiffes, auf der Bühne ein kleines gefaltetes Boot aus Papier, der Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe bewusst wurden, wohl bei einer Schlangenausstellung, treffen sich die Liebenden noch einmal, ordnen die verschiedenen Ausstellungsexemplare ihren Persönlichkeiten zu. Als dritte Frau spielt Misugis Frau Midori eine tragende Rolle. Sie schweigt zu dem Ehebruch ihres Mannes, teilt ihrer Nebenbuhlerin erst im dritten Akt ihr Wissen mit und verzeiht ihr gleichzeitig. Sowohl das Nichteinhalten einer Chronologie wie die seltsamen Motive für das Handeln der Personen machen es dem Zuschauer nicht leicht, Zugang zu dem Werk zu finden, obwohl die Musik trotz der übermäßig auch bei simplen Wendungen wie „eine Krawatte dazu“ angewandten Intervallsprünge und der Extremhöhen für die Soprane eine eingängige ist, was besonders auch der Verdoppelung der Solisten durch einen kleinen Chor, der klangschönen Schola Heidelberg unter Walter Nussbaum, zu verdanken ist. Für die Solisten wechseln Zeitlupenhaftes, Abgehacktes, Pausen zwischen den einzelnen Silben und damit Tönen einander ab. Das Werk ist eher ein Meditieren über Gefühle, als dass es eine Handlung sich vollziehen lässt. Ohne hilfreiches Booklet wäre der Zuschauer ziemlich ratlos.

Nicht beschweren kann sich der Bariton André Schuen über seine Partie, die des Jägers, die ihm einige Möglichkeiten gibt, das schöne, geschmeidige Material auszustellen. Ensemblemitglied der Staatsoper Berlin ist Sarah Aristidou, deren Sopran auch noch in erstaunlicher Höhe erstaunlich gut klingt und die den wohl höchsten Schmerzensschrei aller Opernzeiten auszustoßen hat. Das ihr auch dreizehn Jahre nach ihrem ersten Auftritt verordnete Kinder-Hängerkleidchen samt Netzstrümpfen übersieht man da gern. Ebenfalls sehr hoch notiert ist die Partie der Gattin namens Midori, der Giulia Peri auch viel szenische Präsenz verleiht, gerade wenn sie ihre Gefühle hinter einer Sonnenbrille zu verstecken scheint. Schöne Verzierungen mit einer höchst angenehmen Mezzostimme auch in der Höhe singt   Olivia Vermeulen als Geliebte Saiko. Michael Boder setzt seine reiche Erfahrung auch mit moderner Musik ein und macht aus den scheinbaren Gegensätzen von harmonisch Tonalem und scharf damit konkurrierenden Schlagzeugschlägen ein stimmiges Ganzes (C-Major 754208/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja 

 

 

auf dem Weg zum Melodramma romantico

 

Franz Hauk ist ein Pionier in der Pflege des musikalischen Erbes von Johann Simon Mayr. Immer wieder überrascht er mit Neuentdeckungen und Ausgrabungen aus der Feder des deutschen Komponisten, die dann von NAXOS als CD veröffentlicht werden. Jüngste Tat ist die Opera semiseria Le due duchesse ossia La caccia dei lupi, aufgenommen im September 2017 im bayerischen Neuburg an der Donau (8.660422-23, 2 CD). Das Libretto stammt von Felice Romani, dem berühmtesten Textdichter der Zeit, dessen Vorlagen von Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi und anderen renommierten Komponisten vertont wurden. Schon Mayrs vorangegangene Oper Medea in Corinto, die als sein Hauptwerk gilt, stammte aus Romanis Feder.

Die Handlung führt ins mittelalterliche England im 10. Jahrhundert in das Reich von König Edgar. Der Herrscher beauftragt Herzog Enrico, in seinem Auftrag um die Hand der Gräfin Malvina anzuhalten. Diese gefällt dem Herzog allerdings selbst so sehr, dass er sie heiratet und dem König weismacht, sie sei zu hässlich für ihn. Statt Malvina wird deren Kammerzofe Laura Edgar angedient, die ihrerseits mit dem Jägerhauptmann Berto verlobt ist. Seine Ehefrau hält Enrico zunächst geheim, was freilich nicht lange funktioniert, womit die tragikomischen Verwicklungen beginnen. Denn bei dem 1814 an der Mailänder Scala uraufgeführten Werk handelt es sich um eine semiseria – also eine Oper mit ernsten und heiteren Elementen. Dem entspricht Mayrs Musik mit ihren Arien und Ensembles, mit Ritterchören und Troubadour-Gesängen. Mit dem Concerto de Bassus, das sich aus Professoren und Absolventen der Hochschule für Musik und Theater München zusammensetzt und auf historischen Instrumenten musiziert, verhilft Hauk der Komposition zu sprühendem Leben, wird ihrem hybriden Charakter zwischen buffoneskem Duktus und lyrisch-ernster Stimmung jederzeit gerecht.

Der vom Dirigenten 2003 gegründete Simon Mayr Chorus kommt in mehreren Nummern als Donzelle, Cacciatori und Vassalli zum Einsatz, wirkt oft auch mit Gewinn bei den Arien der Protagonisten mit.

Die Besetzung wird angeführt von der südkoreanischen Sopranistin Eun-Hye Choi als Malvina mit klarer, obertonreicher Stimme. In der von Harfenklängen zauberisch umspielten Sortita vermag sie Malvinas melancholische Stimmung berührend wiederzugeben. Dagegen irritiert bei ihrem letzten Solo, „Deh! Per quel dolce oggetto“, der säuerliche Ton, der sich erst im emphatischen Schluss der Nummer verliert. Ihr erstes Duett hat Malvina mit Enrico, dem Markus Schäfer seinen nicht mehr ganz jugendlich klingenden Tenor leiht. Auch König Edgar ist ein Tenor, bei der Uraufführung immerhin vom Startenor Giovanni David kreiert. Young-Jun Ahn, gleichfalls aus Süd-Korea, wartet mit noblem Timbre fern jeder buffonesken Anmutung auf, klingt in der exponierten Lage allerdings angestrengt, wie es der Schlussteil seiner Arie hören lässt. Malvina hat auch ein Duett mit ihrem Vater Loredano („Morte!“), den der Bass Jaegyeong Jo souverän wahrnimmt. Sein Diener Guglielmo ist gleichfalls ein Bass (Niklas Mallmann).

Das zweite Paar bringt die munteren buffa-Elemente ein. Laura übt sich im ersten Auftritt („Passò quel tempo“) in ihrer neuen Rolle als Gattin des Königs in spe und weist ihren Verlobten Berto scheinbar zurück, was diesen verständlicherweise eifersüchtig macht. Die Sopranistin Tina Marie Herbert gefällt mit liebenswürdigem Ton und erweist sich auch als souverän in den virtuosen Verzierungen dieser Nummer. Samuel Hasselhorn mit seinem geschmeidigen und höhenstarken Spielbariton passt zu ihr ideal, wie man auch in beider Duett „Un marito cacciatore“, welches am Ende zu ausgelassenem Koloraturjubel führt, vernehmen kann. In heiterer Munterkeit endet das Werk, dessen lohnende Wiederentdeckung Franz Hauk und seinem Team zu danken ist. Und mehr als lesenswert ist der kluge Einführungstext von Thomas Lindner. Bernd Hoppe

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Sich um Nuancen und Farben bemühen

 

Die renommierte Sängerin Margarita Gritskova und ihre Pianistin Maria Prinz, die auch als Solistin auf sehr erfolgreiche Auftritte verweisen kann,  haben gerade ihr Naxos-Album „Songs and Romances“ mit Liedern von Sergej Prokofiew heraus gebracht – Anlass zu einem Doppel-Gespräch mit René Brinkmann.

 

Frau Gritskova und Frau Prinz: Sergej Prokofjew ist einer der bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Als Komponist von Liedern ist er aber zumindest in Mitteleuropa kaum bekannt. Ist denn auch in Russland eine Vernachlässigung der Prokofjew-Lieder feststellbar oder ist das vor allem ein außerrussisches Phänomen und dann vielleicht vor allem der Sprachbarriere geschuldet? Das Lied hat im Schaffen Prokofjews keine zentrale Rolle, obwohl gerade in diesem Genre manch fantastische Juwelen zu finden sind und Prokofjew durch die Arbeit an dieser Gattung an den lyrischen Qualitäten seiner Kompositionstechnik feilen konnte. Auch in Russland werden die Lieder nicht so oft aufgeführt, wie Klavier- oder Orchesterwerke von Prokofjew oder Lieder der russischen „Klassiker“ – Tschaikowski und Rachmaninow. Fast unbekannt sind diese Lieder außerhalb Russlands, sicher auch wegen der Sprachbarriere. Aber die Musik gibt so genau den Sinn der Poesie wieder, emotional und inhaltlich, dass man sehr wohl spürt und versteht, worum es sich dreht, wenn man sich offenen Herzens auf diese Lieder einlässt. Es hilft natürlich, dass Naxos dankenswerterweise die Texte in englischer und deutscher Übersetzung im Booklet und Online zur Verfügung stellt.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Frau Gritskova: Sie sind auch als Opernsängerin tätig. Haben Sie „Ihren“ von den Opern gewohnten Prokofjew in seinen Liedern gleich wiedererkannt oder mussten Sie sich erst einmal eingewöhnen? Und wie ist es auf Ihrer Seite überhaupt zu dem Plan gekommen, diese eher selten eingespielten Lieder für Naxos aufzunehmen? Die musikalische Sprache Prokofjews ist in allen seiner Werke unverwechselbar und sofort wiedererkennbar, aber bei den Liedern malt sein Pinsel noch feiner und genauer, und man muss sich als Interpret um die Nuance und Farbe jeder auch noch so kurzen Phrase bemühen.

Die Idee mit Naxos zusammenzuarbeiten, kam von der Pianistin Maria Prinz, die schon mit dem Flötisten Patrick Gallois und mit der wunderbaren Sängerin Krassimira Stoyanova für Naxos aufgenommen hatte und von der Arbeit mit diesem Label begeistert war. Unsere erste Produktion begann mit eher traditionellem Repertoire – Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und Rachmaninow (Russian Songs, Naxos 8.573908). Wir sind dem Label sehr dankbar, dass wir jetzt die Chance bekommen haben, selten gespieltes Repertoire, eben Prokofjew und als Nächstes Schostakowitsch (Veröffentlichung geplant für Oktober 2020) aufzunehmen. Dieses Repertoire liegt uns besonders am Herzen und eröffnet uns noch mehr die Möglichkeit, interpretatorisch eigene Wege zu gehen.

 

Frau Prinz, es fällt auf, dass Prokofjew viele der Lieder auf dem Album komponierte, nachdem er große, opulente Opernprojekte vollendet hatte. In diesem Zusammenhang verblüffte zumindest mich die anscheinend häufig auf das allerwesentlichste reduzierte Klavierbegleitung der ausgewählten Lieder, die aber gerade dadurch eine sehr eindringliche Wirkung entfalten. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für Sie als Pianistin? Die Klavierbegleitung ist zwar in vielen Fällen lakonisch, dafür aber harmonisch sehr kompliziert und, wie allgemein beim Klaviersatz bei Prokofjew grifftechnisch weit angelegt und alles andere als bequem. Der Komponist war selber ein fantastischer Pianist mit großen Händen.

Eine ganz wichtige Rolle spielt die Klavierbegleitung beim Kreieren der Atmosphäre und beim Kommentieren des Unausgesprochenen im Text. Wie immer beim Musizieren mit Sängern sehe ich meine Aufgabe auch darin, mich von der Klangfarbe der Stimme inspirieren zu lassen und dann mit eigenen Farben und Akzenten die erzählte Geschichte abzurunden, zu kommentieren, weiterzuerzählen oder sogar zu hinterfragen. Es kommt mir dabei zugute, dass ich Russisch spreche, weil ich den Text im Original wirklich in allen Nuancen verstehen kann.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Frau Prinz: Nun ist gerade der frühe Prokofjew insbesondere durch seine ersten drei Klavierkonzerte beim breiten Publikum als ein sehr brillanter, virtuoser Klavierkomponist bekannt. Nun lernt man ihn in diesen Liedern von einer ganz anderen Seite kennen. Ist dieser betont lyrische Blickwinkel denn repräsentativ für den Liedkomponisten Prokofjew oder gibt es auch im Liedfach den brillanten, virtuosen Prokofjew, den wir auf diesem Album wegen der gewählten Themenstellung nur nicht zu hören bekommen? Wie Frau Gritskova bereits erwähnt hat, und wie Wilhelm Sinkovicz in seinem Beitrag im Booklet betont, lernt man durch die Lieder den Melodiker Prokofjew kennen. Das ist durchaus für sein gesamtes Liedschaffen charakteristisch. Wobei immer wieder sehr virtuose Passagen (wie z.B im „Hässlichen Entlein“ oder in „Grüß Dich“, das vierte von den fünf Liedern nach Texten von Achmatova op.27, „Das graue Kleidchen“ op.23 oder „Denke an mich“ op.36 Nr.4) vorkommen und an die Brillanz und Urkraft seiner Klavierwerke denken lassen.

 

Als ich mir das Album angehört habe, hatte ich den Eindruck, dass Prokofjew schon sehr früh einen individuellen Lied-Stil verfolgt hat, der sich kaum in Reverenzen auf z.B. die sehr einflussreiche deutsche Liedtradition bemerkbar macht. Doch vermeint man bereits Anklänge an die französische Liedtradition zu vernehmen – Liegt darin etwa schon eine gedankliche Annäherung des Komponisten an das wenig später angetretene Exil in Paris? Einen französischen Einfluss kann man sehr wohl orten, z.B. im impressionistisch anmutenden Lied „Vertraue mir“ op.23 Nr.3, in manchen der Lieder nach Texten von Achmatova oder in „Denke an mich!“. Das mag nicht nur an der Tatsache liegen, dass es ihn nach Paris gezogen hat, sondern vielleicht auch im Charakter des Komponisten, dem Eleganz, Leichtigkeit und eine gewisse Distanziertheit immer wichtig waren.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Der späte Prokofjew wird auf dem Album mit Liedern für Kinder, Volkslied-Bearbeitungen und Liedversionen von Arien aus Oratorien gewürdigt. Das erscheint zum Teil etwas brav im Vergleich zu den emotional aufgeladenen frühen Liedern. Hat es das Liedfach mit seiner Verknüpfung von Text und Musik dem Komponisten zunehmend schwergemacht in einer Zeit, in der Stalins „Kulturpolitik“ eine ideelle Gleichschaltung im Sinn hatte? Genauso ist es! Wie wir wissen, ist Prokofjew freiwillig und vermutlich etwas blauäugig im Jahr 1936 in die Sowjetunion zurückgekehrt und starb am 5.3.1953, am selben Tag wie Stalin.

Einen Einschnitt im Verhältnis der Macht dem kompositorischen Schaffen, nicht nur von Prokofjew, sondern auch von Schostakowitsch gegenüber, bildet die Resolution des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom 10.2.1948 gegen „bürgerliche Dekadenz und Modernismus“, der jahrelange Angriffe gegen Formalisten, Reaktionäre (unter ihnen auch Anna Achmatova) vorausgegangen waren und die alles, was nicht volksnah, einfach gestrickt und ideologisch konform war, gebrandmarkt hat und die Komponisten zu „Volksfeinden“ ernannt hat. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Prokofjew, der sich übrigens nie durch Exponieren als Widersacher der Macht ausgezeichnet hat, sich diesem Trend – zumindest in einem Genre, das nicht zu den repräsentativsten seines Schaffens gehört – wohl gebeugt hat.

Trotzdem ist der Inhalt mancher Lieder durchaus scharf ironisierend zu verstehen, wie z.B. in „Anjutka“. Im Text heißt es, dass jede Putzfrau, wenn sie sich nur bildet und genug Bücher liest, auch das Land regieren könnte. Diese Ironie findet ihren Ausdruck auch in der Musik dieses Liedes.

 

Ihr beider nächstes Projekt wird ein Schostakowitsch-Liedalbum werden. Wenn Sie die Liedkompositionen der beiden vergleichen, Prokofjew und Schostakowitsch: Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Wie wir wissen sind Schostakowitsch und Prokofjew Zeitgenossen, obwohl Schostakowitsch Prokofjew um mehr als 20 Jahre überlebt hat und dadurch in seiner letzten Schaffensperiode einer ganz anderen Wirklichkeit gegenüberstand. Trotzdem könnten beide vom Wesen, von ihrer Einstellung zum Leben und zur Kunst her, nicht unterschiedlicher sein. Ohne Zweifel ist Schostakowitsch der „russischere“, der introvertiertere, der verletzlichere von beiden gewesen. Und das hat sich auch in seinem Liedschaffen manifestiert. Wie in allen Belangen, hat sich Schostakowitsch mit einer missionarischen Ernsthaftigkeit und Hingabe auch mit der Gattung Lied beschäftigt und sich ganz bewusst von verschiedenen Kulturkreisen inspirieren lassen. Davon zeugen seine Zyklen „Griechische Lieder“, „Spanische Lieder“ und „Jüdische Lieder“. Der Stil ist bei beiden Komponisten unverwechselbar individuell, originell und zeitgemäß auf unterschiedliche Art und Weise. Beide verbindet die Auswahl wertvoller avantgardistischer Poesie (bei Prokofjew z.B. von Anna Achmatova, bei Schostakowitsch von Marina Tswetajewa) und auch ein gewisser Hang zu Ironie und Satire, die sich aber bei beiden in verschiedener Gestalt offenbaren.

 

Abschließend noch ein Wort zur aktuellen Lage des Kulturbetriebs: Sie, Frau Gritskova, haben vor wenigen Wochen an der Operngala der deutschen AIDS-Stiftung teilgenommen, die aufgrund der Coronabeschränkungen zum digitalen Event umgeformt wurde und zu der die beteiligten Künstlerinnen und Künstler Beiträge in Form kleiner Heim-Konzerte sozusagen aus dem heimischen Wohnzimmer beigetragen haben. Wie haben Sie diese ungewöhnliche Situation erlebt? Es ist natürlich für mich genauso schwer und traurig, wie für alle Kolleginnen und Kollegen. Der Lockdown ist kurz vor der Wiederaufnahme von „Tri sestri“ von Peter Eötvös an der Wiener Staatsoper gekommen, auf die ich mich so gefreut hatte. Das Gala-Konzert des jungen Ensembles der Wiener Staatsoper zum Abschied der Ära von Dominique Meyer und auch mein Rollendebut als Preziosilla in „Macht des Schicksals“ beim Opernfestival in Klosterneuburg sind Corona zum Opfer gefallen.

Größere Veranstaltungen zur Präsentation unserer Prokofjew CD sind nun nicht möglich, umso mehr freuen wir uns, dass die österreichische Opernzeitschrift „Der neue Merker“ uns die Gelegenheit bietet, das Album im kleinen Rahmen der „Merker-Galerie“ mit wenigstens einem kleinen Live-Konzert vorzustellen.

Jetzt sind alle Hoffnungen auf den Herbst gerichtet und darauf, wie die Operntheater und die Konzertveranstalter mit kreativen Lösungen einen beinahe normalen Betrieb ermöglichen.

Wir brauchen die Bühne, wir brauchen unser Publikum und können es kaum erwarten unseren Beruf wieder ausüben zu dürfen und unsere Berufung im Dienst der Kunst auszuleben!  René Brinkmann

 

(Margarita Gritskova & Maria Prinz/ alle FotoS Michael Poehn. Weitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Opernparaphrasen

 

Die Herzogin benutzt Patou, genauer den 1929 von Jean Patou kreierten Duft „Joy“, mit dem der Pariser Modeschöpfer der durch den Börsencrash ausgelösten Depression ein Zeichen der Freude in Form einer Duftwolke entgegensetzen wollte. Der als teuerstes Parfum der Welt aus Blütenessenzen gemischte Duft war das Lieblingsparfum der Duchess of Argyll, deren skandalöser Lebenswandel die britische Boulevardpresse bis zu aufsehenerregenden Scheidungsprozess in den 1960er Jahren, nachdem sie die feine Gesellschaft verstoßen hatte, und ihrem Tod in Armut 1993 beschäftigte. Die 1995 uraufgeführte, bis heute mehrfach gespielte Kammeroper Powder Her Face über das Leben der Dirty Duchess machte den 24jährigen Komponisten, Dirigenten und Pianisten Thomas Adès auf einen Schlag berühmt. Den Erfolg wiederholte er in dem umjubelten The Tempest nach Shakespeare 2004 an Covent Garden und dem noch nicht ganz so vielgereisten Würgeengel (The Exterminating Angel nach Bunuel) 2016 in Salzburg. Zwei dieser Opern stehen auf dem Programm der im Juli 2018 in Tanglewood und im März 2019 in Boston eingespielten Werke für zwei Klaviere, Soloklavier und Orchester und Klavier (CD MYR027) mit dem Tanglewood Music Center Orchestra, Adès als Dirigent und Pianist und dem Pianisten Kirill Gerstein.

Mit den vier Sätzen der Concert Paraphrase on Powder Her Face kehrt Adès quasi zu seinen Anfängen zurück. Zusammen mit Gerstein spitzt er die grotesken, ironischen und skurrilen Szenen, laut Adès die Schilderung einer nicht mehr ganz taufrischen Herzogin am Ende des 20. Jahrhunderts und am Ende der Einflussnahe des britischen Adels zu virtuosen Momentaufnahmen zu, in deren Überhitztheit auch Momente der Verzweiflung aufscheinen und mit denen er die Kunst der Opernparaphrase vom 19. ins 21. Jahrhundert rettet. Zuerst kommt, so Adès, meine Ode an die Freude (Ode to Joy), womit das Parfum der Herzogin gemeint ist, Joy von Patou. Dann folgt die fünfte Szene: „Is Daddy Squiffy?“ Die dritte Szene ist die vierte Szene der Oper, die Arie „Fancy Being Rich!“. Die Paraphrase endet mit der achten und letzten Szene der Oper und der Arie „It Is Too Late“, in der der tote Herzog als Hotelmanager wiederkehrt, um die Herzogin aus dem Zimmer zu werfen, in dem sie lebt, und dem abschließenden Tango, mit dem das Zimmer für den nächsten Gast vorbereitet wird.

Ebenfalls als Weltersteinspielung spielt Gerstein die im engen Zusammenwirken mit Adès entstandene Berceuse aus The Exterminating Angel, mit der der gemeinsame Selbstmord und Liebestod des Liebespaars Eduardo und Beatriz beschrieben wird: leise, langsam und von unerbittlicher Kraft. Heller, strahlender, leichter und doch von profilierter Schärfe dann die drei Moderato, Prestissimo und Grave überschriebenen und von Gerstein mit kristalliner Witzigkeit gespielten Chopin-Reminiszenzen von 2010.

Das gewichtigste Stück ist das knapp halbstündige Werk für Klavier und Orchester In Seven Days, eine musikalische Schöpfungsgeschichte in Gestalt einer Klavier-Sinfonie. Adès erklärt seinen Schöpfungsbericht: Das Stück ist eine siebenteilige Entwicklung von Ideen, die wiederkehren und sich wandeln, die sich ausbreiten und explodieren, als würde der genetische Code des Universums in eine Musik ausbrechen, die sowohl organisch als auch geometrisch ist: von den Fugen, mit denen die Lebewesen auf der Erde beschrieben werden, zu dem kristallinen Bild des Chaos am Beginn der Zeiten, mit dem das Stück öffnet und schließt – als wäre das Universum ziemlich zufrieden mit seinem bescheidenen statischen Zustand, bevor ein Schöpfer auf den Plan tritt und alles für immer verändert – zu den langsamen, kaleidoskopischen Spiralen galaktischer Energie, die im Land-Gras-Erde-Satz erklingen. Auch ohne dem ständig wechselnden Perspektiven und den Atomen des Chaos als Hörer auf die Spur zu kommen, kann man sich von dieser gut gemachten, eminent wirkungsvollen Musik und dem Zusammenspiel des Orchesters mit dem kraftvollen, wiederum stupend virtuosen und von Gerstein mit filigraner sphärischer Schärfe und souveränem Klanggespür gespielten Klavierpart beeindrucken lassen. Rolf Fath

Gütiges Publikum in Parma

 

Es ist die allertraurigste unter Verdis Opern, des Komponisten, dem es erst am Lebensende gelang, eine Komödie mit Erfolg zu vertonen, denn selbst Otello darf zu Beginn der gleichnamigen Oper „Venere splende“ schmachten, Violetta erlebt glückliche Wochen mit Alfredo auf dem Lande und Gilda träumt vom „Caro Nome“ und erlebt so ein kurzes Glück. In I due Foscari hingegen herrscht Trübsinn von Anfang an, sind alle drei Personen in einer aussichtslosen Lage, der Intrige des herrsch- und rachsüchtigen Loredano hilflos ausgeliefert. Kein Wunder, dass Venedig nicht daran interessiert war, ein Werk uraufzuführen, das die Stadt in so düsterem Licht erscheinen ließ. So wurde Rom zur Geburtsstätte der Oper, die vielleicht auch wegen der traurigen, von keinem Hoffnungsschimmer erleuchteten Handlung nie so recht Fuß fassen konnte auf den Opernbühnen. Dabei hat sie drei ganz wunderbare, von Leitmotiven begleitete Partien für Sänger, und die drei großen Baritone der jüngsten Vergangenheit, Piero Cappuccilli, Renato Bruson und Leo Nucci wussten sich das zunutze zu machen, schufen eindringliche Rollenportraits vorzugsweise in der Inszenierung von Pier Luigi Pizzi.

Das Genueser Label Dynamic, das dem Opernfreund schon Zugang zu so mancher interessanten italienischen Aufführung verschafft hat, hat nun auch eine DVD von den Verdi-Festspielen 2019 in Parma, der Verdi-Stadt par excellence, auf den Markt gebracht, allerdings wird auch Parma nicht mehr seinem Ruf gerecht, sei es der des kritischsten und buh- und pfeiffreudigsten Publikums der Opernszene, sei es der der Erwartung, in dieser Stadt bekäme man noch italienische Sänger zu hören.

Regisseur Leo Muscato hat das Stück in der Verdizeit angesiedelt, was die Kostüme von Silvia Aymonino bezeugen und was nicht weiter stört, wenn man nicht weiß, dass es zu dieser Zeit längst keinen Dogen von Venedig mehr gab, der letzte bereits 1802 gestorben war. Andererseits stört die Gewandung des Chors in Gehrock und Zylinder auch nicht besonders, und der Rundhorizont mit Portraits verstorbener Dogen im ersten Akt, die Scheibe als Ort der Handlung, die von Bühnenbildner Andrea Belli entworfen wurden, sind so stimmungsträchtig wie zweckmäßig.

Am Pult der Filarmonica Arturo Toscanini, verstärkt durch das Orchestra Giovanile della Via Emilia steht Altmeister Paolo Arrivabeni, ein Kapellmeister im besten Sinn des Wortes, der die Kontraste in Tempi und Lautstärke auskostet, Straffheit und Brio gleichermaßen walten lässt. Der Coro del Teatro Regio di Parma, einstudiert von Martino Faggiani, weiß natürlich auch, wie man Verdi zu singen hat, und lässt den Zuhörer daran teilnehmen.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine italienischen Sänger für die drei Hauptpartien, nur der mit wenig Musik bedachte Jacopo Loredano wird von Giacomo Prestia mit machtvoller Röhre gesungen, lässt dessen unversöhnlichen Rachedurst in schwarzen Tönen hörbar werden. Vor allem in der Emilia Romagna und ihren Theatern, auch im Veneto ist Vladimir Stoyanov ein gern gesehener Gast. Der Kontrast zwischen körperlicher Hinfälligkeit, deren Darstellung extrem ausgekostet wird, und stimmlicher beachtlicher Potenz für den alten Dogen ist bemerkenswert, die Baritonstimme besticht durch ihre warme Farbe, und im „Questa è dunque“ des letzten Akts wächst der Sänger, was vokale und darstellerische Eindringlichkeit betrifft, über sich selbst hinaus. Ganz zum Schluss wünscht man sich mehr Verinnerlichung, als er aufzubringen im Stande oder willens ist. Für den Schmerzensmann Jacopo ist der Tenor Stefan Pop, den man sich gut in Donizetti-Rollen vorstellen kann, etwas zu hell, die Stimme klingt in der Höhe weinerlich, was bei dieser Partie penetrant wirken kann, die Phrasierung ist nicht die großzügigste. Die Cabaletta im ersten Akt liegt ihm besser als die Arie im ersten Akt, für „Perpetua notte“ opfert er einer erzwungen wirkenden Dramatik die musikalische Linie, verliert er die musikalische Contenance. Gefallen kann der Tenor in einem ausdrucksvollen „Da voi lontano la morte“. Die struppige Perücke wirkt optisch geradezu entstellend. Aus Mexiko stammt Maria Katzarava, einst Gewinnerin von Domingos Operalia, inzwischen zwischen den hübschen Chordamen durch enorme Körperfülle wie ein Fremdkörper wirkend. Vokal kann sie gefallen durch einen kristallklaren Sopran, gut gestützte Piani, schön ausgeformte Töne. Wird es allerdings dramatisch, dann entgleist die Stimme schon einmal, wird sie im Terzett scharf wie auch im letzten verzweifelten Ausbruch.

Auf die teilweise nicht höchsten Ansprüchen genügenden Sängerleistungen reagiert das Publikum für ein italienisches untypisch mit mattem Applaus für die Arien und stürmischem Beifall am Schluss (Dynamic 37865). Ingrid Wanja