Mit nobler Überzeugungskraft

 

Karneval in Venedig. Selbst die Toten steigen, wie es der steife Text von Hans Müller vorgibt, aus ihren Gräbern und tanzen. Ganz so ausgelassen und hemmungslos geht es in der Inszenierung des 90jährigen Pier Luigi Pizzi nicht zu, der schon bei meinen frühen Opernaufführungen in Italien vor Jahrzehnten, den Status eines Altmeisters innehatte und in diesem Jahr kurz vor dem Corona-Lockdown am Teatro Regio von Turin die italienische Erstaufführung von Korngolds zweiter Oper Violanta herausbrachte (wenngleich bereits eine erste Gesamtaufnahme 1989 unter Marek Janowski bei ehemals CBS erschien, dort sind Eva Marton und Siegfried Jerusalem die Protagonisten) . Rot in rot hat er einen üppigen Salon mit vielen schweren Vorhängen auf die Bühne des Teatro Regio gestellt mit einem runden Durchblick, zwar nicht auf den im Text erwähnten Giudecca-Kanal, aber immerhin doch auf eine nächtliche Barke mit einem Gondoliere. Pizzi rückt den 1916 in München uraufgeführten Einakter, der mit Opern von Schillings, Zemlinsky und Schreker, aber der italienischen Veristen und ihrem Umkreis wie Zandonai und Montemezzi, die Vorliebe für die italienische Renaissance teilt, in die Entstehungszeit, ohne die schöne Violanta auf dem geschwungenen Sofa auf die Analysecouch Freuds zu legen (Blu-ray Dynamic 57876, auch als Nur-Audio 2 CD CDS7876).

Zurückhaltung kennzeichnet Pizzis geschmackvolle Fin-de-siècle Inszenierung, in der er die Männer in feschen Uniformen, den Maler Giovanni im Nero-Gewand, und die Damen in den wie die mit Harfen und Celesta glisssandierende Musik schimmernd fallenden Roben elegant drapiert. Violanta will sich an dem Verführer Alfonso, der ihre Schwester in den Tod getrieben hat, rächen. Gatte Simone, dem sich Violanta seither verweigert hat, soll Alfonso töten. Doch es kommt, wie wir es ahnten. Violanta verliebt sich in Alfonso und wirft sich schützend vor ihn, nachdem sie mit dem das Werk quasi umklammernden Karnevalslied („Aus den Gräbern selbst die Toten tanzen“) ihrem Mann das Zeichen für den Mord gegeben hat.

Annemarie Kremer singt diese liebende Rächerin mit den Tönen einer Isolde, verschwenderisch verteilten und sicheren Höhen, die in ein tragfähig elegantes Piano abfallen, Durchhaltekraft und Ausdruck, Salome, Isolde alles in einem. Jeritza hat Violanta in Wien und an der Met zum Erfolg geführt, Emmy Krüger, die in München die Violanta und im folgenden Jahr ebenfalls unter Bruno Walter den Silla in Palestrina kreiert hatte, hatte der Figur weniger Aufmerksamkeit verschafft. Es wäre Kremer zu wünschen, ihren Turiner Erfolg andernorts wiederholen zu können. Prägnante Vignetten dienen zur Beschreibung Violantas, Matteos Schwärmerei (Juan Folqué), Szenen Violantas mit ihrem Gatten, dem sinisteren Michael Kupfer-Radecky als venezianische Militärführer Simone, der Amme Barbara, der erdigen Anna Maria Chiuri, und in der umfangreichsten Szene der Oper mit der Versuchung in Gestalt des Verführers, dem mit der Serenade „Der Sommer will sich neigen“ erscheinenden Alfonso, dessen Bacchus-Höhenglanz der vielseitig einsetzbare Amerikaner Norman Reinhardt zwischen Todessehnsucht („Sterben wollt ich oft“) und sinnlichem Verlangen in Duett („Reine Lieb’ die ich suchte“) vorzüglich drauf hat. Ähnlich der ins größere Fach drängende Peter Sonn in der charaktertenoralen Partie des Giovanni; gut auch die übrigen Sänger der kleineren Partien.

Die Musik Korngolds, der mit seiner Toten Stadt erst im Vorjahr an die Mailänder Scala fand, zeichnet sich durch eine geschmeidige spätromantisch instrumentale Zauberkraft zwischen Strauss und Mahler aus, spannend in ihrer illustrativen Pracht und Üppigkeit und eminent theatertauglich in ihrer Pianissimo-Silbrigkeit und den lauernden dramatischen Zwischenspielen. Ihre schmelzende Sinnlichkeit mag ein anderes Orchester sicher noch cremiger aufschlagen, doch das Orchester des Teatro Regio spielt das rund eineinhalbstündige Stück unter dem in dieser Musik vorzüglichen Pinchas Steinberg mit nobler Überzeugungskraft. Die auf mehreren Tonträgern greifbare Aufführung steht der Einspielung mit Eva Marton unter Marke Janowsky ins nichts nach. Nach Casellas La donna serpente von 2016 erneut eine tolle Aufführung eines unbekannten oder wenig bekannten Werkes aus Turin. Man bekommt große Lust, sich wieder den während des Vorspanns im Theater einfindenden Besuchern im großzügigen Teatro Regio anzuschließen.   Rolf Fath