Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ungewohnter Mozart

 

Nicht nur Teodor Currentzis und Yannick Nézet-Séguin stehen aktuell für Mozart-Zyklen. Auch der britische Dirigent Ian Page setzt bei Signum Classics seine Opernreihe fort. Mozarts Singspiel Zaide ist Fragment geblieben, Zaide war kein Auftragswerk, der Komponist legte die Gelegenheitskomposition beiseite, als er den Auftrag für Idomeneo erhielt; den Titel erhielt das Werk erst im 19. Jahrhundert. 2014 erschien bei harmonia mundi eine Einspielung von Nikolaus Harnoncourt mit dem Concentus Musicus und Diana Damrau in der Rolle der Zaide, bei der Schauspieler Tobias Moretti fehlende Stücke frei nacherzählt und so ein ergänztes Singspiel auf 2 CDs entstand. Ian Page setzt nun eine rein musikalische Aufnahme entgegen. Zaide ist ein Vorläufer der Entführung aus dem Serail, Mozart setzte 15 Nummern in Musik, viele Arien sowie jeweils ein Chor, Duett, Terzett und Quartett; eine Ouvertüre fehlen. Die christliche Sklavin Zaide wird von Sultan Soliman begehrt, liebt aber den Sklaven Gomatz. Beide fliehen, der Sultan wird wütend, die Geflohenen gefangen und die Situation beginnt zu eskalieren. Wie die Rettung vor dem Sultan und überhaupt ein glückliches Ende erfolgen sollte, bleibt unklar. Die Komposition bricht an einer Stelle ab, die weit von jedem Happy-End entfernt ist, und auch die gesprochenen Dialoge sind nicht überliefert. Dirigent Ian Page und sein Orchester Classical Opera stehen erneut für präzises, inspiriertes und beseeltes Musizieren, das sich nie in den Vordergrund drängt, Pages Mozart glänzt, ohne plakativ Funken zu schlagen. Akustisch geschieht dies bei dieser Studioaufnahme mit sehr gutem Klang. Anstelle der fehlenden Ouvertüre erklingt zu Beginn das Entr’acte aus Thamos (KV345), danach sind sehr gute Sänger zu hören. Zaide hat drei Arien, die die Sopranistin Sophie Bevan mit schönem, hellem Sopran und warmem Timbre singt, die bekannteste Arie “Ruhe sanft“, das Lamento „Trostlos schluchzet Philomele“ und die beherzte Antwort auf die Todesdrohung des Sultans „Tiger! wetze nur die Klauen“ erklingen mit viel Emphase. Tenor Allan Clayton als Gomatz überzeugt in den so unterschiedlichen Arien  „Rase, Schicksal, wüte immer“ und „Herr und Freund, wie dank‘ ich dir„. Tenor Stuart Jackson hinterläßt als Soliman  Eindruck, seine Stolz- und Rachearie „Der stolze Löw’ läßt sich zwar zähmen“ ist unmittelbar spannend. Allazim ist bei Bariton Jacques Imbrailo und Osmin bei Bassbariton Darren Jeffery in sehr guten Händen und Stimmbändern. Die Ensembles klingen tadellos, das Zuhören dieser Einspielung bereitet Freude. Eine wichtige Einschränkung besteht dennoch: Spätestens bei den zwei melodramatischen Stücken mit Textpassagen ist zu erkennen, dass man es nicht mit Muttersprachlern zu tun hat. Ein ausführliches Beiheft in Deutsch und Englisch mit Libretto wertet die CD weiter auf. (Signum Classics, SIGCD473)

Nun zu einem Mozart mit Ersatzteilen. Es ist einiges ganz anders bei dieser Mozart-Einspielung von La Clemenza di Tito, die bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik im Jahr 2013 entstand. Dirigent Alessandro De Marchi und die Academia Montis Regalis sind Spezialisten für Alte Musik, musiziert wird hier nicht die Originalversion Mozarts, sondern eine Bearbeitung, die so 1804 in Wien zu hören war und bei der die Oper mit neuen Arien anderer Komponisten ergänzt wurde, andere Passagen dafür gestrichen wurden. Vom Wiener Dirigenten Joseph Weigl stammen zwei neue Arien für Titus sowie ein Duett für Titus und Sextus, von Johann Simon Mayer stammt eine weitere Arie für Titus. Weigl hatte als junger Dirigent Mozart noch persönlich kennengelernt, seine neue Arien versuchen sich einzupassen, verwenden bspw. thematisches Material, Mayer liefert frühe Belcanto-Anklänge bei. Weiterhin werden die Rezitative von Cello und Kontrabass anstelle Cembalo oder Hammerklavier begleitet. Das ist als historische Praxis überliefert und als stilistische Eigenart aufschlussreich, man muss es aber so hören wollen, gerade auch deshalb, weil auch sängerisch nicht alles optimal klingt bei diesem kombinierten Mitschnitt verschiedener Aufführungen. Dem baritonalen Tenor Carlo Allemano mangelt es als Tito an Glanz, dem Bariton Marcel Bakonyi als Publio an Ausdruck. Bei den Sängerinnen wird differenzierter gesungen, Nina Bernsteiner als Vitellia und Kate Aldrich als Sesto lassen durch Ausdruck und Technik aufhorchen. Weiterhin sind Beth Solvang als Annio und Dana Marbach als Servilia zu hören. Chor und Orchester der Academia Montis Regalis bieten eine gute Interpretation, die Ouvertüre überschlägt sich fast, danach geht es dann aber eher überraschungsfrei weiter. (2CD cpo 777870-2)

Mozart – Last Masonic Words heißt eine Reprisen-CD der alten Columbia mit historischen Aufnahmen, die sich freimaurerischer Musik des Komponisten widmet. Besondere Erkenntnisse verbergen sich dahinter nicht, Mozart als Logen-Bruder ist nur eine lose Klammer für die Wiederverwertung alter Aufnahmen, die allerdings interessante Wiederbegegnungen ermöglichen. Zu hören sind die Ouvertüre zur Zauberflöte, „Eine kleine Freimaurer-Kantate“ K623 und der Maurergesang „Lasst uns mit geschlungenen Händen“ K623a. Diese ersten drei Stücke sind mit dem Chor und Orchester der Wiener Volksoper, dirigiert von Peter Maag sowie u.a. Kurt Equiluz, Rudolf Resen, Kurt Rapf, Franz Ellmar und Leo Hoppe. Weiterhin gibt es das Requiem mit den New Yorker Philharmonikern und Bruno Walter, als Sänger sind Irmgard Seefried, Jennie Tourel, Leopold Simoneau und Wiliam Warfield in einer getragen breit klingenden Interpretation zu hören. Die Aufnahmen von 1956 und 1959 sind SACD remastered, die Wiener Einspielungen haben eine den Umständen entsprechend akzeptable Akustik, das New Yorker Requiem klingt hingegen dumpf, als würde man aus einem anderen Raum zuhören. (Pragadigitals, PRD 350211)
Marcus Budwitius

Gegen das Vergessen

 

„Mission Musik“  nennt sich das gerade erschienene Buch, das Gespräche des schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt mit Julia Spinola wiedergibt, ergänzt durch ein Vorwort und eine Einleitung sowie durch einen umfangreichen Anhang. Mutet der Begriff „Mission“ zunächst in Verbindung mit „Musik“ etwas befremdlich an, so wird dem Leser zunehmend klarer, dass das, was dem Vater noch Missionierung zum adventistischen Glauben bedeutete, für den Sohn, zwar auch tief gläubig, einen ganz anderen Sinn hat: Musik so aufzuführen, wie der Komponist sie geschrieben hat, und sie in einer Welt, die zunehmend den Versuchungen leichter konsumierbarer Popmusik verfällt, vor dem zunehmenden Vergessenwerden zu bewahren.

Im Vorwort berichtet Julia Spinola sachlich darüber, wie es zum Entstehen des Buches kam, und gibt einen Überblick über den Inhalt der einzelnen, in Gesprächsform gehaltenen Kapitel. In der Einleitung dann verfällt sie einer überschwänglichen Schwärmerei, entfernt sich damit vom Charakter der Persönlichkeit, die sich später im Verlaufe der Gespräche in einer ganz anderen, klareren und sachlicheren  Art und Weise darstellt und nimmt dem Leser damit fast die Möglichkeit, sich unbefangen selbst ein Bild von dem Portraitierten zu machen. „Alles Theatralische und Kostümierte ist ihm wesensfremd“, schreibt sie, wählt aber selbst eine Darstellungsweise, der das gar nicht fremd ist und die sich quasi vor den Dirigenten drängt. Es ist dem Leser also zu empfehlen, erst die Gespräche zu lesen und sie dann an dem in der Einleitung entworfenen Bild zu messen. Man kann dann durchaus zu einem ähnlichen Urteil kommen, aber es wird dem Leser nicht im Voraus aufoktroyiert.

Die einzelnen Kapitel beginnen jeweils mit einem Motto, einem Zitat des Dirigenten, der in so schlichter wie überzeugender Weise zunächst seine Jahre in Dresden schildert, den Zwiespalt zwischen der Liebe  für die Besonderheiten der Staatskapelle, deren „existenzielle Unbedingtheit“, und der Abneigung gegenüber einem Staat, der seine Bürger gefangen hält. Besonders sympathisch berührt nicht nur die Ehrlichkeit, die man in jedem Satz vermutet, so das Geständnis, dass zunächst Vorbehalte gegenüber der Musik von Richard Strauss bestanden. Es folgen Berichte über die Jahre in San Francisco, Hamburg und Leipzig, und man erfährt Interessantes über das Verhältnis von Kurt Masur zum Gewandhausorchester, über die unterschiedlichen Sitzordnungen innerhalb des Orchesters, so die von Blomstedt durchgesetzte „deutsche“, über den vielbeschworenen „deutschen Klang“ und fühlt sich so gut unterrichtet wie bisher noch nie zuvor, wie auch über die grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweise an Kompositionen à la Mendelssohn oder Wagner.

Ein weiterer Gesprächskomplex ist Kindheit, Ausbildung und ersten Engagements gewidmet, den Konflikten, die durch den arbeitsfreien Sonnabend der Adventisten entstehen. Neben vielen anderen wird Bernstein erwähnt und einiges weniger oder gar nicht Bekanntes über ihn berichtet, wobei wie auch bei den Passagen über Furtwängler Respekt und Zuneigung auch dort unübersehbar sind, wo Blomstedt nicht mit allem einverstanden ist.

Wie sehr der Dirigent sich selbst weniger wichtig als die Musik, die er dirigiert, nimmt, zeigt sich darin, dass er weniger über sich selbst als über diese berichtet und so ein umfangreiches Kapitel über „Werkanalyse, Interpretation und den Umgang mit dem Orchester“ beiträgt. Sehr überzeugend klingt, dass das Orchester weniger temperamentvolle Zeichengebung als „geistige Energie“ als Hilfestellung  braucht, dass sein künstlerisches Ethos mit seinem Glauben zusammenhängt.

Auch wenn Blomstedt am 17. Juli 2017 seinen 90. Geburtstag feiern wird, hat er  bisher unerfüllte Wünsche wie den, den schwedischen Komponisten Stenhammar bekannter zu machen. Appetit darauf bekommt der Leser durch das, was der Dirigent über den Musiker zu sagen hat.

Bei einem Besuch in Göteborg kann Julia Spinola erleben, dass Blomstedt seine umfangreiche Bibliothek  der Allgemeinheit zugänglich gemacht hat. Ein Kapitel über Bach und besonders dessen h-Moll-Messe und über Beethoven und besonders dessen Tempovorstellungen beschließen die Gespräche, die man mit großem Gewinn lesen kann und die den Wunsch provozieren, der Dirigent möge noch recht lange als Anwalt der Komponisten tätig sein, auch den Plan ausführen, gemeinsam mit Barenboim Furtwänglers Klavierkonzert aufzuführen (Henschel Verlag 2017, ISBN 978 3 89487 950 1). Ingrid Wanja

Clement Harris und Siegfried Wagner

 

„Um seine wiege war sorgloser glänz, Ihm reiften rühm und huldigung, doch eitel War ihm ein trachten ohne frommes tun, Er half zum dank für nie erschöpfte wonnen Die Hellas schenkte — deren matten erben Im kriege … Jetzt beschämt noch unsre söhne Die sich in schaler Lust für künftige ämter Verstumpfen — seine wunde wie sein lorbeer“. „An Clemens, gefallen am 23. April 1897„, lautet die Widmung eines Gedichts in Stefan Georges „Siebentem Ring“, überschrieben „Pente Piagadia“, zu deutsch „Fünf Brunnen“. Wer war, so fragte sich lange Jahre die Literaturkri­tik, jener Clemens, der laut George zu einer Zeit fiel, da in Europa kein Krieg wütete? Gemeint ist der britische Kom­ponist Clement Hugh Gilbert Harris, der sich mit einem selbst angemieteten Söldnerheer für den griechischen Freiheitskampf stark machte, ein später Er­be von Lord Byron.

 

Zu Clement Harris/ Jugendbild/ entnommen dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Ein privilegiertes Leben: Kein unbedeutender Komponist, und auch keineswegs unbekannt, wenn auch lange Zeit vergessen, wurde Harris zu Lebzeiten in seinem Heimatland durch­aus Edward Elgar an Bedeutung gleich­gesetzt. Aber beginnen wir von vorn: Clement Hugh Gilbert Harris; geboren am 8. Ju­li 1871 in Wimbledon als fünftes von sechs Kindern. Die Eltern sind wohlhabend. Der Vater ist der Senior der Ree­derei Dixon and Harris. Obendrein ist er Zunftmeister und königlicher Friedens­richter für die Grafschaft Glamorgan. Als Harris 1885, im Alter von dreizehn Jahren, in Harrow eingeschult wird, fragt ihn der Rektor: Und was willst du einmal werden? „Berühmt!“ ist die Ant­wort des jungen Clement. Und in sei­nem Tagebuch erzählt er: „Die meisten freien Nachmittage verbrachte ich in der Bibliothek. Ein anderer Lieblingsaufenthalt war der Kirchhof. Ich mag mich besinnen, wie ich einmal auf dem­selben Stein, auf dem schon Byron ge­sessen und geträumt hatte, Tränen der Schwermut vergoss und wie dabei im Herzen die Sehnsucht erwachte, auch mein Name möge meinem Vaterland dereinst Ruhm und Ehre erwerben.“ Mit fünfzehn Jahren gibt er das Violin­spiel auf und übt stattdessen Klavier: Bereits im Juli 1889 sieht man ihn als Opernbesucher – an der Seite von Oscar Wilde und dessen Frau Constanze. Mit siebzehn Jahren, im September 1889, geht Harris an das Hoch’sche Konserva­torium in Frankfurt. Clara Schumann will keine Schüler mehr annehmen. Bereits seit einiger Zeit kann sie schnell aufeinanderfol­gende Harmonien nicht unterscheiden und hört oft ganz andere Töne, als ge­spielt werden. Aber auf Bitten des Di­rektors Bernhard Scholz hört Clara Schu­mann das Vorspielen von Clement Har­ris an — und sie akzeptiert ihn als Schüler.

Aber der Musik gilt nicht Clements aus­schließliches Interesse. Sein Studierzim­mer mit dem Klavier und Vasen frischer Rosen gemahnt an einen Alchemisten: „Am Fußboden ausgebreitet astronomi­sche Tabellen und — von früh auf Lieblingsspielzeug — elektrische Basteleien und Apparaturen.“ Mit Vorliebe magnetisiert Clement Harris seine Kom­militonen. Ganze Gesellschaften finden sich dazu in seinem Studierzimmer ein. Darunter auch der Komponist Hans Pfitzner und sein Librettist James Grun, der in jenen Kreisen selbst als Prophet gefeiert wird. „Ich magnetisierte den Propheten, diesmal mit so viel Erfolg, dass ich eine Nadel durch seinen Arm zog, um zu beweisen, dass keine betrü­gerische Täuschung vorläge. Imboden (einem Kommilitonen) wurde ganz übel dabei und musste mit Wasser erfrischt werden. Ich verfüge zweifellos über eine sehr wundersame Kraft.“ Clement genießt den Unterricht bei Clara Schumann: „O, dieser heutige Vormittag!! Sie spielte mir alleine vor, sie war so anmutig und gütig, und ihr Anschlag vollendet und rührend und doch so silbrig. Man wird beschämt über das Unzulängliche der eigenen Be­mühungen.“

 

Zu Clement Harris: Portrait Siegfried Wagners, signiert mit Harris´ Psyeudonym „R. Gilbert“ 1893/ entnommen aus dem Standardwerk von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Wesensfreund Siegfried Wagner: Im Salon des ihm befreundeten Ehepaars Edward Speyer in Frank­furt erlebt Clement Johannes Brahms, der Frau Speyer bei einem Lied beglei­tet. Durch Speyer, der selbst Sohn eines Komponisten ist, lernt Clement auch die andere Seite der musikalischen Ge­genwart kennen. Denn hier verkehren auch der Direktor des Städel’schen Kul­turinstituts, Henry Thode, und seine Frau Daniela Thode, geborene von Bülow, und deren Halbbruder Siegfried Wagner. „Der Sohn des Riesen war auch da. Wir hatten ein langes Gespräch über Wagner. Er sieht seinem Vater sehr ähnlich, hat aber einen weniger mächtigen Kopf“, vermerkt das Tagebuch am 12. Dezem­ber 1889.

In seinen lesenswerten Erinnerungen „My Life and my friends“ berichtet Ed­ward Speyer, dass sich Clement Harris und Siegfried Wagner bei ihrer ersten Begegnung in seinem Haus sogleich an­gezogen fühlten. Bei den Künstlerfesten im Hause Speyer travestiert Siegfried Wagner gerne als Primaballerina, auch zu Musik von Jacques Offenbach. Cle­ment steht in einer Ecke des Saals mit dem Maler Hans Thoma und spricht plötzlich aus, was der denkt: „Wo wer­den all diese fröhlichen und lachenden Paare in hundert oder auch nur in fünf­zig Jahren sein? Sie sind heute so jung, so glücklich — unvorstellbar, dass sie je alt und traurig würden.“ Hans Thoma, erschreckt, dass jemand seine Gedanken lesen kann, lädt den jungen Engländer in sein Atelier ein. Clement weint ange­sichts der Bilder „Paradies“ und „Ruhe auf der Flucht“.

Zu Clement Harris: Siegfried Wagner/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

In der Neujahrsnacht 1890 vermerkt Harris in London in seinem Tagebuch: „Manchmal glaube ich, verrückt zu sein. Vielleicht bin ich es. In dem Leben ist man nie zufrieden; man will immer, was man nicht hat und das ist? Die Liebe.“ Er verspricht der besorgten Mutter, am kommenden Sonntag in die Kirche zu gehen, aber im Nebel verläuft er sich in der Stadt und gelangt in die Tite Street zur Wohnung Oscar Wildes: „Ich saß in Oscars Arbeitszimmer und las und un­terhielt mich mit ihm, bis Constanze – Wildes Frau – zur Mittagszeit aus der Kirche kam. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag: ich hatte mein gegebenes Versprechen gebrochen. Mir wurde eiskalt. Das Gespräch mit Oscar streifte viele und verschiedenar­tige Themen: Kant, Schopenhauer, das ewige Leben in einer anderen Welt, den Meister und anderes mehr. Er ist ein ausgeprägter Idealist, was ihn mir nahe bringt. Idealismus ist Kunst, Realismus Natur – aber – unter der Hand eines Genies gewinnt das Ideale die höchste Realität.“ Bereits am Tag darauf ist er zum Lunch erneut bei Oscar Wilde, der Clement zu Ehren Kaviar servierte: „,Kaviar‘ – wie er sich ausdrückte – von einem Geschmack, den man nur in Träumen kostet‘. Anschließend hatten wir ein langes Gespräch über das schönste und wunderbarste, was es gibt, Malerei, Musik, Liebe.“ Im Sommer 1891, als sich Clement Harris bei Oscar Wilde für dessen Buch der gesammelt erschienenen Aufsätze über Kunst bedankt, tut er dies mit den Worten: „Es bedeutet mir viel, jeman­dem zu begegnen, der meinen eigenen Kunstanschauungen so nahe steht.“

Kurz darauf sind Clement und Siegfried Wagner Duzbrüder. Und Wagner er­klärt Clement am 8. Juli 1890, seinem 19. Geburtstag, zum Vorbild: „Neun­zehn Jahre alt und noch nichts geleistet. Es gibt nur einen, den ich wage, zum Vorbild meiner Wünsche zu erheben. Ihn, der zwanzigmal mehr gelitten hat als ich; ihn, der in Kunst und Leben die Philister und Ungläubigen bekämpfte und zuletzt den Sieg errang. Er sei mein Leitstern, der Leuchtturm in branden­der See und ein Hafen, in dem ich an­kern kann. Ich bin jung, ich kann arbei­ten. Ich will sehen, wie weit ich es bringe.“ „O, könnte ich doch alle Geg­ner von der Echtheit und gigantischen Größe des Meisters überzeugen.“

Zu Clement Harris: Siegfried Wagners Travestieren als Ballerina ist leider nicht dokumentiert; hier doubelt Thomas Hailer in Edmund Gleedes 1986 uraufgeführtem Musiktheater „Cosima Notte oder Notre Dame de Bayreuth“/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Im Spannungsfeld Clara Schumann – Bayreuth: Nun kann der Streit mit Clara Schu­mann nicht ausbleiben. Sie klassifiziert den „Tristan“ für das Widerwärtigste, was sie in ihrem Leben gesehen und ge­hört hat: „Den ganzen zweiten Akt hin­durch schlafen und singen die beiden, den ganzen letzten Akt stirbt der Tris­tan, volle 40 Minuten, und das nennen Sie dramatisch!!! Das sind ja nicht mehr Gefühle, das ist Krankheit, sie reißen sich förmlich das Herz aus dem Leibe, und die Musik versinnlicht das in den widerlichsten Klängen!“ Für Clement aber verschlingen sich im „Tristan„Gedankentiefe und besessene Ekstase, und wie abgerundet und präzise ist dabei das Ganze, ein gefasster Edelstein, der im Dunkeln blitzt. Ein geheimnisvolles Gruselmärchen mit einem strahlenden und zugleich grässlichen Ende. Worte können nicht schildern, wie der erste Eindruck auf mich war. Ich bin über­wältigt vom kolossalen Ausmaß des Ganzen. Dem Text vermochte ich nicht recht zu folgen, glaube aber, dass auch nur wenige Deutsche ihn wirklich ver­stehen. Ich hoffe, ihn eines Tages zu be­greifen und in seiner vollen Wucht auf mich wirken zu lassen.“ So schreibt er nach einer „Tristan“-Probe. Und nach der Aufführung: „O Tristan, Tristan, was für eine großartige Schöpfung du bist! Ich war völlig erschlagen nach der Aufführung, die mit Abstand die beste war, die ich von irgendeinem der Werke gesehen habe. Später ging ich in die Stadt, um eine Kleinigkeit zu essen, mochte aber vor Erregung nichts zu mir nehmen. Ich lief weiter in Richtung Ginnheim und kam erst um zwei Uhr in der Früh nach Hause. Dann lag ich wach im Bett, bis es dämmerte. Ich fand kei­nen Schlaf.“

Clement Harris: „Macao“/ Zeichnung aus Ostasien zu dem Tagebuch Siegfried Wagners/ Foto mit Dank von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft

Im Juli 1891 tritt Harris seinen ersten Bayreuth-Besuch an. Cosima klassifiziert er als „eine wirklich sehr ungewöhnliche Frau von starker Faszination“. Den „Tris­tan“ erlebt er in der Familienloge der Wagners, „aufgeregt und völlig zer­mürbt“ und schluchzt wie ein Kind. Bei einem Bayreuther Juwelier erwirbt er eine Halskette, an der er ein ihm von Da­niela Thode geschenktes, in Lava ge­schnitztes Amulett trägt: „Zum Schutze unserer Freundschaft“. Es ist ein Fami­lienerbstück, das Richard Wagner seiner Frau in Neapel zum Geschenk gemacht hatte. Harris führt die englische Korrespondenz für die Festspielleitung. Er ver­kehrt mit den Familienmitgliedern der Wagners, Baron Clemens von Francken­stein, Houston Stewart Chamberlain und Richard Strauss. Nur an der Judenhatz, wenn der Berliner Hof- und Dompredi­ger Adolf Stöcker, der größte Antisemit seiner Zeit, bei Cosima zu Besuch ist, be­teiligt Harris sich nicht: „Seine Ansich­ten über Judaismus konnte ich nicht alle als ungetrübte Wahrheit akzeptieren.“

 

Clement Harris: „Hafen“/ Zeichnung aus Ostasien zu dem Tagebuch Siegfried Wagners/ Foto mit Dank von der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft – dieses und weitere Aquarelle im Original bis zum Juni 2017 zu besichtigen in der Siegfried-Wagner-Ausstellung im Schwulen Museum Berlin.

Die Ostasienreise: Kurz darauf lädt Clement Harris Sieg­fried Wagner zu einer Ostasienreise auf der „Wakefield“, einem der Kaufmanns­schiffe seines Vaters, ein. Wie Cosima im Brief einer Freundin mitteilte, begrüßte Siegfried die Auffor­derung zur Reise „wie eine Befreiung“. In einem Brief teilt Clement Clara Schu­mann mit, dass er seine Pianistenausbil­dung in Frankfurt abbrechen werde: „Ich übernahm mich während der letz­ten zwei drei Monate in Deutschland. Die häufigen Reisen nach Karlsruhe (zu Felix Mottl und zu dem dort am Po­lytechnikum studierenden Siegfried Wagner) und jene großartigen, aber er­regenden Aufführungen waren für mei­ne Nerven einfach zu viel. Als ich in London ankam, war ich ein Wrack. Ich werde jetzt auf einem von Vaters Schif­fen eine Seereise machen, um mich ge­sundheitlich wieder herzustellen.“ Die Trennung von Clara Schumann war die Folge von Harris‘ Bindung an Bayreuth. Denn in seinem Tagebuch ist zu lesen: „Mein großer Wunsch ist immer noch, Pianist zu werden. Möge das neue Jahr mir gute Fingerfertigkeit bescheren – und noch etwas andres, was ich nicht aufschreiben darf, nicht aufzuschreiben wage.“ Gleichzeitig reift aber auch sein Entschluss, sich „einer höheren und größeren Kunst zuzuwenden, ich meine die Kunst, ein Orchester zu dirigieren“. Über Singapur, Saigon, Hongkong, Kanton, Macao, Manila, Santa Cruz, Colombo, den Philippinen und zurück über Ceylon nach Neapel führt Harris und Siegfried Wagner die Ostasienreise. Vor China liest Harris Miltons „Paradise Lost“. „Die Sonne steht jetzt genau über mir: ich habe keinen Schatten mehr und vermisse diesen finstren Begleiter. Es ist, als verlöre man einen Teil seiner See­le.“ Und Siegfried Wagner vermerkt in seinem Reisetagebuch: „Auf der Batän Insel, unweit Formosa, „landeten wir, krabbelten wieder herum und suchten eine geeignete Stelle zum Baden […] Wir zogen uns aus, ließen unsre Sachen unter einem Busch und stürzten uns — zwei Adame — in die warme See und schwammen. Wir pfiffen und sangen, und die Kokospalmen werden wohl zum erstenmal ,Es gibt ein Glück, das ohne Reu‘ gehört haben.“

Clement Harris: Der griechische Befreiungskampf gegen die Türken/ Ölgemälde von Delacroix/ Wiki

Durch das unverhoffte musikalische Er­lebnis eines Chors aus Bachs Johannes- Passion, mitten im Straßenlärm von Singapur, durch mannigfaltige sinnliche Eindrücke, aber insbesondere durch den Zuspruch des englischen Freundes ent­schließt sich Siegfried Wagner, seine Pläne als Architekt aufzugeben und sich ganz der Musik zu widmen. („Wir sitzen den ganzen Tag in unseren Deckstühlen, nur in unsere dünnsten Pyja­mas gehüllt (nichts darunter als mich selbst). Ach ist das schön hier!“ schrieb Siegfried Wagner von seiner Schiffsreise mit Clement Harris nach Hause.) Während Clement Harris an Bord des Schiffes die Themen zu seinem sinfonischen Poem „Paradise Lost“ entwarf, keimte in Sieg­fried Wagner der Gedanke zu einer sin­fonischen Dichtung nach Schiller, die schließlich auch im selben Jahr beendet wurde wie Clement Harris‘  Komposition. Am 6 Juni 1895, seinem 26. Geburts­tag, brachte Siegfried Wagner sein ers­tes Orchesterwerk in London zur Urauf­führung. Die Jahre nach der Rückkehr von der Ostasienreise mit Siegfried Wag­ner sind geprägt durch weitere Reisen. Mit seinen Kompositionen will Harris „Werke schaffen, die das Niveau der englischen Musik über ihren heutigen Stand erheben sollen. Dies ist mein Ziel, mein Wunsch. Ob ich über die Bega­bung verfüge und fähig bin, sie zu reali­sieren, wird die Zukunft lehren.“ Im Juli 1893 interpretiert Harris seine vier Etüden für Pianoforte. Die Londoner „Times“ referiert: „unglaublich schwie­rig und höchst gekonnt. Der junge Komponist trug sie mit seltener Bril­lanz vor.“ Auf Empfehlung von Daniela Thode setzt Harris seine Kompositionsstudien bei Philipp Wolfrum in Heidelberg fort. Daneben besucht er die kunst­geschichtlichen Vorlesungen von Henry Thode.

 

Clement Harris: Frontespiece zu „Paradise Lost“/ Wiki

„Paradise Lost“: Sein im August 1893 vollendetes sinfo­nisches Poem „Paradise Lost“ erläutert der Komponist: „Die Themen entstan­den auf der Reise in den Fernen Osten, die meisten an Bord des Schiffs. Die lange Einleitung folgte dann Stück um Stück auf einsamen Gängen in Mitter­nachtsstunden auf der Terrasse vorm Heidelberger Schloss. Den Schlussteil schrieb ich diesen Sommer während meiner letzten drei Wochen in Heidel­berg […] Gegen Ende lebte ich aus­schließlich von Keksen und Selterwasser mit einem Schuss Wein; ich konnte keine feste Nahrung mehr zu mir neh­men, d.h. keine Eier und kein Gemüse.“ Fleisch aß Clement Harris ohnehin nicht. Laut seiner eigenen Analyse über­nimmt die sinfonische Dichtung „Para­dise Lost“ von Miltons Werk „den metaphysischen, nicht den deskriptiven Cha­rakter„.

 

Das griechische Abenteuer: Stefan George lernt Harris im August 1896 im Hause des Komponisten Cle­mens von Franckenstein, des späteren Münchner Staatsintendanten, kennen. Einen Monat später nimmt Harris 1896 in Korfu Griechisch-Stunden.  Die griechisch-türkische Auseinandersetzung um die Insel Kreta spitzt sich im Februar 1897 zu. 1897 setzt Harris mit dem Staatsanwalt von Korfu, Kyrgousios, zum Festland über. An Bord des Damp­fers ist Munition, die für die Front in Epirus bestimmt ist. Das Schiff ankert etwa zwei Kilometer vor der türkisch be­setzten Grenze. Ein Boot mit zwei Mann wird herabgelassen, sie sollen die Meer­enge erkunden. In Arta schallen Harris die Worte: „Anglos Philhellen! (Englän­der, Griechenfreund!)“ entgegen. Hoch­rufe bahnen ihm den Weg durch die Menge ins Lager.

Zu Clement Harris: Karte des befreiten Griechenlands auf einem zeitgenössischen Plakat; oben links der Freiheitskämpfer Eleftherios Venizelos/ OBA

Am 5. April 1897 erklärt Harris: „Ich handle, wohlverstanden, aus völlig freien Stücken. Keiner hat mich dazu beredet, mein Leben in den Dienst der Griechen zu stellen; vielmehr haben wohlmei­nende Freunde mich bisher daran gehin­dert, meine Absicht auszuführen {…]. Der Schritt, den ich tue, mag vielen als ein Akt des Wahnsinns erscheinen. Für mich, der ich die Sache gründlich erwogen habe, ist er das Wenigste, was ein Mann von Ehre für ein Land tun kann, das im Namen des Kreuzes nach Frei­heit ruft und der Reihe nach von jedem der so genannten zivilisierten Mächte beleidigt und gehindert worden ist.“ Der Dichter Lorenzo Mavilis und Clement fuhren einen Trupp von dreißig Mann an, begeistert von der Bevölkerung auf Korfu mit dem Ruf „Harris – Charis!“ („Harris-Liebreiz!“) angefeuert. An seine Mutter, Elizabeth Rachel Harris, schreibt er: „Liebe Mutter! Ich bin jetzt ganz in meinem Element, weit weg von all den sinnlosen Verbindlichkeiten der moder­nen Gesellschaft, und genieße es vollauf.“

Harris‘ Briefe an Siegfried Wagner wur­den leider vernichtet. Aber einige an Siegfrieds Halbschwester Daniela Tho­de gerichtete Briefe von Harris haben sich erhalten. Hier heißt es am 9. April 1897: „Wer weiß, ob wir uns je wieder­sehen. Ich möchte mit niemandem in der Welt tauschen, obschon ich mir der hiesigen Gefahren wohl bewusst bin. Ich hoffe nur, die Griechen gewinnen den Krieg, der jetzt unvermeidbar scheint, und wenn ich nicht mehr zurückkomme, so werden Sie zumindest wissen, dass ich mein Leben für die Freiheit eines Volkes gab, dem meine Bewunderung zu zollen ich gelernt habe und das ich als Kinder betrachte, die sich mit der Zeit zu edlen und großartigen Männern entwickeln und, als würdige Erben ihrer historischen Ahnen, dem Land Ehre er­weisen werden.“

Clement Harris kurz vor seinem Tod, wenngleich P. P. Pachl meint, der Dargestellte sei nicht Harris sondern der Großherzog von Hessen, bei dem Harris Vorleser war / sciencepole.com

Die Stadt Arta ist verwüstet. Die Häu­ser wurden von den abziehenden türki­schen Truppen in Brand gesteckt. Nur ein Türke soll in der Stadt zurückgeblie­ben sein. Harris gibt den Befehl, den Zurückgebliebenen zu suchen und ihn zu beschützen, die Plünderer zu verja­gen und für die Verwundeten zu sorgen. Er selbst springt auf einen Dachstuhl und bekämpft mit einer Axt den Brand. Vor dem Pass von Pente Pigadia hat die von Harris angeführte kleine „Rotte Korah“ ihre Gewehre in Pyramiden ab­gestellt und rastet, als ihnen eine Menge entgegenkommt, die sie für Epiroten halten und mit geschwenkten Armen begrüßen. Aber die Ankommenden eröffnen das Feuer — es sind Türken. Har­ris kriecht hinter einen Felsen und feu­ert zurück. Er wird getroffen. Die „Lon­don Times“ berichtet am 22. Mai 1897: „Die Verwandten von Mr. Clement Har­ris, der im Kampf mit den griechischen Truppen in Epirus verwundet wurde, haben über seinen Tod am 23. April bei Pente Pigadia authentische Nachricht erhalten.“

In Griechenland werden noch Dezen­nien nach Harris‘ Tod Ansichtskarten mit dem Porträt von Clement Harris verkauft. An der Englischen Kirche in Athen erinnert seit dem Dezember 1900 eine Gedächtnistafel an den Philhelle­nen Clement Harris. Siegfried Wagner aber komponierte zum Gedächtnis an Clement Harris im Jahre 1923 die Sinfonische Dichtung „Glück“. Sie ist ein kompositorisches Pendant zu Stefan Georges Gedicht „Pente Pigadia“. Beziehungsreich gibt Siegfried Wagner als Schlussdatum sei­ner Partitur den 10. Mai 1923 als „Himmelfahrtstag“ an. Bei Konzerten hat der Komponist es sich selten neh­men lassen, die Zuhörerschaft selbst in sein Werk einzuführen.

 

Das hinterlassene Werk: Harris‘ Sinfonisches Poem „Paradise Lost“ kam noch häufiger zur Aufführung: 1901 im Heidelberger Bach-Verein un­ter Philipp Wolfrum, im Dezember 1905 von der Haiford Concerts Society in Birmingham, 1937 im antiken Odeion in Athen und 1938, gespielt vom BBC-Orchester, erstmals im Rundfunk. 1993 wurde das beim Verlag Schotts Söhne in Mainz erschienene, dort aber nicht mehr auffindbare Aufführungs­material neu erstellt für mehrere Auf­führungen durch die Thüringer Sym­phoniker Saalfeld-Rudolstadt, die Har­ris‘ Orchesterwerke auch erstmals auf CD eingespielt haben (Marco Polo CD 8.223660). 1999 erfolgte im Megaro Musikis in Athen eine erneute Auffüh­rung mit dem Orchestra Chroomatoon unter Miltos Logiadis. Harris‘ Lieder und Romanzen kamen in den Jahren 1992 bis 1995 bei den Rudolstädter Festspielen zur Wiederauffüh­rung. Hier erfolgte im Sommer 1994 auch Ulrich Urbans erstmalige Inter­pretation von Clement Harris‘ „Ballade“.

Viele seiner Werke sind heute in keiner Bibliothek mehr vorhanden, auch nicht bei den Verlagen. Dennoch konnte ein Großteil seiner Kompositionen für die Einspielung auf der CD aufgefunden werden. Nur die Versuche, die (nach 1897) bei Metzler in London erschienenen Six Songs („Faith“, „Forget me not“, „Absence“, „The Return“, „Hope“, „Vision“) zu finden, waren vergeblich. Glückli­cherweise besaß Harris‘ Biograf Claus Victor Bock in Amsterdam eine Foto­kopie von Harris‘ Manuskript von ei­nem dieser sechs Lieder, „Forget me not“. Vielleicht findet sich mithilfe die­ser Publikation doch noch ein Exemplar der Druckausgabe der Six Songs? Die „Quatre Etudes de Concert“ erschie­nen 1893 bei Schott in London, Mainz, Brüssel und Paris. Sie sind gleichzeitig Stimmungsbilder, und ein zutreffender Titel wäre „Die vier Jahreszeiten“, denn jede der vier Etüden, die Harris Cosima Wagners Tochter Daniela, der Halb­schwester Siegfried Wagners, gewidmet hat, trägt eine Jahreszeit als Überschrift. Das „Lied de Peter Cornelius“ in der „Transcription de Concert pour Piano par Clement Harris“ erschien 1893 bei Schott in London, Mainz, Brüssel und Paris. Cornelius‘ Lied „In Lust und Schmerzen“ aus dem Jahre 1854 auf ein eigenes Gedicht ist Marie von Sayn-Wittgenstein, der Tochter von Liszts Lebensabschnitts-Gefährtin Caroline, gewid­met. Auch Franz Liszt hat Gedichte von Peter Cornelius vertont. Zwei Romanzen von Clement Harris bemühen sich offenbar, den in Richard Wagners OEuvre nahezu ausgeklammer­ten Bereich der Kammermusik in Denkungsart, Formgebung und Harmonik des Bayreuther Meisters einzubringen. „Das Meer ist ein Teil meiner selbst, und lange von ihm getrennt sein, macht mich ruhlos und schwermütig. Ich exis­tiere zu Land, zu Wasser aber lebe ich.“ Harris‘ letzte Komposition waren die „Songs of the Sea“ auf Gedichte von Auberton Herbert, die er seinen Eltern widmete.

Nachdem der Pianist Ulrich Ur­ban sich über fünf Jahre lang intensiv mit dem pianistischen Schaffen von Clement Harris auseinander gesetzt und die Werke des britischen Jugend­freundes von Siegfried Wagner häufig in die Programme seiner Klavieraben­de integriert hatte, war 2001 beim MDR Leipzig die Gesamteinspielung von Harris‘ Klavierwerken erfolgt. 2004 erschien diese Einspielung beim Label VMS als CD, ergänzt um weitere Kammermusik und Lieder von Cle­ment Harris, ebenfalls mit Ulrich Ur­ban als Pianisten und Begleiter. Das Beiheft zur CD enthält ausführliche Werkanalysen aus der Feder von Peter P. Pachl. Der Titel „The Complete Piano Et Chamber Music“ ist insofern zutreffend, als bis heute kein Exem­plar der „Six Songs“ in irgendeiner Bi­bliothek aufgefunden werden konnte, so dass diese Werkgruppe auf der CD nur mit einem Lied berücksichtigt werden konnte:   Clement Harris: The Complete Piano Et Chamber Music. Ulrich Urban, Klavier; Andreas Hartmann, Violine, Anna Nie- buhr, Violoncello, Alexander Roske, Klarinette, Henryk Böhm, Bariton; VMS 124 DDD. Peter P. Pachl

 

Wir danken Peter P. Pachl –  erfolgreicher Musikwissenschaftler, Theatermann, Regisseur und Autor mit Schwerpunkt Siegfried Wagner – für die wie stets sehr liebenswürdige Genehmigung zur Überlassung seines Textes.

Das große Foto oben ist ein Screenshot auf dem ZDF-Film „Der Wagner Clan – eine Familiengeschichte“, der in Kooperation mit dem ORF 2014 im deutschen ZDF lief und als DVD zu beziehen ist (Mona-Film). Heino Ferch, Lars Eidinger und viele mehr geben diesem Film Kontur. Iris Berben verkörpert Cosima Wagner, ihr Sohn Oliver Berben führt Regie. Im Berliner Tagelspiegel schrieb  Jörg Seewald: Im Geist von Visconti – das ZDF macht aus dem Wagner-Clan ein Schauspielerfest mit einem prachtvollen Bilderreigen….Für Produzent Oliver Berben war es zunächst undenkbar gewesen, einen Wagner-Film zu drehen. Erst die Biografie des Engländers Jonathan Carr „Der Wagner-Clan“, die ihm sein Kollege Gero von Boehm in die Hand drückte, brachte ihn zum Umdenken. Drehbuchautor Kai Hafemeister begriff laut Berben schließlich die Aufgabe, „nur kein Biopic zu schreiben, sondern in einer unterhaltsameren Form. Ohne Hafemeister würde es diesen Film nicht geben“, der ausdrücklich „kein Musikfilm ist“, wie Berben betont… Wie gesagt: Kein Film für Wagner-Fans, eher eine Chance für die vielen, die wie Iris Berben Vorbehalte gegen Wagners Gedankenwelt hegen, „das eigene Halbwissen zu überdenken“. Den Wissbegierigen, die mit den historischen Ungenauigkeiten von „Der Wagner-Clan“ nicht leben können, sei der anschließende Film von Gero und Felix von Boehm ans Herz gelegt: „Der Wagner-Clan – Die Dokumentation“ beleuchtet das weitere Schicksal der Familie Wagner.

Im Gesangsolymp

 

Erscheint am 14. April: In einer konzertanten Aufführung von Porporas Germanico Re di Germania im Januar dieses Jahres in Krakau sorgte Julia Lezhneva mit ans Unwirkliche grenzender Virtuosität für einen sensationellen Auftritt. Nun legt die Sopranistin bei DECCA ihr drittes Soloalbum vor, welches die Eindrücke vom Konzert in Polen bestätigt (483 1518). Das Programm ist dem Werk Carl Heinrich Grauns gewidmet und bringt nicht weniger als 11 (!) Weltersteinspielungen von Opernarien, die alle in Berlin uraufgeführt wurden. Einzige bekannte Nummer ist der letzte (12.) Track mit der Arie der Agrippina („Mi paventi il figlio“) aus Britannico. Damit beendet die Sängerin diese neue CD, die alle Chancen auf einen Echo hat, mit furioser Attacke und fulminanten Koloraturgirlanden.

Begonnen hatte sie mit einer Arie der Aspasia aus L’Orfeo, „Sento una  pena“, in der die thrakische Königin und Rivalin Eurydices in aufgewühltem Zustand ihr Los beklagt. Es ist sogleich zu Beginn eine Gelegenheit für die Solistin, ihre Bravour mit spektakulären Koloraturrouladen zu demonstrieren.

Später widmet sich die Interpretin noch zwei weiteren Figuren dieser Oper – der  Euridice mit „Il mar s’inalza e freme“, in der sie mit jenem berühmten Sinnbild von tobenden Meer die drohenden Gefahren einer Flucht mit Orfeo beschreibt,  und dem Aristeo mit „D’ogni aura al mormorar“, in welcher Orfeos Bruder den Verlust Eurydices beweint. Drei Arien – drei Rollen – drei Seelenporträts – drei Zeugnisse höchster Gesangskunst.

Auch aus Armida gibt es zwei Arien – wieder unterschiedlichen Partien zugehörig: Ubaldos „La gloria t’invita“, in der er dem Ritter Rinaldo mit energischem Nachdruck den richtigen Weg weist, während die Arie der Titelheldin „A tanti pianti miei“ den Schmerz über den drohenden Verlust ihres Geliebten Rinaldo ausdrückt – ein Wechselbad von Trauer und Furor.

Gleiches betrifft die beiden Ausschnitte aus Silla – Ottavias „Parmi“ ist eine jener berühmten ombra-Szenen, in welcher sie eine Vision ihres verblutenden Geliebten Postumio vor Augen hat, während dessen „No, no di Libia“  ihn in Raserei zeigt angesichts des Gedankens, seine Geliebte an den Kaiser Lucio Silla zu verlieren. Vom Affekt-betonten Orchester getragen, steigert sich die Sängerin hier in einen Ausnahmezustand, in welchem die ekstatischen Koloraturen höchsten seelischen Aufruhr widerspiegeln.

Aus weiteren drei Opern stellt die Sopranistin jeweils eine Nummer vor. Aus Ifigenia in Aulide hört man die Arie des Agamemnone, „Sforzerò di te“, in der er in gleichfalls rasendem Tempo dem Orakel, dass seine Tochter geopfert werden müsse, trotzt, was der Interpretin wiederum akrobatische Gesangskunststücke abverlangt. Die Arie der Volunnia aus Coriolano, „Senza di te“, bringt einen kontrastierenden Ruhepunkt. Es ist die Klage einer Mutter über die schandbaren Taten ihres Sohnes, welche die Sopranistin mit reicher Empfindung vorträgt. Rosmiris „Piangete“ aus Il Mithridate ist wiederum ein Lamento, das in Lezhnevas eindringlicher Gestaltung zu den Höhepunkten der Platte zählt. Einziges Instrumentalstück der Platte ist die einsätzige Ouvertüre zu Rodelinda, ein beschwingtes, stürmisches Allegro, in welchem das Concerto Köln unter Mikhail Antonenko mit musikantischer Lust und reicher Agogik aufwartet. Der Dirigent und die Sängerin haben in der Berliner Staatsbibliothek die Arien für dieses Programm ausgewählt und dabei auf kontrastreiche Anordnung Wert gelegt. Das macht das Hören abwechslungsreich und spannend, vernimmt man doch historische und mythologische Episoden, wird man konfrontiert mit Emotionen aller Arten – heroischen, tragischen, freudigen, klagenden – und ist einem ständigen Wechselbad von Gefühl und Bravour ausgesetzt. Die intensive Vorbereitung auf diese Einspielung spürt man in jedem Moment – Lezhneva und Antonenko sind ein eingespieltes Paar und haben mit dieser CD im gewiss nicht schmalen Barockrepertoire für eine denkwürdige Veröffentlichung gesorgt.  Bernd Hoppe                                                                                                                                    

Roberta Knie

 

Die amerikanische Sopranistin Roberta Knie (* 13.5.1938 Cordell/ Oklahoma, USA) starb am 16. März 2017, wie wir mit Betroffenheit hörten. Als treue Anhänger der Deutschen Oper Berlin erlebten wir sie dort oft neben ihrem häufigen Bühnenpartner Jon Vickers, namentlich als Isolde, aber sie war hier auch in anderen Partien wie der Chrysothemis zu erleben. Ihr Tod kam nicht überraschend, denn die letzten Jahres ihres Lebens waren von ihrem tapferen Kampf gegen den Krebs gezeichnet, dem sie nun erlag.  G. H. 

Roberta Knie/ Isolde mit Jon Vickers an der Opéra de Quebec 1976/ Foto Isoldes Liebestod

Roberta Knie begann ihre Ausbildung an der Oklahoma University bei Norman und war dann Schülerin von Elisabeth Parham, Judy Bounds-Coleman und von der berühmten Eva Turner, die während dieser Zeit eine Professur an der Oklahoma University bekleidete. 1964 kam es zu ihrem Bühnendebüt am Stadttheater von Hagen (Westfalen) in der Rolle der Elisabeth im »Tannhäuser«. 1966-69 war sie am Stadttheater von Freiburg i. Br. engagiert. 1969 ging sie von dort aus an das Opernhaus von Graz, dem sie 1969-74 angehörte. Sie erregte 1969 am Theater von Graz in Partien wie der Salome von R. Strauss, der Tosca und der Leonore im »Fidelio« Aufsehen, dann auch am Opernhaus von Köln. Sie kam jetzt zu einer großen Karriere im hochdramatischen wie im Wagner- Fach. 1972-73 trat sie am Opernhaus von Zürich, 1973-74 am Opernhaus von Lyon als Brünnhilde im Nibelungenring auf, 1973-74 war sie am Teatro San Carlo Neapel zu Gast. 1974 sprang sie bei den Bayreuther Festspielen für eine erkrankte Kollegin als Brünnhilde ein und hatte einen sensationellen Erfolg. 1975 kam es zu ihrem USA-Debüt, als sie an der Oper von Dallas die Isolde im »Tristan« sang. 1976 gastierte sie bei den Festspielen von Bayreuth nochmals als Brünhilde im Nibelungenring. 1975 sang am Teatro San Carlos Lissabon die Salome von R. Strauss, 1976 die Brünnhilde im Nibelungenring und 1977 die Leonore im »Fidelio«, am Opernhaus von Montreal 1975 die Isolde im »Tristan«, an der New Jersey Opera 1975 die Chrysothemis in »Elektra« von R. Strauss, 1975 in Toulouse die Brünnhilde in der »Walküre« und 1977 die Isolde, 1975 in Dallas ebenfalls die Isolde, dort 1977 die Salome, 1978 die Lady Macbeth in Verdis »Macbeth«, 1980 die Turandot von Puccini. Am Teatro Colón Buenos Aires gastierte sie 1975 und 1976 als Salome, 1976 auch als Chrysothemis, an der San Francisco Opera 1976 in der »Walküre«, an der Oper von Rom 1977 als Leonore im »Fidelio« und 1980 als Brünnhilde in der »Götterdämmerung«, am Théâtre de la Monnaie Brüssel 1974 als Salome, an der Covent Garden Oper London 1978 als Isolde (mit Jon Vickers als Tristan), an der Grand Opéra Paris 1977 als Brünnhilde in der »Walküre«, an der Oper von Monte Carlo 1977 als Leonore im »Fidelio«, 1979 in der »Walküre«, an der Staatsoper Wien 1971-75 (u.a. als Leonore und als Sieglinde in der »Walküre«), 1972 an der Oper von Stockholm, 1979 am Opernhaus von Rouen, an der Chicago Opera 1977 einmal mehr als Isolde, ebenso 1980 in Washington, an der Oper von New Orleans 1981 als Salome. 1976 debütierte sie an der Metropolitan Oper New York als Chrysothemis, 1981 sang sie dort (einmal) ihre Glanzrolle, die Isolde.

Roberta Knie/ Isolde mit Gerd Brenneis an der Oéra de Lyon 1975/ Foto Isoldes Liebestod

Sie gastierte an den Staatsopern von Wien, Hamburg, München und Stuttgart, an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, an der Deutschen Oper Berlin, an den Opernhäusern von Mannheim, Kassel, Nürnberg und Straßburg, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Bologna, Parma und Lissabon, an der Welsh Opera Cardiff, an der Königlichen Oper Stockholm, in Montreal und am Reatro Colón Buenos Aires. 1975 trat sie an der Metropolitan Oper New York auf, an der sie als Isolde erfolgreich war. Höhepunkte in ihrem Bühnenrepertoire waren die Senta im »Fliegenden Holländer«, die Elsa im »Lohengrin«, die Isolde im »Tristan«, die Sieglinde in der »Walküre«, die Brünnhilde im Ring-Zyklus, die Donna Anna im »Don Giovanni«, die Elettra in »Idomeneo« von Mozart, die Salome von Richard Strauss, die Marschallin im »Rosenkavalier«, die Leonore im »Fidelio«, die Lisa in »Pique Dame« von Tschaikowsky, die Leonore in den Verdi-Opern »La forza del destino« und »Troubadour« und die Tosca. Auch im Konzertsaal erschien sie in einem umfassenden Repertoire. 1981 kam es bei der Sängerin zu einer Stimmbanderkrankung. Sie trat 1982 nochmals am Teatro Liceo Barcelona als Salome auf, sagte aber einen Auftritt als Turandot an der Oper von Dallas ab und gab dann ihre Kariere auf (und Wikipedia.org ergänzt: Her career was disrupted by illness several times – by viral pneumonia from 1981 to 1984, by a detached retina in 1991, and by colon cancer in 2000. She died on 16 March 2017 at the age of 79, survived by her partner of 24 years, Deborah Karner.)

Schallplatten: CBC (Isolde in vollständigem »Tristan«); VAI (weitere komplette »Tristan«-Aufnahme aus Kanada, 1965). Privataufnahmen aus der Metropolitan Oper. (Quelle: Isoldes Liebestod mit Dank; auch die hier gezeigten Fotos stammen von diesem wunderbaren Blog)

 

Frühes im Studio

 

Wer Bellinis Erstling Adelson e Salvini von 1825 hören will, musste bislang auf die zweiaktige Fassung einer Live-Aufnahme von 1992 aus dem Teatro Bellini Catania zurückgreifen (oder auf die noch ältere von 1985 mit dem Drottningholms Barockensemble). Nun legt Opera Rara eine Neueinspielung vor, die in den Londoner  BBC Maida Vale Studios im Mai 2016 in Verbindung mit einer konzertanten Aufführung im Barbican Center am 11. 5. 2016 entstand und auf die Version in drei Akten zurückgreift (ORC56, 3 CD).

Bellini hatte 1819 mit dem Studium am Königlichen Konservatorium in Neapel begonnen (u.a. bei Zingarelli, dem Direktor des Institutes) und 1824 sein Examen abgelegt. Er bekam die Chance, eine komplette Oper zu schreiben – Adelson e Salvini mit dem Libretto von Andrea Leone Tottola, das vor ihm bereits Valentino Fioravanti vertont hatte und das 1816 in Neapel mit Giovanni Battista Rubini, Bellinis späterem Lieblingstenor, herauskam.

Die Geschichte der beiden Freunde Salvini und Adelson, dessen Verlobte Nelly vor Beginn der Handlung von seinem Feind Lord Struley entführt wurde, dann aber zurückkehrt und auch von Salvini begehrt wird, spielt in Irland und behandelt den Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem Freund und der Leidenschaft für die Geliebte. Das ergibt turbulente Verwicklungen, gipfelnd in Salvinis Selbstmordversuch, den Adelson verhindert, und dem Anschlag auf Nelly als Folge seiner Sinnesverwirrung. Nelly aber ist unverletzt und kann mit Adelson, der Salvini verzeiht und ihn zurück schickt nach Italien, Hochzeit feiern.

Die Musik dieser Opera semiseria steht ganz in der Tradition Rossinis – jenes Komponisten, der mit seinen Werken in dieser Zeit das Teatro San Carlo in Neapel dominierte. Mit Salvinis Diener Bonifacio hat Bellini seinen einzigen echten Buffo-Charakter geschaffen, der an entsprechende Figuren aus Rossinis Barbiere und der Cenerentola erinnert. Die Einteilung in Gesangsnummern und gesprochene Dialoge spiegelt wiederum den Einfluss der opéra comique wider (stand Neapel von 1806 bis 181 doch unter französischer Herrschaft).

Für die Besetzung waren drei männliche Altisten, ein Tenor und vier Baritone bzw. Bässe vorgesehen. Die zentrale Partie der Nelly, Adelsons Verlobte und auch von Salvini geliebt, übernahm der 14jährige Giacinto Marras, der später eine erfolgreiche Karriere in ganz Europa machen sollte. In der Neuaufnahme gibt es natürlich keine Travestie-Besetzung, hier singt Daniela Barcellona, deren Timbre bekanntermaßen nicht jedermanns Geschmack ist (auch meiner nicht), aber als Nelly gelingt ihr ein sehr kultivierter Vortrag. Die Auftrittsromanze „Dopo l’oscuro nembo“ (später Giuliettas „Oh quante volte“ aus den Capuleti von 1830) singt sie mit schlanker Tongebung, kontrolliertem Vibrato und geschmackvoll verziertem Da capo. Nur im Finale des Werkes stellt sich in der Höhe wieder der maskulin-strenge Ton ein.

Der erste der beiden Titelhelden, der sich im Finale des 1. Aktes mit einem kantablen Thema einführt, ist Simone Alberghini mit einem Bassbariton von schöner Farbe. Seine Stimme ist leichtfüßig genug, um die flinken Nummern seiner Partie, so das muntere Duett mit Salvini im 2. Akt oder das gleichfalls lebhafte mit Bonifacio zu Beginn des letzten Aufzugs, mühelos zu absolvieren.

Schon in diesem Frühwerk gibt es mit dem Salvini eine heikle Tenorpartie in exponierter Terssitura, die bereits den Arturo der Puritani vorwegnimmt. Dafür besitzt Enea Scala die passende Stimme mit sinnlich-jugendlichem Klang und schwärmerischer Emphase. Ihm fällt die letzte Arie der Oper zu, in der in der er seine ewige Liebe zu Nelly beteuert und in der auch der Opera Rara Chorus (Eamonn Dougan) mitwirkt. Es ist ein schmachtendes, reich ornamentiertes Solo, in welchem der junge Sänger seine hohe Kunstfertigkeit demonstriert. Salvinis  Diener Bonifacio lässt mit seinem munteren Geplapper an Rossinis buffoneske Charaktere denken, und Maurizio Muraro ist mit seinem eloquenten Bass dafür der ideale Interpret. Souverän meistert er das zungenbrecherische Tempo seiner Kavatine „Bonifacio Voccafrola?“, das sich in einem typisch rossinianischen accelerando immer mehr steigert. Nicht weniger Gewandtheit verlangt seine Arie im 2. Akt „Taci, attendi“, und auch hier erweist sich Muraro als Meister.  Als Colonel Struley, Adelsons Feind, lässt Rodion Pogossov einen virilen Bassbariton mit grimmigem Ausdruck hören, der dennoch auch eine vollendete Kantilene zu formulieren versteht. Mit seinem Freund Geronio eröffnet er den 2. Akt mit einem Duett, in welchem David Soar mit seinem Bass die Besetzung solide ergänzt.

Zu Lord Adelsons Personal gehören noch die junge Bedienstete Fanny (Kathryn Rudge mit feinem Sopran in der melancholischen Introduzione) und die Gouvernante Madama Rivers (Leah-Marian Jones gebührend resolut).

Die Sinfonia nimmt die zum Pirata vorweg und stellt eines jener dramatisch bewegten Motive vor, wie man es später auch in der Norma vernimmt. Und Bellini leitet mit diesem Thema auch das ausgedehnte Finale 1 seines Erstlings ein. Dessen Bausteine sind ein erregter Dialog zwischen Nelly und Salvini, während Bonifacio gemäß seiner buffonesken Anlage den Charakter der Szene zum Heiteren verändert. Fanny, Geronio und Madama Rivers stoßen hinzu und machen das Ganze zu einem wirbelnden Ensemble, dessen Schlussteil „Di piacer la voce“ fast ein Zitat aus der Cenerentola darstellt. Daniele Rustioni findet mit dem BBC Symphony Orchestra die richtige Balance zwischen den elegischen und quirligen Teilen der Komposition, sorgt in den drei Finali für wirkungsvolle Steigerungen und ist den Solisten jederzeit ein einfühlsamer Begleiter.

Die von Opera Rara verwendete kritische Edition der Casa Ricordi berücksichtigt den aktuellen Stand der Erkenntnisse, ist Bellinis Autograph doch nur unvollständig erhalten. Die vier Nummern des Anhangs stellen jene Revisionen und Zusätze vor, welche Bellini 1828 für eine geplante Wiederaufführung seines Werkes, das nach Bianca e Fernando (1826) und vor allem Il pirata (1827) in Vergessenheit geraten war, vorgenommen hatte. Da gibt es eine kürzere Variante von Nelly Arie „Dopo l’oscuro nembo“ und ein verändertes Duett von Salvini und Bonifacio, in welchem der Tenor Töne in der Extremlage zu bewältigen hat, welche schon auf die Puritani verweisen. Überhaupt kann sich Scala in den Tracks des Anhangs erst richtig profilieren, denn auch in einer Version des ersten Finales, kann man ihn in dieser Region hören, während Barcellona hier wieder mit ihren Verzerrungen in der Höhe aufwartet.

Die Ausstattung der Opera Rara-Ausgaben gibt sich inzwischen bescheidener – ein schlichter Schuber statt einer schmucken Konfektschachtel und weniger historische Abbildungen mit den berühmten Interpreten jener Zeit. Aber der Sammler freut sich über jede Neuveröffentlichung aus dem vergessenen Repertoire des 19. Jahrhunderts, was die Firma zu weiteren Taten ermuntern sollte. Bernd Hoppe

Ma che coraggio!

 

Alle Frühwerke  Giuseppe Verdis bis hin zum Macbetto wollen die Heidenheimer Festspiele unter ihrem Leiter Marcus Bosch in den kommenden Jahren aufführen und haben 2016 zwangsläufig mit dem ersten überlieferten, nämlich Oberto (eigentlich mit dem Zusatz Conte di San Bonifacio) begonnen. Eine Aufzeichnung davon liegt jetzt auf zwei CDs vor. Das Cover kündet von einer halbszenischen Aufführung mit vielen Stühlen, auf denen die Solisten offensichtlich auch ab und zu balancieren mussten, was dem Gesang wahrscheinlich nicht zuträglich war, aber selbst bei Halbszenischem und bei ansonst trauten Festspielen ist man offensichtlich als Sänger nicht mehr vor eigentlich Unzumutbarem sicher.

Die Oper jedenfalls ist unverkennbarer Verdi, und sowohl die Capella Aquilea wie der Chzech Philharmonic Choir Brno stellen sich mit viel feinsinnigem Brio kultiviert federnd darauf ein und machen unter Marcus Bosch einen guten Eindruck, wirken insbesondere bei den Finali mitreißend.

Erfreut ist man über das Textbuch in drei Sprachen, auch wenn die Trackliste nicht ganz zutreffend ist und auch mal Sätze, die es im Italienischen gibt, im Deutschen und Englischen weggefallen sind. Eine Besetzungsliste am Anfang des Booklets gibt es nicht, man muss sich Namen und dazu gehörende Rolle aus den Biographien zusammensuchen, wenn man nicht zufällig auf die Angaben nach einem Aufsatz über das Werk gestoßen ist, wo aber der Tenor irreführend als Bariton geführt wird.

Dass die Oper nicht zum gängigen Repertoire gehört, mag auch an der spröden Handlung liegen. Ein in seiner und der Tochter  Ehre gekränkter Vater schreitet unbeirrt zur Rache, obwohl die neue Verlobte auf den Ungetreuen verzichten und die beiden einst Verlobten wieder zusammen führen will. Er fordert den zum Rücktausch Bereiten heraus, wird getötet, die Tochter geht ins Kloster, der siegreiche Duellant flieht ins Ausland und die edelmütige Zweitbraut bleibt betreten zurück.

Für die Titelpartie hat man mit Woong-Jo Choi einen der typischen machtvoll-weichen Bässe eingesetzt, die angenehm samtig klingen können und von schönem Ebenmaß sind. In der Cabaletta im zweiten Akt entwickelt der Bass auch den bis dahin etwas fehlenden Furor, den man für die Rolle haben sollte. Adrian Dimitru, der den ungetreuen Riccardo singt, ist zweifelsfrei ein Tenor, wenn auch einer der eher wehleidig als melancholisch klingen, leicht meckernden Art, dessen Stimme manchmal zu eng klingt, der aber eine achtbare Cabaletta singt und im Duett mit dem Mezzosopran an Stimmschönheit gewinnt. Die verlassene Braut Leonora hat mit dem Sopran von Anna Princeva ein apartes Timbre, singt mit schönem Legato und findet besonders in der Mittellage zu innigen Tönen, während die Höhen oft nur angetippt werden. Anrührend wird die Schlussarie gesungen, wenn auch mit beachtlichen Einschwingzeiten. Die schönste Stimme hat der Mezzosopran Katerina Hebelkova als verzichtsbereite Cuniza mit viel Leuchtkraft, schöner Agogik und sehr spritzig in der Cabaletta.

Auf die weiteren Projekte der Festspiele darf man gespannt sein, so auch darauf, ob es gelingt, die richtigen Soprane für die in dieser Hinsicht schwer zu besetzenden Frühwerke zu engagieren (Coviello 2 CD COV 91702), Ingrid Wanja      

Nymphisches

 

Die Reihe der Einspielungen von Werken Johann Simon Mayrs setzt Naxos mit dem Dramma per musica Telemaco nell’isola di Calipso fort, das 1797 in turbulenten politischen Zeiten im von Napoleons Truppen besetzten Venedig zur Uraufführung kam (8.660388-89). Viele Komponisten haben die mythologische Geschichte von Telemaco vertont. Der Sohn Ulisses strandet auf einer Insel und begegnet dort der Göttin Calipso, die einst von seinem Vater verlassen wurde, wofür sie sich am Sohn rächen will. Für diesen empfindet die Nymphe Eucari Zuneigung, was Calipsos Zorn hervorruft, denn auch sie schwankt zwischen Liebeshoffnung auf Telemaco und Zorn. Mentore, Telemacos Freund und Begleiter, der zunächst vermisst wird, später aber erscheint und von Calipso umgarnt wird, gemahnt seinen Schützling zur Abreise von der Insel. Statt Liebesabenteuern soll er sich für Heimat und Ehre entscheiden.

Spiritus rector des Unternehmens ist der Dirigent Franz Hauk, der 2003 den Simon Mayr Chor gründete und viele Produktionen der Serie verantwortete. Auch hier steht er am Pult, diesmal des Concerto de Bassus – einem Ensemble, das sich aus Studenten und Absolventen der Münchner Universität für Musik und Darstellende Künste zusammensetzt. Dem Dirigenten gelingt eine solide Einspielung, die vor einer konzertanten Aufführung des Werkes am 5. September 2015 in Neuburg an der Donau entstand.

Die Besetzung wird dominiert von vier Sopranen, die sich in ihren Timbres nicht sonderlich voneinander abheben, was das Klangbild etwas einförmig macht. Siri Karoline Thornhill in der Titelrolle singt kultiviert und hat in einer Kavatine von mozartscher Gefühlstiefe („Bella Dea“) Gelegenheit für empfindsamen Gesang. Auch ihr Solo im 2. Akt („La bella età d’amore“) gefällt mit den lieblich getupften Tönen. Für die Calipso setzt Andrea Lauren Brown eine gleichfalls gepflegte Stimme ein, die in der Arie „Amore è un Nume“ im 2. Akt Contessa-Töne vernehmen lässt und im Finale mit „Furie spietate“ ihre Unsterblichkeit verflucht. Mit einem Furor gleich der Elettra gelingen der Sängerin hier die stärksten Momente. Jaewon Yun als Nymphe Eucari äußert sich mit gebührend lieblichen Klängen; Katharina Ruckgaber als Sacerdote di Venere komplettiert mit beherzten Koloraturen das Sopran-Quartett.

Eine zentrale Partie des Werkes, Telemacos Freund Mentore, fällt dem Tenor zu. Hier ist es der in diesem Genre versierte Markus Schäfer, dessen Timbre freilich hin und wieder einen buffonesken Anflug nicht verhehlen kann. Das steht der Tito-nahen Figur, die sich im 1. Akt mit „Vivo ancor“ energisch auftrumpfend einführt, im Wege. Immerhin gelingt es dem Interpreten, das erste Finale zu dominieren und im 2. Akt sein von Bläsern martialisch eingeleitetes Solo „L’alloro guerriero“ mit Nachdruck zu formulieren. Nach der Mitwirkung in zwei mehrstimmigen Gesängen – einem Quartett und dem stürmischen Sextett im 2. Akt – ist der tiefsten Männerstimme der Besetzung, dem Sacerdote di Bacco, mit „Quell’orgogliosa fronte“ dann doch noch eine Arie zugeteilt. Niklas Mallmann singt sie mit energischem Zugriff in Figaro-Nähe.

Der Simon Mayr Chorus kann in der erregten Szene des 3. Aktes („Ah, che fai!“). die deutlich an die dramatisch aufgewühlte Situation in Idomeneo erinnert, Wohlklang und Expressivität vereinen. Mit den verzweifelten Einwürfen des Telemaco beweist Thornhill auch ihr dramatisches Potential. Mayrs Musik zwischen Mozart und Rossini ist zumeist leichtfüßig und von großem Liebreiz, hat aber durchaus ihre Sturm und Drang-Momente. Von heiterer Munterkeit gleich einem Menuett tönt der Ballo des 1., von transparenter Zartheit der des 2. Aktes. Eine Tempesta in der Tradition Rossinis lässt aufgewühlte Turbulenzen vernehmen. Hauk hat für all diese Stimmungen das richtige Gespür und erweitert seine Mayr-Serie um einen gewichtigen Baustein. Bernd Hoppe

Vivaldi mit Rätseln

 

Reizvoll ist das Programm einer neuen CD bei Ëvoe Records mit dem Titel Carnevale di Venezia (ËVOE 003). Zu hören sind Arien und Instrumentalstücke aus fünf Opern und drei geistlichen Werken Vivaldis, die von der Cappella dell’Ospedale della Pietà Venezia unter Leitung von Stefan Plewniak musiziert werden – einem Klangkörper, der nach dem venezianischen Vorbild im 18. Jahrhundert nur mit jungen Musikerinnen besetzt ist. Damals waren es Waisen, die in diesem Orchester, das von Vivaldi selbst gefördert wurde, Zuflucht fanden. 2013 hatte Plewniak die Initiative, ein Ensemble nach dem historischen Modell zu gründen, um diese Tradition wieder zu beleben. Die Gesangssolisten sind die Mezzosoprane Miriam Albano und Natalia Kawalek sowie der Counter Jakub Józef Orlinski. Leider sind im Booklet die einzelnen Arien den beiden Interpretinnen nicht zugeordnet, so dass nur eine pauschale Beurteilung der zwei Sängerinnen möglich ist. Die Beiträge des Countertenors sind dagegen auf Grund des Stimmtyps eindeutig auszumachen, obwohl auch sie nicht ausgewiesen sind. Er beginnt mit „Vedrò con mio diletto“ aus Il Giustino, einer sehr getragenen, empfindsamen Arie, die er klangvoll und mit großer Kultur vorträgt. Auch im folgenden „Sento in seno“ aus derselben Oper, sehr delikat mit pizzicato-Tupfern eingeleitet, weiß er mit subtiler Stimmführung zu beeindrucken. Mit virtuosen Koloraturläufen unterstreicht er sein technisches Niveau im rhythmisch energischen  „Longe mala“ aus der Motette RV 629 sowie in der letzten Nummer der Programmfolge, dem furiosen „Fara la mia spada“ aus Il Tigrane, in welchem sich der Sänger fulminant behauptet.

Die Mezzosoprane singen Arien aus L’Olimpiade (das Gleichnis vom Schiff in den Wellen „Siam navi all’onde“ mit beeindruckendem Fluss der Koloraturen), Griselda („Ombre vane“), dem Oratorium Juditha Triumphans („Armate facae“) und Il Farnace (das klirrend frostige „Gelido in ogni veno“). Die beiden Stimmen unterscheiden sich im Timbre nicht wesentlich und haben gelegentlich einen etwas strengen Beiklang, zeichnen sich aber durch hohe Virtuosität aus.

Die Cappella erhöht den musikalischen Gesamteindruck der Platte mit den drei Sinfonie beträchtlich. Die zu L’Olimpiade eröffnet in stürmisch aufgewühltem Duktus das Programm und lässt sogleich das hohe künstlerische Niveau des Klangkörpers erkennen, der mit vitaler Energie und reicher Agogik aufwartet. Später folgen noch die Ouvertüren zu Il Farnace und Il Giustino, auch diese kontrastreich im Wechsel von bewegten und kantablen Sätzen. Die Ausgabe begleitet ein aufwändig gestaltetes Booklet in fünf (!) Sprachen. Bernd Hoppe

 

Kurt Atterberg: „Aladin“ zum zweiten

Seit Generalintendant Joachim Klement und Operndirektor Philipp Kochheim beim Staatstheater das Sagen haben, gab und gibt es in Braunschweig immer wieder Ausgrabungen unbekannter und fast vergessener Opern, wie neben der kleinen Reihe amerikanischen Musiktheaters (Hexenjagd von Robert Ward, Mansfield Park von Jonathan Dove, Argentos Reise des Edgar Allan Poe u.a.) Falena von Antonio Smareglia, Sturmhöhe von Bernard Herrmann oder Jeno Hubays fulminante Anna Karenina, um nur einige zu nennen. In der für Intendanten und Operndirektor zu Ende gehenden Braunschweiger Zeit – Klement wird Schauspielchef in Dresden, Kochheim ab Mai 2017 General Manager und Artistic Director des Opernhauses Aarhus – gibt es noch zwei absolute Raritäten, ab Ende April Riccardo Zandonais Giulietta e Romèo und nun (am 11. März 2017) Aladin von Kurt Atterberg (1887-1974). Nun also die Kritik zur Aufführung am 11. März, ein ausführlicher Artikel zu Atterberg selbst und seiner Beschäftigung mit dem Sujet von von Christian Steinbock und Stig Jacobsson folgt.

Kurt Atterberg/ youtube

Der schwedische Komponist wurde in Stockholm zum Ingenieur ausgebildet und arbeitete dort von 1912 bis 1968 am Königlichen Patentamt, ab 1936 in leitender Position. Trotz weniger musikalischer Studien in Stockholm und in Deutschland war Atterberg weitgehend Autodidakt. In den Jahren 1916 bis 1922 dirigierte er am Stockholmer Schauspielhaus, von 1919 bis 1957 war er als Musikkritiker für eine überregionale schwedische Morgenzeitung tätig; außerdem leitete er von 1924 bis 1947 die schwedische Komponistenvereinigung. Neben neun Sinfonien, die ab und zu noch zu hören sind, zahlreichen weiteren Orchesterwerken und einiger Kammermusik komponierte er etliche Schauspielmusiken sowie fünf Opern, die inzwischen alle in Vergessenheit geraten sind (eine Aufführung von Fanal aus der Stockholmer Oper von 1957 mit Ingvar Wixel und Barbro Ericson ist Sammlern nicht fremd). 1922 wurde Atterberg mit der Aufführung seiner 3. und 4. Sinfonie in Deutschland weiteren Kreisen bekannt; besonderen Erfolg hatte er mit der 1929 in Köln uraufgeführten 6. Sinfonie, mit der er den Internationalen Schubert-Wettbewerb der Plattenfirma Columbia gewann. Atterberg gilt als einer der führenden Komponisten der zweiten Generation schwedischer Spätromantiker. Er befürwortete die Idee, dass romantische Musik die nationale Identität stärken sollte, während seine Gegner den Charakter moderner Musik als übernational definierten. Ab 1933 intensivierte sich Atterbergs Zusammenarbeit mit deutschen Komponisten und Librettisten. Er verteidigte stets die nationalsozialistische Kulturpolitik, was sich auch darin zeigte, dass er von 1935-38 als Generalsekretär des „Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten“, einer Organisation der Reichsmusikkammer, tätig war.

Zu Atterbergs „Aladdin“: die Königliche Oper Stockholm/ Wikipedia

Dazu auch ein Einschub von Wikipedia: Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Zusammenarbeit mit deutschen Komponisten und Librettisten noch intensiviert. Seine Symphonien wurden von bedeutenden Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Arturo Toscanini aufgeführt. Insbesondere seine Opern Fanal und Aladdin wurden in deutschen Opernhäusern aufgeführt, allerdings nur in regionalen Opernhäusern, nicht in den Metropolen. Seine standhafte Befürwortung der nationalsozialistischen Kulturpolitik wird dadurch unterstrichen, dass er von 1935-1938 als Generalsekretär des Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten, einer Organisation der Reichsmusikkammer, fungierte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Atterberg, auch wegen antisemitischer Äußerungen in seiner Korrespondenz, als Nazi-Sympathisant beschuldigt. Eine von ihm beantragte Untersuchung durch die Kungliga Musikaliska Akademien entlastete ihn allerdings formal. In der Folge wurde Atterberg allerdings von vielen Kollegen gemieden und wurde zu einer Randfigur. Zum Beispiel musste 1952 seine überarbeitete erste Oper Härvards Heimkehr nach der Premiere abgesetzt werden, da für die nächste Aufführung zu wenige Karten verkauft wurden. (…) Zusammen mit Ture Rangström war Atterberg der führende Tonsetzer der zweiten Generation schwedischer Spätromantiker und damit mit diesem zusammen gleichsam Fortsetzer der durch Wilhelm Peterson-Berger, Wilhelm Stenhammar und Hugo Alfvén begründeten Tradition. Er war ein Befürworter der Idee, dass romantische Musik die nationale Identität stärken sollten, während seine Gegner den Charakter moderner Musik als übernational und kosmopolitisch definierten.  Während seine fünf Opern in Vergessenheit gerieten, sind seine neun Sinfonien wieder häufiger zu hören. Zu seinen Opern gehören Härvard der Harfner 1916- 18/ 1952, Wogenross 1923- 24, Fanal 1929 – 32, Aladdin (sic!) 1936 – 41 und Der Sturm 1946 – 47; dazu die Ballette Per Schweinehirt 1914 – 15, Ballettskizzen 1919 und Die törichten Jungfrauen 1920. (Wikipedia)

.

Nach 1945 wurde Atterberg – auch wegen antisemitischer Äußerungen in seiner Korrespondenz – als Nazi-Sympathisant beschuldigt. Eine von ihm beantragte Untersuchung durch die Königliche Musikalische Akademie entlastete ihn jedoch nur formal. In der Folgezeit geriet er auch infolge seines konsequenten Festhaltens am romantischen Kompositionsstil weitgehend in Vergessenheit.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Wie der Regisseur Andrej Woron im Interview im NDR zu Aladin sagte: „Die Musik hat manchmal sehr wagnerianische Züge, Rhythmus, manchmal Riesen-Pathetik, aber sie hat auch gleichzeitig sehr lyrische, fast melancholische Momente und musikalische Feinheiten. Das ist romantische Musik, großer symphonischer Klang. Dieses Werk ist interessant! 1941 ist das geschrieben worden. Diese Zeit steht immer ein bisschen unter einer Art Zensur. Ich glaube, sie ist in eine Art von Vergessenheit geraten. So etwas muss man schon ausgraben, finden. Und für mich ist diese Oper ein solches Fundstück.“

.

Die Oper Aladdin (im schwedischen Original mit -dd-) wurde am 18. März 1941 an der Königlichen Oper uraufgeführt. Dazu hatten Atterberg und seine Frau Margareta den Text ins Schwedische übertragen. Bei der Uraufführung sangen Einar Andersson (Aladdin), Ruth Moberg (Yasmine), Joël Berglund (Muluk), Björn Forsell, Arne Wirén, Leon Björker und Folke Johnson. S. A. Axelson dirigierte. Die deutsche Erstaufführung fand am 18. Oktober 1941 in Chemnitz statt.  Obwohl der Intendant euphorisch urteilte: „Schon nach der Ouvertüre starker Beifall, der sich von Bild zu Bild steigerte und zum Schluss zu lebhaften Ovationen anwuchs. Glaube an den bleibenden Erfolg dieses publikumswirksamen Werkes.“, war der Erfolg allerdings bescheiden, und es kam seither zu keiner weiteren Aufführung. (Wikipedia). Was natürlich auch an dem fortschreitenden Weltkrieg gelegen haben dürfte.

Dass die Oper danach bis zur Braunschweiger Premiere niemals mehr aufgeführt wurde, könnte sich in der Sympathie des Komponisten zum Nationalsozialismus gründen. Denn das Werk hat eigentlich alles, was eine „Märchenoper für Erwachsene“ aus Tausendundeiner Nacht haben muss: Aladin ist ein junger Held, der die schöne, aber anfangs verschleierte Prinzessin Laila liebt, die Tochter des Sultans von Samarkand. Sein Gegenspieler ist der böse Großwesir Muluk, der mit Laila auch die Macht in Samarkand erringen will. Es gibt eine Höhle voller Schätze, in der mit Hilfe des gutmütigen Geistes Dschababirah eine Wunderlampe errungen wird, mittels derer alles auf das selbstverständliche Happy End zuläuft.

.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Regisseur und Ausstatter Andrej Woron hatte es sich versagt, abgesehen von wenigen Andeutungen, eine orientalische Märchenwelt auf die Bühne zu stellen. Vielmehr ging er bei den Kostümen durch alle Jahrhunderte vom Mittelalter bis zur Gegenwart; das sollte wohl zeigen, dass zu allen Zeiten im Märchen das Gute über das Böse siegt. Die Höhle voller Juwelen und Kostbarkeiten war ein eher nüchterner Bank-Tresorraum, an dessen Boden die Choristen mit schwarzen Umhängen wie griechische Klageweiber wirkten. So blieben die zum Stoff aus Tausendundeiner Nacht gehörenden Orientalismen allein der schwelgerischen Musik überlassen, wo sie allerdings in reichlichem Maß zu hören waren. Im Übrigen stand auf der Drehbühne ein riesiger, zunächst mit einem schwarzen Schleier verhängter Würfel (wie die Kaaba in Mekka), der mit aufklappbaren Gitter-Wänden auf verschiedenen Ebenen bespielbar war. Das Personal im Sultans-Palast war schließlich zum Vergnügen des Publikums satirisch aufgepeppt, indem der Sultan selbst dem jetzigen Herrscher vom Bosporus bis zum Kaukasus ähnelte; dort trafen sich Politiker vom neuen amerikanischen Präsidenten über die deutsche Bundeskanzlerin im Blazer mit Rautenzeichen bis zur wie immer auffällig gekleideten Grünen-Politikerin. Manch andere Bezüge zur Gegenwart wie die Diskussion über die Verschleierung von Frauen oder die Zerstörung von Kulturgütern durch den so genannten „Islamischen Staat“ wirkten dagegen etwas krampfhaft. Befremdlich war in diesem Zusammenhang auch teilweise die Kostümierung, wie beispielsweise die des guten Geistes Dschababirah, der u.a. mit Transparent-Anzug über der Unterhose aufzutreten hatte (Künstlerische Mitarbeiterin Kostüme: Hanna Sibilsiki).

Insgesamt gelang allen Mitwirkenden eine eindrucksvolle Umsetzung des Märchenstoffes, wenn auch die Diktion teilweise zu wünschen übrig ließ; da mussten die Obertitel dem Verständnis aufhelfen. Michael Ha gestaltete den reichlich naiven Aladin gut nachvollziehbar; sein charakteristischer Tenor gefiel vor allem in den wenigen lyrischen Teilen der Partie; die Höhen klangen hin und wieder angestrengt. Eine ansehnliche Laila war Solen Mainguené, die mit ihrem in allen Lagen abgerundeten, durchschlagskräftigen Sopran begeisterte. Mit wie immer großvolumigem Bass gab Selçuk Hakan Tiraşoğlu den guten Geist, der zunächst als blinder Bettler auftrat. Aladins Gegenspieler, der machtgeile Großwesir Muluk in Parade-Uniform, war Oleksandr Pushniak, der erst im zweiten Teil zeigte, zu welch dramatischer Attacke sein Bariton fähig ist. Sultan Nazzedrin war mit schütterem Bassbariton Frank Blees, während in Nebenrollen die stimmstarken Chor-Solisten Justin Moore, Patrick Ruyters, Yuedong Guan und  Franz Reichetseder ausgesprochen positiv auffielen.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Der von Georg Menskes einstudierte Chor erfüllte klangausgewogen seine auch darstellerisch anspruchsvollen zahlreichen Aufgaben. Das aufmerksame Staatsorchester ließ unter der sicheren Leitung seines früheren Chefs Jonas Alber die leuchtenden Klangfarben, die weit gefassten melodischen Aufschwünge und nicht zuletzt die aparten folkloristischen Orientalismen der spätromantischen Komposition mit beeindruckender Souveränität erklingen.

Nachdem das Premierenpublikum zur Pause noch zurückhaltend reagierte, steigerte sich der Beifall am Schluss deutlich und war bei Sängern und Orchester einschließlich Dirigent mit Bravos durchsetzt. Die Firme cpo will die auch im Radio übertragene Oper als CD-Ausgabe herausbringen (Foto oben: „Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn). Gerhard Eckels/ Zusätze Wikipedia/ Redaktion G. H.

.

Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Miro Belamarić

 

Am Sonntag, dem 5. März 2017 starb der kroatisch-österreichische Dirigent und Komponist Miro Belamarić kurz nach Vollendung seines 82. Geburtstags in Wien. Er galt als einer der bedeutendsten Dirigenten und Komponisten Kroatiens.

Miro Belamarić wurde 1935 in Šibenik, Kroatien, geboren, studierte Komposition bei Stjepan Šulek und erhielt seine Dirigierausbildung bei Milan Horvat, außerdem bei Lovro von Matačić und Sergiu Celibidache. In Salzburg war er Assistent von Herbert von Karajan und Karl Böhm. Zuerst war er als Dirigent des RTV – Symphonieorchesters Zagreb tätig, dann als künstlerischer Leiter des Zagreber Komedia-Theaters, danach an der Oper des kroatischen Nationaltheaters Zagreb, dessen Chefdirigent er von 1978 – 1990 war. Neben seiner Tätigkeit in seiner Heimat war er auch an zahlreichen bedeutenden Opernhäusern und Konzertsälen tätig, unter anderem in Wien, bei den Salzburger Festspielen, in München, Berlin, Zürich, Venedig,  Prag, Moskau, Sankt Petersburg, New Orleans, Mexico City, um nur die allerwichtigsten zu nennen.

Als Komponist schuf er zahlreiche symphonische, Chor- und Kammerwerke, unter anderem die provokanten Variationen für Klavier und Orchester „Wie man Mozart tötet“. Von der Öffentlichkeit und der Kritik wurden besonders seine Opernwerke beachtet: Die Liebe von Don Perlimplin (Oper nach Lorca), Uraufführung 1975 in Zagreb, danach Osijek, Prag und Kassel. Don Juan – Ein Rebell für alle Zeiten (nach de Molina), Fragment; 1. Preis beim Opernwettbewerb der Wiener Staatsoper 1983. Geschichten aus dem Wiener Wald (nach Horváth) Uraufführung 1993 in Karlsruhe, danach Zagreb. Kritikerpreis J.F. Slavenski als bester kroatischer Komponist des Jahres 1993, Staatspreis der Kroatischen Republik, V. NAZOR Preis als bester kroatischer Komponist des Jahres 1997. Symphonische Dichtungen: Croatia, Uraufführung Zagreb 1994, danach Wien. Spectrum, valses symphoniques viennoises en couleurs, Uraufführung Zagreb 1996. Von Zeit zu Zeit war Miro Belamarić auch erfolgreich als Opernregisseur tätig.

 

Miro Belamaric/ teatar.hr

 

Und unsere Wiener Freundin und  Übersetzerin Ingrid Englitsch widmet ihrem langjährigen Lebensgefährten diese Zeilen: Leb wohl, Miro! „Pflegeleicht“ warst du nie. Du warst vielmehr als ausgesprochen schwierig bekannt. Aber was heißt schwierig? Du warst immer kompromisslos. Kompromisslos in deiner Arbeit, deinen Urteilen und Meinungen (Diplomatische Formulierungen waren deine Sache nicht, was dir nicht nur Sympathien eingebracht hat.) und in deinem privaten Leben (wodurch du mir das Leben mit dir nicht gerade immer einfach gemacht hast). Doch muss ein Künstler nicht ein Unbequemer sein? Muss er nicht konsequent seinen Weg gehen? Ist Ehrlichkeit, künstlerische und menschliche, nicht oberstes Gebot für einen kreativen Menschen wie dich? Ich denke, es ist die einzige Möglichkeit, wenn man nicht in der gefälligen Mittelmäßigkeit versinken will. Du warst alles Mögliche. Ein unendlich charismatischer Mensch und Künstler, ein Visionär, ein mühsamer Mensch im Alltag, manchmal ein Monster, nur eines warst du nie: mittelmäßig.

Du warst widersprüchlich. Im realen Leben warst du nie verankert, beim Öffnen einer Sardinendose hast du dich verletzt, das habe besser ich gemacht. Mit Geld konntest du nicht umgehen,  da musste ich höllisch auf dich aufpassen. Zwei und zwei war bei dir nie vier, immer so etwas in der Art von 3,92 oder 4, 9. Dass das durchaus zu Problemen führen kann, hast du nie verstanden. Aber Dinge, die sonst niemand schafft, hast du auf die Beine gestellt. Du hast trotz schwerer Erkrankung deine letzte Oper in einem Tempo fertiggestellt, in dem das wohl sonst niemand geschafft hätte. Du hast den ersten „Ring“ von Wagner in Kroatien zur Aufführung gebracht (Leider kam für die beiden letzten Teile der Krieg dazwischen), du hast trotz chronischen Geldmangels in Kroatien phantastische Aufführungen von „Elektra“ und „Salome“ in Zagreb auf die Bühne gebracht.

Mein Leben wäre zweifellos ruhiger verlaufen, wenn ich damals vor fast 40 Jahren an diesem Sonntag, an dem ich dich kennen gelernt habe, nicht in die Staatsoper gegangen wäre, sondern schwimmen, wie ich es eigentlich vorhatte. Oh ja, wesentlich ruhiger und problemloser. Aber ist es das, was das Leben ausmacht? Ruhe, keine Probleme, ein mittelmäßiges Einerlei. Manchmal habe ich es mir gewünscht, wenn es besonders „rund ging“. Aber ich will keinen Moment mit dir missen, die schönen Momente nicht, aber auch nicht die weniger schönen, denn all das warst du. Und es sollte so sein. Leb wohl, Miro, vergessen werde ich dich nicht.  

Kurt Atterbergs „Aladin“

Als sich der Vorhang nach der deutschen Erstaufführung von Kurt Atterbergs Oper »Aladin« 1941 am Theater Chemnitz schloss, kannte der Jubel keine Grenzen mehr und der sichtlich hocherfreute Intendant Dr. Schaffner telegrafierte umgehend: »Schon nach der Ouvertüre starker Beifall, der sich von Bild zu Bild steigerte und zum Schluss zu lebhaften Ovationen anwuchs. Glaube an bleibenden Erfolg dieses publikumswirk­samen Werkes. Gratuliere Verlag und Autoren.« Tatsächlich hat »Aladin« alles, was eine Märchenoper nach den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht haben muss: Einen jungen Helden, die Liebe zu einer schönen aber verschleierten Prinzessin, einen bösen Großwesir als Gegenspieler, eine Höhle voller Schätze, eine Wunderlampe samt gut­mütigem Geist und ein Happy End. Doch wer war dieser schwedische Komponist, der mit einer durch und durch romantischen Musik und den darin integrierten orientalischen Einsprengseln die Herzen der Opern- und Märchenfreunde höher schlagen ließ? Zur jüngsten Aufführung der Oper am 11. März 2017 am Staatstheater Braunschweig wirft der nachfolgende Artikel (aus dem Programmheft des Staatstheaters Braunschweig) von Christian Steinbock und Stig Jacobsson Licht auf einen hochinteressanten Komponisten, dessen tragische Faszination vom Faschismus ihm seinen (Nach-)Ruhm und auch seine Lebenskraft raubte.

Kurt Atterberg/ youtube

Vor 1945: Der komponierende Ingenieur. »Musik war für Atterberg […] mehr als jede andere die Kunst der Sinne, der Sinn­lichkeit, des Gefühls, der Romantik […]«, schreibt die Musikwissenschaftlerin Carola Finkel in ihrer 2013 erschienenen Monographie über die Sinfonien des schwedischen Komponisten. Seine Musik wurde immer wieder mit der von Richard Strauss verglichen, er selbst sogar hie und da als »Strauss des Nordens« bezeichnet. Mit solchen Vergleichen konnte Atterberg jedoch wenig anfangen: »Obwohl ich selbst ein unver­besserlicher Romantiker bin, […] findet sich kaum etwas in der Musikgeschichte, was ich mehr hasse als die Musik, die wirklich das ›Schimpfwort‹ romantisch verdient.« Und damit war nicht zuletzt auch Strauss gemeint. Einerseits lehnte Atterberg die Komponisten der Spätromantik ab (oder zweifelte sie zumindest an), deren Kunstfer­tigkeit seiner Meinung nach »mit Weltanschauungen belastet« war – dies traf neben Strauss auch auf Mahler, Wagner, Bruckner und den frühen Schönberg zu. Ande­rerseits beklagte er den »Verfall der Melodie« (dies war auch der Titel einer seiner publizierten Schriften) und ging stets auf Distanz zu allem, was einen rein intellektu­ellen Zugang zur Musik zuließ, so auch die von ihm als unschön-modernistisch emp­fundene Zwölftonmusik. Der Begriff der »Romantik« war für Atterberg immer mit dem unbedingten Drang nach der Melodie verbunden, mit reiner Musik, frei von jedweder Kunstreligion oder außermusikalischer Programmatik. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich stilistisch eher Komponisten der so genannten »absoluten Musik« ver­bunden sah, zu denen auch Johannes Brahms oder Antonín Dvořák zählen. Für sei­ne künstlerische Zielsetzung fand Atterberg schließlich in einem Brief vom Oktober 1926 an seinen Freund Fritz Tutenberg die passenden Worte: »Das [H]öchste […] wäre also [,] Stücke zu schreiben, die solche einen melodischen, harmonischen und sinnlichen Reiz und überzeugender Form hatten, dass alle Hörer gefesselt werden.«

.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Kurt Magnus Atterberg erblickt als jüngstes von insgesamt fünf Kindern der Eheleute Anders Johann Atterberg und Elvira Uddman am 12. Dezember 1887 im schwedi­schen Göteborg das Licht der Welt. Obgleich er nicht aus einem durch und durch musikalischen Elternhaus stammte (der Vater war Ingenieur und Erfinder, der Groß­vater mütterlicherseits immerhin Opernsänger), erhielt er schon als Kind den ersten Klavierunterricht. Sein musikalisches Interesse wuchs, als er vierzehnjährig ein Kon­zert des Leipziger Gewandhausorchesters in Göteborg besuchte, dessen Resultat es war, dass er nunmehr auch Cello-Unterricht nahm. 1905 unternahm Atterberg auch die ersten Kompositionsversuche. Nach dem Abitur wollte er unbedingt Musik studieren, doch gab er schließlich dem Drängen des Vaters nach, der den Stand des Berufsmusikers eher skeptisch beäugte. (Sicherlich auch aus dem Grunde, da die Möglichkeiten, sich als Musiker in Schweden einen gewissen Lebensstandard leisten und halten zu können, eher überschaubar waren.) So studierte Atterberg et­was »Vernünftiges« und schrieb sich 1907 für das Studium der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Stockholm ein. Die Musik ließ ihn aber dennoch nicht los. Nebenbei besuchte Atterberg Vorlesungen und Seminare an der Musikakademie und erwies sich als wissbegieriger und geduldiger Autodidakt, indem er sich durch beharrliches Zuhören von Konzerten und durch das intensive Studium von Partituren die Kunst des Komponierens nach und nach selbst beibrachte.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

1910 begann Atterberg mit der Komposition der ersten von insgesamt neun Sinfo­nien, die er zwei Jahre später zur Uraufführung brachte und dabei auch erstmals als Dirigent in Erscheinung trat. (Das Einmaleins des Dirigierens hatte er sich ebenfalls selbst beigebracht, indem er namhaften Dirigenten bei ihrer Arbeit zusah.) Schon seit 1911 reiste Atterberg oft nach Deutschland, um das vielfältige Konzertleben genau­estens zu studieren. Erste Auftragswerke entstanden für das Stockholmer Schau­spielhaus, dem er von 1913 bis 1922 als Kapellmeister verpflichtet blieb. Von 1919 bis 1957 schrieb er Musikkritiken für die Zeitung »Stockholms-Tidningen«. von 1924 bis 1947 war er Präsident der Vereinigung schwedischer Komponisten. Im In- und Ausland verkehrte Atterberg mit zahlreichen Dirigenten, Musikern und Künstlern von Rang wie Eugen Ormandy, Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler, Leopold Stokow­ski, Arturo Toscanini und Greta Garbo, die es sich nicht nehmen ließen, seine Werke zu interpretierten. Mit seiner 3. Sinfonie schaffte Atterberg den endgültigen künst­lerischen Durchbruch in Deutschland – hier hatte er bereits mit seiner 1. Sinfonie 1917 sein Debüt als Dirigent bei den Berliner Philharmonikern gegeben – mit der 6. Sinfonie gewann er 1928 den hochdotierten »Schubert-Wettbewerb« und damit ein Preisgeld von 10.000 US-Dollar, was dem Werk den Beinamen »Dollar-Sinfonie« ein­brachte. Atterberg komponierte mit anhaltendem internationalen Erfolg, fühlte sich in fast allen musikalischen Gattungen zuhause und war zweifellos ein vielbeschäftigter und vielgefragter Mann. Bei dieser Aufgabenfülle könnte man meinen, dass die Musik allein im Zentrum seines Schaffens stand. Doch weit gefehlt. Seinen regulären Le­bensunterhalt verdiente Atterberg in einem ganz anderen Gewerbe: Von 1912 bis zu seiner Zwangspensionierung 1968 – er hatte die Achtzig bereits überschritten – als Ingenieur (ab 1936 in leitender Position) beim Schwedischen Patentamt.

.

Zu Atterbergs „Aladdin“: Auch Carl Nielsen schrieb eine „Aladdin“-Oper, hier Johannes Poulsen in der Titelrolle der Uraufführung in Kopenhagen Fwebruar 1919/ Wiki

Nach 1945: Die lebende Leiche: Auch in den 1930er und 40er Jahren riss der gute Kontakt, den Atterberg nach Deutschland geknüpft hatte, nicht ab, was seiner Reputation nach Ende des Zweiten Weltkrieges erheblichen Schaden zufügen sollte. Auch wenn Atterberg immer wieder betonte, dass seine Auftritte im kulturverwöhnten Deutschland mit seinen zahlreichen Orchestern und Konzertsälen nichts mit Politik zu tun gehabt und primär dazu gedient hätten, die international vernachlässigte schwedische Musik populär zu machen, so blieb sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten stets ambivalent. Billigend und mehr oder weniger kritiklos nahm er das NS-Regime für den eigenen Erfolg in Kauf; er traf mit musikalischen Größen wie Richard Strauss oder Wilhelm Furtwängler zusammen; er wurde hofiert und ließ dies auch gerne zu, zum einen, weil er als nationalkonserva­tiver Komponist galt und avantgardistische Strömungen ablehnte, zum anderen, weil man generell eine Vorliebe für einen »nordischen-romantischen« Tonfall hegte, den Atterberg bieten konnte.

Auf der anderen Seite war er nie Mitglied einer dem Nationalsozialismus nahestehen­den schwedischen Partei oder Organisation. Und es lässt sich zweifellos nachweisen, dass er sich sogar persönlich bei Joseph Goebbels für einzelne vom NS-Regime ver­folgte Künstler eingesetzt hat. Doch der lapidare Hinweis darauf, in einer ideologisch brisanten Zeit doch nur der Kunst und nicht der Politik gedient bzw. von dieser und ihren menschenverachtenden Auswüchsen keine Ahnung gehabt zu haben, schützt vor Verantwortung nicht. Atterberg wurde für seine Deutschlandfreundlichkeit heftig kritisiert, was den Komponisten wiederum zu unüberlegten Kommentaren hinriss wie zum Beispiel jenem in einem Bericht der Musikalischen Akademie für internationale Zusammenarbeit, der er als Sekretär seit 1940 vorstand. Darin schrieb er, dass das schwedische Publikum »[…] in Ekstase über [eine] importierte Musikfrucht fällt, vor allem dafür, dass deren Haut vielleicht schwarz und haarig ist, und die Einheimische verschmäht, deren Äußeres vielleicht mehr blond und glatt ist […]«. Obgleich sich Atterberg nur für die Bevorzugung arbeitsloser schwedischer Musiker gegenüber ausländischen Künstlern stark machen wollte, manövriert ihn hier allein schon die Wortwahl vollends ins Abseits. Nach 1945 wurde die Kritik an Atterberg so massiv, dass er zwei Jahre später seinen Sekretärsposten niederlegte. Auch wurde eine offi­zielle Untersuchung eingeleitet, die sich mit seinen Kontakten nach Nazi-Deutschland beschäftigte. Am Ende wurde er zwar von allen Vorwürfen diesbezüglich freigespro­chen, doch den Makel, ein Kollaborateur zu sein, wurde er zeitlebens nicht mehr los.

Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

.

Da Atterberg über mehrere Jahrzehnte das schwedische Musikleben maßgeblich geprägt und viele einflussreiche Posten innegehabt hatte, wurde ihm zurecht eine große Machtfülle nachgesagt, die seine Kritiker und Neider, besonders die der jün­geren Komponisten- und Musikergeneration, nicht mehr hinnehmen wollten. Wenn es um schwierige Fragen oder Entscheidungen ging, so hatte es bislang geheißen: »Das wissen nur Gott und Atterberg.« Doch Atterberg, der bislang Unüberwindliche, taumelte, und viele seiner Gegner sahen ihre Chance kommen. Der Druck wurde zu groß: Scheibchenweise trat Atterberg von seinen Ämtern zurück (obgleich dies schon früh gefordert worden war). Bei den jungen Musikern wie beim Publikum galt sein Stil nunmehr als veraltet, was dazu führte, dass er immer weniger gespielt wurde und er mit seinen neuesten Kompositionen auch keine Erfolge mehr verbuchen konnte. 1957 erfolgte seine Entlassung als Kritiker bei der Zeitung »Stockholms-Tidningen«, nicht zuletzt deshalb, da er in seinen Kritiken die junge Komponistengeneration scharf an­gegriffen hatte und somit nicht mehr als zeitgemäß galt.

Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu dieser Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier ein Zeitschriften-Cover zur Uraufführung/ Wiki

Atterberg vereinsamte und verbitterte mehr und mehr, zumal seine zweite Frau Marga­reta vor ihm starb. Bereits 1947 hatte er begonnen, seine Memoiren zu schreiben, die am Ende acht Bände und über 2500 Manuskriptseiten umfasste. 1967 brachte er mit seinem »Adagio amoroso« seine letzte Komposition zu Papier, im Jahr darauf erfolgte seine Zwangspensionierung beim Schwedischen Patentamt, die er sarkastisch als »vorzeitiges Begräbnis« kommentierte. Der letzte Teil seiner Memoiren mit dem Titel »Die lebende Leiche« wurde nicht mehr fertig gestellt, das Gesamtwerk ebenfalls nie veröffentlicht. Am 15. Februar 1974 starb Atterberg in Stockholm. Lange Zeit wur­de seiner nicht mehr gedacht. Erst in den letzten Jahren erinnerte man sich wieder an diesen international vielfach ausgezeichneten und geehrten Komponisten: Seine neun Sinfonien wurden mittlerweile zweimal auf CD eingespielt – wichtige Beiträge zur Ehrenrettung dieses umstrittenen Künstlers, dessen Musik auch heute noch die Zuhörer packt und ins Mark trifft.

.

1936: Erste Ideen für die Oper »Aladin«: Atterberg war auch als Opernkomponist in Deutschland bei Leibe kein Unbekannter mehr: Sein Opernerstling »Härvard, der Harfner«, komponiert in den Jahren 1917 / 1918 war bereits früh in Chemnitz zur deutschen Erstaufführung gelangt und seitdem viel an deutschen Bühnen gespielt worden. Und 1936 – unmittelbar vor der ersten Aus­einandersetzung des Komponisten mit dem »Aladin«-Stoff – fanden auch die ersten Aufführungen seiner dritten Oper »Fanal« (dt. »Flammendes Land«), 1932 uraufge­führt, an den Theatern Braunschweig, Lübeck, Chemnitz und Dortmund statt. Nun also sollte »Aladin« folgen. Das erste Mal, dass Atterberg dieses Projekt erwähnte, war im August 1936, als er sich in den bayerischen Städtchen Farchant und Garmisch aufhielt. Hier traf er mit Ignaz Michael Welleminsky (1882 – 1942 ?), dem Librettisten von »Fanal«, zusammen und lernte bei dieser Gelegenheit auch Bruno Hardt-Warden (1883 – 1954) kennen, der sich vor allem durch zahlreiche Libretti für Operetten, Singspiele und Revuen sowie als Drehbuchautor einen Namen geschaffen und mit so bedeutenden Komponisten wie Robert Stolz und Walter Kollo gearbeitet hatte. Wel­leminky und Hardt-Warden, die sich bereits seit ihrer ersten gemeinsamen Arbeit an der komischen Oper »Glockenspiel« von Jan Brandts-Buys aus dem Jahre 1913 gut kannten und seitdem immer wieder als Autorengespann erfolgreich waren, eröffneten Atterberg, dass sie bereits an einem neuen Libretto säßen, das, wie der Komponist schrieb, »später zu meinem »Aladin« werden sollte«.

.

Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu Atterbergs Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier Jussi Björling und Helga Görlin in der Uraufführung/ Wiki

Atterberg erinnerte sich in seinen Memoiren: »Als die Berliner Philharmoniker in Oslo eine Konzert gaben, bei dem die Nocturnes aus ›Fanal‹ gespielt wurden, hatte ich einige Auseinandersetzungen wegen Welleminsky mit den hohen Tieren des [deut­schen] Propagandaministeriums. Da Welleminsky, ein Jude, der Librettist sowohl von ›Fanal‹ als auch von ›Aladin‹ war, wäre man dankbar, wenn sein Name auf den Pro­grammen nicht mehr genannt würde. Welleminsky sagte mir später, als die Urauf­führung von ›Aladin‹ näher rückte, dass er gerne jedwede Öffentlichkeit vermeiden möchte, wenn er nur die armseligen Tantiemen kassieren könne.« Da Atterberg laut eigenen Aussagen »am 15. Juli [1937] begann, die Klavierfassung zu komponieren«, muss das Libretto zu diesem Zeitpunkt bereits fertig vorgelegen haben und kann so­mit zweifellos als gemeinschaftliche Arbeit zwischen beiden Librettisten angesehen werden. Bis heute aber findet der Name Welleminsky in Bezug auf »Aladin« keine Er­wähnung mehr. So ist es längst überfällig, ihn wieder gleichberechtigt neben dem von Hardt-Warden zu stellen. In einer der Ausgaben der »Theaternachrichten« von 1941 des Bühnen- und Musikverlages Sikorski, der die Oper bis heute verlegt, war dies tatsächlich bereits geschehen: mit Schreibmaschine nachträglich ergänzt, wann und von wem ist jedoch nicht mehr zu eruieren, möglicherweise war es Atterberg selbst gewesen, da diese Ausgabe aus seinem Nachlass stammt.

Als sich Atterberg im Oktober 1941 in Wien aufhielt, erreichte ihn die Nachricht, dass Welleminsky in Richtung Böhmen deportiert worden war. Sofort startete der Schwede große Anstrengungen, sowohl Welleminsky als auch Hardt-Warden (ob dieser Repressalien furch die Nationalsozialisten zu befürchten hatte ist nicht be­legt) ausfindig zu machen und sie über das Rote Kreuz nach Schweden in Sicherheit zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Während Hardt-Warden die Nazi-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg allem Anschein nach unbeschadet überstand, gibt es über Welleminskys Verbleib zwei unterschiedliche Versionen: Atterberg berichtet, dass der Librettist seinem Leben im Dezember 1941 ein Ende gesetzt habe. Andere Quellen hingegen gehen davon aus, dass dem jüdischen Autor die Flucht vor den National­sozialisten gelang und er die USA erreichte, wo er im Juli 1942 in Poland Springs / Maine verstarb. Nach dem derzeitigen Informationsstand ist schwer zu sagen, welche Ver­sion die richtige ist.

.

Zu Atterbergs „Aladdin“: das Opernhaus in Chemnitz/ Wiki

1941: »Aladin« in Stockholm und Chemnitz. Mit »Aladin« hatten sich Atterberg und seine Librettisten zweifellos eines überaus bühnenwirksamen Stoffes bedient. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieser orientalische Held immer wieder die Kunstwelt inspiriert: Ob in der bildenden Kunst, im Film, im Buch oder auf der Bühne, ob als Schauspiel, Ballett oder Musiktheater: An dieser Stelle wären u. a. die Opern »Aladin« (1822) von Nicolo Isouard, »Aladdin« (1888) von Christian Frederik Hornemann, »Aladino e la lampada magica« (1965) von Nino Rota oder das Disney-Musical »Aladdin« (2015) zu nennen, das Alan Menken für den Broadway schrieb. Die Geschichte selbst ist zwar arabischen Ursprungs und geht auf den maronitischen Christen Hanna Diab aus dem syrischen Aleppo zurück. Doch es war wohl der französische Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715), der den My­thos – wie übrigens auch den von »Ali Baba und den vierzig Räubern« – Jahrhunderte später in die Märchenwelt von Tausendundeiner Nacht eingefügt hat. Welleminsky und Hardt-Warden näherten sich dem Stoff, indem sie einzelne Motive herauslösten (u. a. wurden die in der Sage vorkommenden Figuren des bösen Zauberers und des neidischen Wesirs zur Figur des Muluk zusammengelegt) und neu montierten.

.

Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Auch der dänische Komponist C. F. E. Hornemann ( 17. Dezember 1840 in Kopenhagen; † 8. Juni 1906) komponierte zeitnah eine Oper gleichen Names, wozu sich beim Eintrag bei youtube folgendes findet: An abridged studio recording of C.F.E. Horneman’s only opera, Aladdin (1888). C.F.E. Horneman studied in Leipzig, and the Overture was performed by the Gewandhaus orchestra in 1867. He worked on the opera project for decades. The first performance in Copenhagen included many cuts and was badly sung. A 1902 revival didn’t work out much better. The complete opera has not been staged professionally since then and has never been recorded. This radio recording (1953) contains around half of the music. Singers: Ruth Guldbæk, soprano (Gulnare), Else Brems, mezzosoprano (Morgiane), Thyge Thygesen, tenor (Aladdin)
Volmer Holbøll, baritone (Genie of the Ring)
Einar Nørby, bass (Genie of the Lamp) Georg Leicht, bass (The Sultan) Holger Byrding, bass (Noureddin) Holger Nørgaard, bass (The Vizier) Conductor: Launy Grøndahl

Dass sich für Atterberg die Entstehungszeit von »Aladin« am Ende über fünf Jahre zog, mag einerseits mit dem immensen Arbeitsaufkommen zu tun haben, das der Komponist innerhalb und außerhalb des schwedischen Musiklebens bewältigen zu hatte. Andererseits dürfte auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Rolle ge­spielt haben, mit dem sich Atterberg in seinen Memoiren intensiv auseinandersetzt und der ihn in seiner Schaffenskraft vielleicht auch ein wenig gelähmt hat. Doch dann ging plötzlich alles rasend schnell: Am 24. August 1940 hatte er den Klavierpart zu seiner nunmehr vierten Oper fertig gestellt, so dass er an die Orchestration gehen konnte, die – entgegen seinem gängigen sinfonischen Stil, der dramatische Aus­brüche, nordische Düsterkeit und geisterhafte Episoden mit einschließt – ungemein farbenfroh und orientalisch-folkloristisch ausfiel. Dieser Wechsel von Dunkelheit hin zum Licht mag dem Sujet aus Tausendundeiner Nacht geschuldet sein. »Ich been­dete die Partitur am 28. Januar 1941«, schrieb Atterberg schließlich und kündigte die Uraufführung in der Zeitung »Stockholms-Tidningen« für das kommende Frühjahr an. Am 1. März dirigierte er noch seine 1. Sinfonie in Braunschweig, dann wandte er sich den Nordischen Musiktagen in der schwedischen Hauptstadt zu, die am 18. März mit der Uraufführung von »Aladin« eröffneten. Doch der durchschlagende Erfolg blieb hier aus. (Ob die Tatsache, dass das Werk ursprünglich in deutscher Sprache ge­schrieben und erst für die Uraufführung von Atterberg selbst und seiner Frau Marga­reta ins Schwedische übersetzt worden war, dabei eine Rolle gespielt hat, muss offen bleiben.) »Aladin« wurde in Stockholm nur elf Mal gegeben und danach in Schweden bis heute nicht nachgespielt. Nichtsdestotrotz war Atterberg mit der Aufführung zu­frieden gewesen. Die Tänze waren seiner Meinung nach zwar schlecht umgesetzt worden, doch das Dirigat unter Sten-Åke Axelson und die Leistung der Sängerinnen und Sänger hatten ihn überzeugt.

.

Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

Anders verhielt es sich mit der deutschen Erstaufführung von »Aladin« am 18. Okto­ber 1941 in Chemnitz, die von starken Ovationen von Seiten des Publikums und von überregionalem und einhellig positivem Presseecho begleitet wurde. Die Wahl auf das Opernhaus Chemnitz war vermutlich nicht zufällig gefallen, schließlich hatte Atterberg – neben seinen Opern »Fanal« und »Härvard, der Harfner« – mit dem hiesigen Orches­ter mehrfach eigene Werke zur Aufführung bringen und somit auch enge Kontakte zum kulturellen Leben in der Stadt knüpfen können. Die Kritiker betonten in ihren Rezensio­nen immer wieder, dass es sich beim »Aladin«-Stoff um eine ausgezeichnete Wahl für eine Oper handle und dass Atterbergs Musik (inklusive einer Ouvertüre, die für Chem­nitz nachkomponiert worden war) den nötigen Melodienreichtum und die orientalisch-koloristische Färbung liefere, den die Vertonung eines solchen Märchens benötige. So war im »Hamburger Fremdenblatt« zu lesen: »Die […] Märchenoper ›Aladin‹ von Kurt Atterberg beansprucht besonderes Interesse, da der Komponist sich hier erstmalig mit dem Orient auseinandersetzt und dabei – das lehrt die interessante Aufführung – ein feinnerviges Einfühlungsvermögen in die sinnenfreudige, klangüppige Musik offenbart.« Das »Chemnitzer Tageblatt« wusste zu berichten: »Mit den klug angewandten Mitteln übermäßiger Intervalle, ungewöhnlicher Tonfolgen, leiterfremder Gegenstimmen, grel­ler Quarten- und Quintengänge, bizarr gemischter Orchesterklänge zaubert uns Atter­berg eine Welt aus Tausendundeiner Nacht vor. Aber Atterberg erschöpft sich nicht im Tonmalerischen. Immer wieder lässt er schöne melodische Linien aufblühen, erfreut das Ohr durch geschlossene Sätze wie das zündende Vorspiel, die […] Zwischen­spiele und charakteristischen Tänze […]. Das ganze Werk hat Fluss […]. Die Besucher standen im Bann der fesselnden Neuheit und bezeugten ihre Freude durch lebhaften Beifall.« Und das »Neue Wiener Tageblatt« konstatierte: »Die Märchenwelt zaubert At­terberg mit üppig blühender, leuchtender Orchestersprache vor den Zuhörer hin. Seine Musik hält auf große melodische Linie […].«

Trotz dieses einhelligen Erfolges war auch in Deutschland an Folgeaufführungen nicht zu denken: Zunächst wegen des fortschreitenden Krieges und nach 1945 wegen der rapide sinkenden Reputation des Komponisten. So ist die nun nachfolgende Aufführung am Staatstheater Braunschweig im März 2017 der erste Versuch, dieses märchenhaft-romantische Werk wieder aus der Versenkung zu heben und als Bereicherung der Opernspielplä­ne auf die Bühne zu bringen. Christian Steinbock und Stig Jacobsson

.

.

Wir danken dem Staatstheater Braunschweig und den beiden Autoren für die Erlaubnis zum „Nachdruck“ des Artikels aus dem Programmheft zur Oper Aladin. Christian Steinbock ist Dramaturg für das Musiktheater in Braunschweig, Stig Jacobsson ist ein renommierter schwedischer Musikjournalist sowie Autor zahlreicher Biografien und wichtiger Artikel zum schwedischen Musikleben. mehr zu ihm bei Wikipedia. Die Rezension zum Aladin am Staatstheater Braunschweig findet sich ebenfalls auf operalounge.de. Foto oben: Kurt Atterberg/ youtube. Zur Schreibweise: Im schwedischen Original wird Aladdin mit -dd- geschrieben, für die deutsche Version verwenden die Autoren und das Staatstheater Braunschweig die eingedeutschte Version mit einem – d-. 

.

.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Frühes Barock aus Frankfurt

 

Schon eine Tradition ist die Zusammenarbeit der Oper Frankfurt mit OEHMS CLASSICS, verschiedene Produktionen des Hauses als Live-Mitschnitte auf CD zu veröffentlichen. Oft  handelt es sich dabei um Neuschöpfungen, Ausgrabungen oder Raritäten. Aktuelles Beispiel ist die Oper L’Orontea des 1623 in Arezzo geborenen Komponisten Antonio Cesti, die 1656 in Innsbruck am Hof des Erzherzogs von Tirol uraufgeführt wurde. So ist denn auch die von René Jacobs geleitete Aufführung im Sommer 1982 in Innsbruck eine der ersten in moderner Zeit gewesen, die bei harmonia mundi france auf LP/ CD festgehalten wurde (Bierbaum, Müller-Molinari, Reinhart) und die noch immer überzeugend ist. Die nun bei Oehms Classics dokumentierte aus Frankfurt fand im Februar/März 2015 in der Inszenierung von Walter Sutcliffe und der Ausstattung von Gideon Davey statt.

Wahrscheinlich wirkten berühmte Sänger der Zeit, die zum Ensemble am Innsbrucker Hof zählten, in der Uraufführung mit – so die Altistin Anna Renzi (die Ottavia in der Premiere von Monteverdis Poppea in Venedig) und der Bass Giulio Cesare Donati (der Giove in Cavallis La Calisto in Venedig). Sie waren auch für die ein Jahr zuvor herausgekommene L’Argiria Cestis engagiert worden. Donatis komisches Talent und seine Gabe, im Falsett zu singen, lassen vermuten, dass Cesti ihn als Oronteas skurrilen und meist betrunkenen Diener Gelone besetzt hatte.

Das Stück erzählt von der ägyptischen Königin Orontea, die nicht bereit ist, sich der Liebe zu unterwerfen, dann aber doch Zuneigung zu dem Maler Alidoro empfindet, der nach einem Liebesabenteuer mit der Prinzessin Arnea in Begleitung seiner vermeintlichen Mutter Aristea erscheint und auch von der Hofdame Silandra geliebt wird, die wiederum der Höfling Corindo begehrt. Später stellt sich Alidoro nach den üblichen Verwirrungen nicht als Maler, sondern als Prinz Floridano von Phönizien heraus, was die Standesunterschiede zwischen ihm und der Königin aufhebt, so dass einer glücklichen Vermählung mit Orontea nichts mehr im Wege steht.

Dem Bedürfnis des venezianischen Publikums nach Unterhaltung entsprach auch die Notierung der alten Aristea für einen Tenor als Rockrolle. L’Orontea darf als ein Vorläufer der Buffo-Oper gelten. Die Musik ist lebendig, von anmutiger Leichtigkeit und sprühender Vitalität. Mit Ivor Bolton steht ein Spezialist der Alte-Musik-Szene am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchester, der alle Stimmungen und Affekte der Musik sachkundig ausreizt und für schöne Kontraste zwischen komischen Episoden und solchen mit lyrischem Melos sorgt.

Die Besetzung setzt sich aus Mitgliedern des Frankfurter Institutes und aus speziell für diese Produktion engagierten Gästen zusammen. Zur ersteren Gruppe gehört die Interpretin der Titelrolle, die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy, in deren Gesang man sich mehr Energie und Charakter wünschte. Die Tongebung klingt etwas verwaschen und larmoyant. Deshalb hinterlassen die klagenden Passagen den stärkeren Eindruck. Auch die britische Sopranistin Louise Alder zählt zum Frankfurter Ensemble. Als Silandra wartet sie mit jugendlich-lieblichem Sopran und fließenden Koloraturen auf.

Prominentester Gast ist der katalanische Countertenor Xavier Sabata, der mit dem Alidoro sein Frankfurter Debüt gibt. Seine Stimme klingt weich, resonant und sinnlich, vereint sich im Duett mit Salandra zu ausgewogenem Wohlklang. Ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung ist Matthias Rexrodt, gleichfalls renommiert und als Corindo zum vierten Mal in einer Barockpartie in Frankfurt zu erleben. Sein bekannt weinerliches Timbre ist auch hier zu vernehmen und dürfte nicht auf jedermanns Zustimmung stoßen. International ein Begriff in diesem Genre ist der belgische Tenor Guy de Mey, der als Aristea seine komödiantischen Fähigkeiten ausstellen kann, die Partie aber nicht zur Karikatur verzerrt und sie mit klangvollem Ton singt.

Simon Bailey, nach seinen Jahren als Ensemblemitglied des Hauses nunmehr fester Gast, gibt dem Gelone prallen Umriss, singt lustvoll und auftrumpfend, scheut dabei auch Vokalverfärbungen und lautmalerische Effekte nicht. Als Hofphilosoph Creonte komplettiert der Bariton Sebastian Geyer das Personal am Hof der ägyptischen Königin. Im Prolog, wie das aus vielen Werken des Frühbarock (Monteverdi, Cavalli etc.) bekannt ist, streiten Filosofia (Katharina Magiera) und Amore (Juanita Lascarro) darüber, wer die größere Macht über die Menschen habe. Und wieder einmal hat auch hier am Ende die Liebe den Sieg davon getragen (OC 965, 3 CD).  Bernd Hoppe

Opernquiz

 

 

Giacomo Puccinis Complete Songs for soprano and piano bei Naxos könnten auch unter dem Titel “Opernquiz” durchgehen, denn der  (wenn er nichts von Puccinis haushälterischem Tun wusste) erstaunte Hörer wird feststellen, dass der bulgarische Sopran Krassimira Stoyanova bestens bekannte Themen aus des Komponisten berühmten und weniger bekannten Opern singt, die der  zum Teil bereits in seinen frühesten Schaffensjahren, ja als Student, komponiert hatte und später in seinen Oper wieder aufleben ließ..

In dem englischen Booklet wird der Leser darüber informiert, dass einige der teilweise sehr kurzen Canzoni Auftragsarbeiten für Periodika waren, andere für Kirchengemeinden komponiert wurden (Puccinis Schwester war Nonne). Die Texte sind nicht wiedergegeben, aber dafür gibt es zu jedem Track eine kurze Einführung, gegebenenfalls auch mit dem Hinweis auf das Wiederauftauchen einer Melodie in einer der Opern Puccinis.

Es beginnt mit Canto d’anime, in dem der opernerfahrene Hörer sofort Rinuccios Preisen von Florenz erkennt, aber auch beglückt das wunderschöne Timbre von Krassimira Stoyanova, einen Sopran voller Leuchtkraft, sehr nobel und geschmeidig zwischen Ekstase und zarter Innigkeit balancierend. Mimis Abschied aus dem 3. At der Bohéme dominierte einmal in Sole e amore und bezaubert durch ein so raffiniertes chiaro-scuro, wie man es von dem Sopran auch aus der entsprechenden Oper gewöhnt ist. E l’ucellino zeigt, dass eine Stimme durchaus auch Humor haben kann, und in La primavera zeigt sich der Sopran  in besonders anmutiger Weise. Von einer guten Technik sprechen im Ave Maria Leopolda die sicheren Intervallsprünge ins Piano, während in Ad una morta! die obertonreiche Stimme bereits Typisches der beeeibtesten weiblichen Opernfiguren vernehmen lässt und von der Sängerin auch adäquat gestaltet wird. Sicher und ohne Schärfen auch in der Extremhöhen zeigt sich die Stimme in Morire?, bekannt als Arie des Ruggero aus der Rondine, und hier wie auch später bei Mentia l’avviso bemerkt der Hörer mit Vergnügen, dass die Melodie noch nichts über den Charakter eines Stückes aussagt, sondern erst die Interpretation, wenn aus „Donna non vidi mai“ auch der Gesang einer dem Grab Entstiegenen werden kann. Beinahe noch erstaunlicher ist, dass Tosca und Butterfly sich bereits in einem für eine Jagdgesellschaft komponierten Inno a Diana hören lassen. Feierlich getragen immerhin klingt das Salve Regina, auch aus Le Villi bekannt, ein Lächeln in der Stimme hat die Stoyanova für Casa mia, und schon ganz opernhaft ist Terra e mare, während man sich bei Inno a Roma fragt, ob sein recht früher Tod Puccini nicht davor bewahrt hat, unangenehm als Mussolini-Verehrer aufzufallen. In Storiella d’amore meldet sich Edgar, ist aber auch zu bewundern, wie fein die musikalischen Figuren von der Bulgarin herausgearbeitet werden. Zwei Stücke sind zweistimmig, zum Sopran gesellt sich ein Mezzosopran, der eher im Hintergrund bleibt. Da kein zweiter Name im Booklet genannt wird, kann man annehmen, dass die Sopranistin sich auch dieser Rolle angenommen hat. Die einfühlsame Begleiterin am Klavier ist Maria Prinz (Naxos 8.573501). Ingrid Wanja

Zurück wie neu

 

Händel komponierte das Oratorium La Resurrezione 1708 in Rom für ein ausgesuchtes und anspruchsvolles Publikum seines Mäzens Fürst Ruspoli. Bei Erato ist nun die 1990 entstandene Einspielung von Ton Koopman und The Amsterdam Baroque Orchestra wieder erschienen und besteht auch fast drei Jahrzehnte nach der Aufnahme den qualitativen Test der Zeit. Maßgebliche Konkurrenz existiert von Hogwood (1982, Decca), McGegan (1992, harmonia mundi), Minkowski (1996, Archiv), de Vriend (2003, Challenge) und Haïm (2009, ebenfalls bei Erato), doch den Vergleich muss Koopman mit niemandem scheuen. Überzeugend wirkt der orchestrale Farbenreichtum mit sehr gut wahrnehmbaren Instrumenten, bspw. das von Koopman selber gespielte Cembalo. Der Klang ist ausgesprochen schön, die Tempi sind nie überforsch oder stockend, sondern ausgeglichen und ohne Extreme. Und sängerisch gibt es berückend schöne Momente, wer sich einen Eindruck verschaffen will, der kann zwischen verschiedenen Höhepunkten wählen. Zu hören sind  Barbara Schlick als Angelo, Nancy Argenta, die als Maddalena bspw. ein in jedem Moment bemerkenswertes „Ferma, l’ali, e sui miei lumi“ singt, Guillemette Laurens, die als Cleofe ein nicht minder beeindruckendes „Naufrangando va per l’ondo“ präsentiert, dazu Guy de Mey (San Giovanni) mit elegantem Tenor, Klaus Mertens klingt als Lucifero durchaus bedrohlich und bleibt doch sanglich. Die Aufnahme wirkt frisch und unverbraucht, und das wahrscheinlich zum aktuell attraktivsten Preis/Leistungsverhältnis, nur ein Libretto sucht man bei der Neuauflage vergebens. (Erato 9591414)

Aufnahmen mit Musik von Antonio Caldara können heute noch als ungewöhnlich gelten. Als der Dirigent Lajos Rovátkay zwischen 1992 und 1994 mit der Capella Agostino Steffani (nachdem Rovátkay 1996 die Leitung des Ensembles niederlegte, gab man sich einen neuen Namen: Hannoverschen Hofkapelle) Werke des Venezianers einspielte, war das noch eine Pioniertat, die nun ebenfalls erneut bei Erato reeditiert wurde. Die Missa Sanctorum Cosmae et Damiani ist eine von rund 30 festlichen Messen Caldaras in großer Besetzung mit Streichern, Trompeten, Posaunen und Pauken, die für heutige Ohren allerdings kaum überraschungsvoll klingt und dem Anlaß entsprechend auch kaum innovativ gedacht sein konnte. Es singen Monika Frimmer (Sopran), Ralf Popken (Countertenor), Wilfried Jochens (Tenor/ was für eine verdienstvolle und lange Karriere) und Klaus Mertens (Bass) sowie die Westfälische Kantorei aus Herford. Weiterhin werden Pergolesis opernhaft dramatisches Stabat Mater für Sopran (Monika Frimmer) und Alt (Gloria Banditelli) und Caldaras Stabat Mater gegenüber gestellt, das etwas früher als Pergolesis entstand und bei dem die 12 Sätze gleichmäßig auf ein Sängerquartett verteilt werden. Caldaras für den Chor chromatisch ausdrucksvolles Werk ist durch eine abwechselnd kombinierte Zusammenstellungen von Sängern und Instrumenten geprägt und klingt in einem konventionellerem Ernst konzipiert als bei Pergolesi. Die beiden Sängerinnen werden ergänzt durch Gerd Türk (Tenor) und Peter Frank (Bass). Die drei großen geistlichen Werke werden ergänzt durch Caldaras Motette Caro mea vera est cibus und das Graduale Benedicta et venerabilis es sowie kurze Sonaten von Caldaras venezianischem Zeitgenossen Vivaldi und dem Tschechen František Tům. Wer eine abwechslungsreiche Einspielung geistlicher Barockmusik in guter Qualität sucht, der wird hier fündig. (Erato 9591428) Marcus Budwitius