Zwei Klassiker der Moderne

 

Im Frühjahr 2017 entstand in Graz, wohin seine Familie verbannt worden war und der 13jährige Luigi Dallapiccola nach einer Aufführung des Fliegenden Holländers den Wunsch Komponist zu werden fasste, eine Einspielung seines Einakters Il Prigioniero (Chandos). Im kurzen zeitlichen Abstand folgt nun die von Chandos im September 2019 Kopenhagener Koncerthuset (CHSA 5278) zur weiteren Abrundung seines Dallapiccola-Katalogs mit Noseda eingespielte Wiedergabe des Stücks.

Das entspricht der neuerlichen Wertschätzung des Werkes, das nach seiner konzertanten Uraufführung bei der RAI in Turin 1949 und der ersten szenischen Produktion im folgenden Jahr in Florenz zum ersten internationalen Erfolg der italienischen Oper der Nachkriegszeit geworden war und in New York und London, Deutschland und Frankreich gespielt wurde bevor es 1962 an die Mailänder Scala gelangte. Dies hat vermutlich mehr mit dem Stoff und der Vorlage, der um eine Episode aus de Costers Ulenspiegel ergänzten Erzählung Folter durch Hoffnung von Villiers de l’Isle-Adam als mit der bei ersten Hören schwer fasslichen Verbindung aus der auf Zwölftonreihen fußenden melodiösen Gesangsdeklamation und mittelalterlichen Requiem-Ausschnitten zu tun. Die Mutter besucht ihren von der Inquisition gefangenen gehaltenen Sohn, ahnend, dass sie ihn um letzten Mal sehen wird, da ihr im Traum der sich in den Tod verwandelnden Philipp II. erschien. Nach diesem Prolog gelingt es dem Kerkermeister den Gefangenen endlich in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen, so dass dieser durch die offene Gefängnistür in die Freiheit stürzt. In einem Garten fällt er schließlich seinem Kerkermeister in die Arme, der sich als der Großinquisitor herausstellt. Die Hoffnung auf Freiheit war die letzte Folter vor der Hinrichtung. Gianandrea Noseda treibt das Stück mit großer Leidenschaft und dem Gespür des Theaterpratikers voran, macht kein neoklassisches Mysterienspiel daraus, sondern lädt es bei gerade mal 43 Minuten Spieldauer mit einer atemberaubenden Expressivität und Dringlichkeit auf, dass man den Protagonisten an den Lippen hängt. Darunter leidet vielleicht die große in der Tradition der italienischen Oper angesiedelte Szene der Mutter mit der dunklen Anna Maria Chiuri. Doch die Zwiegespräche des Gefangenen mit dem Carceriere geraten zu krimihaft dichten Momenten, in denen der anfangs auffahrend, vielleicht zu vital und gesund klingende Michael Nagy den zunehmenden psychischen Verfall des Gefangenen und Stephan Rügamer mit gleichbleibend einlullender Tenorsanftheit den Carceriere geben, während Adam Riis und Steffen Bruun die beiden Priester vor dem mystischen Hintergrund abheben. Mit dem Danish National Symphony Orchestra und dem Danish National Choir gelingen Noseda auf bestechende Weise die Brechungen des Stückes zwischen sublimem Klangreiz und Verdichtung des Dramas in den Intermezzi, der Erlösung durch die Rolandsglocke in den Schlagzeughöhepunkten und den irrwitzigen Allelujah-Fantasien des Gefangene, den unsichtbaren Chören und der lapidaren Klangrede bis zum gesprochenen „La liberta?“, mit dem sich der Prigioniero ergibt.

Drei knappe Chorwerke, der Lobgesang auf den mittelmeerischen Sommer für Männerstimmen Estate aus dem Jahr 1932 und die beiden Werke für gemischten Chor zu Versen von Michelangelo Buonarroti, dem Großneffen des „großen“ Michelangelo, von 1933 sind als Fortbeschreibung italiensicher Madrigalkunst eine plausible Ergänzung zum Gefangenen.   

 

„Miss Julie is crazy, utterly crazy“ stellt Jean nach der kurzen, walzenden Sommernachts-Introduction fest, „She was leading the dance in the gamekeeper’s arms“. Derweil der Midsummer-Walzer sich weiterdreht, beschreibt Diener Jean aus der Küchenperspektive mit zynischen Kommentaren die Gäste des gräflichen Festes, verführt dann die Tochter des Hauses, weist sie bei der nahenden Heimkehr des Hausherrn kaltherzig ab („Je vous en prie, mademoiselle“), drängt sie zum Selbstmord und nimmt wieder seine alte Stelle ein.

Der 1922 in Triest geborene und seit 1956 als norwegischer Staatsbürger in Larvik lebende Antonio Bibalo hat mit seiner Adaption der Strindberg Tragödie das Feld bestellt. An seiner effektvollen, vielfach kompatiblen Kammeroper Fräulein Julie kam in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Uraufführung 1975 in Aarhus keiner vorbei. Ganz unbemerkt hatte daneben der vor allem durch seine rund zweihundert Filmmusiken, Wikipedia gesteht im nur 70 zu, bekannte William Alwyn (1905-85) ebenfalls eine Fräulein Julie-Oper, Miss Julie, komponiert – Ned Rorem hatte bereits 1965 eine Miss Julie vorgelegt und Philippe Boesmans sollte 2005 mit Julie das Quartett vervollständigen – die 1977 von der BBC uraufgeführt und 1997 in Norwich eine einzige Produktion unter Benjamin Luxon, dem ersten Interpreten des Jean, erlebte (mit Jill Gomez als Julie, Della Jones als Kristin und Anthony Rolfe Johnson als Ulrik war bei der Uraufführung die erste Garde britischer Sänger aufgeboten).

Die konzertante Aufführung 2019 in der Londoner Barbican Hall, die Chandos (CHSA 5253/2, engl., dt., frz. Beiheft, engl. Libretto) anschließend in Croydon aufnahm, fand eine überaus dankbare Aufnahme, worauf die Times fragte, „Warum ist dieses intensive, brillant orchestrierte und auf klaustrophobische Weise packende Meisterwerk seit seiner Premiere im Jahr 1977 derartig vernachlässigt worden?. Das stimmt natürlich. Jeder der beiden rund 60minütigen Akte ist brillant konstruiert, bietet dankbare Szenen, darunter die mit Girlanden in hoher Lage verzierte erste Arie der Julie „Midsummer Night, O, night of magic, when the world can forget“, mit der die lyrische Koloratursopranistin Anna Patalong als kapriziöse Julie Akzente setzt, oder ihre sinnlich leidenschaftliche Szene „If you want to climb“, mit der sie Jean herausfordert, die den Interpreten ariose und psychologische Eindringlichkeit abverlangen. Als Resümee seiner bis in die 1960er Jahre währenden Auseinandersetzung mit dem Film, gelangte Alwyn für die Oper zu diesem Schluß: Die Handlung solle ohne Bezugnahme auf eine detaillierte Synopse oder ein Programmheft unmittelbar verständlich sein; Arien sollten einem dramatischen Zweck dienen anstatt nur der stimmlichen Zurschaustellung; um des dramatischen Zusammenhangs sollten die Figuren einander immer direkt ansingen und nicht beiseite zum Publikum oder im Monolog; die Verwendung des Ensembles sollte minimiert werden, um klangliche Klarheit zu wahren, und vor allem sollte der Text so vertont werden, dass die Gesangslinien Rhythmus und Tonfall der Sprache wiedergaben. Das alles erfüllt Alwyn in Miss Julie getreulich. Der von Alwyn eingerichtete Text bleibt immer klar und durchsichtig, die Handlung ist unmittelbar nachvollziehbar, die vom Walzerrhythmus durchzogene Musik, vom BBC Symphony Orchestra und seinem finnischen Chefdirigenten Sakari Oramo mit Überzeugungswucht wiedergeben, unterstreicht mit halluzinierenden Tremoli auf nachdrückliche Weise die Handlung und kreiert wie in einem urzeitlichen Radio-Thriller vielfache Suspense-Momente. Auf nicht unliebeswürdige Weise ist Alwyns Miss Julie mit ihrer passgenauen Orchestrierung so old fashioned wie das Reisekleid, das Julie für ihre Flucht mit dem Diener überstreift: eine solide Literaturoper, die auch als Hörtragödie gute Figur macht. Die Akteure, der von dem wenig wandlungsfähigen Bassbariton Benedict Nelson hinreichend dumpf gestaltete Jean, der willfährige Wildhüter Ulrik des heldentenoralen Samuel Sakker und Rosie Aldridge als Kristin, bieten alles an professioneller Nuanciertheit auf, um diese in Julies Selbstmord endende Midsummer Night zum Thriller werden zu lassen. Rolf Fath

 

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