Bemerkenswerte Debüts

 

Für das erste Solo-Album der französischen Sopranistin Stéphanie Varnerin hat man sich für eine Ersteinspielung entschieden: Kantaten von Carlo Francesco Cesarini (1665-1741), einem Kirchenmusiker, der vier Jahrzehnte in Rom tätig war und neben ca. 70 Kantaten auch zahllose Oratorien und auch wenige Bühnenwerke (u.a. einzelne Akte in Pasticcio-Opern) komponierte. Auf dieser CD erklingen sechs Kantaten, die zwischen 1700 und 1717 aufgeführt wurden, in der Regel Auftragswerke von Kardinal Pamphili für diverse Anlässe, für die der Kleriker teilweise selber die Texte verfasste. Die formale Struktur ist ohne Überraschungen, abwechselnd Rezitativ und Arie, die einzelnen Stücke haben direkten Bezug zum Opernschaffen der Zeit und könnten auch auf der Bühne zum Einsatz kommen, Cesarini zeigt deutlich theatralische Neigungen mit wechselnder Dynamik und Affekten, auch die Rezitative gehen über kontemplative und narrative Elemente hinaus. Die Kantaten stellen ruhelose Seelen ins Zentrum, die dies und jenes beklagen, unerwiderte Liebe, Eifersucht, Untreue, ergänzt durch pastorale Szenen, zwei Werke sind mythologisch (Arianna bzw. Fetonte). Soviel vorweg: Cesarini ist kein hidden champion, seine Kantaten sind geschmackvoll, sechs davon hintereinander bergen Momente der Monotonie. Dafür sind aber nicht die beteiligten Künstler verantwortlich, eher die Möglichkeiten im Rahmen der Produktion: ein wenig mehr instrumentale Vielfalt hätte den Höreindruck aufgewertet. L’Astrée ist das Kammerensemble der Accademia Montis Regalis, sie spielen die Kantaten mit fünf Musikern auf hohem Niveau, die musikalische Leitung von Giorgio Tabacco am Cembalo ergänzt zwei Violinen, Cello und Theorbe – alles bestens, doch 70 Minuten am Stück lassen etwas Abwechslung vermissen. Stéphanie Varnerin überzeugt stimmlich und darstellerisch, ihr Textverständnis ist hörbar, sie stellt dar und geht mit, ein attraktives, junges und feminines Timbre, weder unschuldig noch reif, aber leidenschaftlich und emotional – eine vielversprechende Stimme, die man gerne in anspruchsvolleren Stücken und live hören möchte. (Aparté AP136)

Ein vielversprechendes Solo-Debüt liefert auch der junge italienische Countertenor Carlo Vistoli, dessen CD Arias für Nicolino sich Rollen des Kastraten Nicolò Grimaldi (1673-1732), genannt Nicolino, widmet. Zu hören sind zwei Arien aus Arsace von Domenico Sarro, zwei Arien aus Salustia von Pergolesi (Nicolino starb allerdings vor der Premiere), eine Arie aus Il Cambise von Alessandro Scarlatti sowie vier Arien von Händel, der die Titelrollen in Rinaldo und Amadigi di Gaula für Nicolino komponierte. Vistoli zeichnet sich durch ein angenehmes, ungekünsteltes Timbre aus, er ist stimmlich agil und verfügt bereits über bemerkenswert viel Ausdrucksmöglichkeiten, Händels „Cara sposa“ eröffnet die CD elegisch, „Venti, turbini, prestate“ beschließt sie entschlossen, dazwischen wird geliebt und gehasst, gehofft und getrauert, dem Tod und dem Leben entgegen getreten. Die Werke umfassen einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten, im Vergleich zu Rinaldo (1711) ist Nicolinos späte Rolle in Pergolesis Salustia (1732) tiefer gerutscht, der Komponist setzt stark auf Ausdruck, die Ratschlag-Arie „Al real piede ognora“ hat Würde, die Musik folgt dem Text und fordert Gestaltung vom Sänger, das dramatische „Per trucidar la perfida“ ist mit Helldunkel-Passagen. Vistoli kann hier eine angenehme Tiefenlage zeigen. Alessandro Scarlatti und Nicolino sollen eng befreundet gewesen sein, die Hauptrolle in Il Cambise (1719) war dem Kastraten auf  den Leib geschneidert, „Quando vedrai“ ist stimmungsvoll und dicht, die stolze Arie „Mi cinga la fama“ ist virtuos, schnelle Notenfolgen und Spitztöne lassen die Arie („trionfar“ ist ein Schlüsselwort) in sich selbst widerhallen. Ein Jahr zuvor hatte Domenico Sarro den Kastraten für die Titelrolle in Arsace besetzt, „Torno ai ceppi“ ist ein virtuoses Allegro mit schnelle Notenfolge und Koloraturen, das introspektive „Se penso a Statira“ mit kontemplativen Lento und attackierendem Presto. Vistoli meistert die unterschiedlichen Herausforderungen beeindruckend gut, auf einen Live-Eindruck und seine zukünftige Entwicklung darf man gespannt sein. Das Originalklang-Ensemble Talenti Vulcanici unter Dirigent Stefano Demicheli musiziert auf der Höhe der Zeit mit harmonischen Tempi ohne Manieriertheit, die orchestralen Intermezzi aus Rinaldo, Amadigi und Arsace binden sich reibungslos in die Abfolge ein. Die Aufnahme ist tontechnisch nicht ganz optimal, ein wenig zu viel Nachhall am Aufnahmeort in einer neapolitanischen Kirche trübt minimal die Hörfreude. (Arcana  A427) Marcus Budwitius