Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Kurt Atterbergs „Aladin“

Als sich der Vorhang nach der deutschen Erstaufführung von Kurt Atterbergs Oper »Aladin« 1941 am Theater Chemnitz schloss, kannte der Jubel keine Grenzen mehr und der sichtlich hocherfreute Intendant Dr. Schaffner telegrafierte umgehend: »Schon nach der Ouvertüre starker Beifall, der sich von Bild zu Bild steigerte und zum Schluss zu lebhaften Ovationen anwuchs. Glaube an bleibenden Erfolg dieses publikumswirk­samen Werkes. Gratuliere Verlag und Autoren.« Tatsächlich hat »Aladin« alles, was eine Märchenoper nach den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht haben muss: Einen jungen Helden, die Liebe zu einer schönen aber verschleierten Prinzessin, einen bösen Großwesir als Gegenspieler, eine Höhle voller Schätze, eine Wunderlampe samt gut­mütigem Geist und ein Happy End. Doch wer war dieser schwedische Komponist, der mit einer durch und durch romantischen Musik und den darin integrierten orientalischen Einsprengseln die Herzen der Opern- und Märchenfreunde höher schlagen ließ? Zur jüngsten Aufführung der Oper am 11. März 2017 am Staatstheater Braunschweig wirft der nachfolgende Artikel (aus dem Programmheft des Staatstheaters Braunschweig) von Christian Steinbock und Stig Jacobsson Licht auf einen hochinteressanten Komponisten, dessen tragische Faszination vom Faschismus ihm seinen (Nach-)Ruhm und auch seine Lebenskraft raubte.

Kurt Atterberg/ youtube

Vor 1945: Der komponierende Ingenieur. »Musik war für Atterberg […] mehr als jede andere die Kunst der Sinne, der Sinn­lichkeit, des Gefühls, der Romantik […]«, schreibt die Musikwissenschaftlerin Carola Finkel in ihrer 2013 erschienenen Monographie über die Sinfonien des schwedischen Komponisten. Seine Musik wurde immer wieder mit der von Richard Strauss verglichen, er selbst sogar hie und da als »Strauss des Nordens« bezeichnet. Mit solchen Vergleichen konnte Atterberg jedoch wenig anfangen: »Obwohl ich selbst ein unver­besserlicher Romantiker bin, […] findet sich kaum etwas in der Musikgeschichte, was ich mehr hasse als die Musik, die wirklich das ›Schimpfwort‹ romantisch verdient.« Und damit war nicht zuletzt auch Strauss gemeint. Einerseits lehnte Atterberg die Komponisten der Spätromantik ab (oder zweifelte sie zumindest an), deren Kunstfer­tigkeit seiner Meinung nach »mit Weltanschauungen belastet« war – dies traf neben Strauss auch auf Mahler, Wagner, Bruckner und den frühen Schönberg zu. Ande­rerseits beklagte er den »Verfall der Melodie« (dies war auch der Titel einer seiner publizierten Schriften) und ging stets auf Distanz zu allem, was einen rein intellektu­ellen Zugang zur Musik zuließ, so auch die von ihm als unschön-modernistisch emp­fundene Zwölftonmusik. Der Begriff der »Romantik« war für Atterberg immer mit dem unbedingten Drang nach der Melodie verbunden, mit reiner Musik, frei von jedweder Kunstreligion oder außermusikalischer Programmatik. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich stilistisch eher Komponisten der so genannten »absoluten Musik« ver­bunden sah, zu denen auch Johannes Brahms oder Antonín Dvořák zählen. Für sei­ne künstlerische Zielsetzung fand Atterberg schließlich in einem Brief vom Oktober 1926 an seinen Freund Fritz Tutenberg die passenden Worte: »Das [H]öchste […] wäre also [,] Stücke zu schreiben, die solche einen melodischen, harmonischen und sinnlichen Reiz und überzeugender Form hatten, dass alle Hörer gefesselt werden.«

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„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

Kurt Magnus Atterberg erblickt als jüngstes von insgesamt fünf Kindern der Eheleute Anders Johann Atterberg und Elvira Uddman am 12. Dezember 1887 im schwedi­schen Göteborg das Licht der Welt. Obgleich er nicht aus einem durch und durch musikalischen Elternhaus stammte (der Vater war Ingenieur und Erfinder, der Groß­vater mütterlicherseits immerhin Opernsänger), erhielt er schon als Kind den ersten Klavierunterricht. Sein musikalisches Interesse wuchs, als er vierzehnjährig ein Kon­zert des Leipziger Gewandhausorchesters in Göteborg besuchte, dessen Resultat es war, dass er nunmehr auch Cello-Unterricht nahm. 1905 unternahm Atterberg auch die ersten Kompositionsversuche. Nach dem Abitur wollte er unbedingt Musik studieren, doch gab er schließlich dem Drängen des Vaters nach, der den Stand des Berufsmusikers eher skeptisch beäugte. (Sicherlich auch aus dem Grunde, da die Möglichkeiten, sich als Musiker in Schweden einen gewissen Lebensstandard leisten und halten zu können, eher überschaubar waren.) So studierte Atterberg et­was »Vernünftiges« und schrieb sich 1907 für das Studium der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Stockholm ein. Die Musik ließ ihn aber dennoch nicht los. Nebenbei besuchte Atterberg Vorlesungen und Seminare an der Musikakademie und erwies sich als wissbegieriger und geduldiger Autodidakt, indem er sich durch beharrliches Zuhören von Konzerten und durch das intensive Studium von Partituren die Kunst des Komponierens nach und nach selbst beibrachte.

„Aladin“ von Kurt Atterberg am Staatstheater Braunschweig/ Szene/ Foto Volker Beinhorn

1910 begann Atterberg mit der Komposition der ersten von insgesamt neun Sinfo­nien, die er zwei Jahre später zur Uraufführung brachte und dabei auch erstmals als Dirigent in Erscheinung trat. (Das Einmaleins des Dirigierens hatte er sich ebenfalls selbst beigebracht, indem er namhaften Dirigenten bei ihrer Arbeit zusah.) Schon seit 1911 reiste Atterberg oft nach Deutschland, um das vielfältige Konzertleben genau­estens zu studieren. Erste Auftragswerke entstanden für das Stockholmer Schau­spielhaus, dem er von 1913 bis 1922 als Kapellmeister verpflichtet blieb. Von 1919 bis 1957 schrieb er Musikkritiken für die Zeitung »Stockholms-Tidningen«. von 1924 bis 1947 war er Präsident der Vereinigung schwedischer Komponisten. Im In- und Ausland verkehrte Atterberg mit zahlreichen Dirigenten, Musikern und Künstlern von Rang wie Eugen Ormandy, Richard Strauss, Wilhelm Furtwängler, Leopold Stokow­ski, Arturo Toscanini und Greta Garbo, die es sich nicht nehmen ließen, seine Werke zu interpretierten. Mit seiner 3. Sinfonie schaffte Atterberg den endgültigen künst­lerischen Durchbruch in Deutschland – hier hatte er bereits mit seiner 1. Sinfonie 1917 sein Debüt als Dirigent bei den Berliner Philharmonikern gegeben – mit der 6. Sinfonie gewann er 1928 den hochdotierten »Schubert-Wettbewerb« und damit ein Preisgeld von 10.000 US-Dollar, was dem Werk den Beinamen »Dollar-Sinfonie« ein­brachte. Atterberg komponierte mit anhaltendem internationalen Erfolg, fühlte sich in fast allen musikalischen Gattungen zuhause und war zweifellos ein vielbeschäftigter und vielgefragter Mann. Bei dieser Aufgabenfülle könnte man meinen, dass die Musik allein im Zentrum seines Schaffens stand. Doch weit gefehlt. Seinen regulären Le­bensunterhalt verdiente Atterberg in einem ganz anderen Gewerbe: Von 1912 bis zu seiner Zwangspensionierung 1968 – er hatte die Achtzig bereits überschritten – als Ingenieur (ab 1936 in leitender Position) beim Schwedischen Patentamt.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: Auch Carl Nielsen schrieb eine „Aladdin“-Oper, hier Johannes Poulsen in der Titelrolle der Uraufführung in Kopenhagen Fwebruar 1919/ Wiki

Nach 1945: Die lebende Leiche: Auch in den 1930er und 40er Jahren riss der gute Kontakt, den Atterberg nach Deutschland geknüpft hatte, nicht ab, was seiner Reputation nach Ende des Zweiten Weltkrieges erheblichen Schaden zufügen sollte. Auch wenn Atterberg immer wieder betonte, dass seine Auftritte im kulturverwöhnten Deutschland mit seinen zahlreichen Orchestern und Konzertsälen nichts mit Politik zu tun gehabt und primär dazu gedient hätten, die international vernachlässigte schwedische Musik populär zu machen, so blieb sein Verhältnis zu den Nationalsozialisten stets ambivalent. Billigend und mehr oder weniger kritiklos nahm er das NS-Regime für den eigenen Erfolg in Kauf; er traf mit musikalischen Größen wie Richard Strauss oder Wilhelm Furtwängler zusammen; er wurde hofiert und ließ dies auch gerne zu, zum einen, weil er als nationalkonserva­tiver Komponist galt und avantgardistische Strömungen ablehnte, zum anderen, weil man generell eine Vorliebe für einen »nordischen-romantischen« Tonfall hegte, den Atterberg bieten konnte.

Auf der anderen Seite war er nie Mitglied einer dem Nationalsozialismus nahestehen­den schwedischen Partei oder Organisation. Und es lässt sich zweifellos nachweisen, dass er sich sogar persönlich bei Joseph Goebbels für einzelne vom NS-Regime ver­folgte Künstler eingesetzt hat. Doch der lapidare Hinweis darauf, in einer ideologisch brisanten Zeit doch nur der Kunst und nicht der Politik gedient bzw. von dieser und ihren menschenverachtenden Auswüchsen keine Ahnung gehabt zu haben, schützt vor Verantwortung nicht. Atterberg wurde für seine Deutschlandfreundlichkeit heftig kritisiert, was den Komponisten wiederum zu unüberlegten Kommentaren hinriss wie zum Beispiel jenem in einem Bericht der Musikalischen Akademie für internationale Zusammenarbeit, der er als Sekretär seit 1940 vorstand. Darin schrieb er, dass das schwedische Publikum »[…] in Ekstase über [eine] importierte Musikfrucht fällt, vor allem dafür, dass deren Haut vielleicht schwarz und haarig ist, und die Einheimische verschmäht, deren Äußeres vielleicht mehr blond und glatt ist […]«. Obgleich sich Atterberg nur für die Bevorzugung arbeitsloser schwedischer Musiker gegenüber ausländischen Künstlern stark machen wollte, manövriert ihn hier allein schon die Wortwahl vollends ins Abseits. Nach 1945 wurde die Kritik an Atterberg so massiv, dass er zwei Jahre später seinen Sekretärsposten niederlegte. Auch wurde eine offi­zielle Untersuchung eingeleitet, die sich mit seinen Kontakten nach Nazi-Deutschland beschäftigte. Am Ende wurde er zwar von allen Vorwürfen diesbezüglich freigespro­chen, doch den Makel, ein Kollaborateur zu sein, wurde er zeitlebens nicht mehr los.

Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

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Da Atterberg über mehrere Jahrzehnte das schwedische Musikleben maßgeblich geprägt und viele einflussreiche Posten innegehabt hatte, wurde ihm zurecht eine große Machtfülle nachgesagt, die seine Kritiker und Neider, besonders die der jün­geren Komponisten- und Musikergeneration, nicht mehr hinnehmen wollten. Wenn es um schwierige Fragen oder Entscheidungen ging, so hatte es bislang geheißen: »Das wissen nur Gott und Atterberg.« Doch Atterberg, der bislang Unüberwindliche, taumelte, und viele seiner Gegner sahen ihre Chance kommen. Der Druck wurde zu groß: Scheibchenweise trat Atterberg von seinen Ämtern zurück (obgleich dies schon früh gefordert worden war). Bei den jungen Musikern wie beim Publikum galt sein Stil nunmehr als veraltet, was dazu führte, dass er immer weniger gespielt wurde und er mit seinen neuesten Kompositionen auch keine Erfolge mehr verbuchen konnte. 1957 erfolgte seine Entlassung als Kritiker bei der Zeitung »Stockholms-Tidningen«, nicht zuletzt deshalb, da er in seinen Kritiken die junge Komponistengeneration scharf an­gegriffen hatte und somit nicht mehr als zeitgemäß galt.

Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu dieser Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier ein Zeitschriften-Cover zur Uraufführung/ Wiki

Atterberg vereinsamte und verbitterte mehr und mehr, zumal seine zweite Frau Marga­reta vor ihm starb. Bereits 1947 hatte er begonnen, seine Memoiren zu schreiben, die am Ende acht Bände und über 2500 Manuskriptseiten umfasste. 1967 brachte er mit seinem »Adagio amoroso« seine letzte Komposition zu Papier, im Jahr darauf erfolgte seine Zwangspensionierung beim Schwedischen Patentamt, die er sarkastisch als »vorzeitiges Begräbnis« kommentierte. Der letzte Teil seiner Memoiren mit dem Titel »Die lebende Leiche« wurde nicht mehr fertig gestellt, das Gesamtwerk ebenfalls nie veröffentlicht. Am 15. Februar 1974 starb Atterberg in Stockholm. Lange Zeit wur­de seiner nicht mehr gedacht. Erst in den letzten Jahren erinnerte man sich wieder an diesen international vielfach ausgezeichneten und geehrten Komponisten: Seine neun Sinfonien wurden mittlerweile zweimal auf CD eingespielt – wichtige Beiträge zur Ehrenrettung dieses umstrittenen Künstlers, dessen Musik auch heute noch die Zuhörer packt und ins Mark trifft.

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1936: Erste Ideen für die Oper »Aladin«: Atterberg war auch als Opernkomponist in Deutschland bei Leibe kein Unbekannter mehr: Sein Opernerstling »Härvard, der Harfner«, komponiert in den Jahren 1917 / 1918 war bereits früh in Chemnitz zur deutschen Erstaufführung gelangt und seitdem viel an deutschen Bühnen gespielt worden. Und 1936 – unmittelbar vor der ersten Aus­einandersetzung des Komponisten mit dem »Aladin«-Stoff – fanden auch die ersten Aufführungen seiner dritten Oper »Fanal« (dt. »Flammendes Land«), 1932 uraufge­führt, an den Theatern Braunschweig, Lübeck, Chemnitz und Dortmund statt. Nun also sollte »Aladin« folgen. Das erste Mal, dass Atterberg dieses Projekt erwähnte, war im August 1936, als er sich in den bayerischen Städtchen Farchant und Garmisch aufhielt. Hier traf er mit Ignaz Michael Welleminsky (1882 – 1942 ?), dem Librettisten von »Fanal«, zusammen und lernte bei dieser Gelegenheit auch Bruno Hardt-Warden (1883 – 1954) kennen, der sich vor allem durch zahlreiche Libretti für Operetten, Singspiele und Revuen sowie als Drehbuchautor einen Namen geschaffen und mit so bedeutenden Komponisten wie Robert Stolz und Walter Kollo gearbeitet hatte. Wel­leminky und Hardt-Warden, die sich bereits seit ihrer ersten gemeinsamen Arbeit an der komischen Oper »Glockenspiel« von Jan Brandts-Buys aus dem Jahre 1913 gut kannten und seitdem immer wieder als Autorengespann erfolgreich waren, eröffneten Atterberg, dass sie bereits an einem neuen Libretto säßen, das, wie der Komponist schrieb, »später zu meinem »Aladin« werden sollte«.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: Während sich historische Dokumente zu Atterbergs Oper kaum finden lassen, ist sein „Falun“ gut belegt – hier Jussi Björling und Helga Görlin in der Uraufführung/ Wiki

Atterberg erinnerte sich in seinen Memoiren: »Als die Berliner Philharmoniker in Oslo eine Konzert gaben, bei dem die Nocturnes aus ›Fanal‹ gespielt wurden, hatte ich einige Auseinandersetzungen wegen Welleminsky mit den hohen Tieren des [deut­schen] Propagandaministeriums. Da Welleminsky, ein Jude, der Librettist sowohl von ›Fanal‹ als auch von ›Aladin‹ war, wäre man dankbar, wenn sein Name auf den Pro­grammen nicht mehr genannt würde. Welleminsky sagte mir später, als die Urauf­führung von ›Aladin‹ näher rückte, dass er gerne jedwede Öffentlichkeit vermeiden möchte, wenn er nur die armseligen Tantiemen kassieren könne.« Da Atterberg laut eigenen Aussagen »am 15. Juli [1937] begann, die Klavierfassung zu komponieren«, muss das Libretto zu diesem Zeitpunkt bereits fertig vorgelegen haben und kann so­mit zweifellos als gemeinschaftliche Arbeit zwischen beiden Librettisten angesehen werden. Bis heute aber findet der Name Welleminsky in Bezug auf »Aladin« keine Er­wähnung mehr. So ist es längst überfällig, ihn wieder gleichberechtigt neben dem von Hardt-Warden zu stellen. In einer der Ausgaben der »Theaternachrichten« von 1941 des Bühnen- und Musikverlages Sikorski, der die Oper bis heute verlegt, war dies tatsächlich bereits geschehen: mit Schreibmaschine nachträglich ergänzt, wann und von wem ist jedoch nicht mehr zu eruieren, möglicherweise war es Atterberg selbst gewesen, da diese Ausgabe aus seinem Nachlass stammt.

Als sich Atterberg im Oktober 1941 in Wien aufhielt, erreichte ihn die Nachricht, dass Welleminsky in Richtung Böhmen deportiert worden war. Sofort startete der Schwede große Anstrengungen, sowohl Welleminsky als auch Hardt-Warden (ob dieser Repressalien furch die Nationalsozialisten zu befürchten hatte ist nicht be­legt) ausfindig zu machen und sie über das Rote Kreuz nach Schweden in Sicherheit zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Während Hardt-Warden die Nazi-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg allem Anschein nach unbeschadet überstand, gibt es über Welleminskys Verbleib zwei unterschiedliche Versionen: Atterberg berichtet, dass der Librettist seinem Leben im Dezember 1941 ein Ende gesetzt habe. Andere Quellen hingegen gehen davon aus, dass dem jüdischen Autor die Flucht vor den National­sozialisten gelang und er die USA erreichte, wo er im Juli 1942 in Poland Springs / Maine verstarb. Nach dem derzeitigen Informationsstand ist schwer zu sagen, welche Ver­sion die richtige ist.

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Zu Atterbergs „Aladdin“: das Opernhaus in Chemnitz/ Wiki

1941: »Aladin« in Stockholm und Chemnitz. Mit »Aladin« hatten sich Atterberg und seine Librettisten zweifellos eines überaus bühnenwirksamen Stoffes bedient. Im Laufe der Jahrhunderte hat dieser orientalische Held immer wieder die Kunstwelt inspiriert: Ob in der bildenden Kunst, im Film, im Buch oder auf der Bühne, ob als Schauspiel, Ballett oder Musiktheater: An dieser Stelle wären u. a. die Opern »Aladin« (1822) von Nicolo Isouard, »Aladdin« (1888) von Christian Frederik Hornemann, »Aladino e la lampada magica« (1965) von Nino Rota oder das Disney-Musical »Aladdin« (2015) zu nennen, das Alan Menken für den Broadway schrieb. Die Geschichte selbst ist zwar arabischen Ursprungs und geht auf den maronitischen Christen Hanna Diab aus dem syrischen Aleppo zurück. Doch es war wohl der französische Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715), der den My­thos – wie übrigens auch den von »Ali Baba und den vierzig Räubern« – Jahrhunderte später in die Märchenwelt von Tausendundeiner Nacht eingefügt hat. Welleminsky und Hardt-Warden näherten sich dem Stoff, indem sie einzelne Motive herauslösten (u. a. wurden die in der Sage vorkommenden Figuren des bösen Zauberers und des neidischen Wesirs zur Figur des Muluk zusammengelegt) und neu montierten.

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Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Auch der dänische Komponist C. F. E. Hornemann ( 17. Dezember 1840 in Kopenhagen; † 8. Juni 1906) komponierte zeitnah eine Oper gleichen Names, wozu sich beim Eintrag bei youtube folgendes findet: An abridged studio recording of C.F.E. Horneman’s only opera, Aladdin (1888). C.F.E. Horneman studied in Leipzig, and the Overture was performed by the Gewandhaus orchestra in 1867. He worked on the opera project for decades. The first performance in Copenhagen included many cuts and was badly sung. A 1902 revival didn’t work out much better. The complete opera has not been staged professionally since then and has never been recorded. This radio recording (1953) contains around half of the music. Singers: Ruth Guldbæk, soprano (Gulnare), Else Brems, mezzosoprano (Morgiane), Thyge Thygesen, tenor (Aladdin)
Volmer Holbøll, baritone (Genie of the Ring)
Einar Nørby, bass (Genie of the Lamp) Georg Leicht, bass (The Sultan) Holger Byrding, bass (Noureddin) Holger Nørgaard, bass (The Vizier) Conductor: Launy Grøndahl

Dass sich für Atterberg die Entstehungszeit von »Aladin« am Ende über fünf Jahre zog, mag einerseits mit dem immensen Arbeitsaufkommen zu tun haben, das der Komponist innerhalb und außerhalb des schwedischen Musiklebens bewältigen zu hatte. Andererseits dürfte auch der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Rolle ge­spielt haben, mit dem sich Atterberg in seinen Memoiren intensiv auseinandersetzt und der ihn in seiner Schaffenskraft vielleicht auch ein wenig gelähmt hat. Doch dann ging plötzlich alles rasend schnell: Am 24. August 1940 hatte er den Klavierpart zu seiner nunmehr vierten Oper fertig gestellt, so dass er an die Orchestration gehen konnte, die – entgegen seinem gängigen sinfonischen Stil, der dramatische Aus­brüche, nordische Düsterkeit und geisterhafte Episoden mit einschließt – ungemein farbenfroh und orientalisch-folkloristisch ausfiel. Dieser Wechsel von Dunkelheit hin zum Licht mag dem Sujet aus Tausendundeiner Nacht geschuldet sein. »Ich been­dete die Partitur am 28. Januar 1941«, schrieb Atterberg schließlich und kündigte die Uraufführung in der Zeitung »Stockholms-Tidningen« für das kommende Frühjahr an. Am 1. März dirigierte er noch seine 1. Sinfonie in Braunschweig, dann wandte er sich den Nordischen Musiktagen in der schwedischen Hauptstadt zu, die am 18. März mit der Uraufführung von »Aladin« eröffneten. Doch der durchschlagende Erfolg blieb hier aus. (Ob die Tatsache, dass das Werk ursprünglich in deutscher Sprache ge­schrieben und erst für die Uraufführung von Atterberg selbst und seiner Frau Marga­reta ins Schwedische übersetzt worden war, dabei eine Rolle gespielt hat, muss offen bleiben.) »Aladin« wurde in Stockholm nur elf Mal gegeben und danach in Schweden bis heute nicht nachgespielt. Nichtsdestotrotz war Atterberg mit der Aufführung zu­frieden gewesen. Die Tänze waren seiner Meinung nach zwar schlecht umgesetzt worden, doch das Dirigat unter Sten-Åke Axelson und die Leistung der Sängerinnen und Sänger hatten ihn überzeugt.

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Zu Atterbergs Oper „Aladdin“: Illustration von Walter Crane (Liverpool 1845–1915 Horsham)/ Wiki

Anders verhielt es sich mit der deutschen Erstaufführung von »Aladin« am 18. Okto­ber 1941 in Chemnitz, die von starken Ovationen von Seiten des Publikums und von überregionalem und einhellig positivem Presseecho begleitet wurde. Die Wahl auf das Opernhaus Chemnitz war vermutlich nicht zufällig gefallen, schließlich hatte Atterberg – neben seinen Opern »Fanal« und »Härvard, der Harfner« – mit dem hiesigen Orches­ter mehrfach eigene Werke zur Aufführung bringen und somit auch enge Kontakte zum kulturellen Leben in der Stadt knüpfen können. Die Kritiker betonten in ihren Rezensio­nen immer wieder, dass es sich beim »Aladin«-Stoff um eine ausgezeichnete Wahl für eine Oper handle und dass Atterbergs Musik (inklusive einer Ouvertüre, die für Chem­nitz nachkomponiert worden war) den nötigen Melodienreichtum und die orientalisch-koloristische Färbung liefere, den die Vertonung eines solchen Märchens benötige. So war im »Hamburger Fremdenblatt« zu lesen: »Die […] Märchenoper ›Aladin‹ von Kurt Atterberg beansprucht besonderes Interesse, da der Komponist sich hier erstmalig mit dem Orient auseinandersetzt und dabei – das lehrt die interessante Aufführung – ein feinnerviges Einfühlungsvermögen in die sinnenfreudige, klangüppige Musik offenbart.« Das »Chemnitzer Tageblatt« wusste zu berichten: »Mit den klug angewandten Mitteln übermäßiger Intervalle, ungewöhnlicher Tonfolgen, leiterfremder Gegenstimmen, grel­ler Quarten- und Quintengänge, bizarr gemischter Orchesterklänge zaubert uns Atter­berg eine Welt aus Tausendundeiner Nacht vor. Aber Atterberg erschöpft sich nicht im Tonmalerischen. Immer wieder lässt er schöne melodische Linien aufblühen, erfreut das Ohr durch geschlossene Sätze wie das zündende Vorspiel, die […] Zwischen­spiele und charakteristischen Tänze […]. Das ganze Werk hat Fluss […]. Die Besucher standen im Bann der fesselnden Neuheit und bezeugten ihre Freude durch lebhaften Beifall.« Und das »Neue Wiener Tageblatt« konstatierte: »Die Märchenwelt zaubert At­terberg mit üppig blühender, leuchtender Orchestersprache vor den Zuhörer hin. Seine Musik hält auf große melodische Linie […].«

Trotz dieses einhelligen Erfolges war auch in Deutschland an Folgeaufführungen nicht zu denken: Zunächst wegen des fortschreitenden Krieges und nach 1945 wegen der rapide sinkenden Reputation des Komponisten. So ist die nun nachfolgende Aufführung am Staatstheater Braunschweig im März 2017 der erste Versuch, dieses märchenhaft-romantische Werk wieder aus der Versenkung zu heben und als Bereicherung der Opernspielplä­ne auf die Bühne zu bringen. Christian Steinbock und Stig Jacobsson

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Wir danken dem Staatstheater Braunschweig und den beiden Autoren für die Erlaubnis zum „Nachdruck“ des Artikels aus dem Programmheft zur Oper Aladin. Christian Steinbock ist Dramaturg für das Musiktheater in Braunschweig, Stig Jacobsson ist ein renommierter schwedischer Musikjournalist sowie Autor zahlreicher Biografien und wichtiger Artikel zum schwedischen Musikleben. mehr zu ihm bei Wikipedia. Die Rezension zum Aladin am Staatstheater Braunschweig findet sich ebenfalls auf operalounge.de. Foto oben: Kurt Atterberg/ youtube. Zur Schreibweise: Im schwedischen Original wird Aladdin mit -dd- geschrieben, für die deutsche Version verwenden die Autoren und das Staatstheater Braunschweig die eingedeutschte Version mit einem – d-. 

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Frühes Barock aus Frankfurt

 

Schon eine Tradition ist die Zusammenarbeit der Oper Frankfurt mit OEHMS CLASSICS, verschiedene Produktionen des Hauses als Live-Mitschnitte auf CD zu veröffentlichen. Oft  handelt es sich dabei um Neuschöpfungen, Ausgrabungen oder Raritäten. Aktuelles Beispiel ist die Oper L’Orontea des 1623 in Arezzo geborenen Komponisten Antonio Cesti, die 1656 in Innsbruck am Hof des Erzherzogs von Tirol uraufgeführt wurde. So ist denn auch die von René Jacobs geleitete Aufführung im Sommer 1982 in Innsbruck eine der ersten in moderner Zeit gewesen, die bei harmonia mundi france auf LP/ CD festgehalten wurde (Bierbaum, Müller-Molinari, Reinhart) und die noch immer überzeugend ist. Die nun bei Oehms Classics dokumentierte aus Frankfurt fand im Februar/März 2015 in der Inszenierung von Walter Sutcliffe und der Ausstattung von Gideon Davey statt.

Wahrscheinlich wirkten berühmte Sänger der Zeit, die zum Ensemble am Innsbrucker Hof zählten, in der Uraufführung mit – so die Altistin Anna Renzi (die Ottavia in der Premiere von Monteverdis Poppea in Venedig) und der Bass Giulio Cesare Donati (der Giove in Cavallis La Calisto in Venedig). Sie waren auch für die ein Jahr zuvor herausgekommene L’Argiria Cestis engagiert worden. Donatis komisches Talent und seine Gabe, im Falsett zu singen, lassen vermuten, dass Cesti ihn als Oronteas skurrilen und meist betrunkenen Diener Gelone besetzt hatte.

Das Stück erzählt von der ägyptischen Königin Orontea, die nicht bereit ist, sich der Liebe zu unterwerfen, dann aber doch Zuneigung zu dem Maler Alidoro empfindet, der nach einem Liebesabenteuer mit der Prinzessin Arnea in Begleitung seiner vermeintlichen Mutter Aristea erscheint und auch von der Hofdame Silandra geliebt wird, die wiederum der Höfling Corindo begehrt. Später stellt sich Alidoro nach den üblichen Verwirrungen nicht als Maler, sondern als Prinz Floridano von Phönizien heraus, was die Standesunterschiede zwischen ihm und der Königin aufhebt, so dass einer glücklichen Vermählung mit Orontea nichts mehr im Wege steht.

Dem Bedürfnis des venezianischen Publikums nach Unterhaltung entsprach auch die Notierung der alten Aristea für einen Tenor als Rockrolle. L’Orontea darf als ein Vorläufer der Buffo-Oper gelten. Die Musik ist lebendig, von anmutiger Leichtigkeit und sprühender Vitalität. Mit Ivor Bolton steht ein Spezialist der Alte-Musik-Szene am Pult des Frankfurter Opern- und Museumsorchester, der alle Stimmungen und Affekte der Musik sachkundig ausreizt und für schöne Kontraste zwischen komischen Episoden und solchen mit lyrischem Melos sorgt.

Die Besetzung setzt sich aus Mitgliedern des Frankfurter Institutes und aus speziell für diese Produktion engagierten Gästen zusammen. Zur ersteren Gruppe gehört die Interpretin der Titelrolle, die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy, in deren Gesang man sich mehr Energie und Charakter wünschte. Die Tongebung klingt etwas verwaschen und larmoyant. Deshalb hinterlassen die klagenden Passagen den stärkeren Eindruck. Auch die britische Sopranistin Louise Alder zählt zum Frankfurter Ensemble. Als Silandra wartet sie mit jugendlich-lieblichem Sopran und fließenden Koloraturen auf.

Prominentester Gast ist der katalanische Countertenor Xavier Sabata, der mit dem Alidoro sein Frankfurter Debüt gibt. Seine Stimme klingt weich, resonant und sinnlich, vereint sich im Duett mit Salandra zu ausgewogenem Wohlklang. Ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung ist Matthias Rexrodt, gleichfalls renommiert und als Corindo zum vierten Mal in einer Barockpartie in Frankfurt zu erleben. Sein bekannt weinerliches Timbre ist auch hier zu vernehmen und dürfte nicht auf jedermanns Zustimmung stoßen. International ein Begriff in diesem Genre ist der belgische Tenor Guy de Mey, der als Aristea seine komödiantischen Fähigkeiten ausstellen kann, die Partie aber nicht zur Karikatur verzerrt und sie mit klangvollem Ton singt.

Simon Bailey, nach seinen Jahren als Ensemblemitglied des Hauses nunmehr fester Gast, gibt dem Gelone prallen Umriss, singt lustvoll und auftrumpfend, scheut dabei auch Vokalverfärbungen und lautmalerische Effekte nicht. Als Hofphilosoph Creonte komplettiert der Bariton Sebastian Geyer das Personal am Hof der ägyptischen Königin. Im Prolog, wie das aus vielen Werken des Frühbarock (Monteverdi, Cavalli etc.) bekannt ist, streiten Filosofia (Katharina Magiera) und Amore (Juanita Lascarro) darüber, wer die größere Macht über die Menschen habe. Und wieder einmal hat auch hier am Ende die Liebe den Sieg davon getragen (OC 965, 3 CD).  Bernd Hoppe

Opernquiz

 

 

Giacomo Puccinis Complete Songs for soprano and piano bei Naxos könnten auch unter dem Titel “Opernquiz” durchgehen, denn der  (wenn er nichts von Puccinis haushälterischem Tun wusste) erstaunte Hörer wird feststellen, dass der bulgarische Sopran Krassimira Stoyanova bestens bekannte Themen aus des Komponisten berühmten und weniger bekannten Opern singt, die der  zum Teil bereits in seinen frühesten Schaffensjahren, ja als Student, komponiert hatte und später in seinen Oper wieder aufleben ließ..

In dem englischen Booklet wird der Leser darüber informiert, dass einige der teilweise sehr kurzen Canzoni Auftragsarbeiten für Periodika waren, andere für Kirchengemeinden komponiert wurden (Puccinis Schwester war Nonne). Die Texte sind nicht wiedergegeben, aber dafür gibt es zu jedem Track eine kurze Einführung, gegebenenfalls auch mit dem Hinweis auf das Wiederauftauchen einer Melodie in einer der Opern Puccinis.

Es beginnt mit Canto d’anime, in dem der opernerfahrene Hörer sofort Rinuccios Preisen von Florenz erkennt, aber auch beglückt das wunderschöne Timbre von Krassimira Stoyanova, einen Sopran voller Leuchtkraft, sehr nobel und geschmeidig zwischen Ekstase und zarter Innigkeit balancierend. Mimis Abschied aus dem 3. At der Bohéme dominierte einmal in Sole e amore und bezaubert durch ein so raffiniertes chiaro-scuro, wie man es von dem Sopran auch aus der entsprechenden Oper gewöhnt ist. E l’ucellino zeigt, dass eine Stimme durchaus auch Humor haben kann, und in La primavera zeigt sich der Sopran  in besonders anmutiger Weise. Von einer guten Technik sprechen im Ave Maria Leopolda die sicheren Intervallsprünge ins Piano, während in Ad una morta! die obertonreiche Stimme bereits Typisches der beeeibtesten weiblichen Opernfiguren vernehmen lässt und von der Sängerin auch adäquat gestaltet wird. Sicher und ohne Schärfen auch in der Extremhöhen zeigt sich die Stimme in Morire?, bekannt als Arie des Ruggero aus der Rondine, und hier wie auch später bei Mentia l’avviso bemerkt der Hörer mit Vergnügen, dass die Melodie noch nichts über den Charakter eines Stückes aussagt, sondern erst die Interpretation, wenn aus „Donna non vidi mai“ auch der Gesang einer dem Grab Entstiegenen werden kann. Beinahe noch erstaunlicher ist, dass Tosca und Butterfly sich bereits in einem für eine Jagdgesellschaft komponierten Inno a Diana hören lassen. Feierlich getragen immerhin klingt das Salve Regina, auch aus Le Villi bekannt, ein Lächeln in der Stimme hat die Stoyanova für Casa mia, und schon ganz opernhaft ist Terra e mare, während man sich bei Inno a Roma fragt, ob sein recht früher Tod Puccini nicht davor bewahrt hat, unangenehm als Mussolini-Verehrer aufzufallen. In Storiella d’amore meldet sich Edgar, ist aber auch zu bewundern, wie fein die musikalischen Figuren von der Bulgarin herausgearbeitet werden. Zwei Stücke sind zweistimmig, zum Sopran gesellt sich ein Mezzosopran, der eher im Hintergrund bleibt. Da kein zweiter Name im Booklet genannt wird, kann man annehmen, dass die Sopranistin sich auch dieser Rolle angenommen hat. Die einfühlsame Begleiterin am Klavier ist Maria Prinz (Naxos 8.573501). Ingrid Wanja

Zurück wie neu

 

Händel komponierte das Oratorium La Resurrezione 1708 in Rom für ein ausgesuchtes und anspruchsvolles Publikum seines Mäzens Fürst Ruspoli. Bei Erato ist nun die 1990 entstandene Einspielung von Ton Koopman und The Amsterdam Baroque Orchestra wieder erschienen und besteht auch fast drei Jahrzehnte nach der Aufnahme den qualitativen Test der Zeit. Maßgebliche Konkurrenz existiert von Hogwood (1982, Decca), McGegan (1992, harmonia mundi), Minkowski (1996, Archiv), de Vriend (2003, Challenge) und Haïm (2009, ebenfalls bei Erato), doch den Vergleich muss Koopman mit niemandem scheuen. Überzeugend wirkt der orchestrale Farbenreichtum mit sehr gut wahrnehmbaren Instrumenten, bspw. das von Koopman selber gespielte Cembalo. Der Klang ist ausgesprochen schön, die Tempi sind nie überforsch oder stockend, sondern ausgeglichen und ohne Extreme. Und sängerisch gibt es berückend schöne Momente, wer sich einen Eindruck verschaffen will, der kann zwischen verschiedenen Höhepunkten wählen. Zu hören sind  Barbara Schlick als Angelo, Nancy Argenta, die als Maddalena bspw. ein in jedem Moment bemerkenswertes „Ferma, l’ali, e sui miei lumi“ singt, Guillemette Laurens, die als Cleofe ein nicht minder beeindruckendes „Naufrangando va per l’ondo“ präsentiert, dazu Guy de Mey (San Giovanni) mit elegantem Tenor, Klaus Mertens klingt als Lucifero durchaus bedrohlich und bleibt doch sanglich. Die Aufnahme wirkt frisch und unverbraucht, und das wahrscheinlich zum aktuell attraktivsten Preis/Leistungsverhältnis, nur ein Libretto sucht man bei der Neuauflage vergebens. (Erato 9591414)

Aufnahmen mit Musik von Antonio Caldara können heute noch als ungewöhnlich gelten. Als der Dirigent Lajos Rovátkay zwischen 1992 und 1994 mit der Capella Agostino Steffani (nachdem Rovátkay 1996 die Leitung des Ensembles niederlegte, gab man sich einen neuen Namen: Hannoverschen Hofkapelle) Werke des Venezianers einspielte, war das noch eine Pioniertat, die nun ebenfalls erneut bei Erato reeditiert wurde. Die Missa Sanctorum Cosmae et Damiani ist eine von rund 30 festlichen Messen Caldaras in großer Besetzung mit Streichern, Trompeten, Posaunen und Pauken, die für heutige Ohren allerdings kaum überraschungsvoll klingt und dem Anlaß entsprechend auch kaum innovativ gedacht sein konnte. Es singen Monika Frimmer (Sopran), Ralf Popken (Countertenor), Wilfried Jochens (Tenor/ was für eine verdienstvolle und lange Karriere) und Klaus Mertens (Bass) sowie die Westfälische Kantorei aus Herford. Weiterhin werden Pergolesis opernhaft dramatisches Stabat Mater für Sopran (Monika Frimmer) und Alt (Gloria Banditelli) und Caldaras Stabat Mater gegenüber gestellt, das etwas früher als Pergolesis entstand und bei dem die 12 Sätze gleichmäßig auf ein Sängerquartett verteilt werden. Caldaras für den Chor chromatisch ausdrucksvolles Werk ist durch eine abwechselnd kombinierte Zusammenstellungen von Sängern und Instrumenten geprägt und klingt in einem konventionellerem Ernst konzipiert als bei Pergolesi. Die beiden Sängerinnen werden ergänzt durch Gerd Türk (Tenor) und Peter Frank (Bass). Die drei großen geistlichen Werke werden ergänzt durch Caldaras Motette Caro mea vera est cibus und das Graduale Benedicta et venerabilis es sowie kurze Sonaten von Caldaras venezianischem Zeitgenossen Vivaldi und dem Tschechen František Tům. Wer eine abwechslungsreiche Einspielung geistlicher Barockmusik in guter Qualität sucht, der wird hier fündig. (Erato 9591428) Marcus Budwitius

Hart und zart

 

Mit animalischer Gefährlichkeit schaut Xavier Sabata vom Cover seiner neuen CD bei APARTE auf den Betrachter (AP143). Seine Stimme aber tönt ganz und gar nicht wild oder roh – im Gegenteil: Nie klang der Counter weicher, gerundeter, sanfter. Das Programm trägt den Titel Catharsis, was die sittliche Läuterung des Zuschauers durch die Tragödie mit ihren auslösenden Emotionen von Mitleid oder Furcht meint. Es vereint zehn Arien verschiedener Barockkomponisten, die alle von durch Hybris und Nemesis verursachten Gemütsbewegungen bestimmt sind. Nicht wenige Opernhelden zeigen sich in übermütigem Stolz oder frevelhafter Selbsterhebung. Stets zieht das tragische Folgen, oft den Tod des Protagonisten, oder eine den Übermut strafende und ausgleichende Gerechtigkeit nach sich, was auf die griechische Göttin der Vergeltung zurückgeht. Gleich beim Rezitativ der ersten Nummer (aus Giuseppe Maria Orlandinis Adelaide von 1729) betört die Stimme mit schwebendem Klang, während sie in der folgenden Arie „Alza al ciel“ mit energisch formulierten Koloraturen für sich einnimmt. Everardo sieht darin den Fall des Tyrannen voraus, der gleich einem vom Blitz getroffenen Baum stürzt. Die Partie wurde für den Altkastraten Antonio Baldi geschrieben; später folgt noch die für den Star Senesino komponierte Rolle des Ottone mit dessen virtuoser Arie „Già mi sembra“, womit in einem Werk die Affekte von Hybris und Nemesis vereint sind. Die begleitende Armonia Atenea unter George Petrou macht mit Affekt betontem, farbenreichem Spiel sofort auf sich aufmerksam und behauptet sich neben dem bravourösen Solisten, der sich mit seinem stupenden Gesang in eine Reihe mit Fagioli und Cencic stellt, imponierend.

Francesco Bartolomeo Contis Griselda kam 1725 in Wien zur Premiere; das Libretto von Apostolo Zeno hatte zwei Jahre zuvor auch Pietro Torri für den Münchner Hof vertont. Darin wird die Wandlung des Königs Gualtiero  von der Hybris zur Nemesis sehr deutlich gezeigt, denn der Herrscher will seine Gattin Griselda zugunsten einer jungen ausländischen Prinzessin verlassen, was die Arie „Vorresti col tuo pianto“ in Torris Version schildert. Die standhafte Liebe Griseldas bekehrt ihn jedoch am Ende, was „Cara sposa“ in Contis Vertonung beschreibt. Sabata weiß die gegensätzlichen Stimmungen sehr eindringlich zu kontrastieren, malt die Conti-Arie  mit schmerzlicher Empfindung aus, während er bei Torri mit vibrierender Erregung und auftrumpfender Attacke spannende Akzente setzt.

Eine der berühmtesten Arien dieser Sammlung ist die ombra-Arie „Gelido in ogni vento“ aus Vivaldis Il Farnace, ursprünglich für einen Tenor in seiner verschollenen Oper Siroe konzipiert, dann aber wegen des Erfolges dieser Nummer für einen Altkastraten umgeschrieben. Farnace, der sich am vermeintlichen Tod seines Sohnes schuldig fühlt, sieht in dieser beklemmenden Arie dessen leblosen Schatten wie ein Gespenst vor sich – ein typisch kathartischer Moment, der in der Interpretation durch Sabata und die Armonia Atenea mit frostig klirrenden Akkorden schaudern macht. Extrem ausgereizt werden die dynamischen Gegensätze von fast unhörbaren bis zu wie Donnerschläge hereinbrechenden Tönen. Man hat dieses Stück unzählige Male gehört – so eindringlich und anschaulich in der geisterhaften Atmosphäre aber gewiss nicht.

Der Reigen der italienischen Komponisten wird ergänzt durch Attilio Ariosti mit seiner Oper Caio Mazio Coriolano, 1723 in London mit Senesino in der Titelrolle herausgekommen. Auch hier findet sich mit einer Gefängnisszene eine typisch kathartische Situation, wenn der Eingekerkerte in „Voi, d’un figlio tanto misero“ die Götter um Gerechtigkeit anruft. Der  Counter berührt hier mit nicht nur mit seinem schmeichelnden Gesang, sondern auch dem gefühlstiefen Vortrag. Antonio Caldaras Temistocle von 1736 fußt auf einem Libretto von Metastasio als erste von über zwanzig weiteren Vertonungen. Der Titelheld, aus seiner Heimat Athen verbannt und beim persischen König Serse im Asyl, sieht einen Ausweg aus seinem Konflikt zwischen Dankbarkeit und Pflicht nur im Tod („Ah, frenate il pianto“). Diese existentielle Notlage vermittelt sich dem Hörer durch Sabatas Expressivität  bezwingend. Ein Auszug aus der recht unbekannten Oper Il Valdemaro von Domenico Natale Sarro markiert den Schluss der Anthologie und nochmals einen virtuosen Glanzpunkt. Als (fiktiver) Sohn des Königs Ricimero ist Valdemaro mit der (ungeliebten) norwegischen Prinzessin Rosmonda verheiratet, an die er seine spöttische Arie „Quando onor favella“ richtet.

Vorher gab es mit Händel und Hasse auch Beispiele von populären Barockkomponisten. Händels Admeto hatte 1727 in London mit Senesino in der Titelrolle Premiere, der für die Eingangsszene („Chiudetivi miei lumi“) mit ihrer dramatischen Instrumentaleinleitung besonders bejubelt wurde. Sie schildert die Situation des sterbenskranken Königs Admeto, der von schrecklichen Visionen und Albträumen heimgesucht wird. Hier können der Sänger und das Ensemble wiederum mit einem atmosphärischen Tongemälde aufwarten.

Zeugnisse von Hybris und Nemesis finden sich auch im Alten und Neuen Testament. Hasses Oratorium La conversione di Sant’Agostino – 170 in Dresden uraufgeführt und damit das „jüngste“ Beispiel der Auswahl – geht zurück auf Aurelius Augustinus’ Bekenntnisse. Die Arie „Or mi pento“ formuliert den Entschluss des Protagonisten, aller irdischen Freuden zu entsagen und sich total Gottes Willen zu unterwerfen. Innerer Aufruhr und Seelenfrieden werden vom Komponisten wie vom Interpreten sehr eindringlich geschildert. Xavier Sabata ist mit dieser CD ein großer Wurf gelungen – auch konzeptionell. Die Fotos des Sängers im Booklet mit Kopf und Händen unter der Dusche verweisen zwar auf die reinigende Kraft des Wassers, scheinen mir aber eine zu banale Illustration für das große Thema. Bernd Hoppe

„Ah, che muso…“

 

„Sì, sì, sì, sì!“ singt Tisbe in der Introduzione von Rossinis Melodramma giocoso La Cenerentola – und so lautet auch der Titel eines neuen Albums von Marie-Nicole Lemieux bei Erato/Warner, das ganz dem Komponisten aus Pesaro gewidmet ist (0190295953263). Leider ist Angelinas berühmtes Schlussrondo aus dieser Oper nicht im Programm enthalten, dafür viele andere bekannte Perlen und auch einige seltener zu hörende Nummern. Mit Isabellas „Cruda sorte!“ aus der Italiana in Algeri beginnt die Auswahl, später folgt auch noch das kokette Rondo des 2. Aktes „Pensa alla patria“ mit seinem energischen Rezitativ „Amici, in ogni evento“. Lemieux gehört zur raren Spezies der contralti mit einer betörenden Stimme von profunder, satter Tiefe, sinnlichem Klang und souveräner, nur zuweilen etwas strenger Höhe, wie sie es seit den Zeiten von Lucia Valentini Terrani nicht mehr gegeben hat. Konsequent hat sie ihr Repertoire vorwiegend auf den Barock und Belcanto beschränkt, abgesehen von einigen Ausflügen in das Genre der französischen mélodies. Das hat ihrer Stimme das technische Finish und den Schmelz bewahrt, wie es auf dieser Platte eindrucksvoll zu hören ist. Ihr Gesang ist kultiviert, ihr Vortrag stets geschmackvoll, auch bei den wohldosiert eingesetzten Effekten im Brustregister. Lemieux findet zudem bei den Verzierungen in den Dacapi originelle Varianten, was beispielsweise eine so sattsam bekannte Nummer wie Rosinas „Una voce“ aus dem Barbiere wie neu erklingen lässt.

Die Platte ist der Mitschnitt zweier Konzerte in der Opéra Berlioz Montpellier am 2. und 5. Dezember 2015, bei denen die bekannte Sopranistin Patrizia Ciofi ihr in einigen Duetten assistiert. Deren erstes ist – nach Tancredis Auftrittsszene „O patria!/„Di tanti palpiti“  – das große Duett des Titelhelden mit Amenaide im 2. Akt„Fiero incontro!”/„Lasciami“. Die Italienerin ist eine erprobte Interpretin dieser zentralen Partie des Werkes (auch beim Rossini Festival Pesaro) und behauptet sich mit ihrem bekannt wehmütigen Timbre souverän neben der Altistin, die mir reichem Pathos und starker Empfindung aufwartet. Die Stimmen verblenden sich ideal, auch im effektvollen Schlussteil mit seinen virtuosen Koloraturen.

In einen weiteren Dialog stimmt die Lemieux mit dem Bariton Julien Veronèse aus der weniger bekannten Opera buffa La pietra del paragone ein, in welchem sie die junge Clarice gibt, die vom Conte Asdrubale auf eine Liebesprobe gestellt wird. In den einleitenden Takten lässt Pascal Scheuir feine Horn-Töne hören und auch das Orchestre national de Montpellier Occitaine spielt unter Enrique Mazzola außerordentlich delikat und einfühlsam, wie man es schon in der Einleitung zu Tancredis Auftritt hörte. Es weiß aber auch dramatische und spannende Akzente zu setzen, so im aufgewühlten Vorspiel zu Edoardos Szene „Sazia tu fossi alfine“ aus der Matilde di Shabran, in welcher ein weiterer hochklassiger Hornist (Sylvain Carboni) mit perfekten Trillern brilliert. Die Arie„Ah! Perché“ singt Lemieux mit schmerzlichem Ausdruck, den bewegten Schlussteil „Ah! se ancora“ mit stürmischer Emphase. In der großen Szene des Arsace im 2. Akt von Semiramide ist der Choeur des Hauses der Altistin ein inspirierender Partner. Einen Stimmungskontrast bringt das Duett zwischen der Dienerin Ninetta und dem jungen Bauernburschen Pippo aus La gazza ladra, das Ciofi und Lemieux in reizvolle Melancholie tauchen. Und beide Sängerinnen überraschen am Ende des Programms mit einem so noch nie gehörten „Duetto buffo di due gatti“, das gern als Schlussnummer oder Zugabe genommen wird. Das quietscht, gurrt und schnurrt, dass man gern das Lächeln auf den Gesichtern der Zuhörer im Saal sehen würde. Bernd Hoppe

Kurt Moll

 

Der große deutsche Bassist Kurt Moll (* 11. April 1938 in Buir bei Kerpen) starb am 5. März 2017, wie wir mit großem Bedauern hören.

Dazu schreibt die Bayerische Staatsoper München: Die Bayerische Staatsoper trauert um Kurt Moll, der am 5. März 2017 nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren verstorben ist. Der in Buir bei Köln geborene Bass war über Jahrzehnte einer der wichtigsten Interpreten seines Faches. Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper: „Wie kein anderer vermochte es Kurt Moll, die großen Bass-Partien von Wagner, Mozart und Strauss zum Leben zu erwecken. Sein Tod ist ein großer Verlust für die Bayerische Staatsoper und alle unsere Mitarbeiter, für sein Publikum in München, Deutschland und der ganzen Welt.“ Die Staatsoper widmet dem Bayerischen Kammersänger die Vorstellung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail am 24. März 2017.

Nach dem Studium an der Kölner Musikhochschule führten erste Engagements Kurt Moll nach Aachen, Mainz und Wuppertal, der internationaler Durchbruch gelang 1970 bei den Salzburger Festspielen als Sarastro in Die Zauberflöte. Sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper feierte Moll 1971 als Einspringer in Die Meistersinger von Nürnberg. Die Partie des Veit Pogner begleitete ihn durch seine Karriere. Andere Wagner-Partien in München waren König Marke (Tristan und Isolde), Landgraf Hermann (Tannhäuser), Gurnemanz (Parsifal), Daland (Der fliegende Holländer), König Heinrich (Lohengrin), Fasolt (Das Rheingold), Hunding (Die Walküre). Mozarts Sarastro bleibt auch in München eine Lebensrolle, darüber hinaus sang er hier Osmin (Die Entführung aus dem Serail), Komtur (Don Giovanni), Don Alfonso (Così fan tutte) oder Bartolo (Le nozze di Figaro). Des Weiteren umfasste das Repertoire in seinen 45 Münchner Jahren unter anderem Rocco (Fidelio), Ochs auf Lerchenau (Der Rosenkavalier), Pimen (Boris Godunow), Sir Morosus (Die schweigsame Frau), Seneca (L’incoronazione di Poppea), Padre Guardino (La forza del destino), Ramfis (Aida), Sparafucile (Rigoletto), Gremin (Eugen Onegin) oder Schigolch (Lulu).

Am 31. Juli 2006 nahm Kurt Moll als Nachwächter in Die Meistersinger von Nürnberg Abschied von seinem Münchner Publikum. Gastspiele führten ihn an allen großen Opernhäusern der Welt, insbesondere sang er neben München in Hamburg, Wien, Bayreuth und Salzburg. Kurt Moll ist Bayerischer, Hamburger und Wiener Kammersänger und war Gesangsprofessor an der Kölner Musikhochschule. 2002 erhielt er den Maximilianorden.

 

Und Wikipedia ergänzt: Kurt Moll lernte in seiner Jugend Gitarre und Cello und war Solist im Schulchor. Dann studierte er an der Kölner Hochschule für Musik und privat bei Emmy Müller in Krefeld. Mit 20 begann er seine berufliche Laufbahn an der Kölner Oper und wurde kurz danach nach Aachen eingeladen. Darauf folgte das Mainzer Staatstheater und ein Vertrag als erster Bassist in Wuppertal.

Bei den Bayreuther Festspielen debütierte er 1967. Seinen internationalen Durchbruch hatte er 1970 bei den Salzburger Festspielen als Sarastro (Die Zauberflöte). 1972 hatte er sein Debüt an der Mailänder Scala als Osmin (Die Entführung aus dem Serail), 1974 sein USA-Debüt in San Francisco als Gurnemanz (Parsifal). An der Metropolitan Opera in New York trat er erstmals in der Saison 1979 auf und sang unter anderem den Rocco (Fidelio) und Sparafucile (Rigoletto).

Seine Karriere führte ihn auch nach Hamburg, Wien, Bayreuth, Salzburg und München. Er war Bayerischer, Hamburger und Österreichischer Kammersänger und Gesangsprofessor an der Kölner Musikhochschule.Am 31. Juli 2006 verabschiedete sich Kurt Moll in der Rolle des Nachtwächters in Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg bei den Münchner Opernfestspielen von der Opernbühne. Zuvor hatte er bekannt gegeben, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen von der Opernbühne zurückziehen müsse.
Im Zentrum von Kurt Molls Repertoire standen die großen Basspartien von Mozart, Wagner und Strauss, doch sang er auch Basspartien von Carl Maria von Weber wie den Eremiten in Der Freischütz oder den Inquisitor in Sergei Sergejewitsch Prokofjews Oper Der feurige Engel, op. 37. Partien wie Osmin, Sarastro, Falstaff oder Gurnemanz hat Kurt Moll auch in Platten-Produktionen unter u. a. Sir Georg Solti, Herbert von Karajan, Wolfgang Sawallisch und Karl Böhm gesungen.

Kurt Moll war auch Liedersänger. Er nahm 1983 den Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert mit Cord Garben als Begleiter am Klavier auf. Darüber hinaus nahm er mit demselben Klavierbegleiter 1996 auch 2 CDs mit Balladen von Carl Loewe im Rahmen einer Gesamtaufnahme aller Loewe-Lieder auf (Foto oben Bruce Duffy). (Wikipedia)

Rossinis Champion

 

Alberto Zedda (* 2. Januar 1928 in Mailand),  italienischer Dirigent und Musikwissenschaftler starb am 5. März 2017. Nachstehend eine kurze Biographie von Wikipedia. Alberto Zedda studierte Musik an seinem Geburtsort und Musikgeschichte an der Universität Urbino. Von 1961 bis 1963 war er an der Deutschen Oper Berlin, von 1967 bis 1969 an der New York City Opera für das italienische Repertoire verantwortlich. Seit der Entwicklung des Rossini Opera Festival 1980 bis 1992 war er dessen künstlerischer Leiter. In der Saison 1992/1993 war er künstlerischer Leiter am Teatro alla Scala in Mailand. Er stand im Ruf, ein führender Rossini-Experte zu sein und lehrt Musikgeschichte an der Universität Urbino. Zusammen mit Rodolfo Celletti war er musikalischer Direktor des Festival della Valle d’Itria in Martina Franca. Er war Mitglied des künstlerischen Beirats der Fondazione Rossini in Pesaro und Ehrenpräsident der Deutschen Rossini-Gesellschaft (Foto Allmusic). (Wiki)

 

Und das Rossini Festival in Pesaro schreibt:  Il Rossini Opera Festival piange assieme alla famiglia la scomparsa di Alberto Zedda. Il Maestro Zedda è stato consulente e poi direttore artistico del ROF sin dai suoi inizi, protagonista della Rossini Renaissance e indimenticabile guida per una nuova generazione di cantanti all’interno dell’Accademia Rossiniana del Rossini Opera Festival, da lui ideata e diretta sin dalla sua fondazione.

Così lo ricorda il Sovrintendente Gianfranco Mariotti, amico di una vita: “Con Alberto ho condiviso una lunga esaltante avventura della conoscenza alla riscoperta del Rossini dimenticato, fatta di battaglie, speranze, ansie, emozioni e vittorie comuni. Ci ha unito anche un’amicizia fraterna e senza ombre, piena di comuni interessi e predilezioni. Nel momento del dolore mi consola pensare che Alberto ha avuto la fortuna di vivere la vita che voleva, si è realizzato in tutti i campi in cui ha operato, e ha potuto lavorare, come desiderava, fino all’ultimo giorno di vita”.

Alberto Zedda era nato a Milano, dove aveva compiuto studi umanistici e musicali. Vinto il Concorso della Rai per direttori d’orchestra (1957), è salito sui podi più prestigiosi del mondo. Si è dedicato alla didattica e alla musicologia. È stato membro del Comitato editoriale della Fondazione Rossini; Consulente artistico del Festival Valle d’Itria e del Festival Mozart de La Coruña; Direttore artistico del Teatro Carlo Felice di Genova, del Teatro alla Scala, del Festival Barocco di Fano e del Centro di Perfezionamento P. Domingo di Valencia.

Al Rossini Opera Festival è stato Consulente artistico dal 1981 al 1992 e Direttore artistico dal 2001 al 2015. E’ stato Direttore dell’Accademia Rossiniana dalla sua fondazione. Sarà possibile rendere omaggio ad Alberto Zedda all’Auditorium Pedrotti domani, mercoledì 8 marzo, dalle ore 10 alle 19, e giovedì 9 marzo dalle ore 10. La cerimonia di saluto si terrà giovedì alle ore 11.

 

Alberto Zedda/ Foto Bernd Uhlig/ Deutsche Oper Berlin

Dazu auch die Derutsche Oper Berlin: Keine kritische Rossini-Aufführungspraxis ohne ihn: Unzufrieden mit den Schlampigkeiten einer uninformierten Tradition, war es Alberto Zedda, der in den 1960er Jahren die internationale Wahr-nehmung seines italienischen Landsmannes auf völlig neue Füße stellte. Auf Grundlage des originalen Autografen erarbeitete er eine Neuausgabe des BARBIER VON SEVILLA und leitete so ein philologisch geschultes Rossini-Revival ein, das bis heute Früchte trägt. Zeddas Expertise räumte bald auch mit gängigen Vorurteilen von seichter Musik und sinnlosem Gesinge auf. Dem Stilgenie Rossini, Meistererfinder großer Melodien und Schöpfer eines einzigartigen, lebendigen Musiktheaters, verhalf Zedda mit seiner Arbeit zu neuen Ehren.
An der Deutschen Oper Berlin gab er sein Debüt 1961 – und nein, nicht mit Rossini, sondern mit Puccinis LA BOHEME. Bis 1963 war er hier für das italienische Repertoire zuständig und kehrte auch in den Folgejahren immer wieder an das Haus an der Bismarckstraße zurück, so etwa 2003 mit SEMIRAMIDE oder einem umjubelten TANCREDI 2012 sowie für zahlreiche konzertante Auffüh-rungen seines Lieblingskomponisten, darunter L’EQUIVOCO STRAVAGANTE (Eine verrückte Verwechslung) und LA SCALA DI SETA (Die seidene Leiter). Und auch beim Festkonzert zum 100-jährigen Bestehen der Deutschen Oper Berlin durfte er nicht fehlen! Ob Premieren oder Repertoirevorstellungen, stets leitete Alberto Zedda das Orchester mit der gleichen sanften Exaktheit.
Die Deutsche Rossini-Gesellschaft ernannte ihn nicht von ungefähr zum Ehrenpräsidenten und würdigte damit seine herausragenden Verdienste um das Werk des italienischen Komponisten. Als künstlerischer Leiter des Rossini-Festivals in Pesaro hatte er Gelegenheit, seine Vision mit immer neuen Ausgrabungen und lebendigen Neuinterpretationen zu verwirklichen. Die Opernorchester in New York und Mailand florierten unter seiner Leitung ebenso wie die Orchester in Antwerpen, Paris, München, Barcelona oder Madrid, wo er als gerngesehener Gast zahlreiche Aufführungen dirigierte. Auch als Herausgeber und Lehrer war Zedda einer der wichtigsten Vertreter einer kritisch-historischen Aufführungspraxis – übrigens auch für Komponisten wie Vivaldi, Händel oder Verdi! Seine musikphilologischen Studien machten ihn zum idealen Dozenten für Musikgeschichte an der Universität Urbino und gesuchten Mentor für junge Dirigenten und Musikwissenschaftler.
Im November 2016 dirigierte er seine letzten Opernaufführungen mit Rossinis ERMIONE in Lyon und Paris. Nun ist Alberto Zedda im Alter von 89 Jahren verstorben. Nicht nur die Welt der italienischen Oper verliert mit ihm eine ihrer verdientesten Persönlichkeiten. Die Deutsche Oper Berlin trauert um einen großen Künstler und hoch verehrten Kollegen. Kirsten Hehmeyer/ Ltg. des Pressebüros

Vis á vis: Doris Soffel

 

Auf eine außergewöhnlich lange und überaus erfolgreiche Karriere als Sängerin blickt die Mezzosopranistin Doris Soffel zurück, deren künstlerischer Lebensweg sie von Stuttgart, wo sie von 1973 bis 1982  festes Ensemble-Mitglied war, an die großen Opernhäuser der Welt geführt hat. Jetzt war sie als Klytämnestra in Peter Konwitschnys spannungsgeladener „Elektra“ ins Haus am Eckensee zurückgekehrt und wurde für ihre beeindruckend intensive Gestaltung dieser Rolle gefeiert wie einst für Rossinis koloraturensprühende „Cenerentola“ am selben Ort. Hanns-Horst Bauer traf die Sängerin nach der „Elektra“-Matinée-Vorstellung am 28. Februar 2017 – ein ganz wunderbares Wiedertreffen nach 32 Jahren mit Glücksgefühl auf beiden Seiten.

 

Doris Soffel: „Elektra“ in Stuttgart/ Szene mit Simone Schneider/ Foto: Martin Sigmund

Bei unserem letzten gemeinsamen Gespräch vor 32 Jahren in der Stuttgarter Oper hatten Sie sich gerade gegen das weitere Singen im Ensemble und für eine eigenständige internationale Karriere entschieden. Haben Sie das jemals bereut? Nein, denn für mich war damals alles schon unter Dach und Fach. Ich hatte bereits meine Engagements an anderen Opernhäusern, etwa an Covent Garden in London. Heute dürfte so etwas unvergleichlich schwieriger sein.

Was hat sich denn für  Sängerinnen und Sänger in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Oh Gott, so vieles. Heute ist alles sehr schnelllebig und unruhig geworden. Die Sänger werden häufig in Rollen verschlissen, die sie gar nicht singen sollten. Im Ensemble, wie es das in Stuttgart zum Glück immer noch gibt, können Stimmen noch wachsen und reifen.

Die Klytämnestra in der „Elektra“ von Richard Strauss, die Sie im Augenblick in Stuttgart und München parallel singen, ist sicher eine Ihrer Paraderollen. Gehört sie auch zu Ihren Lieblingspartien? Inzwischen ja. Meine erste Klytämnestra durfte ich bereits 1996 mit Lorin Maazel und den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen singen, eingesprungen für die erkrankte Leonie Rysanek. Das war für mich damals etwas absolut Utopisches, habe  ich doch zugleich Charlotte in Massenets „Werther“ und die Judith in Bartoks „Herzog Blaubarts Burg“ gesungen. Danach habe ich die Rolle dann lange liegen gelassen, weil ich mich noch zu jung dafür fühlte. Klytämnestra war für mich die Krönung aller Frauenrollen, ein wahres Monster, wo man alle stimmlichen und schauspielerischen Facetten zeigen muss. Klytämnestras kamen dann zurecht erst wieder ab 2009, nachdem ich Kundry, Ortrud und die Amme in „Frau ohne Schatten“ gemacht hatte. Das war auch gut so. Es folgten die unterschiedlichsten „Elektra“-Produktionen, und jedesmal entdeckte ich eine neue Dimension meiner Klytämnestra. Das ist einfach eine tolle Partie, in der man sich so richtig ausleben kann.

Doris Soffel: „Elektra“ in Stuttgart/Szene mit Bernhard Conrad/Foto: Martin Sigmund

In Stuttgart hatten Sie am Beginn Ihrer Karriere unter anderem große Erfolge mit Belcanto-Partien. Wie hat sich Ihre Stimme im Lauf der Jahrzehnte entwickelt? Wie haben Sie sich darauf eingestellt? Ich habe ja schon mit 29 die Fricka im „Ring“ in Basel gesungen. Und als ich dieselbe Partie 1983 mit Georg Solti in Bayreuth gemacht habe, stand ich vor einer wichtigen Entscheidung, da ich fast zur gleichen Zeit Rossinis „Cenerentola“ in Schwetzingen und Stuttgart gesungen habe. Ich wollte in meinem Leben unbedingt einmal Primadonna sein, und das ist man bei Rossini und seinen Koloraturen wirklich. Koloraturen, Koloraturen, Koloraturen, das kann ich nur jedem Sänger empfehlen, da man so die Stimme nicht nur perfekt von unten bis oben und von oben bis unten unter Kontrolle, sondern sie auch frisch und elastisch hält. Zudem haben mich die Belcanto-Partien einfach glücklich gemacht.

Und was kam nach dem „Verzierungs“-Gesang? Eigentlich habe ich ja vier Karrieren nacheinander gemacht. Als junge Sängerin in Stuttgart musste ich alles singen, dann kamen italienische und französische Partien sowie viele Mahler-Konzerte, danach die großen Wagner-Knaller und jetzt die reiferen Rollen. Man muss einen sehr langen Atem und viel Geduld haben. Dabei bin ich doch sehr temperamentvoll.

Bekamen das auch die Regisseure von Rang und Namen  zu spüren, mit denen Sie zusammengearbeitet haben? Wenn mich ein Regisseur bremst, ist das für mich das Schlimmste. Wichtig bei der Zusammenarbeit ist, dass man offen und vernünftig miteinander über Probleme und Konzepte spricht. Als Sänger sollte man, wenn einem etwas nicht gefällt, immer gleich mindestens zwei Alternativen in petto haben. Oper ist zwar sehr emotional, aber diese Gefühlswelt sollte man nicht hysterisch Türen schlagend in einen Arbeitsprozess hineintragen.

Und wie sieht´s mit den Dirigenten aus? Da ist es leider so, dass es einige bisweilen gar nicht interessiert, was da auf der Bühne passiert. Wichtig für den Sänger ist deshalb immer, dass man äußerst präzise ist: Mit einem Auge natürlich schon immer beim Dirigenten, mit dem Kopf bei der Regie und mit dem Herzen bei sich selbst. Eigentlich bin doch ich derjenige, der da oben steht und seinen Kopf hinhalten muss. Das alles ist manchmal gar nicht so einfach zu vereinbaren.

Ihr Terminkalender reicht schon bis ins Jahr 2019. Wie halten Sie sich fit für die anstehenden Rollen? Ich ernähre mich gesund, und die Proben sind für mich der Sport. Ich fühle mich fit und freue mich auf viele spannende Herausforderungen.hhb 

 

Zur Person: Doris Soffel wurde in Hechingen geboren. Nach ihrer Zeit im Ensemble der Stuttgarter Oper von 1973 bis 1982 machte sie eine große internationale Karriere. Seit 1999 gehört sie zu den meistgefragten Wagner- und Strauss-Sängerinnen. Sie hat fast 100 Opernrollen gesungen und über 70 CDs und DVDs aufgenommen.

In Stuttgart ist Doris Soffel am Mittwoch, 8.März, ein letztes Mal als Klytämnestra zu erleben. Die Contessa di Coigny in Umberto Giordanos „Andrea Chénier“ singt sie im März nicht nur in München (Premiere am 12.3.), sondern auch in Paris. Es folgen Auftritte als Mme de Croissy in Poulencs „Dialogues des Carmelites“ und  in verschiedenen Strauss-Opern in Amsterdam, Zürich, Berlin, München und Turin. Im November gibt sie im Opernstudio Stuttgart einen Meisterkurs (Foto oben: Martin Sigmund).   hhb

Mascagnis „Guglielmo Ratcliff“

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Eine der aufregendsten Opern Mascagnis ist dessen Gugliemo Ratcliff – seine erste Oper überhaupt und nach eigenem Bekunden auch seine liebste, für die er immer eine Schwäche hatte, die aber kein Erfolg beim ersten Durchlauf 1895 an der Scala war. Und die er für seinen durchschlagenden Erfolg wenig später, Cavalleria rusticana, auch hörbar ausbeutete. Bonn und Livorno sind die die  Aufführungen, die mir zu dieser Oper in moderner Zeit spontan einfallen (die atmosphärische Produktion von Giancarlo Del Monaco 1997 in Bonn und wenig später in Livorno beim Mascagni Festival mit Maurizio Frusoni); die Mono-Standardaufnahme stammt von der RAI 1963 unter La Rosa Parodi (Nuova Era), in Newark dirigierte der tapfere Alfredo Silipigni, Verist par excellence, das Werk 2003 mit Lando Bartolini, und Catania brachte die Oper (mit Elena Suliotis als verrückter Margherita) 1990 – immerhin. So selten, wie man also glaubt, ist dieser Erstling nicht dokumentiert. Dennoch fehlt eine wirklich gute und weiträumige Aufnahme. Der Mitschnitt aus Wexford vom Festival 2015  (dessen Opernaufführungen Charles Jernigan in operalounge.de besprach) ging über das irische Radio rte lyric und begeistert nun als luxuriös aufgemachte CD (rte lyricCD 152/ Amazon, 2 CDs mit schönem Booklet) rundherum (man erinnert sich an den prachtvollen Falstaff Balfes aus Wexford, der ebenfalls bei rte herauskam – wie schön, dass Radioanstalten endlich an die Veröffentlichung ihrer Mitschnitte herangehen). G. H.

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Matthias Käther hat sich die Aufnahme angehört: Pietro Mascagni gehört zu den bedauernswerten Komponisten, von denen nur ein Werk überlebt hat – in seinem Fall Cavalleria rusticana. Jetzt hat das Irische Label RTE lyric eine frühe Mascagni-Oper veröffentlicht. Wenn man Mascagni glaubt, ist Guglielmo Ratcliff sein Opus Magnum. Allerdings hat sich dieser Meinung noch nie irgendjemand angeschlossen. Trotzdem, es ist ein hochinteressantes Stück. Es ist nämlich das eigentliche Erstlingswerk des Maestros. Mascagni schrieb gerade daran, als er von dem Wettbewerb hörte, für den er dann Cavalleria rusticana komponiert hat. Dafür wurde der Ratcliff weggelegt, und erst Jahre später als berühmter Mann hat er sich getraut, diese Erstlingsoper fertig zu schreiben und dem Publikum vorzustellen. Mit relativ geringem Echo.

Denn der Ratcliff ist eine äußerst sonderbare Oper und keinesfalls geeignet für einen großen Publikumserfolg. Mascagni, in den späten 1880er Jahren noch unerfahren mit Operndingen, nutzte hier kein echtes Libretto, sondern vertonte ein düsteres Jugendwerk von Heinrich Heine.

Ratcliff, ein Psychopath reinsten Wassers, er wird von einem Mädchen abgewiesen und schwört, dass er alle neuen Bewerber umbringen wird. Und das macht er dann auch, und nicht nur das, am Ende tötet er nicht nur seine Rivalen, sondern auch seine Braut, ihren Vater und sich selbst. Das Libretto ist fast schon eine Parodie auf die Schauerromantik, doch Mascagni nimmt das alles völlig ernst, angeblich soll er während der Komposition selbst schwer verliebt gewesen sein und sich stark mit Ratcliff identifiziert haben. Er hat an der italienischen Übersetzung von Heine nichts geändert, und das bedeutet, es gibt außer einem wütenden Tenor und einem kochenden Orchester nicht viel Drumherum; keine Ensemble, keine Duette, keine großen Finali. Sehr verrückt das alles, fast schon eine Anti-Oper, aber grade in ihrer Wildheit ein Vorausblick auf die Moderne.

Die hier mitgeschnittene Aufführung vom Wexford-Festival 2015 in Irland zeigt – man kann auch aus diesem kruden Frühwerk einen echten Opernkrimi machen. Der Jubel war denn auch frenetisch, und das ist vor allem der begeisterten Crew des Festivals zu danken, die hier wirklich eins der schwierigsten Opern des Verismo bravourös und mit Leidenschaft auf die Bühne gebracht hat – allen voran der Italienische Tenor Angelo Villari, der als Ratcliff eine Monsterpartie singen muss. Keine wirklich schöne Stimme, aber das ist ja auch keine wirklich schöne Rolle. Den Furor, diese wahnsinnigen brodelnden Gefühlswallungen des irren Ratcliff, all das transportiert dieser Tenor wirklich gänsehauterzeugend. Und auch die anderen Protagonisten wie Maria-Angela Sicilia und David Stout sind keine Weltstars, aber wen kümmert’s? Sie füllen ihre Partien mit Enthusiasmus aus, und das zählt hier. Dies ist für mich ein schönes Beispiel dafür, dass Festival-Opern-Leidenschaft mitunter genauso viel oder noch mehr Spaß macht, als gediegenen Studioaufnahmen zu lauschen.

Generell ist es erfreulich, dass das großartige und von Opernfans in aller Welt geliebte kleine Wexford-Festival (das es übrigens schon seit über 65 Jahren gibt!) nun anscheinend im Label des irischen Rundfunks wieder einen Partner gefunden hat (Balfes Falstaff kam ebenfalls auf rte heraus). Ich habe immer bedauert, dass lange Zeit keine offiziellen Aufnahmen vieler Produktionen zu haben waren – denn Repertoire wie Umsetzung waren in den letzten 20 Jahren immer bemerkenswert. Wexford hat – was den künstlerischen Rang der Aufführungen angeht – das überschätzte Opernfestival in Martina Franca längst überholt (mit Angelo Villari (Tenor) | Mariaangela Sicilia (Sopran) | David Stout (Bariton) | Orchester und Chor des Wexford-Opernfestivals | Francesco Cilluffo; 2 CD RTE lyric 152). Matthias Käther

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Wexford Opera Festival 2015: „Guglielmo Ratcliff“/ Szene/ Foto Clive Barda

Werk und Umfeld: Die Entstehungsgeschichte von Guglielmo Ratcliff ist ein Spiegelmärchen. Der deutsche Dichter Heinrich Heine hatte in den 1820er Jahren ein leidenschaftliches dramatisches Gedicht mit dem Titel William Ratcliff geschrieben, nachdem Heine von der Frau, die er liebte, zurückgewiesen worden war. Das Gedicht, die barbarische Geschichte von der Rache eines Mannes, der von seiner Geliebten zurückgewiesen wurde, basiert auf einer alten schottischen „Mordballade“ namens „Edward“: „Warum trieft dein Schwert so von Blut?/Edward, Edward….“ Das heißt, Heines Gedicht „spiegelt“ die Volksballade wider. Etwa siebzig Jahre nach Heine befand sich Pietro Mascagni als junger Mann in der gleichen Situation der Zurückweisung durch seine Geliebte in der Heimatstadt und fand Trost in Andrea Maffei’s italienischer Übersetzung des Heine-Gedichts.

Mascagni begann mit der Komposition seines Ratcliff, in dem sich Heine spiegelt, in dem sich die schottische Ballade spiegelt, als Student in Mailand und trug das Manuskript mehrere Jahre mit sich herum, bevor es 1895 fertiggestellt wurde. Wie die Kompositionsgeschichte von Ratcliff ist auch die Geschichte selbst eine Reihe von Spiegeln. Die Ouvertüre enthält Worte aus der Ballade, die von Mad Margaret, einer geheimnisvollen Bewohnerin des Macgregor-Schlosses, gesungen wird, aber wir kennen die Bedeutung noch nicht, und wir werden das Ende der Ballade erst im vierten Akt hören. Im ersten Akt, im Schloss, ist Macgregors Tochter Maria mit dem Grafen Douglas verlobt. Auf dem Weg zum Schloss wird Douglas von Räubern überfallen, aber von einem geheimnisvollen Mann gerettet. Als Maria in Ohnmacht fällt, erklärt ihr Vater, dass sie einst von Ratcliff umworben wurde, ihn aber abgewiesen hat. Bei zwei weiteren Gelegenheiten hatte sie Verlobte, die jeweils von Ratcliff getötet wurden, der ihr daraufhin die blutige Hand des Freiers mit dem Verlobungsring zukommen ließ. Jetzt, so fürchtet sie, wird Douglas an der Reihe sein. In der Räuberschänke im zweiten Akt treffen wir auf den verdammten und verstoßenen Ratcliff – einen byronischen, übermäßig melodramatischen, melancholischen, psychotischen, überdrehten Antihelden, der behauptet, er habe die Freier in einem fairen Kampf getötet. Nun hat er den letzten Freier, Douglas, zu einem Duell herausgefordert und macht sich auf den Weg zum Schwarzen Felsen, um gegen ihn zu kämpfen, begleitet von der beunruhigenden Vision zweier Geister – den Geistern der toten Freier. In einer „wilden und stürmischen Nacht“ treffen die beiden Kontrahenten aufeinander; Douglas erkennt den Mann, der ihn vor den Räubern gerettet hat, und bittet ihn um Freundschaft, doch Ratcliff lehnt das Angebot ab. Mit Hilfe der Geister der Freier gewinnt Douglas das Duell, verschont aber Ratcliffs Leben. Nach einem orchestralen Intermezzo namens „Ratcliff’s Dream“, das gespielt wird, während Ratcliff verwundet daliegt, macht sich unser psychotischer, mörderischer, besessener und zurückgewiesener Anti-Held auf den Weg zum Schloss der Macgregors, wo Akt IV stattfindet. Die alte Margaret, die zwischen den Welten der Lebenden und der Toten zu vermitteln scheint, vervollständigt die Opernversion der Mörderballade, der Geschichte von Marias Mutter, „der schönen Elisa“, die von Edvardo Ratcliff, Guglielmos Vater, geliebt wurde. Elisa hat Edvardo zurückgewiesen, so wie Maria Guglielmo zurückgewiesen hat. Als Edvardo zu Elisa zurückkehrte, die inzwischen mit Macgregor (Marias Vater) verheiratet war, hat Macgregor ihn getötet. Nun gibt es also zwei weitere Geister – die Geister von Edvardo und Elisa, die sich jenseits des Grabes nicht umarmen können. Plötzlich taucht Guglielmo blutüberströmt in der Gegenwart auf. Er bittet Maria, mit ihm zu gehen. Als sie sich weigert, tötet er sie und dann sich selbst, aber nicht bevor er ihren Vater Macgregor getötet hat. Der arme alte Douglas trifft auf zwei Generationen von Geistern, die sich endlich jenseits des Grabes umarmen können. Die Geschichte von Maria und Gugliemo spiegelt die Geschichte von Elisa und Edvardo (Edward aus der Ballade) wider; die Geister der heutigen Generation spiegeln die Geister der Vergangenheit.

Diese gotische Geister- und Mordgeschichte, die typisch für Heines Zeit und Ort ist (deutsche Romantik der 1820er Jahre), wird in Mascagnis 1890er Jahren zu einer Art psychologischem Realismus und sorgt für ein seltsames Libretto. Abgesehen von der wilden Handlung ist das Libretto in Blankversen verfasst (ebenfalls seltsam für eine italienische Oper des 19. Jahrhunderts) und enthält vier sehr lange Monologe (ich würde sie in diesem durchkomponierten Werk nicht als Arien bezeichnen), die uns über alle notwendigen Fakten aus der Vergangenheit informieren. Mascagni vertonte die italienische Übersetzung von Heines deutscher Lyrik und nicht ein darauf basierendes Libretto, was den unoperativen Charakter des Librettos erklärt, das sich auf diese vier langen, erzählenden Soli konzentriert. Macgregor erhält eines im ersten Akt, Ratcliff jeweils eines im zweiten und dritten Akt und Mad Margaret eines im vierten Akt. Vor allem die übertriebene, übermäßig intensive Rolle des Ratcliff verlangt vom Tenor, dass er lange, lange Zeit in einer sehr hohen Tessitura mit voller emotionaler Kraft agiert. Es ist eine Killerrolle. Maria, die weibliche Hauptrolle und die Hauptperson der Liebe, hat vor dem vierten Akt fast nichts zu singen (in den Akten II und III taucht sie überhaupt nicht auf). All dies erklärt, warum Guglielmo Ratcliff seit seiner Uraufführung an der Scala im Februar 1895 so selten aufgeführt wurde.

Wexford Opera Festival 2015: „Guglielmo Ratcliff“/ Szene/ Foto Clive Barda

Was die Oper auszeichnet, ist eine üppige, romantische Partitur voller schwungvoller Melodien, die alle auch in Cavalleria zu Hause wären. Insbesondere eine melodische Phrase ist der identische Zwilling des melodischen Dreh- und Angelpunkts des Liedes „Somewhere over the rainbow“ – die wehmütige Melodie, die die Worte „over the rainbow“ begleitet. In der Oper scheint diese Melodie mit Ratcliffs Sehnsucht nach Maria verbunden zu sein, und sie taucht von Anfang an in verschiedenen Formen auf. Sie wird in dem schönen Intermezzo voll entwickelt, das Ratcliff begleitet, wenn er nach seinem Duell mit Douglas von Maria und den Geistern träumt. (Das Intermezzo wurde übrigens in Martin Scorseses Film Raging Bull von 1980 verwendet.) Man muss sich fragen, ob Harold Arlen die Schlüsselmelodie für sein Lied im Intermezzo der Oper gefunden hat, das bei weitem das bekannteste Stück aus Mascagnis Werk ist. Das Lied steht regelmäßig an der Spitze der Listen der bekanntesten Lieder des zwanzigsten Jahrhunderts und des besten Filmsongs aller Zeiten. Hat Arlen das alles Mascagni zu verdanken? Wie in der Cavalleria verstärkt Mascagni seine melodische Linie, indem er sie bei vielen Gelegenheiten in den Streichern verdoppelt (damit war er unter den Komponisten seiner Generation nicht allein; auch Puccini ist schuldig). Aber abgesehen vom Intermezzo sind das Orchester und die Sänger durchweg im Forte oder lauter in kraftvoller, emotionaler, singbarer Melodie Charles Jernigan/DeepL/ Foto oben Clive Barda/ Wexford Festival 2015).Charles Jernigan

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Mit beiden Füßen im Wasser

 

Wer für „Jonas Kaufmann’s Make-up“ zuständig war erfahren wir ebenso wie den Namen des „Hairdresser“, der ihm die Locken gelegt hat. Eine Seite widmet das Beiheft zur aktuellen DVD den Mitwirkenden der Dokumentation „My Italy“, eine zweite den Zuständigen für das Konzert „Dolce Vita“, dies wiederum im historischen Teatro Carignano in Turin im Juli 2016 stattgefundene Konzert bildet den Hauptbestandteil der Dokumentation. Beide zusammen ergeben die rund 120 Minuten von „Dolce Vita. Jonas Kaufmann. A Live Concert Performance & The TV Documentaray MyIitaly“, zu denen Sony, wie angedeutet, einen sparsamen Zwölfseiter beisteuerte (Sony 88985371639). Nicht zu verwechseln mit der unter Asher Fisch entstandenen CD!

Das soll sich einer auskennen. Strohhut und Sonnenbrille aufgesetzt, ins rote Fiat 1500 Cabrio geschwungen – und schon geht’s gen Italien. Bereits in der gemeinsam mit Thomas Voigt verfassten Interview-Biografie Meinen die wirklich mich? hatte Kaufmann ausgiebig von den ersten Ferien geschwärmt, die er mit seiner Familie in Italien verbrachte und die – wenn die Erinnerung nicht täuscht – ihn ganz maßgeblich prägten. Das erzählt er jetzt auch in der Dokumentation, kommt auf Goethe und „das berühmte Land, wo die Zitronen blühen“ zu sprechen, Sonne, Meer und stundenlange Strandaufenthalte, auf ein anderes Lebensgefühl, und am Ende wird auch die Suche nach dem verlorenen Paradies bemüht. „Das ist großes Theater“, sagt der Italien-Zuschauer Kaufmann an einer Stelle, und großes Theater legt er in diese Titel, die er so ernst nimmt wie eine Verdi- oder besser Puccini-Arie. Das sind alles zweifellos Kaufmanns Erinnerungen, die ihn auch geprägt haben. Das ist glaubwürdig. Doch wie er das in den rund zwölf Minuten erzählt, die zwischen den Musiktiteln verbleiben, klingt es doch aufgeschrieben und aufgesagt, so echt wie die Samstagabend-Moderationen von Pflaume bis Silbereisen. Das ist schade. Kaufmann fährt also durch Italien. Es bleibt immerhin Zeit, Schuhe und Socken auszuziehen und ins Wasser zu waten, vom guten Eis zu erzählen und von dem Stück heile Welt, das Italien für ihn war. Kaufmanns Italien-Affinität beschränkt sich nicht auf Pasta und Eis, sondern schließt auch Schlager und Lieder ein, und – auch das war mir damals mir beim Lesen des Buchen aufgefallen – er hat sich offenbar von Caruso bis Corelli mit Italienischen Gesangskunst vertraut gemacht, er schwärmte von der Muzio und Ziliani; wer kennt den schon noch? Seine ganze Leidenschaft, „Passione“, um den populären Titel zu zitieren, der natürlich auch nicht fehlen darf, kann er nun in dieser Aufnahme zum Ausdruck bringen. Kaufmann singt, begleitet vom RAI National Symphony Orchestra unter Jochen Rieder, ältere und neuere Canzonen, Schlager und Klassiker von dem bereits vor der Wende zum vorigen Jahrhundert entstandenen „Musica Proibita“ von Gastaldon und „Torna a Surriento“ von de Curtis bis zum 1950er Jahre Schlager „Nel blu dipinto di blu“ und Lucio Dallas „Caruso“. Sozusagen die italienische Fortsetzung zur Benatzky-, Abraham-, Künneke-, Lehàr und vor allem Tauber-Hommage „Du bist die Welt für mich“. Es macht ihm spürbar Freude. Und die teilt sich dem Hörer mit. Kaufmann singt „Caruso“ mit greller Leidenschaft, die Kitsch nicht scheut, er wirft sich in diese Musik, ohne sich darin zu verlieren. Das Singen bleibt immer eine Spur kalkuliert, in der Höhe gedeckt und vorsichtig, vielleicht sogar ein bisschen müde, ein wenig gebremst, er gibt Gas und geht rasch vom Pedal. Aber Kaufmann ist ein so ernsthafter, kluger, kundiger Sänger und Stilist, dass man ihm alles gerne abnimmt, die Melancholie in Leoncavallos „Mattinata“, die große Leidenschaft in Nino Rotas „Parla Più Piano“ und die Sonne, die er mit seinem dunklen baritonalen Tenor über dem Golf von Neapel („Torna A Surriento“), beschwört, dabei ist die Stimme gefasst projiziert, als sende er sie über die gesamte Strandpromenade, rhythmisch sorgfältig und penibel in „Core ngrato“ und „Non tì scordar di me“, und „Ti Voglio Tanto Bene“ ist ein weitaus überzeugenderer Beleg für Kaufmanns Italien-Liebe als die vorgestanzten Worte. Rolf Fath

Wagners „Tannhäuser“ en francais

Allgemeine Aufregung bei Wagnerianern und Freunden der französischen Oper: die Opéra de Monte-Carlo gab im Februar 2017 Wagners Pariser Tannhäuser (eigentlich, wie auf dem Poster der Pariser Aufführung 1861 zu lesen: Tannhauser)! Szenisch in der Inszenierung von Jean-Louis Grinda und unter der musikalischen Leitung von Nathalie Stutzmann!!! Dazu sangen José Cura die Titelpartie (Foto oben/ Teaser von der Ankündigung der Oper auf der website des Opernhauses) und der wunderbare Barition Jean-Francois Lapointe den Wolfram …. (dazu die Aufführungskritik nachstehend).

Dies ist der erste tout-francais Tannhäuser zumindest der Nachkriegszeit sein (wenngleich bis dahin es gelegentliche Aufführungen in Französisch im Nachbarland gab, sicher nicht in der originalen Pariser Version, aber das ist eine andere Geschichte, Monte-Carlo hatte ihn zuletzt 1931), sind doch die beiden „Pariser Fassungen“ (eigentlich die Wiener Fassungen) auf CD (Solti/ Decca und Sinopoli/ DG) wie auch die maßstäblichen „Pariser“ Auszüge von 1930 aus Bayreuth bei Naxos vor allem in rückübersetzter deutscher Sprache.

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Aus diesem Anlass baten wir den Wagner-Fachmann par excellence, Peter P. Pachl, uns einen Beitrag zum Tannhäuser in Paris zu schreiben: Was ist dran an der französischen Fassung? Eine Kritik der Aufführung am 22. Februar 2017 – sehr poetisch vom Hausherrn Grinda umgesetzt – findet sich nachstehend. Dank an Madame Manglou vom Opernhaus! Die Aufführung findet sich in exzellentem Sound bei youtube.G. H.

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"Tannhauser" 1861: Plakat zur zweiten Aufführung in der Salle Pelletier Paris/ Foto in "Wagner et la France", Paris 1984

„Tannhauser“ 1861: Plakat zur zweiten Aufführung in der Salle Pelletier Paris/ Foto in „Wagner et la France“, Paris 1984/Wiki

Zur Fassung von 1861 nun Peter P. Pachl: Bei seinem Wagner-Festival im Sommer 2011 in Erl hatte Gustav Kuhn Wagners „Tannhäuser“ in der Fassung letzter Hand gewählt, wie sie in Bayreuth seit der Inszenierung durch Siegfried Wagner (im Jahr 1930, wiederaufgenommen 1931) nicht mehr gespielt worden ist. Die im Volksmund „Pariser Fassung“ genannte Version basiert auf Wagners französischer Umarbeitung des Jahres 1861, weist aber – außer Wagners Rückübersetzung in die deutsche Sprache – noch zahlreiche weitere Veränderungen gegenüber Paris auf, insbesondere den nahtlosen Übergang der Ouvertüre in das Bacchanal. Korrekt ist es die Wiener Fassung (1875) von Wagners „Tannhäuser“ WWV 70.

Den Antagonismus der Welten von Venusberg und Wartburg, Sinnlichkeit und Konvention, hat Wagner hier noch weiter zugespitzt, indem er in allen drei Akten nur die Passagen rund um Venus, inklusive Tannhäusers Gedanken, musikalisch neu gefasst hat. Venus ist nun eine leidende Göttin, mit deutlichen, auch musikalischen Parallelen zu Kundry. Und die Musik der in ihrem Umfang mehr als verdoppelten Venusberg-Szene gehört zum Raffiniertesten, was Wagner je komponiert hat. Gerade ohne diese neuen Teile der Partitur des „Tannhauser“ sind „Samson et Dalila“ und „Pelléas et Mélisande“ nicht denkbar.

"Tannnhauser" 1861: "Tannhäuser im venusberg", Paris 1861/ kbenderblogspot.de

„Tannnhauser“ 1861: Delacroix „Tannhäuser im Venusberg“, Skjzze/ kbenderblogspot.de

Für das umfangreiche Bacchanal hat der Komponist diverse pantomimische, mythologische Realisierungen entworfen. Am 10. April 1860 erläuterte er gegenüber Mathilde Wesendonck: „Venus und Tannhäuser verweilen so, wie es ursprünglich angegeben ist: nur sind zu ihren Füßen die drei Grazien gelagert, anmutig verschlungen. Ein ganzer, engverwachsener Knäuel kindischer Glieder umgibt das Lager: das sind schlafende Amoretten, die, wie im kindischen Spiel, balgend übereinander gestürzt und eingeschlummert sind. Ringsum auf den Vorsprüngen der Grotte sind liebende Paare ruhig gelagert. Nur in der Mitte tanzen Nymphen, von Faunen geneckt, denen sie sich zu entziehen suchen. Diese Gruppe steigert ihre Bewegung: die Faunen werden ungestümer, die neckende Flucht der Nymphen fordert die Männer der gelagerten Paare zur Verteidigung auf. Eifersucht der verlassenen Frauen: wachsende Frechheit der Faunen. Tumult. Die Grazien erheben sich und schreiten ein, zur Anmut und Gemessenheit auffordernd: auch sie werden geneckt, aber die Faunen werden von den Jünglingen verjagt: die Grazien versöhnen die Paare. – Sirenen lassen sich hören. – Da hört man aus der Ferne Tumult. Die Faunen, auf Rache bedacht, haben die Bacchantinnen herbei gerufen. Brausend kommt die wilde Jagd daher, nachdem die Grazien sich wieder vor Venus gelagert. Der jauchzende Zug bringt allerhand tierische Ungetüme mit sich: unter andern suchen sie einen schwarzen Widder aus, der sorgfältig untersucht wird, ob er keinen weißen Fleck habe: unter Jubel wird er nach einem Wasserfall geschleppt; ein Priester stößt ihn nieder und opfert ihn unter grauenvollen Gebärden.

Der junge Wagner hier auf dem Gemaelde von Willich c 1862 Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen/ mit sehr freundlicher Genehmigung!

Der junge Wagner hier auf dem Gemälde von Willich ca. 1862/ Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Foto: Jean Christen/ mit sehr freundlicher Genehmigung!

Plötzlich entsteigt, unter wildem Jauchzen der Menge, der (Ihnen bekannte) nordische Strömkarl dem Wasserstrudel mit seiner wunderbaren großen Geige. Der spielt nun zum Tanze auf; immer mehr mythologisches Gesindel wird herbeigezogen. Alle den Göttern heilige Tiere. Endlich Centauren, die sich unter den Wütenden herumtummeln. Die Grazien sind verzagt, dem Taumel wehren zu sollen. Sie werfen sich voll Verzweiflung unter die Wütenden; vergebens! Sie blicken sich, auf Venus gerichtet, nach Hülfe um: mit einem Wink erweckt die da die Amoretten, welche nun einen ganzen Hagel von Pfeilen auf die Wütenden abschießen, mehr und immer mehr; die Köcher füllen sich immer wieder. Nun paart sich Alles deutlicher; die Verwundeten taumeln sich in die Arme: eine wütende Sehnsucht ergreift Alles. Die wild herumschwirrenden Pfeile haben selbst die Grazien getroffen. Sie bleiben ihrer nicht mehr mächtig. Faunen und Bacchantinnen gepaart stürmen fort: die Grazien werden von den Centauren auf ihren Rücken entführt; Alles taumelt nach dem Hintergrunde zu fort: die Paare lagern sich: die Amoretten sind, immer schießend, den Wilden nachgejagt. Eintretende Ermattung. Die Nebel senken sich. In immer weiterer Ferne hört man die Sirenen. Alles wird geborgen. Ruhe. – Endlich – – fährt Tannhäuser aus dem Träume auf. – So ungefähr. – – – – Mir macht’s Spaß, dass ich meinen Strömkarl mit der elften Variation verwendet habe. Das erklärt auch, warum sich Venus mit ihrem Hof nach Norden gewendet hat: nur da konnte man den Geiger finden, der den alten Göttern aufspielen sollte. Der schwarze Widder gefällt mir auch. Doch könnte ich ihn auch anders ersetzen. Die Mänaden müssten den gemordeten Orpheus jauchzend getragen bringen: sein Haupt würfen sie in den Wasserfall, – und darauf tauchte der Strömkarl auf. Nur ist dies weniger verständlich ohne Worte.“[i]

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"Tannhauser" 1861: Wagner Wohnungen in Paris - v. l. n. r. 31 rue de Pont-Neuf, 3 avenue de Meudon, 14 rue jacob, 3 rue d´Aumale, 19 quai Voltaire/ Fotos "Wagner et la France", Paris 1984

„Tannhauser“ 1861: Wagners Wohnungen in Paris – v. l. n. r. 31 rue de Pont-Neuf, 3 avenue de Meudon, 14 rue jacob, 3 rue d´Aumale, 19 quai Voltaire/ Fotos „Wagner et la France“, Paris 1984

Cosima Wagner vertraute am 22. November 1875 ihrem Tagebuch an: „Er [Richard] kehrt nachmittags sehr verstimmt heim, der Kostümier hatte ihm gesagt: Fürstin Hohenlohe habe geschickt, um zu fragen, ob das Kostüm der Venus nicht à la Offenbach sein würde; er bittet mich, der Fürstin darüber zu schreiben, was ich auch tue. Um halb sieben Aufführung des Tannhäuser, über alle Erwartung gut; nichts ist, wie R. es wirklich gedacht, doch herrscht in allem sehr viel Leben. R. muss sich des öfteren von der Loge aus bedanken, am Schluss erscheint [er] auf der Bühne mit den Sängern, eine für mich peinlichste Empfindung.“[vi]

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In „Carneval des revues“[vii] hatte Jacques Offenbach Wagner als Zukunftsmusiker lächerlich gemacht. Aber Wagner wurde in seiner Revanche sehr viel persönlicher: er persiflierte Offenbach in „Eine Kapitulation“, seinem „Lustspiel in antiker Manier“, als Jack Offenback, vom Chor als „herrlicher Jack von Offenback“[viii] akklamiert. In Gesprächen seiner Frau Cosima gegenüber ließ Wagner – darf man deren Tagebuch-Aufzeichnungen Glauben schenken – kein gutes Haar an Offenbach.

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"Tannhauser" 1861: Entwurf für A2 1861 von Philippe Chaperon/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Entwurf für A2 1861 von Philippe Chaperon/ BN Opéra/ Wiki

Anderen gegenüber zollte Wagner der kompositorischen Qualität Jacques Offenbachs aber durchaus Anerkennung, etwa in einem – allerdings bislang nicht im Original, sondern nur auf Französisch veröffentlichten – Brief an Felix Mottl in Karlsruhe. Wagner schreibt am 1. Mai 1882: „Betrachten Sie Offenbach. Er versteht es ebensogut wie der göttliche Mozart. Mein Freund, das ist eben das Geheimnis der Franzosen. Ich bin ihnen in vielen Dingen nicht wohlgesonnen. Aber dennoch muss man diese in die Augen springende Wahrheit zugeben: Offenbach hätte ein zweiter Mozart werden können. Ich glaube, Auber wäre dazu weniger in der Lage gewesen.“[ix]

Zwar hat auch Cosima Wagner im Jahre 1904 für die Erstaufführung des Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen die Fassung letzter Hand ihres verstorbenen Gatten gewählt, aber ihr (Selbst-)Hass gegen alles Welsche richtete sich selbstredend gegen die in französischer Sprache komponierte originale Pariser Fassung.

"Tannhauser": Bühne Schlußszene Bayreuth 1930 in Siegfried Wagners Fassung letzter Hand/ Bundesarchiv Bild 183-2004-9512-501

„Tannhäuser“: „Bühne Schlußszene Bayreuth 1930 in Siegfried Wagners Fassung letzter Hand“ / Bundesarchiv Bild 183-2004-9512-501

Siegfried Wagners Inszenierung im Sommer 1930: Siegfried Wagner engagierte für seine lange geplante, aus Kostengründen jedoch mehrfach verschobene Inszenierung im Jahre 1930 den ungarischen Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban, zu dieser Zeit der progressivste Vertreter eines neuen Ausdruckstanzes, mit seiner Truppe für die Choreographie des, „Tannhäuser“-Bacchanals. Laban hatte bereits im Jahre 1921 in Mannheim ein „Tannhäuser“-Bacchanal choreographiert, dem aber »eine pantomimische Deutung der Musik, über die Richard Wagner an Mathilde Wesendonck geschrieben hat, zugrunde gelegt« war. Siegfried Wagner überzeugte Laban davon, dass auch die Vorschriften Richard Wagners für die Pariser Fassung in moderner Weise umzusetzen seien. Laban bestätigte dann: „Diese Aufzeichnungen können in ihrer zeitlosen Art mit der Technik des neuen Bühnentanzes wahrscheinlich besser realisiert werden als mit den Mitteln des alten Balletts. Auch darin war Richard Wagner seiner Zeit voraus, dass er einen neuen Bewegungsstil der Bühne erahnte.“

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Zwei Wochen seiner Probenzeit brachte Siegfried Wagner allein mit der Einstudierung von Labans Tanzensemble zu. Manche Zuschauer befremdete es, dass nach Tannhäusers Wiederkehr nicht nur Nymphen, sondern auch „Jünglinge (…) in rotem, gespenstischem Lichte die Arme verlangend nach dem Tannhäuser streckten, wie Siegfried Wagners Freund, der Franz Stassen, überliefert. Offenbar sah sich Siegfried Wagner auch selbst in der Gestalt des „Tannhäuser“, dem von der Gesellschaft ausgestoßenen Künstler, „dessen Schatten wie der eines Gekreuzigten auf die Felsenwand“[x] fiel, als er im dritten Akt unter der Brücke wieder auftauchte.

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"Tannhauser" 1861: Die Sänger der Uraufführung/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Die Sänger der Uraufführung/ BN Opéra

Innovativ war aber nicht nur das Bacchanal in der Mischung der von Richard Wagner vorgeschriebenen Antike – mit Leda und dem Schwan, Europa auf dem Stier und dem Strömkarl – und modernem Ausdruckstanz für die Mänaden, sondern insbesondere ein Effekt durch das für Siegfried Wagners Inszenierungsstil so charakteristische Licht. Aus einer Mischung von Rosa, Rot, Blau und Violett erarbeitete er ein spezielles „Venuslicht“, das „etwas schillernd Faszinierendes“ besaß – und das er auch im zweiten Akt einsetzte, wie sein Bühnenbildner Kurt Söhnlein berichtet. „Schon in den Arbeitswochen 1929 hatte er mit neckenden Worten paarmal unsere Neugierde gereizt: ‚Na, Ihr werdet‘s Augen machen, was ich im 2. Akt anstelle!’ – Nun sahen wir es: Als im Sängerkrieg nach den Beifallsworten des Chores zu Wolframs erstem Preisgesang im Orchester die Venusbergklänge und -themen aufzüngelten (die Stelle ist in der Pariser Fassung gegenüber der Dresdener Fassung ums Dreifache verlängert!), versanken Saal und Gäste wie wesenlos in ziemliches Dunkel, nur auf Tannhäuser sammelte sich das sogenannte ›Venuslicht‹ (aus dem 1. Akt) in starkem, irisierendem Farbenspiel!“[xi]

Das bedeutete nicht nur eine sinnfällige Verdeutlichung von Tannhäusers Reizzustand, sondern evozierte auch eine Gleichsetzung von Wartburg- und Venusberg-Gesellschaft. Lange vor Götz Friedrichs epochaler Inszenierung dieser Oper im selben Theater, 1972 in Bayreuth, interpretierte bereits Siegfried Wagner den Tannhäuser als Künstler und Außenseiter gegenüber einer Gesellschaft, die „mit gezücktem Schwert auf den Verfemten eindrang“[xii]. Siegfrieds Einfall, das Venuslicht in die Wartburg strahlen zu lassen, wurde so heftig kritisiert, so dass seine Witwe Winifred im Wiederholungsjahr den Weg des geringsten Widerstandes beschritt und trotz ihrer Ankündigung, es werde „Alles genau in der Inszenierung Siegfried Wagners und in seinem Geist aufgeführt“[xiii], diese für die Konzeption so wichtige Lichtstimmung eliminierte.

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"Tannhauser" 1861: Wagners Librettist Charles Nuitter/ Wiki

„Tannhauser“ 1861: Wagners Librettist Charles Nuitter (eigentlichTruinet), Librettist, Schriftsteller und Archivar an der Pariser Oper/ Wiki

Die „Tannhäuser“-Fassungen – zahlreiche Unterschiede: Richard Wagner begründete seine Änderungen während der Entstehung. Am 10. April 1860 bekannte er Mathilde Wesendonck gegenüber:Jetzt, wo ich Isoldes letzte Verklärung geschrieben, konnte ich erst das Grauen dieses Venusberges finden“[xiv]. Am 30. September 1860 teilt er Mathilde Wesendonck seine neu gedichteten Verse im Dialog zwischen Venus und Tannhäuser mit und interpretierte selbst: „Etwas habe ich auch schon an der Musik meiner neuen Szene gearbeitet. Sonderbar: alles Innerliche, Leidenschaftliche, fast möchte ich’s: Weiblich-Ekstatisches nennen, habe ich damals, als ich den ‚Tannhäuser’ machte, noch gar nicht zustande bringen können: da habe ich alles umwerfen und neu entwerfen müssen: wahrlich ich erschrecke über meine damalige Kulissen-Venus! Nun, das wird diesmal wohl besser werden.“[xv]

Am 20. Januar 1861 heißt es in Wagners Brief an Otto Wesendonck: „Gestern – nach durchwachter Nacht – früh 2 ½ Uhr beendigte ich erst den Rest meiner neuen Kompositionen zu Tannhäuser; und am selben Tage gewann ich die Nötigung zu dem Entschlusse, noch eine Änderung im Sängerkrieg vorzunehmen, zu der ich freien Kopf bedarf“[xvi].

Die kontinuierliche Entwicklung der gegensätzlichen Hemisphären Venusberg und Wartburgsaal ließen den Dramatiker Wagner stringent auf jegliche konservative Redundanz verzichten. Das beginnt schon mit dem Bacchanal: Die Bühne stellt das Innere des ‚Venusberges’ (Hörselberges bei Eisenach) dar. Weite Grotte, welche sich im Hintergründe durch eine Biegung nach rechts wie unabsehbar dahinzieht. Aus einer zerklüfteten Öffnung, durch welche von oben mattes Tageslicht hereinscheint, stürzt sich, die ganze Höhe der Grotte entlang, ein grünlicher Wasserfall herab, wild über Gestein schäumend. Aus dem Becken, welches das Wasser auffängt, fließt nach dem ferneren Hintergründe der Bach ab, welcher sich dort zu einem See sammelt, darin man die Gestalten badender Najaden, und an dessen Ufern gelagerte Sirenen gewahrt. Zu beiden Seiten der Grotte Felsenvorsprünge von unregelmäßiger Form, mit wunderbaren tropischen Pflanzen korallenartig bewachsen. – Vor einer, nach links aufwärts sich dehnenden, kleineren Grottenöffnung, aus welcher ein zarter rosiger Dämmer herausscheint, liegt Venus im Vordergründe, auf einem reichen Lager; vor ihr, das Haupt in ihrem Schoße, die Harfe zur Seite, Tannhäuser. halb kniend. Das Lager umgeben, in reizender Verschlingung gelagert, die drei Grazien: zur Seite, und hinter dem Lager, zahlreiche schlafende Amoretten, wild über und nebeneinander gelagert, einen verworrenen Knäuel bildend, wie Kinder, die von einer Balgerei ermattet, eingeschlafen sind. ___

"Tannhauser" 1861: Albert Niemann sang die Titelpartie/ Foto Wiki

„Tannhauser“ 1861: Albert Niemann sang die Titelpartie/ Foto Wiki

Der ganze Vordergrund ist von einem zauberhaften, von unten herdringenden, röthlichen Lichte beleuchtet, durch welches das Smaragdgrün des Wasserfalles, mit dem Weiß seiner schäumenden Wellen, stark durchbricht. Der ferne Hintergrund mit den Seeufem ist von einem verklärt blauen Dufte mondscheinartig erhellt.___ Beim Aufzuge des Vorhanges sind auf den erhöhten Vorsprüngen, bei Bechern, noch die Jünglinge gelagert, welche jetzt sofort, den verlockenden Winken der Nymphen folgend, zu diesen hinabeilen. Die Nymphen hatten um das schäumende Becken des Wasserfalles den auffordenden Reigen begonnen, welcher die Jünglinge zu ihnen führen sollte; die Paare finden und mischen sich: Suchen, Fliehen und reizendes Necken beleben den Tanz. – Aus dem ferneren Hintergründe naht ein Zug von Bacchantinnen. welcher durch die Reihen der liebenden Paare, zu wilder Lust auffordend, daherbraust. Durch Gebärden begeisterter Trunkenheit reißen die Bacchantinnen die Liebenden zu wachsender Ausgelassenheit hin. ___ Die Berauschten stürzen sich in brünstige Umarmungen. – Satyre und Faunen sind aus den Klüften heraufgeschlüpft und drängen sich jetzt mit ihrem Tanze zwischen die Bacchantinnen und liebenden Paare; sie vermehren durch ihre Jagd auf die Nymphen die Verwirrung. Der allgemeine Taumel steigert sich zur höchsten Wut. Hier, beim Ausbruch der stärksten Raserei, erheben sich entsetzt die drei Grazien: sie suchen den Wütenden Einhalt zu tun und sie zu entfernen. Machtlos fürchten sie selbst mit fortgerissen zu werden; sie wenden sich zu den schlafenden Amoretten, rütteln sie auf, und jagen sie in die Höhe. Diese flattern wie eine Schar Vögel aufwärts auseinander, nehmen in der Höhe, wie in Schlachtordnung, die ganze Breite der Höhe ein, und schießen von da herab einen unaufhörlichen Hagel von Pfeilen auf das Getümmel in der Tiefe. Die Verwundeten lassen, von heftigem Liebessehnen ergriffen, vom rasenden Tanze ab, und sinken in Ermattung. Die Grazien bemächtigen sich der Verwundeten, und suchen, indem sie die Trunkenen zu Paaren fügen, sie mit sanfter Gewalt nach dem Hintergründe zu zerstreuen. Dort, nach den verschiedensten Richtungen hin, entfernen sie sich, teils auch von der Höhe herab durch die Amoretten verfolgt, die Bachanten. Faunen und Satyre. Nymphen und Jünglinge. Ein immer dichterer rosiger Duft senkt sich herab; in ihm verschwinden zunächst die Amoretten: dann bedeckt er den ganzen Hintergrund, so dass endlich, außer Venus und Tannhäuser, nur noch die drei Grazien sichtbar Zurückbleiben. Diese wenden sich jetzt nach dem Vordergründe zurück; in anmutigen Verschlingungen nahen sie sich Venus, ihr gleichsam von dem Siege berichtend, den sie über die wilden Leidenschaften der Untertanen ihres Reiches gewonnen. Venus blickt dankend zu ihnen. –

"Tannhauser" 1861: Marie Sass/Sax sang die Elisabeth/ Foto Marou/ Gallica

„Tannhauser“ 1861: Marie Sass (Sax) sang die Elisabeth/ Foto Marou/ Gallica

Der dichte Duft im Hintergründe zerteilt sich in der Mitte: ein Nebelbild zeigt die ‚Entführung der Europa’, welche auf dem Rücken des mit Blumen geschmückten weißen Stieres, von Tritonen und Nereiden geleitet, durch das blaue Meer dahinfährt. – Der rosige Duft schließt sich wieder; das Bild verschwindet, und die Grazien deuten nun durch einen anmutigen Tanz den geheimnisvollen Inhalt des Bildes, als ein Werk der Liebe, an. ___ Von Neuem teilt sich der Duft: man erblickt in sanfter Mondesdämmerung ‚Leda’ am Waldteiche ausgestreckt; der Schwan schwimmt auf sie zu, und birgt schmeichelnd seinen Hals an ihrem Busen. – Allmählich verbleicht auch dieses Bild; der Duft verzieht sich endlich ganz, und zeigt die weite Grotte einsam und still.“[xvii]

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Das französische Libretto: Vénus aber ist zur leidenden Göttin geworden, die den Geliebten nicht verlieren will, was zu mehr als einer Verdoppelung des Umfanges dieser Szene führt. Während der Venusberg enorm erweitert ist, verkürzte der Komponist den Mittelakt seiner Spätfassung. Im Sängerkrieg bringt Walther von der Vogelweise keinen eigenen Beitrag, sondern Tannhäuser reagiert mit den in der Dresdner Fassung an Walther gerichteten Worten sogleich auf Wolframs Ansprache.

"Tannhauser" 1861: Figurine für Elisabeth von Albert Alfred/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Figurine für Elisabeth von Albert Alfred/ BN Opéra

Wagner dichtete seine neue Szene zwischen Venus und Tannhauser in deutscher Sprache, Charles Nuitter verwandelte sie in sangbare französische Verse und besorgte auch die Übersetzung der gesamten Oper. Zunächst hatte Wagner die Prosafassung der Dichtung seiner letzten Dresdner Fassung (1845) von Robert Lindau und Edmond Roche ins Französische transkribieren lassen. Der Übersetzungsvorgang war dornenreich, und der Versuch Lindaus und Roches, französische Verse zu bilden, hatte sich als aussichtslos erwiesen. Obendrein zog der Einsatz des Mitarbeiters, der dem Komponisten seine Dienste selbst angeboten hatte, einen Rechtsstreit zwischen Lindau und Wagner nach sich (den Lindau verlor, woraufhin sich dessen Bruder Paul Lindau 1876 mit der sarkastischen Publikation „Nüchterne Briefe aus Bayreuth“[xviii] revanchierte). Aufgrund des Prozesses von Lindau gegen Wagner verzichtete Nuitter, der zu einem echten Freund Richard Wagners wurde, aber auf seine eigene Namensnennung in den Druckausgaben der Pariser Fassung.

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"Tannhauser" 1861: Figurine für Tannhäuser von Albert Alfred/ BN Opéra

„Tannhauser“ 1861: Figurine für Tannhäuser von Albert Alfred/ BN Opéra

Die Edition der Richard Wagner-Gesamtausgabe bei Schott macht die enormen Unterschiede zwischen Pariser und Wiener Fassung durch Synopse beider Versionen auf gegenüberliegenden Seiten sehr gut ersichtlich. Die Wiener Fassung enthält gegenüber der Pariser Version 35 blanke Blätter. Mannigfach sind die orchestralen sowie die der französischen Diktion verpflichteten vokalen Unterschiede. Das Orchester der Pariser Fassung verlangt zusätzlich Ophikleide, drei Harfen (statt nur einer Harfe), Tamtam und als Bühnenmusik zusätzlich zwei Bassons. Manche Gesangsphrasen sind umfänglicher ausgestaltet als in der deutschsprachigen Fassung, so entwickelt sich etwa Tannhausers Antwort im Sängerkrieg, „O Wolfram [in der Urfassung: Walther]! Quel pouvoir t’inspere!“ im Abgesang anders als in der späteren Wiener Fassung. Die Partie der Vénus mit ihren Nonen-, Dezimen- und Duodezimen-Sprüngen ist das Kühnste, was Wagner bis dahin jemals für eine Gesangsstimme komponiert hat. Vénus antizipiert Passagen der Kundry in „Parsifal“ WWV 111, klingt aber in ihrer französischen Originalversion weitaus raffinierter und verführerischer als in der von Wagner selbst in deutsche Verse übersetzten und dann in den Vokallinien entsprechend veränderten, deutschsprachigen Version.

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Dazu auf Nachfrage an P. P. Pachl noch einmal eine Präzisierung zu Paris/ Wien: Die Probleme ergeben sich eben dadurch, dass die „Pariser Fassung“ im Volksmund die Fassung letzter Hand, also die Wiener Fassung meint. Es gibt in der Tat nochmals gravierende Unterschiede – in musikdramatischer Struktur, Gesangslinien und Orchestrierung – zwischen der Pariser und der Wiener Fassung (= letzter Hand). Denn für Wien hat Wagner seine in französischer Sprache komponierten neuen Szenen ins Deutsche übersetzt und dabei die Gesangslinien entsprechend (quasi zurück) verändert, aber auch weitere Änderungen, insbesondere instrumentaler Art vorgenommen. Und hat erstmals in Wien (was er in Paris schon beabsichtigt hatte, was aber dort nicht möglich war) die Ouvertüre nahtlos ins Bacchanal übergehen lassen. Insbesondere klingt die Szene Vénus-Tannhauser, weil auf Französisch komponiert, besser/sinnlicher als die von Venus-Tannhäuser in der Rückübertragung.

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"Tannhauser" 1861: Bühnenentwurf in der Bibliotheque National de l´Opéra Paris/ Foto "Wagner et la France", Katalog zur Ausstellung Paris 1984/ Herscher

„Tannhauser“ 1861: Bühnenentwurf in der Bibliotheque National de l´Opéra Paris/ Foto „Wagner et la France“, Katalog zur Ausstellung Paris 1984/ Herscher

(Und zu Veränderungen/ Kürzungen in Paris während der Aufführungsserie:) Aus Wagners Briefen vor und aus Paris werden die Probleme mit der Aufführung in der französischen Metropole deutlich, insbesondere aber mit Niemann in der Titelpartie. Von Kürzungen der Pariser Fassung in deren Uraufführung geht daraus nichts hervor (vielleicht in einer Wiederholungsaufführung wegen des schwächelnden Tenors). Die Kürzungen während der Pariser Aufführungsserie, die gelegentlich erwähnt werden, beziehen sich wohl auch den Wegfall der Strophe Walthers – das war aber von Wagner dramaturgisch intendiert).

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"Tannhauser" 1861: Marius Petipa schuf die Choreographie für das Bacchanal/ Foto Wiki

„Tannhauser“ 1861: Marius Petipa schuf die Choreographie für das Bacchanal/ Foto Wiki

Diskographisches: Lange gab es keinerlei Schallplatten-Einspielung der Pariser/Wiener Fassung. Dabei erfolgte die Ersteinspielung der Fassung letzter Hand bereits im Juli 1930, noch vor Beginn der von Siegfried Wagner geleiteten Festspiele. Die Veröffentlichung der Bayreuther „Tannhäuser“-Produktion auf Columbia Records durfte jedoch, aufgrund eines Exklusiv-Vertrages des „Tannhäuser“-Dirigenten Arturo Toscanini mit RCA, offiziell nur unter dem „Ring“-Dirigenten Karl Elmendorff erfolgen. Diese Bayreuther Produktion war komplett, die 18 Schellackplatten sollten ein klingendes Plädoyer für Wagners Fassung letzter Hand darstellen und konzentrierten sich daher auf die für Paris (und auch auf die für Wien) neu komponierten Szenen und Passagen, welche gravierende Unterschiede gegenüber der damals bereits an den Theatern üblichen Dresdner Erstfassung aufweisen. (Die Aufführungen, in späteren Publikationen zumeist auf August 1930 datiert, fanden tatsächlich bereits im Juli 1930 statt, zu lesen auf einer der handschriftlichen Probentafeln von Siegfried Wagner, der am 4. August 1930 im Bayreuther Stadtkrankenhaus verstarb.) Im Jahre 1969 hat Walter Keller bei der Gesellschaft Richard Wagner Museum Tribschen/Luzern einen Umschnitt dieser 78er-Schallplatten auf LP herausgegeben, welche die Szene Venus-Tannhäuser und den in der Pariser und Wiener Fassung tonartlich veränderten und mit neuem, Vor- und Zwischenspiel versehenen Gesang Tannhäusers beim Sängerkrieg – durch Wegfall des retardierenden Vortrags von Walther von der Vogelweide – enthält. Später erfolgte ein kompletter Umschnitt der Schellackplatten aus dem Festspielsommer 1930 – mit Maria Müller, Sigismund Pilinszky, Ruth Jost-Arden, Herbert Janssen, Ivar Andresen und Erna Berger – auf 3 LPs bei EMI (1C 137-03 130/32) und 2001 auf CD bei Naxos (8.11094-95).

"Tannhauser" 1861: Louis Dietsch dirigierte und hatte bereits Wagners Entwurf für dessen "Fliegenden Holländer" als sein "Vaisseau phantôme" vertont/ OBA

„Tannhauser“ 1861: Louis Dietsch dirigierte und hatte bereits Wagners Entwurf für dessen „Fliegenden Holländer“ als sein „Vaisseau phantôme“ vertont/ OBA

Die erste Gesamtaufnahme der Wiener Fassung erschien im Jahre 1971 bei Teldec unter Georg Solti auf LPs (Decca SET 506/09), die CD-Ersteinspielung 1989 unter Giuseppe Sinopoli (Deutsche Grammophon 427625-2). Da die zahlreichen separaten Einspielungen des Pariser Bacchanals den Einsatz des Fernchores der Grazien „während der Erscheinungen“[1] von Europa und Leda in deutscher Sprache integrieren, gibt es bis heute genau genommen nicht einmal eine partielle Einspielung des „Tannhauser“ auf Tonträgern. Dies mag wohl auch daran liegen, dass selbst an Theatern in Frankreich Wagners französische Originalfassung überaus lange nicht mehr erklungen ist.

Die einzige partielle Einspielung aus dem französischen „Tannhauser“: Zu Richard Wagners 200. Geburtstag im Jahre 2013 hatte das Label Americus Records eine Gesamteinspielung aller bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Tonträgern verfügbaren Werke Richard Wagners angekündigt, insgesamt 4 Volumina, prall gefüllt mit CD-Premieren und veritablen Uraufführungen. Initiator dieses Unternehmens war Mark Ward, ein britischer Wagnerianer. Ward war an mich herangetreten, da er wusste, dass ich neben Wagners Spätwerken auch Frühwerke, sogar „Die Hochzeit“, inszeniert habe und als Regisseur für die Uraufführung von Wagners zweiter komischer Oper „Männerlist größer als Frauenlist oder Die glückliche Bärenfamilie“ verantwortlich zeichnete. Weiter war ihm bekannt, dass das von mir gegründete und geleitete pianopianissimo-musiktheater eine Reihe entlegener Werke Wagners szenisch zur Uraufführung gebracht hat, vom „Canto anticcho (!)“ über die „Tribschener Kinderhymne“ und den „Antiken Chorgesang“ bis hin zu „Eine Kapitulation“. Mark Wards Idee, alle nicht auf Tonträgern erhältlichen Kompositionen Richard Wagners erstmals auf CD herauszubringen, fiel beim Label Americus Records und dessen Präsidenten John DesMarteau auf fruchtbaren Boden.

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"Tannhauser" 1861: Die Salle Pelletier der Pariser Oper/ Wiki

„Tannhauser“ 1861: Die Salle Pelletier der Pariser Oper während der Aufführung von Meyerbeeers „Robert le Diable“/ Wiki

Aber das auf Basis von Crowd Funding geplante Projekt scheiterte daran, dass in Europa kaum ein Wagner-Freund dazu bereit war, „Pledges“ einzuzahlen, obendrein nicht bei der damals gerade in die Diskussion geratenen Organisation Amazon – obgleich die Rückzahlung der Subskription im Falle des Nichtzustandekommens zugesagt war (und tatsächlich erfolgt ist). Glücklicherweise hatte das pianopianissimo-musiktheater, auf dessen Schultern der Löwenanteil der Richard Wagner-Einspielungen lag, bereits Einiges produziert, was teilweise inzwischen auch über youtube öffentlich zu hören ist. Dazu gehören zwei Gesänge der Pariser Vénus aus „Tannhauser“ in einer Aufnahme mit der Sopranistin Rebecca Broberg unter der musikalischen Leitung von Günter Lang (+), die als Appetithappen auf die 2013 geplanten Einspielung sämtlicher von Wagner in französischer Sprache neu komponierten Teile zu dieser Oper vorgezogen worden war. Peter P. Pachl

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"Tannhauser" 1861: Entwurf für den 1. Akt von Marcel Jambon/ Gallica

„Tannhauser“ 1861: Entwurf für den 1. Akt von Marcel Jambon/ Gallica

Die Premiere: Die Oper wurde am 13. März 1861 in der Salle Pelletier der Pariser Oper in der französischen Text-Fassung von Charles-Louis-Etienne Nuitier aufgeführt. Albert Nieman sang die Titelpartie, die Damen Marie Sax und Fortunata Tedesco waren Èlisabeth und Vénus, der Bariton Morelli gab den Wolfram, Cazaux war Landgraf Hermann. Louis Dietsch (der zuvor Wagners Entwurf für den Fliegenden Holländer als seine Komposition Le Vaisseau phantome vertont hatte) dirigierte. Die Ausstattung stammte von Charles Antoine Cambon, Joseph Thierry, Edouard Desplechin, Joseph Nolau und Auguste-Alfred Rube. Nach der stürmischen Aufnahme während der Premiere zog Wagner die Oper nach der dritten Auffürhung zurück. G. H.

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"Tannhauser" 1861: Karikatur auf "Tannhäuser", als dessen teutonische Verkörperung der deutsche Kronprinz 1917 von leo d´Angel abgebildet wird/ Musée des deux Guerres/ Foto in "Wagner et la France", Paris 1984 Herscher

„Tannhauser“ 1861: Karikatur auf „Tannhäuser“, als dessen teutonische Verkörperung der deutsche Kronprinz 1917 von Leo d´Angel abgebildet wird/ Musée des deux Guerres/ Foto in „Wagner et la France“, Paris 1984 Herscher

Interessant ist der Augenzeugenbericht von Edward Howe, der der Premiere 1861 beiwohnte und kopfschüttelnd 1891 darüber schreibt (in: New England Magazin, vol 4, 1891): Ich saß an dem verhängnisvollen Abend früh auf meinem Platz und beobachtete aufmerksam, wie sich das Publikum versammelte. Es schien sich in seinem Charakter nicht von denen zu unterscheiden, die ich bei den Proben gesehen hatte, obwohl es langsamer eintraf, und als die ersten Takte der Ouvertüre erklangen, war das Haus nur zu zwei Dritteln gefüllt. Aber das ungünstige Element war zweifellos von Anfang an in Kraft. Die Loge, in der sich die jungen Wilden des Jockey Clubs gewöhnlich aufhielten, befand sich in der Nähe der Bühne, links von den Zuschauern, und war überfüllt. In früheren Jahren war sie als „la loge infernale“ bekannt gewesen, und an diesem Abend behielt sie diesen alten Namen mit Stolz bei. Die Ouvertüre wurde schweigend oder zumindest mit so wenigen Missfallensbekundungen überstanden, dass es zu keiner Unterbrechung kam. Noch bevor sie zu Ende war, waren alle freien Plätze besetzt, und die Versammlung war bereit für ihre Arbeit. Der Vorhang hob sich, und fast gleichzeitig mit den ersten Tönen, die folgten, begann der Ansturm. Noch vor der Hälfte der einleitenden Szene war der Lärm so groß, dass sowohl die Schauspieler auf der Bühne als auch das Orchester vor der Bühne nicht mehr zu hören waren, außer für diejenigen, die am nächsten am Proszenium saßen. Es wurde nicht einmal so getan, als ob man abwarten wollte, um sich eine Meinung zu bilden. Die Schlachtordnung war in einem zerstörerischen Maßstab angelegt. Der „Tannhäuser“ sollte nicht absichtlich verurteilt werden; er war einfach nicht zu ertragen. Welche Qualitäten es besaß, erhaben oder erniedrigt, edel [426] oder lasterhaft, sollten die Pariser nicht erfahren. Wenn jemand zufällig den Wunsch hatte, sich dieses Wissen anzueignen, so war es der Wille der Mehrheit, dass er dies nicht tun sollte. Und so verlief die Aufführung, oder man nahm an, dass sie verlief, und zeigte nichts anderes als eine Abfolge von schönen Kulissen und eine Masse von malerischen Kostümen. Während sich diese in unverständlicher Weise vor dem Auge des Publikums abspielten, empfing das Ohr des Publikums nur eine ununterbrochene Kakophonie von Schreien, Heulen, Rufen und Stöhnen, variiert durch Nachahmungen wilder Tiere, die bei der Brutalität derjenigen, die ihre Schreie nachahmten, errötet wären, und unaufhörlich angeregt durch aristokratische Rüpel in den auffälligen Logen, deren bevorzugte Instrumente der Beleidigung riesige Schlüssel waren, mit denen sie die Luft mit zischendem Geschrei erfüllten, wie so viele pfeifende Teufel. Es war eine bedauernswerte Angelegenheit, die für diejenigen, die aktiv daran teilnahmen, weitaus schändlicher war als für diejenigen, die darunter litten. Weitere Einzelheiten würden keinen guten Zweck erfüllen. Die wichtigsten Vorkommnisse sind in den französischen lyrischen Annalen festgehalten, aber ich kann mir vorstellen, dass diejenigen, die sich einst damit brüsteten, heute sehr bereit wären, sie in Vergessenheit geraten zu lassen…. Übersetzt mit www.DeepL.com/

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Der Autor, der verstorbene Peter P. Pachl/PPP

Der Autor, der 2023  verstorbene, Peter P. Pachl war Musikwissenschaftler, Theaterregisseur und Intendant, Publizist und Verfasser vieler Schriften und Bücher zu Siegfried Wagner und anderen musikalischen Themen dieses zeitlichen Umfeldes. Er schrieb diesen Artikel für uns. Die Opéra de Monte-Carlo gab Tannhauser) im Februar 2017 mit folgender Besetzung: José Cura, Jean-Francois Lapointe, Chul-Jun Kim, Meagan Miller sowie Stephen Humes; die Inszenierung stammt von Jean-Louis Grinda; die musikalische Leitung hatte Nathalie Stutzmann, s. nachstehenden Bericht.

Aus platztechnischen Gründen haben wir die zahlreichen und natürlich eminent wichtigen, weiterführenden Fußnotenhier fortgelassen. Aber wir haben seine Numerierung durchlaufen lassen. Abbildung oben: „Tannhäuser und Venus“, 1873 von Otto Knille (1832-1898)/ Ausschnitt/ Wiki; einige der Fotos entstammen dem wunderbaren, informativen Katalog bei Herscher zur Ausstellung „Wagner et la France“ in Besorgung durch Martine Kahane (charmante Direktorin der Opernbibliothek der Pariser Oper) und Nicole Wild, die 1984 in Paris stattfand; ISBN 2 7335 0059-7.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Und nun die Aufführung in Monte-Carlo: Erstmals in moderner Zeit: Tannhäuser in der originalen französischen Fassung von 1861 nun an der Oper von Monte-Carlo! Aus meiner Studentenzeit wurde ein Traum wahr, den ich seit so vielen Jahren mit mir herumgetragen habe – einmal Wagners Oper in eben dieser Version zu hören, von der nur geraunt wurde, die selbst zu den diversen Wagner-Jubiläen nicht aufgeführt wurde und die auch Soltis Decca-Aufnahme nicht wiedergibt.  Jean-Louis Grinda, nun Intendant in Monte-Carlo (und bald Chef der Choregie d´Orange), landete einen absoluten splash mit dieser ersten Inszenierung seit dem Krieg, die ebenso überzeugend wie poetisch ausfiel. Das kleine Haus, eingebettet in das bezaubernde Garnier-Casino, hat seit Raoul Ginsbergs Zeiten immer wieder für Ur- und Erstaufführungen und damit für Sensationen gesorgt (und zuletzt 1931 diese Fassung gespielt). Der neue Tannhäuser (nun dort mit – ä – geschrieben) stand da nicht zurück. In der Gesamtbeurteilung überwältigend und im Einzelnen herausragend hinterließ Grindas Inszenierung bis auf wenige Momente im ersten Akt (der ist immer sperrig) einen beglückenden, poetischen Eindruck. Wie schon zuvor als Intendant in Liège sorgte Grinda mit seiner Vision für einen erfüllten Opernabend und eine überraschende Entdeckung.

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Wir hatten in operalounge.de im Vorfeld bereits viel über die Pariser Fassung von 1861 berichtet, und so wähnte ich mich gut vorbereitet. Aber der Eindruck selbst nun war viel komplexer, vielfältiger, überwältigender, als ich in dem luxuriösen kleinen Saal der vergangenen Eleganz unter gold-braunem Stuck und palmenwedelnden Kariathiden eine Musik hörte, die in moderner Zeit niemand so erlebt hatte. In der französischen Übersetzung von  Charles Nuitter reimt sich nun alles, mehr als im originalen Text, ist das Libretto allgemeiner, konventioneller, opernmäßiger. Dadurch und durch die sehr menschlich gehaltene Personen-Regie erschien die Oper Tannhäuser weniger hehr, weniger monumental und weniger deutsch, sondern wurde zu einer fast „normalen“ französischen Repertoire-Oper mit deutschem Einschlag.

Plötzlich hörte ich das Pariser Umfeld der Zeit: Saint-Saens, Gounod, auch Auber und Reichliches an Meyerbeer. Das für uns typisch deutsche trat hinter einem anderen, romantischen und defintiv französischen Idiom zurück. Namentlich im ersten Akt, dem erweiterten Hörselberg mit Zusatzarie für Madame Vénus, entdeckt ich zudem einiges mehr an Rhetorik, an wiederholten Phrasen, an Bühnenmusik, die den Mechanismen der Pariser Aufführung von 1861 geschuldet sind – immerhin hatte Petipa choreographiert und brauchte Zeit, so wie sich aus der erweiterten, abgeschlossenen (!) Ouvertüre Wiederaufnahmen mancher Motive im folgenden Ballett finden. Ein bemerkenswerter Eindruck. Der zweite Akt kommt schnell auf den Punkt dank der gegenüber Dresden gekürzten Konzentration auf Wolfram und Tannhäuser, mit einer rasanten Lösung für ein flottes Finale („A Rome!“, was natürlich Berlioz evoziert). Es liegt  eben auch am Libretto Nuitters, dass die Oper so „normal“ wirkt, so in einer Reihe mit anderen romantischen Werken der Zeit. Und Wagner hatte unüberhörbar die Musik dem neuen Text angepasst, wie man immer wieder feststellen konnte. Das war ein ganz eigenartiges Hör-Gefühl. Das Allzubekannte im neuen, eleganteren  Gewand. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass diese Fassung sinnlicher, rasanter, hörbarer, weniger bodenlastig ist als das bekannte Original – auch wenn ich jetzt von Wagnerianern gesteinigt werde.

„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Einem Dom gleich erwies sich der Rundhorizont nicht nur während der Ouvertüre und des Ballettes im 1. Akt als ideale Projektionsfläche für wunderbare Gebilde aus Licht, sich umschlingenden Linien und Farborgien, dann wieder konkrete Spielstätte von Kapellen und Hallen, schließlich – für den letzten Akt – eine fast Eugen Onegin-nahe Winterlandschaft mit kahlem Gestrüpp und rieselndem Schnee, der zu Wolframs Szene auch als Sterne herabfiel (Montage Jerôme Nuguera). Die weitgehend leere, halbrunde Bühne verstärkte diesen überwältigenden Eindruck (Décors, Lumières & Images Laurent Castaingt). Zudem verstand es Grinda exzellent, die Chorführung diskret der kleinen Spielfläche anzupassen. Die Optik blieb angenehm konservativ – in den Kostümen (mehr oder weniger) der Entstehungszeit (Jorge Jara) fand das Auge Sinn und Inhalt, und das Publikum honorierte dies mit herzlichem Applaus. Wir sahen eine elegante Bühnenwelt zu einer eleganten Musik.

Ich hätte im 1. Akt auf die Kostümierung von Vénus und ihrer Milva-gleichen Liebes-Damen gerne verzichtet – das schien zu sehr die altbackene bürgerliche  Vorstellung von Sünde in Form von Strapsen und diaphanen Toilettemänteln. Aber Tannhäuser mit seiner Opiumpfeife delirierend im Rausch zu zeigen war eine plausible Lösung – zumal auch hier die Lichterorgien das Ihre taten. Später wurde es gegenständlicher: ein schönes Kirchengewölbe für den zweiten Akt (wo sich die Heiligen in Madame Vénus und ihre Truppe verwandelten) und der bereits erwähnte wirklich überwältigende Schluss der Winterlandschaft auf kahler Bühne. Das Finale bot zudem die Überraschung, dass sich (die zur Jungfrau betende, katholische) Elisabeth die Pulsadern aufschneidet und abwankt, Wolfram sich für Tannhäuser opfert und statt seiner in der Venusberg einzieht und dass Tannhäuser selbst offenbar von seinen Sängerkollegen erschossen wird. Etwas verwirrend, aber warum nicht. Nicht alle Besucher erlebten diesen Schluss, denn um Mitternacht hatten sich die Reihen gelichtet…

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Musikalisch war´s ein Fest. Frankreichs berühmte Altistin Nathalie Stutzmann dirigierte diese, ihre erste große, Oper mit sicherer Hand, schaffte Sinnlichkeit und Rausch im Klang des gut präparierten Orchesters (wegen des kleineren Grabens eben auch schmaler besetzt, was dem Ganzen gut tat), betonte vor allem eine stärkere Rhythmisierung des gesungenen Textes als bei uns gewohnt und hielt den Abend absolut überzeugend zusammen – eine wirklich gute Leistung, zumal auch der zupackende Chor zu diesem Eindruck beitrug (Stefano Visconti).

Der Star des Abends war für mich Jean-Francois Lapointe als beseelter Wolfram. Mit edler, lyrischer Baritonstimme sang er nicht nur die Set-pieces wie den Abendstern oder „Blick ich umher…“, sondern vermittelte auch im Ganzen einen wirklich glaubhaften Charakter – durchaus Fischer-Dieskau-nah, aber absolut eigenständig. Eine große Leistung! Landgraf Hermann wurde – ebenfalls nachdrücklich – von Steven Humes mit bester Diktion und sehr schönem Bass-Material gesungen, kein Orgeler im Frick-Fahrwasser, sondern ein lyrischer Sänger mit schönstem Material und angenehmer, inhaltlich gestützter Präsentation. Dazu kamen die blendend besetzten Sänger der kleineren Solopartien (William Joyner/ Walther, Roger Joakim/ Biterolf, Gilles Van der Linden/ Henry sowie  Chul Jun Kim/ Reinmar mit Brille).

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„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Diktion ist bei der französischen Oper wirklich das Primat und deshalb für Nicht-Franzosen so schwierig zu bewältigen. Die Sprache sitzt weiter vorne als im Deutschen, hinter den Zähnen, und nicht alles singt sich problemlos (Nasale zum Beispiel). Annemarie Kremer war als Elisabeth nicht unrecht, und bei all meinem Respekt vor der kompetenten Leistung muss ich doch sagen, dass ihre Stimme für´s Französische zu international, zu gaumig und zu weit im Hals angesiedelt ist. Sie hat leuchtende und auch sehr kraftvolle Töne in der Höhe und ist zudem eine attraktive Schauspielerin, aber verstehen tat ich zu wenig vom Text. Dass Aude Extrémo als Vénus Französin ist glaubte ich erst, als ich ihre  Biographie nachlas. Mit ihr stand keine Verführerin auf der Bühne, sondern eine Azucena im albernen Morgenmantel, dazu mit gestemmter Höhe und zu vielen Brusteinsätzen. Und ich verstand von ihrem Part ebenfalls so gut wie nichts, was ja bei dieser hier erweiterten Rolle  keinen Sinn macht. Keine Dalila, keine Léonor, keine sinnliche Verführerin – eher eine Sportlerin mit stentoralem Material, die zudem mit den Noten sehr frei umging. Aber die Venus ist ja auch eine wirklich schwierige Partie, in dieser Version besonders. Dagegen hinterließ Anais Constans als weiblicher Hirt einen bezaubernden Eindruck.

„Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ Szene/ Foto Alain Hanel

Und lui même? Tannhäuser – hier Henri (!!!) genannt? José Cura war stark erkältet, und während des Ballettes hustete er mehrfach: Man befürchtete Schlimmstes. Nichts da – mit dem Tannhäuser hat sich Cura eine weitere Partie glanzvoll erobert. Vielleicht erkältungsbedingt blieb er bis auf die Kernszenen gedämpfter, sang Harfenarie und Hallenauftritt kraftvoll, aber nicht gestemmt, kam gut nach Rom über das Ensemble und legte eine Rom-Erzählung mit so vielen Nuancen hin, dass ich mit den Tränen kämpfte. Differenziert, mit vielen leisen Tönen und auch optisch ein anrührender Darsteller war er der romantische Held par excellence, immer noch ein schöner Mann und ein absoluter Profi, zudem mit seriösem Französisch. Chapeau!

Im Ganzen und im Detail also war dies (am 22. Februar 2017) ein memorabler Abend, ein Erlebnis der Sonderklasse. Das herrliche, ehrwürdige Haus fügte sich zum Entdeckergeist der Intendanz und zu den herausragenden Leistungen der Interpreten. Nach einer Pause von mehr als 15 Jahren zeigte sich mir Monte-Carlos Oper wieder von ihrer besten Seite, nicht das letzte Mal – da bin ich mir sicher (Foto oben:“Tannhäuser“ 1861 an der Opéra de Monte-Carlo/ José Cura/ Foto Alain Hanel). Geerd Heinsen

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Bisherige Beiträge in unserer Serie Die vergessene Oper finden Sie hier.

Stumm, stumm, stumm …

 

Was das Opernschaffen an musikalischer Zündkraft Anfang des 20. Jahrhunderts aufzubieten hatte, reizten wenige in der Bandbreite so dezidiert aus wie Richard Strauss und der als Gegenpol gefeierte Franz Schreker. Wie Strauss galt Schreker als einer der führenden deutschen Opernkomponisten. Mit dem Fernen Klang erzielte er 1912 einen Sensationserfolg, der ihm auch bei anderen Opern weitgehend treu blieb. So 1918 bei den Gezeichneten. Das irisierende Vorspiel lässt das Genua des 16. Jahrhunderts farbige Gestalt annehmen. Es gehört zu den Beispielen eines sinnlich glühenden, schwelgerischen Stimmungszaubers, wie wir ihn auf der Aufnahme des Royal Swedish Orchestra unter seinem niederländischen Chef Lawrence Renes erleben können (BIS 2212). Auch wenn man heute den Opern des ebenfalls mit dem Bann der „Entarteten Musik“ belegten Alexander von  Zemlinsky den Vorzug geben wird, kann man sich Schrekers Orchesterpracht schwer entziehen: ausladend, mächtig, geheimnisvoll in ihrer instrumentalen Bravour, immer auf der Suche nach magischen Klangchiffren. Zu den weiteren Beispielen von Schrekers „Orchestral Music from the Operas“ auf dieser CD gehören das Vorspiel zu Das Spielwerk, der Überarbeitung von Das Spielwerk und die Prinzessin, das Symphonische Zwischenspiel aus Der Schatzgräber, Schrekers erfolgreichster Oper, das erst posthum uraufgeführte Vorspiel zu einer Großen Oper (nach seiner Selbsteinschätzung „ein großes, rauschendes Stück, in dem alle Register des Orchesters gezogen werden“) und das Nachtstück aus Der ferne Klang.

Eine perfekte Ergänzung bietet  eine Naxos-Aufnahme aus der Kleinhaus Music Hall in Buffalo, wo das dort beheimatete Philharmonic Orchestra Strauss nicht als den exzessiv und gewaltig tönenden Salome und Elektra -Komponisten zeigte, sondern als den raffinierten Orchesterverführer und gekonnten Anverwandler, der sich virtuos in die Klangwelt Lullys einfühlt und sie geistreich schattiert (Naxos 8.573460): Die Musik zu Le Bourgeois Gentilhomme zog er, nachdem sich Aufführungen mit Molières Stück nicht durchzusetzen vermochten, zu einer 1920 mit den Wiener Philharmonikern erstmals aufgeführten neunteiligen Suite aus Vorspiel, Tanznummern und Tafelmusik zusammen. Ein graziles, klangsinnliches Stück mit parodistischen Anmerkungen und feinsinnigen Illustrationen. Interessant aber vor allem die World Première Recording in Form der in gleicher Manier entworfenen Orchesterfassung der Ariadne auf Naxos, aus der D. Wilson Ochoa unter Beibehaltung der originalen Instrumentation – mit Ausnahme eines Englischhorns anstelle des zweiten Oboe – eine siebenteilige Symphony-Suite destillierte, die zentrale Momente der Oper so gekonnt einfängt, dass Kenner entzückt sein dürften: Prolog, das Duett Zerbinetta/ Komponist „Ein Augenblick ist wenig“, Der Walzer „Eine Störrische zu trösten“, „Ein Schönes war“, „Es gibt ein Reich“, das Zwischenspiel und „Gibt es kein Hinüber“.  Das sollte doch auch etwas für andere Orchester sein, die sicherlich noch geschmeidiger als das Buffalo Philharmonic Orchestra unter der vielseitigen JoAnn Falletta diese Musik zum Funkeln bringen.   Rolf Fath

Zwischen Dramatik und Erbaulichkeit

 

L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato ist als Live-Aufnahme der J.S. Bach-Stiftung St Gallen neu erschienen. Die Stiftung aus privaten Mitteln hat sich Großes vorgenommen: Chor und Orchester der J.S. Bach-Stiftung St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz wollen bis ca. 2030 über einen Zeitraum von 25 Jahren das gesamte Vokalwerk von Bach aufgeführt und live aufgenommen haben, die Gesamtaufnahme der Bach-Kantaten ist bereits fortgeschritten: 18 CDs sind bisher erhältlich. Bei einem solchen Mammutprojekt überrascht, dass man nun Zeit für Händel gefunden hat. L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato wurde 1740 uraufgeführt, trotz des italienischen Titels handelt es sich um ein englisches Oratorium, eine Allegorie ohne Handlung, ein Disput zweier Charaktere über sanguinische Heiterkeit und Melancholie, die „Il Moderato“ durch Vernunft versöhnen und zum Ausgleich bringen will. Die Musik ist voller wunderbarer Melodien. Das Klangbild ist farbig, Händel bietet viel auf: Holz- und Blechbläser, Pauken und Glockenspiel. Wie so viele Werke Händels besitzt auch dieses Werk den Status eines „Geheimtipps“, den Händel-Fans mit Genuss hören werden. Es gibt wenige Dacapo-Arien, der Chor hat in diesem Oratorium relativ wenig zu tun, sein Einsatz erfolgt nicht in abgesonderten Blöcken, sondern verschränkt sich mit den Solosängern. Die Sänger lassen keine Wünsche offen: Die Sopranistin Joanne Lunn, Tenor Charles Daniels und Bass Peter Harvey sowie der Chor überzeugen bei diesem farbigen Live-Vortrag mit differenzierter Darstellung und schönen Nuancen. Rudolf Lutz und sein Orchester musizieren mit viel Elan und eloquenten, flüssigen Tempi, das historische Klangbild ist plastisch. Eingeleitet wird das Oratorium hier durch die Ouvertüre von Händels Oper Radamisto, was dann folgt ist  im Rahmen des Live-Konzerts allerdings gekürzt – im ersten Teil sind das ein Accompagnato mit Arie „Come but keep the wonted state“ (Nr.9 und 10) sowie „Far from all resort“ (Nr.21) und „Straight mine eye hath caught“ (Nr. 24), im zweiten Teil fehlen „Sometimes let gorgeous Tragedy“ (Nr. 29), „There let Hymen“ (Nr. 33), „Orpheus‘ self“ (Nr. 38) und „Come, with gentle hand restrain“ (Nr. 43). Wer sich daran nicht stört, hört eine lebendige und schöne Interpretation, die man als Konzert gerne erlebt hätte.  (2 CDs, LC27081)

Das Label Carus hat in einer Box mit 13 CDs verschiedene, in den letzten Jahren erschienene Aufnahmen in überwiegend sehr guter Qualität zusammengefasst: Messiah, Alexander’s Feast sowie die Ode for St. Cecilia’s Day, Israel in Egypt, Brockes Passion, Solomon und L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Es handelt sich dabei Aufnahmen, die zwischen 2007 und 2012 entstanden und von vier unterschiedlichen Klangkörpern und Chören präsentiert werden, vor allem die Dirigenten Peter Neumann und Frieder Bernius sind hier stilbildend. Zwei Beihefte sind enthalten mit allen Libretti, Künstlerporträts sowie kurzen, allgemein gehaltenen Einleitungen. Der Vergleich von L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato mit obiger Neuaufnahme bietet sich an und zeigt, daß die Produktion des WDR aus dem Jahr 2012 als Referenz gelten kann. Peter Neumann und das Collegium Cartusianum sowie der stets bemerkenswerte Kölner Kammerchor sind vorbildlich in der Gestaltung, die Spannung zwischen Intro- und Extrovertiertheit erklingt in bunter Folge. Die Sopranarien sind mit zwei Sängerinnen besetzt, ob Maria Keohane oder Julia Doyle gerade singt, ist nicht ersichtlich, die CD weist es nicht aus, beide singen mit ähnlicher Klasse und vergleichbarem Timbre. Ideal ergänzt werden sie von Tenor Benjamin Hulett und Bassist Andreas Wolf. Die Einspielung ist kaum gekürzt (es fehlt nur Nr. 43), als Ouvertüre dient das Concerto grosso op.6, 1. Im Vergleich zu obiger Aufnahme der Bach-Stiftung St Gallen spricht für diese Einspielung, daß sie 25 Minuten mehr Musik enthält und sängerisch noch ausgefeilter wirkt.
Alexander’s Feast und Ode for St. Cecilia’s Day wurde bereits von Händel im Konzert kombiniert, die Ode bildet dabei den dritten Teil des Oratoriums, das zu Händels Zeiten zu seinen beliebtesten Werken gehörte. Die Produktion des WDR entstand 2006, erneut hört man Peter Neumann, das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Die Aufnahme klingt präzise, schlank und flüssig, was ihr ein wenig fehlt, ist der kaleidoskopische Farbenreichtum, Affekte und Klangmalerei sind mit noch mehr Überschwang vorstellbar. Der Sopran von Simone Kermes, Tenor Virgil Hartinger und der Bassist Konstantin Wolf setzen hingegen starke Akzente in dieser guten Aufnahme.
Die Brockes Passion ist als Live-Aufnahme des Schweizer Rundfunks aus dem Jahr 2009 enthalten und wird nach einer Abschrift von Johann Sebastian Bach musiziert. Händels Oratorium in deutscher Sprache erzählt die Passionsgeschichte vom letzten Abendmahl bis zum Tod Jesu am Kreuz Auch hier sind die bewährten Kräfte am Walten: Peter Neumann dirigiert das Collegium Cartusianum sowie den Kölner Kammerchor. Eine ganze Reihe von Sängern ist aufgeboten: insbesondere Markus Brutscher als ausdrucksvoller Evangelist sowie Nele Gramß, Johanna Winkel, Elvira Bill, James Oxley, Jan Thomer, Michael Dahmen und Markus Flaig stehen für eine empfehlenswerte Aufnahme, die Händels phantasievolle Beschreibung zwischen Zerknirschung und Drastik plastisch umsetzt und vom hohen Engagement aller Beteiligten profitiert.
Israel in Egypt wurde 2008 vom SWR aufgenommen. Das Oratorium, dessen Text nur aus Bibelzitaten besteht, erfordert für das Volk Israels als Haupt- und Titelfigur einen leistungsfähigen Chor, dessen Part das Vocalensemble Rastatt in vorbildlicher Artikulation übernimmt, Holger Speck dirigiert Les Favorites und als Sänger hört man Antonia Bourvé, Cornelia Winter, Terry Wey, Jan Kobow, Konstantin Wolff und Markus Flaig. Hier gelingt ebenfalls eine sehr gute und spannende Interpretation, bei dem in zweiten Teil mit der Beschreibung der Plagen unter Einsatz u.a. von Posaunen und doppelchörigen Sätzen eine spannende Dichte gewinnt.
Auch die Einspielung des Messiah stammt aus dem Jahr 2008 – eine Aufnahme, die den erbaulichen Stoff auf erfreuliche Weise dynamisch abwechslungsvoll und doch harmonisch und ausgeglichen präsentiert, orchestral wird hier dem Werk angemessen also nichts auf die Spitze getrieben, der Dirigent wählt moderate Tempi- ein Messiah, der auf beste Weise geschmackvoll interpretiert wird. Frieder Bernius dirigiert das Barockorchester Stuttgart und den Kammerchor Stuttgart. Hier lohnt ein Blick auf die Sänger, die dem Oratorium auf bemerkenswerte Weise Intimität und Ausdruck verleihen: Sopranistin Carolyn Sampson  mit sehr schöner Stimme, genußvollen Koloraturen und Ausschmückungen, Countertenor Daniel Taylor kann lyrisch und bestimmt klingen, Benjamin Hulett singt mit schlankem Tenor und Bass Peter Harvey mit nobler Stimme.
Solomon ist eine Produktion der Händel Festspiele Göttingen, die 2007 live bei einem Konzert in der Dresdner Frauenkirche aufgenommen wurde und aufgrund der unzufrieden stellenden Aufnahmetechnik und wenig transparentem Klang der einzige Schwachpunkt der Box. Auch sängerisch passt nicht alles zusammen: Tim Mead als Salomon kann die von Händel ursprünglich mit einer Mezzosopranistin besetzte Titelrolle nicht umfänglich an sich heranziehen. Weiterhin hört man Dominique Labelle und Claron McFadden in den Sopranrollen, Tenor Michael Slattery als Zadock, Bariton Roderick Williams als Levit, das Göttinger Festspiel Orchester unter der Leitung von Nicolas McGegan sowie den Winchester Cathedral Chor. (13 CDs, Carus 83.040)

Auch bei Harmonia Mundi wurde Solomon neu aufgelegt. Und auch die gekürzte und umgestellte Aufnahme mit der Akademie für alte Musik Berlin unter Daniel Reuss sowie dem RIAS Kammerchor aus dem Jahr 2006 ist nicht rundum empfehlenswert, denn es gibt die vollständige Aufnahme von Paul McCreesh (mit Andreas Scholl als Solomon) als Referenz, die Reuss mit seiner etwas weniger prägnant und zurückhaltender wirkenden Lesart nicht übertrifft. Dennoch lohnt das Zuhören – Sarah Connolly als Salomon, Susan Gritton als seine Königin, Carolyn Sampson als die Queen of Sheba, Mark Padmore als forscher Zadok und David Wilson-Johnson als sonorer Levit sowie der Chor singen inspiriert auf hohem Niveau und es ist eine Freude, der Akademie für alte Musik Berlin zuzuhören, die mit ihrem Klang Solomon eine melodiöse und konzentrierte Note verleiht. (2 CDS, Harmonia Mundi HMY 2921949.50Marcus Budwitius

 

Terry Wey & Friends

 

„In War & Peace“ nannte Joyce DiDonato ihre jüngste Platte – dieser Idee der Mezzosopranistin folgt nun der Countertenor Terry Wey mit seiner neuen CD „ Pace e Guerra“ bei der deutschen harmonia mundi (88985410502). Auch er wählte für dieses Programm Barockarien aus. Sie alle wurden für den 1685 in Bologna geborenen Kastratenstar Antonio Maria Bernacchi komponiert, der wegen seiner Leibesfülle vielfach karikiert, wegen seiner stimmlichen Virtuosität aber überaus geschätzt wurde. In London galt Bernacchi eine Zeitlang als Nachfolger Senesinos, in Bologna freundete er sich mit Farinelli an und gab dem großen Kontrahenten sogar Unterricht.

Auf der Trackliste finden sich sieben Weltersteinspielungen, welche für die Sammler stets von besonderem Interesse sind. Dazu zählt sogleich der erste Beitrag, die Arie des Lucio Vero aus der gleichnamigen Oper des Münchner Hofkomponisten Pietro Torri. Ihr Titel „Pace e guerra“ gab der CD ihr Motto. Es ist ein Koloratur gespicktes Stück, in welchem der Interpret stimmliche Flexibilität demonstrieren kann. Sein Countertenor ist von weicher Textur, jugendlich im Klang, gelegentlich von larmoyantem Tonfall. Ebenfalls eine Premiere ist die Arie des Mitrane, „Quell’ usignolo“, aus Domenico Natale Sarros L’Arsace. Mit dieser lieblich wiegenden Nummer ergibt sich ein schöner Kontrast, zumal Wey hier mit zärtlichen Nuancen und feinen Trillern aufwartet. Aus Händels Partenope folgen zwei Arien des Arsace – auch diese kontrastreich mit „Ch’io parta“ als schmerzlich-entsagungsvolle Äußerung in getragenem Duktus und „Furibondo spira il vento“ als furiose Sturmarie, bei der Wey mit expressiver Attacke und bravourösen Koloraturrouladen zu hören ist.

Mit Hasses Demetrio folgt wieder eine Ersteinspielung – hier das Duett des Titelhelden mit Alceste, „Dal mio ben“, bei dem die Mezzosopranistin Vivica Genaux dem Counter mit ihrem bekannt gutturalen Timbre assistiert. Es ist die Komposition eines Abschieds von sanftem Charakter, in der sich die Stimmen kosend umschmeicheln, im bewegten Mittelteil aber auch im Koloraturfeuer wetteifern. Wiederum eine CD-Premiere ist die Arie des Polinesso, „Già mi par“,  aus Carlo Francesco Pollarolos Ariodante, die dem Interpreten gleichfalls höchste virtuose Fähigkeiten abverlangt, welche der Sänger souverän erfüllt. Des Titelhelden Arie „Non disperi peregrino“ aus Händels Lotario ist ein von den Streichern zart umspieltes Stück, das dem stimmlichen Charakter Weys sehr entspricht. In der Arie des Medo aus Leonardo Vincis gleichnamiger Oper klingt die Stimme des Counters besonders resonant und reizvoll. Im nachfolgenden Terzett daraus gesellt sich zu ihm und der Genaux mit Valer Sabadus noch ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung. Und er setzt in diesem jubilierenden Gesang besondere Glanzpunkte. Bernacchi hatte es 1728 in Parma gemeinsam mit der Altistin Vittoria Tesi und Farinelli gesungen. Wie dieses Terzett ist auch die folgende Arie des Amadis aus Pietro Torris Amadis di Grecia eine Novität – in ihrem schmeichelnden siciliano-Rhythmus für Weys lyrisch-sensible Stimme wie maßgeschneidert. Aus Francesco Gasparinis Il Bajazet erklingt Tamerlanos „A dispetto“, was einen interessanten Vergleich zu Händels Vertonung des Stoffes ergibt, in welcher dieser die Titelrolle innehat. Von einem caccia-Hörnerklang begleitet, ist die Arie eine stürmische Ansage mit wütendem Koloraturfuror.

Mit einer letzten Weltpremiere, Casimiros Arie „Parto“ aus Torris Venceslao, endet das Programm und gibt dem Interpreten noch einmal Gelegenheit, seine Stimme mit sanft gefluteten Tönen schweben zu lassen. Das Bach Consort Wien unter Rubén Dubrovsky begleitet ihn sehr einfühlsam, setzt aber in den dramatischen Passagen der Arien auch eigene Akzente. Bernd Hoppe