Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Terry Wey & Friends

 

„In War & Peace“ nannte Joyce DiDonato ihre jüngste Platte – dieser Idee der Mezzosopranistin folgt nun der Countertenor Terry Wey mit seiner neuen CD „ Pace e Guerra“ bei der deutschen harmonia mundi (88985410502). Auch er wählte für dieses Programm Barockarien aus. Sie alle wurden für den 1685 in Bologna geborenen Kastratenstar Antonio Maria Bernacchi komponiert, der wegen seiner Leibesfülle vielfach karikiert, wegen seiner stimmlichen Virtuosität aber überaus geschätzt wurde. In London galt Bernacchi eine Zeitlang als Nachfolger Senesinos, in Bologna freundete er sich mit Farinelli an und gab dem großen Kontrahenten sogar Unterricht.

Auf der Trackliste finden sich sieben Weltersteinspielungen, welche für die Sammler stets von besonderem Interesse sind. Dazu zählt sogleich der erste Beitrag, die Arie des Lucio Vero aus der gleichnamigen Oper des Münchner Hofkomponisten Pietro Torri. Ihr Titel „Pace e guerra“ gab der CD ihr Motto. Es ist ein Koloratur gespicktes Stück, in welchem der Interpret stimmliche Flexibilität demonstrieren kann. Sein Countertenor ist von weicher Textur, jugendlich im Klang, gelegentlich von larmoyantem Tonfall. Ebenfalls eine Premiere ist die Arie des Mitrane, „Quell’ usignolo“, aus Domenico Natale Sarros L’Arsace. Mit dieser lieblich wiegenden Nummer ergibt sich ein schöner Kontrast, zumal Wey hier mit zärtlichen Nuancen und feinen Trillern aufwartet. Aus Händels Partenope folgen zwei Arien des Arsace – auch diese kontrastreich mit „Ch’io parta“ als schmerzlich-entsagungsvolle Äußerung in getragenem Duktus und „Furibondo spira il vento“ als furiose Sturmarie, bei der Wey mit expressiver Attacke und bravourösen Koloraturrouladen zu hören ist.

Mit Hasses Demetrio folgt wieder eine Ersteinspielung – hier das Duett des Titelhelden mit Alceste, „Dal mio ben“, bei dem die Mezzosopranistin Vivica Genaux dem Counter mit ihrem bekannt gutturalen Timbre assistiert. Es ist die Komposition eines Abschieds von sanftem Charakter, in der sich die Stimmen kosend umschmeicheln, im bewegten Mittelteil aber auch im Koloraturfeuer wetteifern. Wiederum eine CD-Premiere ist die Arie des Polinesso, „Già mi par“,  aus Carlo Francesco Pollarolos Ariodante, die dem Interpreten gleichfalls höchste virtuose Fähigkeiten abverlangt, welche der Sänger souverän erfüllt. Des Titelhelden Arie „Non disperi peregrino“ aus Händels Lotario ist ein von den Streichern zart umspieltes Stück, das dem stimmlichen Charakter Weys sehr entspricht. In der Arie des Medo aus Leonardo Vincis gleichnamiger Oper klingt die Stimme des Counters besonders resonant und reizvoll. Im nachfolgenden Terzett daraus gesellt sich zu ihm und der Genaux mit Valer Sabadus noch ein weiterer Vertreter dieser Stimmgattung. Und er setzt in diesem jubilierenden Gesang besondere Glanzpunkte. Bernacchi hatte es 1728 in Parma gemeinsam mit der Altistin Vittoria Tesi und Farinelli gesungen. Wie dieses Terzett ist auch die folgende Arie des Amadis aus Pietro Torris Amadis di Grecia eine Novität – in ihrem schmeichelnden siciliano-Rhythmus für Weys lyrisch-sensible Stimme wie maßgeschneidert. Aus Francesco Gasparinis Il Bajazet erklingt Tamerlanos „A dispetto“, was einen interessanten Vergleich zu Händels Vertonung des Stoffes ergibt, in welcher dieser die Titelrolle innehat. Von einem caccia-Hörnerklang begleitet, ist die Arie eine stürmische Ansage mit wütendem Koloraturfuror.

Mit einer letzten Weltpremiere, Casimiros Arie „Parto“ aus Torris Venceslao, endet das Programm und gibt dem Interpreten noch einmal Gelegenheit, seine Stimme mit sanft gefluteten Tönen schweben zu lassen. Das Bach Consort Wien unter Rubén Dubrovsky begleitet ihn sehr einfühlsam, setzt aber in den dramatischen Passagen der Arien auch eigene Akzente. Bernd Hoppe

Geheimnisvolle Klapphüllen

 

Höchst geheimnisvoll wirken die drei weißen Klapphüllen aus Pappe. Nur etwas für Eingeweihte. Ein grün und grau verschlungenes Ornament in einem Viereck. Darunter „P. Rhéi“. Ein paar grün hervorgehobene Begriffe, „Inspiration“, „Interpretation“ und „Imagination“. Ein Rätsel. Ach so, „panta rhei“, „alles fließt“, doch weshalb der spielerische Akzent auf „é“? Der wiederum führt vom Altgriechischen zum „é“ in „Prégardien“, genauer zu Julian Prégardien, ein offenbar ebenso ausgezeichneter Tenor wie sein Vater Christoph Prégardien. Das Ganze, ein musikalisches Forschungsprojekt, an dem der Sänger das Publikum auf der Internetplattform (www.prehi.com) teilhaben lässt, ein höchst exquisites zudem, da die dreiteilige Edition offenbar nur auf diesem Weg zu beziehen ist. Die drei Ausgaben, die sich Schuberts Winterreise widmen, gehören zusammen, sind quasi der Auftakt zu einer Sichtung von Werken und ihren Veränderungen im Laufe ihrer Aufführungsgeschichte. Nähern wir uns dem Geheimnis. Zuerst „Inspiration“. „Wir erleben die große Künstlerin Lotte Lehmann (188-1976) – sie war die womöglich die erste Frau, die den Liedzyklus Winterreise zur Gänze aufführte und auf Platte aufnahm – in zwei weniger bekannten Facetten ihrer Begeisterung für Wilhelm Müllers Gedichte und Franz Schuberts Musik“. So steht es auf der Rückseite.“ Es bleibt weiterhin geheimnisvoll. Denn in der Innenseite heißt es zu der im Januar 2016 von Julian Prégardien im „Verbund mit künstlerischen und wissenschaftlichen Paten“ gegründeten „Medienplattform für Aufführungsgeschichte, „Das erste Editionsprojekt befasst sich mit Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller. Das Musikwerk Winterreise – eine kompositorische Interpretation für Kammerorchester und Tenor von Hans Zender (1936) wird als nächste CD-Auskopplung des Projekts anlässlich des 80. Geburtstages des Komponisten am 22. November 2016 veröffentlicht“. Doch was hat es mit Lotte Lehmann auf sich? Da hilft das schmale Beiheft weiter. „Ich darf Ihnen“, so der liebeswürdige Julian Prégardien, „mit freundlicher Genehmigung der University of California in Santa Barbara ein Geschenk überreichen: Lotte Lehmann nahm 1956 Rezitationen der Winterreise-Gedichte von Wilhelm Müller auf. Ebenso fertigte sie Aquarell-Zeichnungen zu den 24 Liedern an“. Es folgen die angekündigten Aquarelle.

Doch mehr interessiert Lehmanns Rezitation, die ich nicht kannte. Es ist schön, Lotte Lehmann so klar und deutlich zu hören, wie sie möglicherweise bei ihren Gesangsstunden sprach, als Generationen von angehenden und schon arrivierten Sängern nach Santa Barbara pilgerten, und wie man sie auch von ihrem „Radio Recital Cycle“ von 1941 kennt. Der Vortrag (23:33) freilich wirkt, nun ja, ein wenig antiquiert, wort- und akzentdeutlich, mit überstarken Betonungen („fall ich selber mit zu Boden“, ), leidenschaftlich bebend, stark empfunden, flüsternd, raunend, mit intensivem „r“, federndem „l“ („sind wir selber Götter!“), gemahnend, ein bisschen Maria Becker, aber eben doch beispielhaft in der starken und sinnhaften Wortbehandlung. Sie wusste, was sie sang. Schön wäre es gewesen, den Gesangs-Zyklus, den sie 1940/41 mit Paul Ulanowsky aufgenommen hatte, anschließend ebenfalls zu hören.

P.Rhei-Projekt „Winterreise“: Michael Glees und Julian Prégardien/ Foto Kloster Muri Kultur

Sodann „Inspiration“, d.h. Zenders „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“, die am 22. Januar 2016 als Koproduktion des Saarländischen Rundfunks, Südwestrundfunks und P.Rhéi mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Robert Reimer entstand (2 CDs) und zu der Julian Prégardien einen schöne Einführung verfasste, die auf die zahlreichen persönlichen Bezüge und Konstellationen verweist, so war Zender in den 1970er Jahren Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken, aus dem ebenjene Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern hervorging, Hans Zender wiederum hatte 1993 die Uraufführung seiner Version der Winterreise dirigiert, war 1999 an der Aufnahme mit Julians Vater Christoph Prégardien beteiligt und hatte eine szenische Produktion am Grand Théatre de Luxenbourg betrieben, die dieser Studioaufnahme direkt vorausgegangen war. Starke szenische Impulse gehen somit auch von Julian Prégardiens meisterlicher und packender Interpretation aus, die in Zenders suggestiv farbiger Klangsprache von einer elementaren theatralischen Kraft und großen darstellerischen Intensität zeugt, stimmlich manchmal ätherisch zart und verhauchend, dann wieder wütend und grell auftrumpfend, fast knarzend, sprechsingend, doch immer mit einem keuschen Schmelz und leuchtendem Klang. Das ebenfalls im Beiheft abgedruckte sehr informative Podiumsgespräch vom Tag der Aufführung mit Hans Zender, Thomas Seedorf und Prégardien unterstreicht den hohen Anspruch der Edition.

Und noch eine Überraschung. „Imagination“. „Wir stellen uns vor“, ist zu lesen, „wie die Pianistin Clara Schumann und der Sänger Julius Stockhausen die Winterreise vom Salon auf das Podium des Konzertsaals tragen. Eine Zeitreise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Julian Prégardien und Michael Gees orientieren sich an historischen Konzertprogrammen und stellen Franz Schuberts Liedzyklus Klavierwerke von Johann Sebastian Bach, Domenico Scarlatti und Felix-Mendelssohn zur Seite“. Das Konzert nach dem Vorbild eines historischen Programms – abgedruckt ist im Beiheft ein Programmzettel vom 27. November 1862 – fand am 28. November 2015 statt, also fast genau 150 Jahre später, wobei Michael Gees den Lied-Zyklus durch kraftvoll kurze Improvisationen sowie die ebenfalls recht kurzen Stücke der erwähnten Komponisten – eine kleine Sonate, eine Gavotte, ein paar Lied ohne Worte – ergänzte, worauf der Abend im Kloster Muri auch nur gut 90 Minuten dauerte (2 CD). Und wieder liest man sich auch in den guten Texten im Beiheft fest. Packend in ihrem wahrhaftigen Ausdruck auch hier wieder die Leistung Prégardiens, dem für diesen knapp 3 ½ stündigen Auftakt seines „P.Rhéi“-Projekts mehr als nur Anerkennung gebührt. Rolf Fath

Viel Info auf kleinem Raum

 

Vor allem der Opernneulinge hat sich das Ehepaar Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring, Fachleute par excellence,  mit seinem Buch Oper – Die 101 wichtigsten Fragen angenommen, aber auch dem „Kenner“ wird allerlei Interessantes, was er noch nicht wusste, angeboten. Ca. 140 Seiten nehmen die Antworten auf die 101 Fragen ein, und das bedeutet Artikel von durchschnittlich jeweils eineinhalb Seiten, was erfreulich knapp ist und zugleich erstaunlich viel bietet, da Ausschweifendes vermieden und damit kein Opernanfänger verschreckt wird. Allerdings heißt Oper nun einmal auch Sehen und vor allem Hören, und deshalb wäre eine CD mit Tonbeispielen sehr hilfreich gewesen, und die wenigen kleinen Fotos, oft nur vom Format einer Briefmarke, sind nicht sehr anregend.

Ansonsten aber ist an dem Buch nichts auszusetzen, im Gegenteil, selten findet man auf so geringem Raum so viele Informationen, die zudem noch so gut verständlich dargeboten werden. Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, wobei sich das erste  „Basisfragen“ nennt und sich mit Fragen wie „Wann, wo und wie wurde die Oper erfunden?“  bis hin zu „Sind Opern elitär“ befasst. Es geht danach um „Erscheinungsbild-Erscheinungsform“ mit Fragen zum Beispiel „Was ist ein Libretto“ oder „Was ist ein Musikdrama“, um Stoffe und Handlungen, Meisterwerke und Opernmeister, Sänger, Bühne, Medien Organisation und Finanzen und schließlich um das Publikum.

Besonders angenehm fallen die vom Autorenpaar gewählten Zitate auf, werden die Verdienste Wagners knapp, aber einleuchtend herausgestellt, das ewige Thema prima la musica, poi le parole in seinen Grundzügen behandelt, und natürlich werden dabei weder Salieri noch Richard Strauss vergessen. Das Verhältnis von Rezitativ und Arie, von Librettist und Komponist, von Hofoper und Bürgeroper werden nicht vergessen, auch die jeweilige Finanzierung findet den ihr gebührenden Platz. Die Oper als Prestigeobjekt, die  Architektur der Opernhäuser, der Wandel von Sitz- und Kleiderordnung fehlen nicht, und nur zweimal runzelt man die Stirn, so beim Lesen von „Unterhaltsam erscheint die Oper auch durch die Musik“ und bei der Zuweisung von Mozarts Cherubino zu den Sopranen.

Die Operngattungen und deren Entstehung wie die Auflösung der Gattungen, die Entwicklung des Opernorchesters, der Begriff Partitur finden Beachtung, und vieles wird auch demjenigen neu sein, der sich bereits mit Oper beschäftigt hat, so der Unterschied zwischen Ouvertüre und Sinfonia, die Regelung des Opernwesens durch Napoleon im Jahre 1807.

Die beiden Verfasser stellen fest, dass Verdi und Wagner keine Antipoden sind, dass an der politischen Wirkung der Oper eher Zweifel anzumelden sind als an der auf das Gefühl des Zuhörers. Die Bedeutung von Kurt Weill für die Entwicklung der Gattung wird hervorgehoben, den Gründen für die Wirkung von Caruso und Callas nachgegangen und die einzelnen Stimmfächer dem Leser vorgestellt. Dass der Begriff „Regietheater“ heute „obsolet“ ist, mag man bezweifeln, weisen doch die Verfasser selbst auf die unrühmliche „Entführung aus dem Serail“ der Deutschen Oper Berlin in der vergangenen Spielzeit hin. Impresario und Agent, Claque und Buhrufer, selbst Tiere auf der Opernbühne finden Beachtung durch das Autorenpaar, und nach dem Lesen des Buches meint man nun wirklich fast alles über Oper zu wissen und nicht nur über die 101 wichtigsten Fragen unterrichtet worden zu sein. Wer nicht der Meinung ist, findet im Anhang weiterführende Literatur verzeichnet (H. Beck Verlag, 2017, ISBN 978 3 406 70667 7). Ingrid Wanja

Siegfried Wagner und Bayreuth

 

„Der Sohn dieses Vaters, der übrigens als Künstler zweifellos das Opfer einer pedantischen Theorie ist, der nicht nach seinem Eigenwert geschätzt, sondern nach einem vermeintlichen Naturgesetzt, demzufolge kein bedeutender Mann keinen bedeutenden Sohn haben darf, obwohl Johann Sebastian Bach zwei sehr bedeutende Söhne hatte und obwohl Siegfried Wagner ein tieferer und originellerer  Künstler ist, als viele, die heute sehr berühmt sind.“ Heute – das war 1912. Das Zitat stammt von Arnold Schönberg, entnommen dem Aufsatz „Parsifal und Urheberrecht“, in „Neue Zeitschrift für Musik“, Stuttgart und Leipzig vom 2. Mai 1912. Die Erlöschung der Schutzfrist für Wagners letztes Werk, Parsifal, stand unmittelbar bevor. Bayreuth war in heller Aufregung. Es würde einen symbolischen Alleinvertretungsanspruch verlieren, gleichzeitig aber auch neue Chance gewinnen, dem Werk Wagners fortan ausschließlich durch mustergültige Aufführungen in Konkurrenz mit Häusern in aller Welt zu dienen. Diese Aufgabe war dem Sohn zugefallen, der bereits 1908 offiziell die Leitung der Festspiele von seiner Mutter Cosima übernommen hatte. Seine Rolle als Sohn und Erbe war festgelegt. Er spielte sie offenbar gut. Nur blieb ihm zu wenig Zeit. Was vom Theaterleiter Siegfried geblieben ist, lässt sich immer noch nachhören – fast neunzig Jahre nach seinem frühen Tod.

Schluss der Tannhäuser-Inszenierung der Bayreuther Festspiele 1930/Wiki

Wie das? Anhand eines zuletzt bei NAXOS erschienen Albums mit großen Ausschnitten aus Tannhäuser, verteilt auf zwei prall gefüllten CDs. Gut zwei Drittel des Werkes sind dokumentiert, der Rest ging verloren. Um ein Haar hätten wir also die erste komplette Oper Richard Wagners als Tonaufnahme unter Studiobedingungen aus Bayreuth in Händen halten können. Gewiss wäre diesem Produkt dann größere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Seine Versehrtheit verbannt es in der Wahrnehmung zu unrecht auf hintere Plätze, macht es aber nicht minderwertig. So, wie die Venus von Milo keine Arme braucht, um als vollendet zu gelten, büßt auch diese Aufnahme fast nichts in ihrer Ausstrahlung ein, nur weil – um zwei Beispiele zu nennen – die Ansprache des Landgrafen oder der zweite Pilgerchor fehlen. Haben wir uns erst einmal hinziehen lassen, können wir uns den Rest im Kopf ersetzen. Oder aber es fällt selbst dem gut informierten Enthusiasten nicht auf Anhieb auf, dass es Lücken gibt. So rasant, so rauschhaft, ja betäubend klingt es aus den Lautsprechern. Siegfried Wagner hatte das Werk 1930 selbst in Szene gesetzt, im Gegensatz zu früher aber darauf verzichtet, auch am Pult zu walten. Tannhäuser war seit 1904 nicht mehr in Bayreuth gespielt worden. Als hätte er es geahnt, sollte diese Neuinszenierung sein Schwanengesang, sein Opus magnum als Regisseur werden. Er starb am 4. August 1930 mitten im Festspieltrubel den Herztod. Da war die Oper schon im Kasten. Anhand von Protokollen konnte der Musikwissenschaftler Peter P. Pachl inzwischen nachweisen, dass die Aufnahme bereits im Juli und nicht erst – wie bisher angenommen – im August entstand. Also ist fest davon auszugehen, dass Siegfried bei der Einspielung persönlich zugegen gewesen ist. Auf dem Cover der CD-Ausgabe wird sein Name nicht genannt. Dabei war er es, der Arturo Toscanini für die musikalische Leitung gewann. Ausgerechnet Toscanini, die Inkarnation des italienischen Maestro, der Puccinis Opern La Bohéme und Turandot aus der Taufe gehoben hatte. Mit ihm stand erstmals ein Ausländer vor dem Festspielorchester.

Toscanini tat Bayreuth gut, weil er internationales Flair und Glamour mitbrachte. Der schwere Gründerzeitmuff, den die Wagner-Witwe Cosima wie eine Schutzschicht gegen jedwede Veränderung über Bayreuth gebreitet hatte, verflog. Im Gefolge von Toscanini waren der sechsunddreißigjährige Ungar Sigismund Pilinszky als Tannhäuser, sein jüngerer Brüder Geza Belti-Pilinszky als Walther von der Vogelweide, der Norweger Ivar Andrésen als Landgraf, Ruth Jost-Arden, die einen Teil ihrer Ausbildung in New York absolviert hatte, als Venus und schließlich Maria Müller mit dem in Deutschland am häufigsten anzutreffenden Nachnamen als Elisabeth. Den Wolfram von Eschenbach gab Herbert Janssen – schwul wie sein Dienstherr Siegfried Wagner. Mit seinem sanften verinnerlichten Bariton wurde er zum Inbegriff dieser sympathischen Figur. Er exportierte das in Bayreuth erarbeitete Niveau bis an die Metropolitan Opera in New York, die bald zu seiner neuen künstlerischen Heimat wurde. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fühlte er sich als Homosexueller in Deutschland nicht mehr sicher. Erst mit Dietrich Fischer-Dieskau erwuchs Janssen als Wolfram eine ebenbürtige Konkurrenz.

Es wird in der Literatur immer wieder beklagt, dass nicht Toscanini selbst die Platteneinspielung für Columbia leitete, sondern Karl Elmendorff. Toscanini war vertraglich an die RCA Victor gebunden. Er durfte also nicht fremdgehen. Genau hingehört, ist dennoch viel Toscanini herauszuhören. Elmendorff wäre es nach menschlichem Ermessen gar nicht möglich gewesen, für die Dauer der Aufnahme alles aus dem Orchester herauszuspülen, was jener den Musikern eingepflanzt hatte. Und wer weiß, vielleicht hat ja der berühmte und temperamentvolle Italiener dem deutschen Kollegen, der den Jahren nach sein Sohn hätte sein können, von hinten über die Schulter geschaut? Obwohl es dafür keine ernst zu nehmenden Belege gibt, lässt das Ergebnis auf die virtuelle oder gar direkte Anwesenheit von Toscanini schließen. Jedenfalls offenbart dieser Tannhäuser einen neuen, unerhörten Drive. Beruhte der Bayreuther Stil seit Cosimas Wagners Zeiten auf der Deklamation, die sich von der Bedeutung des Wortes herleitete und mit der Zeit zu verselbständigen drohte, flossen nun Worte und Musik zu einer völlig neuen Einheit zusammen. Pilinszky nimmt mit seinem gefühlsbetonten leidenschaftlichen Gesang vorweg, was später erst Max Lorenz oder Ludwig Suthaus würden leisten können. Gespielt wurde 1930 die Fassung, in der Wagner sein Werk 1861 an die Pariser Oper brachte, allerdings in Deutsch. Der entscheidende Unterschied zur ursprünglichen Gestalt besteht darin, dass die Szene im Venusberg drastisch erweitert wurde. Venus und Tannhäuser haben viel mehr zu singen. Vorangestellt ist ein ausladendes Bacchanal in peitschender Tristan-Manier, in das die Ouvertüre überleitet. Tristan und Isolde war nämlich bereits vollendet, als sich Wagner an die Umarbeitung des Tannhäuser machte.

An der szenischen Ausgestaltung des Bacchanals sparte der Regisseur Siegfried Wagner nicht. Dem Vernehmen nach tobte er sich dabei regelrecht aus. Er wird den Brief seines Vaters an Mathilde Wesendonck vom 10. April 1860 aus dem Archiv hervorgeholt haben. Darin schilderte Wagner wortreich, wie er sich den Venusberg für Paris vorstellte. „Venus und Tannhäuser verweilen so, wie es ursprünglich angegeben ist: nur sind zu ihren Füßen die drei Grazien gelagert, anmutig verschlungen. Ein ganzer, engverwachsener Knäuel kindischer Glieder umgibt das Lager: das sind schlafende Amoretten, die, wie im kindischen Spiel, balgend übereinander gestürzt und eingeschlummert sind. Ringsum auf den Vorsprüngen der Grotte sind liebende Paare ruhig gelagert. Nur in der Mitte tanzen Nymphen, von Faunen geneckt, denen sie sich zu entziehen suchen. Diese Gruppe steigert ihre Bewegung: die Faunen werden ungestümer, die neckende Flucht der Nymphen fordert die Männer der gelagerten Paare zur Verteidigung auf. Eifersucht der verlassenen Frauen: wachsende Frechheit der Faunen. Tumult. Die Grazien erheben sich und schreiten ein, zur Anmut und Gemessenheit auffordernd: auch sie werden geneckt, aber die Faunen werden von den Jünglingen verjagt: die Grazien versöhnen die Paare. – Sirenen lassen sich hören. – Da hört man aus der Ferne Tumult. Die Faunen, auf Rache bedacht, haben die Bacchantinnen herbei gerufen. Brausend kommt die wilde Jagd daher, nachdem die Grazien sich wieder vor Venus gelagert. Der jauchzende Zug contact cialis bringt allerhand tierische Ungetüme mit sich: unter andern suchen sie einen schwarzen Widder aus, der sorgfältig untersucht wird, ob er keinen weißen Fleck habe: unter Jubel wird er nach einem Wasserfall geschleppt; ein Priester stößt ihn nieder und opfert ihn unter grauenvollen Gebärden. Plötzlich entsteigt, unter wildem Jauchzen der Menge, der … nordische Strömkarl dem Wasserstrudel mit seiner wunderbaren großen Geige. Der spielt nun zum Tanze auf; immer mehr mythologisches Gesindel wird herbeigezogen. Alle den Göttern heiligen Tiere. Endlich Centauren, die sich unter den Wütenden herumtummeln. Die Grazien sind verzagt, dem Taumel wehren zu sollen. Sie werfen sich voll Verzweiflung unter die Wütenden; vergebens! Sie blicken sich, auf Venus gerichtet, nach Hülfe um: mit einem Wink erweckt die da die Amoretten, welche nun einen ganzen Hagel von Pfeilen auf die Wütenden abschießen, mehr und immer mehr; die Köcher füllen sich immer wieder. Nun paart sich Alles deutlicher; die Verwundeten taumeln sich in die Arme: eine wütende Sehnsucht ergreift Alles. Die wild herumschwirrenden Pfeile haben selbst die Grazien getroffen. Sie bleiben ihrer nicht mehr mächtig. Faunen und Bacchantinnen gepaart stürmen fort: die Grazien werden von den Centauren auf ihren Rücken entführt; Alles taumelt nach dem Hintergrunde zu fort: die Paare lagern sich: die Amoretten sind, immer schießend, den Wilden nachgejagt. Eintretende Ermattung. Die Nebel senken sich. In immer weiterer Ferne hört man die Sirenen. Alles wird geborgen. Ruhe. – Endlich – – fährt Tannhäuser aus dem Träume auf. – So ungefähr.“

Arturo Toscanini und Siergfried Wagner/ dig-regensburg.de/ ISWG

Peter P. Pachl, der auch selbst als Regisseur wirkt, hat sich mit dem Bayreuther Tannhäuser von 1930 intensiv beschäftigt. Nicht nur das. Wir wüssten heute viel weniger über Siegfried Wagner, hätte es sich Pachl nicht zur Aufgabe gemacht, das vermeintliche Naturgesetzt, von dem Schönberg spricht, gegen viele Widerstände zu widerlegen und Siegfried postum in seine eigentlichen Rechte einzusetzen. Pachl schrieb die erste große Biographie mit dem Titel „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, begründete die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft, führte dessen Opern systematisch auf und ließ sie auf Tonträgern veröffentlichen. Eine geplante Aufnahme des Tannhäuser letzter Hand kam bisher leider nicht zustande. In einem Beitrag für das Onlinemagazin operalounge.de verweist Pachl darauf, dass Siegfried „für seine lange geplante, aus Kostengrünen jedoch mehrfach verschobene Inszenierung“ den ungarischen Tänzer und Choreographen Rudolf von Laban, „zu dieser Zeit der progressivste Vertreter eines neuen Ausdruckstanzes, mit seiner Truppe für die Choreographie“ des Bacchanals engagierte. „Siegfried Wagner überzeugte Laban davon, dass auch die Vorschriften Richard Wagners für die Pariser Fassung in moderner Weise umzusetzen seien.“ Zwei Wochen seiner Probenzeit habe Siegfried allein mit der Einstudierung von Labans Tanzensembles zugebracht. „Manche Zuschauer befremdete es, dass nach Tannhäusers Wiederkehr nicht nur Nymphen, sondern auch Jünglinge … in rotem, gespenstischem Lichte die Arme verlangend nach dem Tannhäuser streckten“, zitiert Pachl Siegfried Wagners Maler-Freund Franz Stassen. „Offenbar sah sich Siegfried Wagner auch selbst in der Gestalt des Tannhäuser, dem von der Gesellschaft ausgestoßenen Künstler, dessen Schatten wie der eines Gekreuzigten auf die Felsenwand fiel, als er im dritten Akt unter der Brücke wieder auftauchte.“ Fotos können die Stimmung der Szenerie nur bedingt wiedergeben. Die Musik, wie sie in der Plattenaufnahme erhalten ist, sagt alles. Deshalb ist dieser Tannhäuser eines der wichtigsten klingenden Dokumente aus Bayreuth. Bis heute.

Bereits 1928 gab es durch die Columbia einen sehr bemerkenswerten Versuch, mit Tristan und Isolde eine möglichst komplette Aufnahme anzustreben. Um das Werk auf zwanzig Platten unterzubringen, musste gestrichen werden. Diesen Eingriffen fielen vor allem die Soloszenen des Tristan im dritten Aufzug zum Opfer. Das ist im Nachhinein sehr schade, weil der Norweger Gunnar Graarud einen sehr guten Eindruck hinterließ. Am Pult wurde die Einspielung ebenfalls von Elmendorff betreut. Die Isolde sang Nanny Larsen-Todsen aus Schweden, die Brangäne Anny Helm, den Kurwenal Rudolf Bockelmann und den Marke Ivar Andrésen.

Set Svanholm als Siegfried in der gleichnamigen Oper an der Met/ archives.metoperafamily.org

Weitestgehend komplette sind noch zwei weitere Werke überliefert, bevor sich der Vorgang schloss, um erst 1951 wieder aufzugehen. Götterdämmerung von 1942 und Die Meistersinger von Nürnberg von 1943. Seit 1940 wurden so genannte Kriegsfestspiele veranstaltet. Den Kartenverkauf übernahm die NS-Organisation „Kraft durch Freude“. Im Publikum saßen Kriegsversehrte und treue Gefolgsleute des Naziregimes. Nicht wenige Soldaten dürften sich während des Heimaturlaubes von der Front bei freiem Eintritt im Festspielhaus zu Fransen gelangweilt haben. „Das auch noch“, soll ein Besucher gestöhnt haben, als er sich nach fünf Stunden „Meistersingern“ beim Verlassen des Festspielhauses in einem Platzregen wiederfand. Hitler selbst hatte die Festspiele, die unter seiner Schirmherrschaft standen, 1940 zum letzten Mal besucht. Zehn Jahre nach Siegfrieds Tod war der Tiefpunkt erreicht. Die Besetzungen blieben zwar prominent, reichten aber an das Niveau der dreißiger Jahre nicht mehr heran. Statt der ausgebooteten Frida Leider, sang nun Marta Fuchs die Brünnhilde, Set Svanholm alternierte mit Max Lorenz als Siegfried. Elmendorff stand am Pult, bei den Meistersingern nochmals Wilhelm Furtwängler. Sachs war diesmal Jaro Prohaska. Die Schlussansprache geriet in die Nähe einer Parteitagsrede, unangenehm in ihrer Robustheit und besserwisserischen Gnadenlosigkeit. Pogner wurde von Josef Greindl gesungen, der seine Kariere nach dem Krieg im Westen Berlins sehr erfolgreich fortsetzte, als Eva wirkte wieder die tüchtige Maria Müller mit. Max Lorenz gab den Walther von Solzing. Trotz seiner Homosexualität und seiner jüdischen Ehefrau überlebte er den Nationalsozialismus unbeschadet, weil er als Sängertyp nicht zu ersetzten war. Siegfried Wagners Witwe Winifred, seit dessen Tod die Festspielleiterin, hielt ihre schützende Hand über ihn. Die latente Bedrohung aber blieb. Lorenz war erpressbar. Jederzeit konnte die Falle zuschnappen. Im Meistersinger-Mitschnitt offenbaren sich Schwächen und Grenzen. Die Stimme ist brüchiger geworden und nervöser. Manche Töne konnte er nicht mehr halten, sie drohten ihm wegzurutschen. Er verließ sich zu sehr auf das gestalterische Werkzeug. Das unverkennbare metallische Timbre, das ihn in Eintracht mit dem Aussehen für die Helden Wagner prädestinierte, blieb. Seine besten Tage aber schienen unwiederbringlich dahin.

 

Lorenz (Foto oben/ aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988) war 1933 nach Bayreuth gekommen, als sich Hitler dort anschickte, sein „Hoftheater“ zu errichten, wie Thomas Mann lästerte. Eröffnet wurden die ersten Festspiele unter dem Hakenkreuz mit den Meistersingern, die elf Jahre später zum Kehraus wurden. Lorenz soll bei seinem Debüt als Stolzing geglänzt haben. Ausdrücklich hervorgehoben wurden in Zeitungsberichten „ritterliche Eigenschaften der Erscheinung und des Spiels“. Es sei ihm aber schwer gefallen, das Lyrische der Partie zu erfassen. Das ist gut erkannt. Stimmlich war Lorenz nie zart besaitet, obwohl er sich im Privatleben einer Art Fistelstimme bediente, die im schroffen Gegensatz zur raumgreifenden Statur stand. Gemeinsam mit der Leider feierte er im Ring des Nibelungen seine größten Erfolge. Zeitzeugen schwören darauf, Wagner nie besser gehört zu haben. Eine Ahnung davon vermittelt eine kurze Sequenz aus einem Bayreuth-Film von 1934. In den rasanten Kulissen von Emil Preetorius fliegt die Leider als Brünnhilde im Prolog der Götterdämmerung auf den etwas statisch hingewuchteten Siegfried von Lorenz zu. Sie reißt die Arme in die Höhe. Eine Geste, die niemandem zur Zierde gereicht. In ihrer ungelenken, nahezu hausbackenen Bewegung sind die Bilder für heutige Augen verstörend. Der Gesang aber triumphiert über die Szene. Ihren von Natur aus schlanken Sopran vermochte die Leider wie in einem Parabolspiegel zu fokussieren. Dabei entfaltete sich das stimmliche Volumen in glanzvoller Pracht mit etwas knapper Höhe. Ihre zahlreichen Studioaufnahmen von Szenen Wagners kommen in ihrer Wirkung an diesen wenigen Minuten nicht heran. Es gehört zu den großen Sünden der Musikindustrie, dass die Leider und Lorenz nicht gemeinsam in einer geschlossenen Szene überliefert sind. Dabei haben sie das Siegfried-Finale eingespielt. In den Annalen des Reichsrundfunks Berlin wird die Aufnahme geführt. Doch die originalen Platten sind spurlos verschwunden. Hartnäckig hält sich das Gerücht, sie seien Hitler zum Geschenk gemacht und bei der Zerstörung der Reichskanzlei vernichtet worden. Der dänische Heldentenor Lauritz Melchior, den der weitsichtige Manager Siegfried Wagner erstmals 1924 als Siegmund für Bayreuth gewann, dürfte rein stimmlich betrachtet, die elegantere Ergänzung zur Leider gewesen sein. Bei den Festspielen sind sie allerdings nicht gemeinsam aufgetreten. Als die Leider kam, hatte Melchior Bayreuth bereits den Rücken gekehrt. Während Lorenz seinen gewaltigen Tenor mitunter etwas hart und robust einsetzt, klingt Melchior weicher und lyrischer, um nicht zu sagen gefälliger. In seinem Standardwerk „Die großen Sänger“ spricht der renommierte Stimmenexperte Jürgen Kesting in Bezug auf Melchior von „exemplarischer Leichtigkeit“. Davon kann bei Lorenz keine Rede sein. Er konnte sich aber – anders als sein Kollege – in die Rollen regelrecht hineinbohren. Als wühlte er darin, um auch den letzten Rest an Wahrhaftigkeit heraufzubefördern.

 

Frida Leider als Brünnhilde und Max Lorenz als Siegfried in der Bayreuther „Götterdämmerung“ von 1934/ Screenshot/ youtube

Frida Leider und Max Lorenz verband eine Schicksalsgemeinschaft, die weit über ihre künstlerische Zusammenarbeit hinausging. Die Leider war mit einem Juden, dem namhaften Geiger Rudolf Deman, verheiratet, Lorenz mit einer Jüdin. Hartnäckig halten sich Vermutungen, dass auch die Leider dem eigenen Geschlecht zuneigte. In ihrem 2016 erschienen Buch „Frida Leider – Sängerin im Zwiespalt ihrer Zeit“ geht Eva Rieger darauf nicht ein. Die Beziehung zur engen Freundin Hilde Bahl, mit der die Sängerin nach Demans Tod 1960 viele Jahre in Berlin in einer Wohnung zusammenlebte, wird aus der Biographie herausgehalten. In bemerkenswerter Offenheit hingegen wird ein Detail aus Demans Lebenslauf ausgebreitet. Als er 29 Jahre alt war, „verliebte sich Prinz Max von Baden, der letzte Kanzler des Kaisers, in den gutaussehenden Geiger“. Es wird ein Brief des Prinzen an einen Freund zitiert: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich empfunden habe in dieser Sache und noch empfinde. Ich wandelte fast wie berauscht umher, und lebe hochgestimmt.“ Seine Frau „verfolge diese Vorgänge mit rührendem Verständnis und Interesse“, schreibt der Prinz weiter. Sie habe „vermutlich aus Ahnungslosigkeit die Einladung Demans“ auf den adeligen Landsitz in Salem, wo dieser mehr als ein Vierteljahr verbracht haben muss, gebilligt, mutmaßt die Buchautorin Rieger. Kann und will sie sich nicht vorstellen, dass Frauen die Obsessionen und intimen Interessen ihrer Männer verständnisvoll begleiten können? Mit Siegfried und Winifred Wagner ist ein solches Paar auch in ihrem Buch sehr präsent, ohne dass auf diesen Aspekt eingegangen wird. Kurz und gut. Die Beziehung des jungen Deman zum Prinzen endete „nach vier Monaten etwas abrupt… Vermutlich benötigte er einige Zeit, um den homosexuellen Charakter der Zuneigung zu erkennen, und war dann abgereist“, heißt es bei Rieger. Es kann aber auch ganz anders gewesen sein.

 

Die Festivalgeschichte ist immer auch die Geschichte ihres klingenden Vermächtnisses. Seit es die technische Entwicklung hergibt, wurden Versuche unternommen, den Bayreuther Gesangsstil für die Ewigkeit zu konservieren. Sänger, die von Anfang an dabei waren, die also Wagner selbst noch gehört hat, sind auf Tonträgern präsent. Einen komplexen Zugang ermöglicht die Edition „The Cosima Era – The Early Bayreuth Festival Singers 1876-1906“ beim Label Panclassics. In akribischer Kleinarbeit haben der Wagnerspezialist Michael Seil aus Heilbronn und der Berliner Klangrestaurator Christian Zwarg den weltweit verfügbaren Bestand an Schelllackplatten zusammengetragen und auf zwölf CDs überspielt. So vollständig wie nur möglich wird die Besetzung der Werke Richard Wagners bis zum Ende des nachhaltigen Wirkens seiner Witwe Cosima rekonstruiert. Im Zentrum stehen die legendären Aufnahmen der Gramophone and Typewriter Company (G&T), die 1904 in einem Bayreuther Hotel mit dem Ziel entstanden sind, Festspielsänger möglichst authentisch zu vermarkten. Liegen von einem der Sänger oder einer der Sängerin keine Aufnahmen von in Bayreuth dargestellten Rollen im genannten Zeitraum vor, wird auf spätere Einspielungen beziehungsweise andere Titel, die nicht selten auch weit nach 1906 entstanden, zurückgegriffen. Im Idealfalle aber – und das ist zum Glück ziemlich häufig der Fall – hören wir in etwa das, was Bayreuth-Besucher schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vernommen haben – haben könnten. Was zu hören ist, kommt nicht von der Bühne. Es kommt aus dem Trichter. Statt der hundert Musiker im unsichtbaren mythischen Abgrund des Festspielhauses haben sich ein paar Geiger und allenfalls ein Trompeter begleitend in einen winzigen Verschlag gezwängt. Manchmal muss nur ein Klavier reichen. So klingt es auch. Es braucht gute Ohren, eine gehörige Portion Erfahrung im Umgang mit solchem Material und viel Phantasie, um die 93 Sänger und vier Dirigenten in mehr als 300 Szenen angemessen und gerecht auf sich wirken u lassen.

Cosima Wagner und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Eröffnet wird die fulminante Dokumentation – und damit zurück zu Siegfried Wagner – mit der von ihm dirigierten Ouvertüre zum Fliegenden Holländer aus dem Jahre 1927. Damit verstoßen die Herausgeber gegen ihr eigenes Editionsprinzip. Siegfried hatte diese Oper nämlich erstmal 1914 geleitet, also weit nach der Cosima-Ära. Ihn in der Sammlung dennoch zu berücksichtigen, darf als großzügige Geste und Reverenz gedeutet werden. Seine Qualitäten als Dirigent gelten als unstrittig. Weltweit feierte er Erfolge. Dabei umgab ihn die Aura, der einzige Sohn Richard Wagners zu sein. Wo er auch hinkam, wurde er zunächst als solcher wahrgenommen. Aus der Bewertung seiner Leistungen lässt sich diese Tatsache nicht heraushalten. In seiner Biographie zitiert Peter P. Pachl den Dirigenten Hans Richter, der die erste geschlossene Aufführung des Ring des Nibelungen 1876 in Bayreuth geleitet hatte. Er hörte Siegfried 1894 in London: „Wir sind allesamt alte Knasterbärte gegen diesen jungen Mann“, der „nicht nur vollkommenes Verständnis für das Poetische an der Musik seines Vaters“ besitze. Richter erkannte bei Siegfried eine „instinktive Zartheit und kraftvolle Geduld, männlich im besten Sinne des Wortes wozu noch eine im besten Sinne weibliche Empfindsamkeit des Gefühls kommt“. Daran sind keine Zweifel angebracht. Richter war ein lauterer Mann und als bedeutender Dirigent sicher in seinem Urteil. Er wusste, wovon er redet. In Bayreuth ist Siegfried erstmals 1896 als Dirigent in Erscheinung getreten, indem er sich in die musikalische Leitung des Ring mit Richter und Felix Mottl teilte. Damals erntete er sicher nicht nur Zustimmung. Gustav Mahler aber, der Siegfrieds Aufführung beiwohnte, erkannt das große Talent auf Anhieb. Pachl zitiert einen Brief des Komponisten und Dirigenten vom Ende Oktober an Mutter Cosima, in dem er sein „Erstaunen“ und seine „freudige Bewunderung“ ausdrückt, dass es dem Sohne möglich gewesen sei, ohne alle „Routine“ seine Aufgabe zu lösen. Dabei müsse wirklich eine Vereinigung von „Begabung“ und „Naturell“ zusammenwirken. Eigene Ansprüche an seine Dirigententätigkeit fasst Siegfried in einem Gespräch mit den neuen „Wiener Journal“ vom 20. Januar 1911 so zusammen: „Eine starke Persönlichkeit kann in der Kunst nur von Nutzen sein, aber stets muss es ihr bewusst bleiben, dass sie einem Ganzen zu dienen hat, dass sie des Werkes wegen da ist. Ein übertriebenes Hineingeheimnissen, Interpretieren ist im Interesse einer reinen unverfälschten Wirkung kaum wünschenswert.“ Genau so klingen seine Aufnahmen von Werken des Vaters, nämlich klar, präzise, ruhig und unaufgeregt. Er wählt ein Tempo, das es ihm erlaubt, Themen und Strukturen deutlich hervortreten zu lassen. Überliefert sind vierzehn einzelnen Titel, die zwischen 1924 und 1929 produziert wurden. Darunter sind orchestrale Potpourris aus den Musikdramen. Den technischen Möglichkeiten der Zeit entsprechend, sollten auf diese Weise zusammenhängende Eindrücke vermittelt werden. Als besonders aussagekräftig für Siegfried Dirigierstils erweist sich das Finale des Rheingold. Er verliert sich nicht in der musikalischen Pracht, die dieser Musik innewohnt, lässt sich nicht selbst hinreißen oder überwältigen. Vielmehr dürfte es ihm wichtig gewesen sein, alle Details deutlich und nahezu gleichberechtigt zu behandeln. Nichts soll verloren gehen. Die letzten Takte lässt er nicht im vorherrschenden Walhall-Blech untergehen. Er holt die melodiöse und weiche Regenbogenmusik mit sicherer Hand aus dem Hintergrund hervor und verbindet beide Motive geschickt zu etwas Drittem, nämlich diesem einzigartigen Schluss. Mit einem zeitlichen Abstand von mehr als neunzig Jahren offenbaren diese Aufnahmen eine erstaunliche, fast irritierende Hörerfahrung. Was Karajan, Böhm, Solti, Knappertsbusch, Furtwängler oder eben auch Toscanini im Laufe der Zeit Wagners Musik durch individuelle Deutung und Würze würden beigemischt haben, ist in dieser Interpretation noch gar nicht vorhanden. Es scheint, als setzte Siegfried die Musik des Vaters in den Originalzustand zurück. Insofern ist er weder konservativ noch fortschrittlich. Er ist Sohn und Erbe, und als der Sachwalter am Pult gewiss ein Unikat.

 

Mit Beginn der Nachkriegsfestspiele 1951 wurde in Bayreuth systemisch mitgeschnitten. Kein anderes Festival ist besser und umfangreicher dokumentiert. Aus London war der mächtige EMI-Produktionschef Walter Legge mit seinem Stab angereist, um die symbolträchtigen Meistersinger für die Platte aufzunehmen. Elisabeth Schwarzkopf, die er zwei Jahre später heiratete, sang die Eva. Aus mehreren Vorstellungen wurde die vollständige Oper zusammengefügt und entsprechend bearbeitet. Dabei ging viel Live-Atmosphäre verloren. Neben der EMI stiegen Teldec, Philips und Deutsche Grammophon sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Mark kam, erwies sich dieses Unterfangen – ähnlich dem Tannhäuser von 1930 – als eines der spektakulärsten Ereignisse der Veröffentlichungsgeschichte.

Martha Mödl als Kundry in Köln 1949/ 6yes.net

Als der eigentliche Star dürfte sechs Jahre nach Kriegsende Martha Mödl als Kundry wahrgenommen worden sein. Mit ihr hielt ein völlig neuer Typ, der in kein Schema und traditionelles Stimmenfach zu passen schien, Einzug im Festspielhaus. Sie war wie ein Medium, erfasste intuitiv jede dramatische Situation, in die sie sich gestellt fand – und sang drauf los. Sie sang mit wenig Technik und ohne Berechnung, durch und durch Naturbegabung und Naturereignis. Ihre Ausbildung war kurz. Bedingt durch die Kriegswirren blieb gar keine Zeit der Reife unter der Aufsicht erfahrener Kollegen und Dirigenten in einem fest gefügten Ensemble. Sie wurde gebraucht und ergriff ihre Chance. Karrieren wie ihre spiegeln die Nachkriegszeit mit ihrem Aufbruchwillen deutlich wider. Sie sind heute nicht mehr denkbar. Die Mödl war unbelastet, nicht verstrickt. Deshalb kam sie gut an. Ihr wurden die Rollen abgenommen. Auch wenn Töne daneben gingen. Sie setzte alles auf eine Karte, sang wie um ihr Leben und bezahlte mit dem frühen Verlust ihres hochdramatischen Soprans. Darin durchaus Lorenz ähnlich, auf den sie 1952 und 1954 bei dessen Rückkehr nach Bayreuth traf. Als Zwillingspaar Sieglinde und Siegmund in der Walküre 1954 blieben sie sich total fremd. Ja, sie singen in dem überlieferten Mitschnitt aneinander vorbei. Für Lorenz, diesen legendären Siegmund, kam das Comeback hörbar zu spät, die Mödl blieb der Rolle, die sie viel zu eruptiv und mächtig angeht, die innige und mädchenhafte Seite schuldig. Vielleicht hätte ihr ein anderer Partner besser getan als der alternde Lorenz, der es einfach noch einmal wissen wollte – und praktisch scheiterte. Ein Schatten seiner selbst. Er hätte sich das nicht antun sollen. Fiel er seiner Eitelkeit zum Opfer? Die Aufnahme gleicht einem Museumsstück, das sich allenfalls hartgesottene Fans beider Sänger ins Regal stellen. Und warum kamen nun Lorenz und die Mödl nicht zusammen? Stimmliche Gründe allein dürften nicht den Ausschlag gegeben haben. Beide Ausnahmeerscheinungen waren nicht kompatibel, weil Lorenz mit seinem Stil in Bayreuth die Vergangenheit verkörperte, die Mödl aber die Zukunft.

 

Winifred und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Als neues Leitungsteam wurden Wieland und Wolfgang Wagner fortan stets als Enkel Richard Wagners wahrgenommen – und nicht als Söhne von Siegfried und Winifred. Dieses genealogische Zerrbild klammerte mit den Eltern auch jene Zeit aus, in der sich Bayreuth den Nationalsozialisten auslieferte. Siegfried hatte deren Machergreifung nicht mehr erlebt. Sein Verhältnis zu Hitler, der bereits seit Mitte der zwanziger Jahre Gast in Wahnfried war, wird als distanziert beschrieben. Hitlers enger Vertrauter, der spätere Propagandaminister Joseph Goebbels, nannte Winifred in seinem Tagebuch am 8. Mai 1926 ein „rassiges Weib“ und vermerkt ausdrücklich, dass sie ihm ihr Leid geklagt habe. Siegfried sei so schlapp. Dazu Goebbels: „Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen.“ Derlei Rückschau war 1951 in Bayreuth nicht gewollt. „Hier fragt sich’s nach der Kunst allein“, singt Hans Sachs in den Meistersingern von Nürnberg. Dabei sollte es für lange Zeit bleiben. Im Rückblick war das für die Herausbildung des musikalischen Niveaus von Neu-Bayreuth so schlecht nicht. Nie klang Wagner so spannend und unkonventionell wie damals. Mit dem Werkstattbegriff wurde ein alter Gedanke belebt, der schon auf Friedrich Nietzsche zurückgehen soll. Für eine freie Bühne, die „Luft haben“ müsse, hatte schon Emil Preetorius in den dreißiger Jahren Anstöße gegeben. Besetzungen wurden – auch das ein unausgesprochener Rückgriff auf Siegfried – wieder internationaler. Sänger und Dirigenten empfanden es als eine Ehre, in Bayreuth für vergleichweise geringe Gagen auftreten zu dürfen. Aus dem Vollen konnten die Festspielleiter schöpfen. Sie probierten und verwarfen. Dazu gehört, dass sich die Brünnhilde von heute morgen mit der undankbaren Gutrune abfinden musste. Es war die Zeit, in der jeder einzelnen Produktion bis hinein in die kleinsten Rollen ein unverwechselbarer Stempel aufgedrückt wurde. Dirigenten kamen stärker als bisher an die Macht und entlockten den Partituren Farben und Feinheiten, die bisher noch niemand vernommen hatte. Helden sangen kleiner und wurden dadurch menschlicher. Die Aufführung immer der gleichen zehn Werke erwies sich als Herausforderung. Neu war die Übertragung aller Premieren im Rundfunk. Das Publikum wuchs in die Millionen.

 

Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet (vor allem als Pionierin die Melodram). Sie brachten die Mitschnitte vieler BR-Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus und wurden dafür von Sammlern geliebt und von der Festspielleitung schief angesehen. Bis dem durch die Copyright-Anwendungen ein Riegel vorgeschoben wurde. Die Firma Orfeo – jetzt Sachwalter des Bayreuther Klangzaubers – ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen. Mit dem Tristan von 1952, der vorher ebenfalls erstmals auf dem grauen Markt die Runde gemacht hatte, eröffneten sich 2003 völlig neue Möglichkeiten. Im Grußwort der Box deutet Wolfgang Wagner an, dass dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder dafür zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Plötzlich war zumindest klangtechnisch alles in den Schatten gestellt, was bis dahin als Mitschnitt kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte das Bayreuth der Neuzeit endlich eins zu eins nachgehört werden – und nicht nur in frisierten Zusammenschnitten. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts kann ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jener Opern, die dort aufgeführt werden, einige bereits mehrfach aus unterschiedlichen Jahrgängen. Niemand wüsste mehr, was es mit dem Mythos Bayreuth denn nun eigentlich auf sich hat, würde er sich nicht in den Aufnahmen klingend offenbaren. Siegfried Wagners Tannhäuser-Produktion war die Initialzündung. Rüdiger Winter

 

Mostly modern

 

Samuel Barbers Knoxville: Summer of 1915 liegt in Aufnahmen mit prominenten amerikanischen Diven vor – so Elenor Steber, die die Komposition 1948 unter Serge Koussevitzky aus der Taufe hob, Eileen Farrell und Leontyne Price. Zu ihnen gesellt sich nun Renée Fleming, die sie an den Anfang ihrer neuen CD mit dem Titel „Distant Light“ stellt (Decca 4830415). Die Sopranistin hatte schon in der Frühzeit ihrer Karriere eine starke Affinität zu zeitgenössischer Musik, sang an der Met in Coriglianos  The Ghosts of Versailles, hob in San Francisco André Previns A Streetcar Named Desire aus der Taufe, spielte mehrere CDs mit Songs von Jake Heggie, Brad Mehldau, David Kahne u. a. ein. Barbers Komposition mit ihrer lyrischen Poesie auf einen Text von James Agee liegt ihr perfekt in der Stimme, die sich schwelgerisch und aufblühend erhebt, in der Höhe glänzt und in raffinierten Valeurs schimmert. Das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra begleitet unter Sakaro Oramo sehr atmosphärisch.

Es folgt ein Werk des 1954 geborenen schwedischen Komponisten Anders Hillborg mit dem Titel The Strand Settings. Die Idee dafür geht zurück bis ins Jahr 2008, als die Sopranistin mit dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra konzertierte. In den Gedichten des Amerikaners Mark Strand fand man passende Vorlagen für diesen vierteiligen Zyklus, der 2014 in der New Yorker Carnegie Hall uraufgeführt wurde. Es sind Episoden, die emotionale Zustände beschreiben – Freude, Sehnsucht, Nostalgie… Das Orchester setzt das sphärische Flirren der Einleitung zum ersten Titel, „Black Sea“ malerisch um, danach setzt die Stimme der Solistin in stockendem Duktus, fast verhalten ängstlich ein, schwingt sich aber in den folgenden drei „Dark Harbour“-Szenen zu betörendem Höhenglanz auf, immer wieder unterbrochen von nervösen, eruptiven Einschüben, in denen der Sopranistin auch in der tiefen Lage starke Momente gelingen.

Sehr eigenwillig ist die Tonsprache der 1965 geborenen isländischen Sängerin und Komponistin Björk Gudmundsdóttir, deren drei Gesänge „Virus“,Jóga“ und „All Is Full of Love“ das Programm der CD beschließen. Fleming wählte sie aus einer Vielzahl von Songs der Komponistin aus und entschied sich für solche, welche sie thematisch und musikalisch am meisten ansprachen. Das Klangspektrum reicht von Pop- und Jazz-Einflüssen bis zum Film-Sound. Renée Fleming und das Royal Philharmonic Orchestra werden diesen höchst unterschiedlichen Vorgaben und Ansprüchen beeindruckend gerecht. Im vorletzten Stück findet sich der Begriff „Emotional Landscapes“, der die Musik dieser CD treffend umschreibt, und der Titel des letzten , „All Is Full of Love“, dürfte als Botschaft der Interpreten verstanden werden. Bernd Hoppe

Best of….

 

Bereits der erste Blick auf die Trackliste von Christiane Kargs neuer CD Portrait lässt stutzen: Amoretti und Heimliche Aufforderung, das hatte man doch in Zusammenhang mit ihr bereits einmal wahrgenommen. Und richtig, im Booklet klärt die Sängerin den Leser darüber auf, dass es sich um die Titel  von „the best of“ dreier bereits veröffentlichter CDs handelt, neben den beiden bereits genannten noch die mit dem Titel Verwandlung. Die nochmalige Veröffentlichung begründet sie damit, dass sie  die Hörer auf „kommende Vorhaben einstimmen“ wolle, zudem gibt sie sich rücksichtsvoll mit der Bemerkung, sie wolle „fordern ohne zu überfordern“ und meint mit den einzelnen Nummern  „Ergebnisse des Stöberns in Bibliotheken und Archiven“ vorzulegen, was man bei Titeln wie äußerst bekannten Liedern von Strauss, Schubert und Schumann bezweifeln mag, was auch bei Glucks Iphigenie kaum zutrifft, eher schon  den hier anzutreffenden Werken Grétrys und Schrekers gerecht wird.

Es beginnt mit Clara Schumanns Er ist gekommen, das eine helle Mädchenstimme hören lässt, die sehr expressiv, sehr kontrastreich eingesetzt wird. Für Richard Strauss‘ Heimliche Aufforderung hat der Sopran den angemessenen Silberglanz, setzt auch hier auf einen ausgeprägten Gegensatz zwischen „heimlich“ und „strahlend“, zwischen leise Verklingendem und Rauschhaftem. In des Komponisten Morgen setzt die Stimme wie aus dem Schlaf erwachend ein, mit zartestem Beginn, wenn auch leicht manieriert. Strauss gibt der Sängerin mit Befreit auch die Möglichkeit, ein sehr schönes Piano zu zelebrieren und einen ebensolchen Schwellton. Er ist noch einmal mit Allerseelen vertreten, in dem sich eine schön ausgekostete elegische Stimmung mit außergewöhnlicher Dramatik abwechselt. Die Lieder sind alle gut bekannt, doch die Texte hätte man, da die Diktion, bei Strauss nicht unbedingt den Sängern anzulasten, nicht durchweg die beste ist, gern im Booklet gehabt, mehr noch bei den fremdsprachigen und dazu noch tatsächlich unbekannten Stücken.

Gluck ist zweifach vertreten. Als Iphigenie in Aulis lässt Christiane Karg mit keuschem, anmutigem Klang die Stimme rein und ruhig fließen, in Sacre Piante wird sie angenehm instrumental geführt. Französisch wird es mit Grétrys Arie aus Silvain, in der der Sopran sicher Intervalle meistert, eine gute Mittellage und eine große Beweglichkeit hören lässt und ungemein deliziös klingt.

Jeweils einmal sind Schubert, Schumann, Wolf und Schreker mit Liedern vertreten, wobei Herbst agogikreich und damit sehr eindringlich interpretiert wird, Schumanns Frühligsnacht ausgesprochen emphatisch dargeboten und Wolfs Christblume mit zarter Empfindsamkeit bedacht wird.

Eine ideale Mozartstimme offenbart sich in Amoretti aus La finta semplice, zu der auch das aparte „Etwas“ des Timbres und der verspielt unangestrengte Ton sehr gut passen. Ein besonders reizvolles Stück ist Mendelssohns  Ah, ritorna età dell’oro, in dem  der Sopran und die Violine einander sehr schön ergänzen und das perfekte Legato besonders auffällt.

Die Begleiter sind Malcolm Martineau für Strauss, Burkhard Kehring für die romantischen Lieder und für die Arien das Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen (Berlin Classics 0300788BC). Ingrid Wanja

Eine Legende

 

Leontyne Price ist am 10. Februar 90 geworden! Unglaublich, haben doch ihre viele Schallplatten-Aufnahmen bei RCA (nun bei SONY) mich und viele, viele andere Fans über mein ganzes Leben begleitet. Sie war die große, dunkle und leuchtende Stimme der Met in Verdi und Puccini, sie war die große Ikone der Schwarzen Amerikas, sie war jahrzehntelang der Inbegriff amerikanischen Operngesangs – nie gab es einen Skandal, keine Gerüchte, nie etwas Negatives. Sie wurde beispiellos von ihrem Publikum namentlich an der Met geliebt. Ihr Verdi-Requiem aus Salzburg ebenso wie ihr unglaublicher Trovatore unter Karajan wird in alle Ewigkeit zu den Kostbarkeiten der Musik-Dokumentationen zahlen. Auch späte Auftritte wie die mit Marilyn Horne erzielten ausverkaufte Säle. Dann wurde es ruhig um sie, nur zum Benefizkonzert für die Oper von 9/11 trat sie noch einmal auf. Nun ist sie Neunzig! Eine Legende, eine feste Größe in der Erinnerung. Wenn Oper einen Namen hat, dann sicher auch den von Leontyne Price. Happy Birthday!!!

 

Leontyne Price/ WNCA

Dazu zur Erinnerung noch einen Ausszug aus Wikipedia: Mary Violet Leontyne Price (* 10. Februar 1927 in Laurel, Mississippi) ist eine US-amerikanische Konzert- und Opernsängerin (Sopran). Sie war die erste „schwarze Diva“ im internationalen Konzert- und Opernbetrieb. Geboren als Tochter eines Zimmermanns und einer Hebamme in den Südstaaten der USA begann die musikalische Ausbildung von Leontyne Price sehr früh. Sie erhielt Klavierunterricht und sang in der St. Paul Methodist Church in Laurel. Später studierte sie Musikpädagogik am College of Educational and Industrial Arts in Wilberforce. Nach dem Abschluss ging sie nach New York und wurde an der berühmtem Juilliard School of Music in New York angenommen, wo sie bei Florence Ward Kimball Gesang studierte. Ihre erste Opernrolle war die Mistress Ford in Verdis Falstaff in einer Hochschulproduktion.

Später folgte ein Engagement in einer Broadway-Produktion von Porgy and Bess, mit der sie ab 1952 durch die ganze Welt tourte. Ihr Partner William Warfield († 26. August 2002), der den Porgy sang, wurde auch kurzzeitig ihr Ehemann. Sie trennten sich bereits 1967 wieder, die Ehe wurde aber erst 1973 geschieden.

In den 1950er Jahren hatte Leontyne Price eine Reihe von Auftritten auf Opern- und Konzertbühnen und im Fernsehen in den USA. Ihr internationaler Durchbruch gelang in Europa: 1958 debütierte sie als Aida an der Wiener Staatsoper,[1] ein Jahr später am Covent Garden London. Als erste Schwarze sang sie am 21. Mai 1960 an der Mailänder Scala eine Hauptrolle (Aida) und im selben Jahr auch bei den Salzburger Festspielen. Eine langjährige Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan begann.

1961 feierte sie an der New Yorker Metropolitan Opera mit ihrem Debüt als Leonore in Verdis Il trovatore einen großen Erfolg und erhielt 42 Minuten Stehapplaus. Von da an zählte sie über 20 Jahre lang zu den wichtigsten Sängerinnen des Hauses. Am bekanntesten wurde ihre Interpretation der Aida, mit der sie 1985 auch ihren Abschied von der Bühne feierte.

Das Repertoire der Price umfasste außer den großen Mozart- und Verdi-Rollen auch zahlreiche Konzertpartien. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt sie 15 Grammy Awards für ihre Schallplatteneinspielungen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 trat Leontyne Price in der Carnegie Hall ein letztes Mal in einem Benefizkonzert auf. Sie lebt im New Yorker Greenwich Village. 1962 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Nicolai Gedda

 

Erst spät habe ich Nicolai Gedda für mich entdeckt. Irgendwie schien er mir immer ein wenig anonym im Ausdruck auf den (zu) vielen Electrola-Aufnahmen, wie seine Kollegin Anneliese Rothenberger zu routiniert und zu beliebig  trotz der unbestreitbaren unverwüstlichen Technik einer makellos und  bestsitzenden hellen Tenorstimme. Zu sehr hatten ihn die Electrola und die EMI vermarktet, namentlich in den späten Operetten- und Spielopern-Aufnahmen. Aber als ich dann die ersten Einspielungen bei Columbia/EMI hörte, die Ackermann-Operetten, dann die ersten Aufnahmen bei der EMI/Columbia wieder herausgegeben auf Nimbus, da hatte ich Tränen in den Augen. So sehr rührte mich der süße Ton, die unbeschreiblich schöne Stimme Nicolai Geddas. Eine Stimme, die mir bis ins Herz drang in ihrer Melancholie, ihrem Schmerz und ihrer unmittelbaren Mitteilung. Er starb am 8. Januar 2017 im Alter von 92 Jahren in der Schweiz.

 

Nicolai Gedda: Boxcover des „Zigeunerbarons“ bei Emi/Warner/ Fayer Wien

Rüdiger Winter schreibt in operalounge.de in seiner Betrachtung der jüngsten (Electrola-) Operetten-Edition nun bei Warner: (…) Es begann damit, dass es sich der allmächtige EMI-Produzent Walter Legge Anfang der 1950er Jahre in den Kopf gesetzt hatte, mustergültige Aufnahmen von Operetten vorzulegen. Mit dem noch nicht dreißigjährigen Gedda hatte Legge dafür einen idealen Partner für Elisabeth Schwarzkopf, die er 1953 geheiratet hatte, gefunden. Sie war genau zehn Jahre älter und nach eigenem Bekunden sofort genau so hingerissen von Geddas Stimme wie Legge. Jugend traf auf Erfahrung und Ruhm. Das passte. Denn die Schwarzkopf hatte zu dieser Zeit schon einen Namen, während Gedda seine ersten Erfahrungen auf der Opernbühne vornehmlich in Stockholm gesammelt hatte, wo er eine lokale Erscheinung gewesen ist. Mir fällt eine Anekdote ein. Legge soll Gedda zufällig im Radio gehört haben. Er griff zum Telefon, um seine Frau zu bitten, ebenfalls das Apparat einzuschalten. Die verbat sich die Störung mit dem Hinweis daraus, dass sie gerade eine wunderbare Stimme im Radio höre – Gedda! Ein Resümee dieser fruchtbaren Zusammenarbeit zog der Sänger 1988 in einem Interview mit der Zeitschrift Opernwelt: „Alle meine Aufnahmen bei der EMI halte ich für wertvoll. Weil sie meist von Walter Legge produziert worden sind. Er wird in die Schallplattengeschichte als einer der größten Produzenten eingehen. Wenn ich zum Beispiel an die Operetten denke, die ich mit ihm aufgenommen habe, sie waren schon eine Klasse für sich. Selbst jetzt kann man sie noch anhören und Freude an ihnen finden.

Nicolai Gedda: „La Sonnambula mit Joan Sutherland an der Met/ Foto Melancon/ Met Opera Archives

Legge hat Gedda entdeckt und gefördert, wofür dieser im Gegensatz zu anderen immer dankbar gewesen ist. Das nimmt mich auch für Gedda ein. 1953 wurden in der Londoner Kingsway Hall unter Otto Ackermann zunächst Das Land des Lächelns und Die lustige Witwe eingespielt, im Jahr darauf mit dem selben Dirigenten Wiener BlutDer Zigeunerbaron und Eine Nacht in Venedig. Das rasante Finale dieser frühen Operetten-Serie bildete Die Fledermaus mit Herbert von Karajan am Pult. Die Fassungen folgen meistens nicht dem Original. Aufgenommen wurde in Mono. Das schreckt heutzutage Hörer oft ab. Mich nicht, denn ich habe nicht die Wahl. In diesen Aufnahmen triumphiert die Kunst über die Technik. In Wien hatte Clemens Krauss schon 1950 mit Fledermaus und Zigeunerbaron einen Operetten-Neuanfang nach dem Krieg für die Decca versucht, der allerdings wesentlich konservativer ausgefallen ist als das, was Legge mit Ackermann, Karajan und seinen Solisten glückte. Die verlassen ausgefahrene Gleise. Sie geben der Operette jene Sinnlichkeit zurück, die der Gattung eigen ist. Erstarrungen lösen sich. Es knistert wieder. Und das alles im Studio. (R. W.)

 

Nicolai Gedda/ Foto EMI/ Warner Classics Archives

Abgesehen von den so gelobten Operetten ist Gedda für mich in erster Linie der gebrochene Held in seinen besten anderen Dokumenten, manche davon leider nicht offiziell erschienen. Dalibor (von 1977/ Gala) unter Eve Queler ist so ein differenzierter, zerbrochener Anti-Heroe, den er unerreicht und mit einem zum Weinen bringenden Pathos singt. Sein Solo zu Beginn des dritten Aktes hat alles an Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht und Verwirrung, das ein Mensch aufbieten kann und das Smetana so wunderbar eingefangen hat. Jean in Meyerbeers Prophête (1970 div. Labels) ist ein anderer, den er live und an einem Abend beim italienischen Rundfunk beispiellos singt – ein Ideal-Modell für andere Tenöre an Krafteinteilung, Duchhaltevermögen und Interpretation (Diktion!), dabei noch im mörderischen Schluss voller Reserven. Enée in den Troyens ebenfalls bei der RAI 1969 (dto)  ist der dritte meiner Idealhelden Geddas, denn der feurige Elan der Auftritte im ersten und dann im zweiten Teil weicht der Verzweiflung und Zerrissenheit des pflichtbewussten Staatengründers – erneut ein Anti-Held, der Schuld auf sich lädt und zwischen Pflicht und Liebe zerrissen wird. Stimmlich wie interpretatorisch wieder unerreicht und eben eine Seite Geddas zeigend, die in seinen offiziellen Aufnahmen kaum je durchkommt (in Ansätzen im Berlioz´schen Faust und Lenski, aber nicht Don José)

So steht der leichtfüßige, aber eben tonal bezaubernde  Dimitrij im ersten Christoff-Boris von 1952 (neben der bemerkenswerten Eugenia Zareska) stellvertretend für die späteren, eher heiteren und weniger prägnanten Charaktere, von denen Gedda meterweise welche eingespielt hat. Die von mir so gelobten Partien, da bin ich sicher, zeigen den eigentlichen Nicolai Gedda, den grüblerischen, tiefgründigen Sänger wie Menschen. Und in diesen Partien wie Jean, Enée oder vor allem auch Dalibor wird er für mich in Erinnerung bleiben, auch in dem bemerkenswerten Lohengrin (den er nur einmal in Schwedisch sang und nicht wieder aufnahm, wohl auch, weil er selber merkte, dass wie der Ballo-Riccardo Wagner und Verdi nicht eigentlich seins war, so wie seine Alfredos ja auch zeigen). Mir im Gedächtnis bleibt ein zerrissener Held, ein bezaubernder Mann und eine Stimme für ein Jahrhundert. Danke Nicolai Gedda!  G. H.

 

Nicolai Gedda: „Un ballo in maschera“/ Foto Met Opera Archive/ Melancon

Dazu wie stets eine kurze Erinnerungshilfe mit einer Biographie bei Wikipedia: Harry Gustaf Nikolaj Gädda, geborener Nicolai Ustinov, bekannt als Nicolai Gedda * 11. Juli 1925 in Stockholm; † 8. Januar 2017 in Tolochenaz, Kanton Waadt, Schweiz) war ein schwedischer Opernsänger (Lyrischer Tenor). Von 1928 bis 1936 lebte Geddas Familie in Leipzig, wo sein russischer Stiefvater Kantor an einer russisch-orthodoxen Kirche war. Dort begann er seine musikalische Ausbildung. 1936 erfolgte die Rückkehr nach Stockholm, wo Gedda am Konservatorium studierte und 1952 als Chapelou in Adolphe Adams Le postillon de Lonjumeau debütierte und länger zum Ensemble der Königlich Schwedischen Nationaloper gehörte. Gedda wurde sehr rasch zu einem der gefragtesten Mozart- und Oratorieninterpreten des 20. Jahrhunderts und gab zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch große Recitals unter anderem in der Hamburgischen und in der Wiener Staatsoper. Als Liedinterpret trat Gedda gemeinsam mit dem Pianisten Sebastian Peschko auf.

Nicolai Gedda war zweifellos der sprachgewandteste aller berühmten Tenöre des 20. Jahrhunderts: Er beherrschte akzentfrei sowohl Schwedisch, Russisch und Deutsch als auch Italienisch, Französisch und Englisch. Sein Repertoire war dementsprechend riesig (etwa 50 verschiedene Opernpartien).

Nicolai Gedda: Aufnahme „Carmen“ mit Maria Callas/ Foto EMI/ Warner Classics

Dank seiner hellen, sehr flexiblen Stimme, die bis ins reife Alter einen jugendlichen Schmelz behielt, galt Gedda als die Idealbesetzung für Rollen wie Tamino oder Belmonte, den Herzog von Mantua oder Dimitri. Besonders erfolgreich war Gedda auch im französischen Fach. Er tat sich ebenfalls als Oratorien-, Messen- oder Kantateninterpret hervor, unter anderem in der Matthäuspassion oder in Edward Elgars The Dream of Gerontius. Als Wagnerinterpret erhielt er mit seiner Interpretation des Lohengrin an der Königlich Schwedischen Nationaloper in Stockholm große Anerkennung. Daraufhin wurde Nicolai Gedda als Lohengrin bei den Bayreuther Festspielen angekündigt. Kurzfristig sagte er aber die Auftritte aus Sorge vor einer Überbeanspruchung seiner Stimme ab.

Gastspiele führten ihn an die großen Opernhäuser der Welt: 1952 an die Pariser Oper, 1953 an die Mailänder Scala, zum Royal Opera House Covent Garden, 1957 an die New Yorker Metropolitan Opera, wo er an der Uraufführung von Samuel Barbers Oper Vanessa beteiligt war. 1980 wurde er in Tschaikowskis Eugen Onegin am Moskauer Bolschoi-Theater umjubelt.

Nicolai Gedda hat sich auch mehrfach als Gesangspädagoge hervorgetan und Aufsätze zur Gesangskunst sowie eine Autobiographie geschrieben. Auf seinen Wunsch wurde der Tod in seinem Haus bei Lausanne durch einen Herzstillstand erst einen Monat später der Öffentlichkeit mitgeteilt.

Obwohl sein Recital mit russischen Opernarien starke Beachtung der Kritik gefunden hatte, wurde er erst zu Gesamtaufnahmen von Tschaikowski-Opern (Eugen Onegin, Jolanta) eingeladen, als seine Stimme bereits ihren Zenit überschritten hatte. Auch hat Gedda zahlreiche Oratorien eingespielt und sich besonders dem deutschen, französischen und russischen Kunstlied gewidmet. Ebenso hat er einige der bekanntesten Operetten aufgenommen (Foto oben: Nicolai Gedda – Foto EMI/ Warner Classics Archive).

Glanzvolles Dokument

 

Nicht gerade Begeisterung hatte sich im Jahr 2004 in Italien breit gemacht, als bekannt wurde, Riccardo Muti würde die sehnlichst erwartete Wiedereröffnung der Scala nach jahrelanger Renovierung nicht mit Verdi oder Puccini, sondern mit Antonio Salieris bis dahin unbekannter Oper Europa Riconosciuta feiern. Und nicht fröhlicher wurde man wahrscheinlich beim Blick auf die fast kahle Bühne, obwohl man vom Ausstatter Pier Luigi Pizzi erfahrungsgemäß Prunkvolles hätte erwarten können. Das gab es erst bei der  Balletteinlage (nur eine anstelle der zwei bei der Uraufführung der Oper und damit der Einweihung des Hauses als Nuovo Regio Ducal Teatro 1778) am Ende des ersten Akts. Ein grauer Rahmen senkt und hebt sich wieder über der Bühne, ein Kahn bricht als Zeichen des Schiffbruchs auseinander, Treppen werden hin- und hergefahren, stilisierte Zypressen täuschen einen Garten vor, riesige Gitter suggerieren ein modern anmutendes Gefängnis. Nur einmal lässt Regisseur Luca Ronconi Prächtiges zu, wenn auf vielen kleinen Drehbühnen kostbar gewandete Krieger auf naturalistisch wirkenden Rossen kämpferisches Geschehen erahnen lassen. Von den Solisten hat nur die ehrgeizige, nach Thron und  Liebhaber gierende Semele sich in puncto Prächtigkeit steigernde, moderne Kostüme. Die übrigen tragen Antikes, der von beiden Damen geliebte Isséo königliches Rubinrot, die standhafte, verzichtsbereite Europa keusches Weiß.

Die Oper, über die man im Booklet viersprachig nur, was den Inhalt betrifft, informiert wird, enthält zwei der schwierigsten Koloratursopranpartien überhaupt. Zu ihnen gehört die Titelpartie, und es dürfte eine weitere Herausforderung für das nationalbewusste Publikum gewesen sein, dass sie mit einer Deutschen, Diana Damrau, damals noch am Anfang ihrer internationalen Karriere, besetzt worden war. Die Sängerin sieht bezaubernd aus, spielt mit Anmut und Würde und singt ihre halsbrecherischen Arien nicht nur souverän, sondern gibt den sanfter als bei der Rivalin klingenden Koloraturen auch einen interpretatorischen Sinn. Am Schluss der Oper darf sie auch das dramatische Potential ihrer Stimme vorführen. Puppiger und soubrettiger als sie wirkt die Gegenspielerin Semele, gesungen von Desirée Rancatore, die Koloraturen, mit denen auch ihre Rolle gespickt ist, klingen nicht weniger souverän, aber schärfer, was für die Interpretation der ehrgeizigen Dame durchaus Sinn macht. Pikanterweise sang drei Jahre später auf ihrer CD Damrau auch die schwierigste Arie ihrer Rivalin. Einen wunderbaren Mezzosopran satter Farben, geschmeidig und von dunklem Glockenton hat die stattliche und damit für Hosenrollen gut geeignete Daniela Barcellona für den doppelt geliebten und ebenfalls Verzicht übenden Isséo, Genia Kühmeier singt mit hellerer und weniger prächtiger Stimme korrekt den König von Kreta, der Europa einst geraubt und zwangsverheiratet hat. Ihr „Ah voi Dei“ kann aber durchaus mit den Leistungen der Kollegen mithalten. Giuseppe Sabbatini, den man trotz seiner besonderen Musikalität nicht so besonders gern in den Rollen feuriger Liebhaber erlebte, ist mit seinem dunkel getönten Tenor guter Mittellage genau richtig am Platz als intrigierender Egisto, der seine gerechte Strafe erhält.

Der Chor ist auf die Unterbühne verbannt und beweist rein akustisch seine besonderen Qualitäten, so mit einem an den Priesterchor der Zauberflöte erinnerndem „O Temis immortale“. Riccardo Muti und das Orchester der Scala, die er wenig später im Zorn verließ, machen mit dem entsprechenden Erfolg die Aufführung der Europa Riconosciuta zu ihrer Herzensangelegenheit und wirken mit großem Engagement. Ein ganz junger Roberto Bolle und Alessandra Ferri sind das gefeierte Solistenpaar in der Balletteinlage (DVD Erato 0190295889982). Ingrid Wanja

Ensemblegeist gleicht manches aus

 

2016 jährte sich der 200. Todestag des Mozart-Zeitgenossen Giovanni Paisiello. Natürlich waren einige seiner Werke deswegen auch auf diversen Festivals zu sehen. Der Mitschnitt einer dieser Aufführungen ist nun auf CD erhältlich –  La Grotta di Trofonio (Die Grotte/Höhle des Trofonio).Eigentlich war die originale „Grotte des Trofonio“ ein sehr populäres Stück von Antonio Salieri von 1785. Dies ist eine der ersten großen Partnertausch-Opern – die titelgebende Grotte ist nämlich verzaubert, und wer sie betritt, der ändert seinen Charakter grundlegend, melancholische Menschen werden aufgedreht, cholerische sanftmütig – und diese Wiener Oper beschrieb, wie es Liebespaaren erging, die sich auf dieses Höhlenabenteuer einließen.

Die Idee war sehr erfolgreich und hatte enormen Einfluss auf die zeitgenössische Opernszene – der bekannteste Ableger ist Mozarts Così fan tutte. Aber auch Paisiello hat sich anregen lassen und sich noch im  Monat der Premiere von Salieris Oper eine neue Text-Fassung für Neapel schreiben lassen. Genau diese Version wurde nun in Martina Franca beim Opernfestival della Valle D´Itria 2016 mitgeschnitten. Das Ganze ist ein Riesenspaß mit herrlichem Chaos und vielen turbulenten, fast schon rossinisch klingenden Ensembles.

Giovanni Paisiello“ „La Grotta di Trofonio“ in Martina Franca 2016/ Szene/ Foto Paolo Conserva/ FVI

Paisiello ist leider immer noch ein Insider-Tipp, und vor allem ist er ein typischer Festival-Komponist. Er wird gern bei Sommerfestivals aufgeführt, denn er ist relativ leicht zu besetzen, und er hat so viel komponiert, dass man immer damit werben kann, eine Paisiello-Oper ganz neu vorzustellen. Und der Bodensatz  ist da noch lange nicht  erreicht – weder qualitativ noch quantitativ. Er ist eigentlich fast immer nett anzuhören; ich mag ihn viel lieber als Cimarosa, weil Paisiello sich meist aus der Verwechselbarkeit und Oberflächlichkeit durch einen Hang zur Melancholie rettet, der sogar E.T.A. Hoffmann, einen eingeschworenen Feind italienischer Buffe, zum Paisiello-Fan machte. Kein Wunder: Paisiellos Figuren sind meist ziemlich lädiert, innerlich zerrissen und psychisch beschädigt; es sind nie Marionetten, und das macht ihn in seinen besten Momenten zu einem Mozart des kleinen Mannes.

Vergleicht man diese Grotta mit Salieris Oper, kommt Paisiello zunächst nicht allzu gut weg. Paisiellos Stammlibrettist Giuseppe Palomba hat nämlich das ursprünglich schön herbe Libretto von Casti, das durchaus den Biss der Così hat, für das neapolitanische Publikum zu einem total albernen Stück gemacht. Das ist, als würde man den Film „Zwei ziemlich beste Freunde“ in eine Sitcom umwandeln. Nun folgt ein (platter) Gag nach dem anderen, und die herrliche Durchsichtigkeit der Salieri-Oper mit ihren sechs Personen geht völlig verloren, weil Palomba das Ganze um zwei unnötige Personen aufstockt. Dann kommt viel neapolitanischer Dialekt hinzu, und so wird aus einer eleganten Komödie ein spröder Schwank. Und doch – Paisiello schafft es immer wieder, seine melancholischen Stücke hineinzuschmuggeln, es gibt auch hier wie in fast jeder Paisiello-Oper wunderschöne Herzschmerzarien; Eufelias Solonummern sind superb.

Zu klein besetzt und auch orchestral etwas breiig – aber der Ensemblegeist dieser Produktion gleicht vieles wieder aus. Es ist viel geschimpft worden auf dies kleine, aber weltbekannte Festival in Martina Franca in Sachen Besetzung usw., und doch es hilft alles nichts, es bleibt eines der wichtigsten Opern-Festivals in Europa. La Grotta verblasste etwas neben einer der großartigsten Produktionen in der gesamten Geschichte des Festivals, der Uraufführung der nachgelassenen, nie gespielten Francesca di Rimini von Mercadante unter Fabio Luisi (die ebenfalls gerade bei Dynamic erschienen ist – als CD und DVD Bluray). Da dümpelte diese Paisiello-Schaluppe etwas im Schatten dieses Riesentankers vor sich hin. Und das ärgert mich, weil man den großen Buffo-Maestro damit dann doch zu sehr zum Lückenbüßer verdammt. Diese buffe aus dem 18. Jahrhundert könnten richtig großartig klingen, wenn man ihnen eine Chance gäbe; meist sind sie (wie hier wieder) aber zu klein besetzt und auch orchestral etwas breiig, und das ist der Tod für diese fragilen Stücke.

Man könnte sich generell fragen, ob die alte buffa nach Martina Franca gehört. Man spielt ja auch keine Puppenstücke in der Arena von Verona. Martina Franca ist ein Open-Air-Festival, und diese kleinen Perlen klingen einfach immer schrecklich im Freien. Das braucht die Akustik intimer Häuser, und so hört  sich der Orchestersound auch meist an wie aus der Tonne. Oft sind die Sänger mit ihren Rollen überfordert. Zwar hat man auch hier einige Stars eingekauft, Roberto Scandiuzzi als Magier Trofonio dröhnt die Partie wirklich ehrfurchtgebietend, und der unverwüstliche Buffo Domenico Colaianni als genervter Vater launischer Töchter ist wie immer sehr komisch – aber die Töchter selbst schwächeln dann doch, und grade in den expressiven Momenten hört man nicht mehr gerne zu. Was diese Produktionen allerdings hat, ist Ensemblegeist – hier sind 100 % Italiener auf der Bühne, das ist ein Heimspiel, und die herrlich verwickelten Ensembles schnurren ab wie ein wundervolles antikes Uhrwerk. Diese Spielfreude gleicht dann doch vieles wieder aus (Titel Giovanni Paisiello: La Grotta di Trofonio mit Benedetta Mazzucato, Caterina di Tonno, Matteo Mezzaro, Domenico Colaianni, Angela Nisi, Roberto Scandiuzzi | Orchestra Internationale d’Italia | Leitung: Giuseppe Grazioli; 2 CD Dynamic CDS 7754.02). Matthias Käther

„Uthal“ von Étienne-Nicolas Méhul

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Étienne-Nicolas Méhuls mehr oder weniger einziger Ruhm in unserer Zeit ruht fast ausschließlich auf seinem Joseph, dem einzigen unter seinen 35 dramatischen Werken, dessen Aufführungen sich seit seiner Premiere 1807 bis heute finden, und vielleicht noch auf der prachtvollen Ouvertüre zu La Chasse du jeune Henri (von vielen berühmten Dirigenten aufgenommen).

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Etienne-Nicolas Méhul, Gemälde von Antoine-Jean Gros/OBA

Étienne-Nicolas Méhul, Gemälde von Antoine-Jean Gros/Wiki

Das Ausmaß einer solchen Vernachlässigung ist jedoch nichts Neues, wie sie schon Berlioz 1852 beklagte. 1763 in Givet in den Ardennen geboren und in Paris zur Vervollständigung seiner Studien ausgebildet, hatte Méhul das große Glück, Gluck vorgestellt zu werden. Der erkannte sein Talent und riet ihm, sich der Oper zuzuwenden. 1797 erzielte Méhul einen brillanten Erfolg an der Opéra-Comique mit Euphrosine. Während er zur selben Zeit das Seine zu den prunkvollen Revolutions-Feierlichkeiten beitrug (dessen typischer Stil sich in den Morceau d´ensemble no. 4 in Uthal findet: „Abreuvez-vous du sang des traîtres“), komponierte er mit wechselndem Erfolg weiter für die Comique. Zudem war er auch eines der Gründungsmitglieder des Conservatoire de Paris. Seine Karriere, die während der Zeit Napoleons unbeschadet weiter gelaufen war, erreichte ihren Höhepunkt 1805 mit Joseph, bis die Errungenschaften Spontinis und eine fortschreitende Tuberkulose Méhuls Energien erschöpft hatten. Sein Tod 1817 fiel mit der ersten Vorstellung von Rossinis Italiana in Algeri zusammen – der Beginn einer Revolution du gout, die sich tödlich auf eben die Ästhetik auswirkte, die Méhul so sehr verfochten hatte.

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Und heute? Ein paar Wiederbelebungen ohne große Wirkung (darunter der Horatius aus den Radio-Sechzigern, verschiedene Josephs und Iratos), die Einspielungen seiner Klaviersonaten, seiner vier Sinfonien und einiger Opern (darunter L´irato, Stratonice und Adrien, s. jpc oder Amazon) erlauben es uns glücklicherweise, die Einschätzung seines Genies zu erweitern.  Aus Paris gibt es vom 30. Mai 2015 – nach einem verdienstvollen ersten Anlauf der BBC 1972 (Sarti, Wakefield/ Robinson auf UORC-LP) – Méhuls Opéra comique in einem Akt, Uthal, von 1806, konzertant unter Christophe Rousset mit einer illustren Besetzung durch Karine Deshayes, Yann Beurron (in der Titelrolle), Jean-Sébastien Bou, Sébastien Droy, den Talens Lyriques und dem Kammerchor aus Namur – dies alles wieder einmal im Zuge der Bemühungen des hier vielfach gelobten und erwähnten Palazetto Bru Zane in der prachtvollen Opéra Royale de Versailles, am Radio bei Radio France und natürlich nun auf einer CD bei Ediciones Singulares im unpraktischen, aber eleganten Buchformat mit vielen Aufsätzen in Französisch und Englisch sowie dem zweisprachigen Libretto – Qualität wie meist.. Gesungen wird, wie oft bei Rousset und dem Palazetto, ebenfalls hervorragend: Karine Deshayes, Yves Beurron, Jean-Sebastien Bou, Sebastien Droy und andere machen dem französischen Gesang der mittleren Größe Ehre; dazu kommt Christophe Rousset mit seinen Mannen ganz wunderbar. Alles in allem eine Ossian-Story zum Füße Wippen.

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Méhul: Christophe Rousset leitet die Wiederbelebung des "Uthal" in Versailles/Spectacles de Versailles/Ceric La Rayadieu/chateauversailles-spectacles.fr

Méhul: Christophe Rousset leitet die Wiederbelebung des „Uthal“ in Versailles/Spectacles de Versailles/Ceric La Rayadieu/chateauversailles-spectacles.fr

Kommentare zur Oper Uthal sind knapp, weil kaum jemand sie bislang gehört hat. 1925 schrieb der Musikwissenschaftler Lionel de la Laurencie: „Am 17. Mai 1806 gab es an der Opéra-Comique eine merkwürdige Oper, Méhuls Uthal, auf ein von Ossian inspiriertes Libretto, die besonders romantisch wegen ihrer Orchesterfarben  wirkte. Die Geigen wurden durch Violas ersetzt.“ Und er hatte recht, darauf hinzuweisen, dass sich einige Opern der Napoleonischen Periode durch besondere Originalität auszeichnen und nicht wie oft angenommen nur durch überflüssigen Pomp. Als Reaktion auf den Erfolg von Les Bardes, eine Oper von Lesueur 1804 an der Académie Impériale de Musique, beauftragte die Opéra-Comique Méhul, ein kurzes, beeindruckendes Werk zu schreiben, das von den Ossianischen Gesängen des James Macpherson inspiriert sein sollte (s. Wikipedia), die kurz zuvor ihren Weg nach Frankreich gefunden hatten (und die Goethe bereits 1774 zu seinem Werther angeregten).

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Méhul: Die Wirkung der Gesänge Ossians - Illustration zu Goethes "werter" von Nicolai Abraham Abildgaard/ Staatsbibliothek Berlin

Méhul: Die Wirkung der Gesänge Ossians – Illustration zu Goethes „Werter“ von Nicolai Abraham Abildgaard/ Staatsbibliothek Berlin

Der Komponist hatte die brillante – und wagemutige – Idee, die Nebel durchzogene Landschaft Schottlands (so, wie er sie sich vorstellte) von einem Orchester ohne Violinen evozieren zu lassen. Die „Gotische“ Farbe der Holzinstrumente und die poetische Melancholie einer Harfe, die ab und zu aus dem Ensemble herauszuhören ist, kontrastieren auffällig mit den martialischen Chören und den kriegslustigen Charakteren Larmors und Uthals. Bereits in der Ouvertüre überrascht Méhul mit dem Kunstgriff, Malvina in der Kulisse verzweifelt nach ihrem Vater rufen zu lassen. Der Chor selbst besteht aus dreigeteilten Männerstimmen. Die Hymne au soleil ist ein ausgesprochen romantisches Stück und wird von den Barden gesungen – einer der besten Einfälle unter Méhuls Kompositionen . Die Studenten des Pariser Conservatoires (unter dessen Gründern Méhul selbst gewesen war), sangen dieses Hymne an die Sonne bei seinem Begräbnis 1817.

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„Ossian“ von Francois-Pascal Simon Gérard/OBA

Im Folgenden bringen wir zur Ergänzung einen Text des eminenten französischen Musikwissenschaftlers und Musikkritikers Gérard Condé zum Uthal von Méhul  (…) Einige Wiederaufnahmen ohne große Bedeutung, die Einspielung seiner Klaviersonaten, seiner vier Sinfonien und einiger Opern (darunter L’irato, Stratonice und zuletzt Adrien) haben es glücklicherweise ermöglicht, den Blick auf sein Genie zu erweitern. In den Köpfen der wenigen, die sich seiner Existenz bewusst sind, ruft Uthal jedoch immer noch nur den harschen Ausruf von Grétry am Ende der Uraufführung am 17. Mai 1806 hervor: „Ich würde einen Louis geben, um eine E-Saite zu hören“. Diese ironische Bemerkung rührt von Méhuls Entscheidung her, die Geiger zu bitten, ihre Instrumente gegen Bratschen zu tauschen, um dem Orchester einen verschleierten und melancholischen Klang zu verleihen, der mit der Atmosphäre der ossianischen Welt übereinstimmt. Dies wird besonders in der Ouvertüre deutlich, wo die Holzbläser, die die Rolle der Violinen übernehmen, mit einer intensiven Schneide über den rastlos wogenden Wellen der tiefen Streicher ausbrechen, wie sie es auch im Morceau d’ensemble („Nous le jurons, ce jour qui nous éclaire“) wieder tun werden. Dies ist auch in der Romance d’Uthal (Nr. 5, „Pour prix d’un bien si pleine de charme“) und im Chant des bardes („Près de Balva“) zu beobachten, wo die Bratschenstimmen, die auf den unteren Teil ihres mittleren Registers beschränkt sind, die ständige Bewegung der Harfe überdecken. In seinen Soir

Gretrys Witz war zwar treffend, ging aber im Vergleich zu den Argumenten, die Cherubini (in einem von Arthur Pougin notierten Artikel) vorbrachte, um die geringe Sympathie zu rechtfertigen, die Uthal bei ihm weckte, nicht weiter: Diejenigen, die auf den Ruf und die Erfolge von Méhul eifersüchtig waren, warfen ihm lange Zeit vor, er habe sich nicht genug mit seinen kompositorischen Studien beschäftigt. Méhul hatte die Schwäche, auf diese Vorwürfe empfindlich zu reagieren, und etwa seit der Zeit, in der er Joanna [1802] komponiert hatte, hielt er es für notwendig, zu beweisen, dass er solche Studien durchgeführt hatte, indem er in seine Kompositionen vorschnell Formen einführte, die sowohl zu scholastisch als auch zu pedantisch für die Oper waren, und mit denen er die nachfolgenden Stücke zu überfrachten pflegte. Diese prätentiöse und schädliche Methode hat er seither in allen Opern, die er komponiert hat, egal ob es sich um ernste oder komische handelt, beibehalten. Cherubini hatte die – etwas zu sehr ausgeprägte – Tendenz zur Nachahmung im Sinn, wie sie in Malvinas Arioso „Pour soulager tes maux“ zu beobachten ist. Dabei ließ sich Méhul vom stilistischen religiösen Archaismus inspirieren, um die Frömmigkeit der Figur zu unterstreichen.

Méhul: „Ossian“ – Gemälde von Jean-Auguste Dominic Ingres/OBA

Das umstrittene oder in Vergessenheit geratene Uthal hat dennoch seine Anhänger gefunden. Im Jahr 1904 führte das Dessauer Opernhaus eine Aufführung durch, die laut „Le Monde artiste“ ein großer Erfolg war. Im Jahr 1908 enthielt die Beilage der Revue musicale nicht weniger als 150 Seiten eines Klavierauszugs des Werks. Man kann jedoch auf das Jahr 1856 zurückgehen, als Castil-Blaze in seiner Histoire de l’opéra einen der denkwürdigsten Abschnitte hervorhob: Die Hymne au sommeil, in der vier Barden singen, die nur von zwei Harfen, zwei Flöten und zwei Hörnern begleitet werden, ist sehr schön; ihr melodiöses Ensemble wird durch die harmonische Gestaltung und die Merkwürdigkeit einer Folge gemeinsamer Akkorde, die geschickt miteinander verbunden sind, angenehm variiert. Wie in Les musiciens célèbres von François Desplantes nachzulesen ist, versammelten sich einige Zeit nach Méhuls Tod Gesangsstudenten des Conservatoire um sein Grab auf dem Friedhof Père Lachaise, um dieses Stück aufzuführen; der einzige Abschnitt aus dem Gesamtwerk, der sich am längsten gegen diese Vernachlässigung wehrte. Die auffällige Kombination von Hörnern, Flöten und Harfe, die die fließende Vokalpolyphonie mit dezenten Chromatisierungen untermauert, vermeidet akademische Vorbilder völlig, während die Klagen von Malvina, die in der zweiten Strophe an die Spitze gestellt werden, den natürlichen Eindruck, der dieses Stück so reizvoll macht, nicht beeinträchtigen.

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Méhul: Malvina beweint den Tod Oscars, Gemälde von Elizabeth Harvey/Grand Palais de Paris

Trotz seiner offensichtlichen musikalischen Schönheiten gelang es Uthal nicht, über seine ersten 15 Aufführungen hinaus im Repertoire zu bleiben. Arthur Pougin vermutete Méhuls „großen Fehler, dass er sich nicht ausreichend um das inhärente oder dramatische Potenzial der Gedichte kümmerte, die ihm angeboten wurden und die er zu leicht akzeptierte“. Das Thema bezieht sich auf den Guerre d’Inistona [Krieg von Inis-thona], in dem Ossian die Autorität Oskars feiert, indem er den alten Anio, der von seinem Verwandten Cormalo vom Thron vertrieben worden war, wieder auf den Thron bringt. Jacques Bins de Saint-Victor hat sein Libretto mit einigen Episoden aus anderen Kompositionen von James Macpherson (1736-1796) ausgeschmückt.

Die gälischen Gedichte, die dieser dem legendären Barden Ossian aus dem dritten Jahrhundert zuschreibt, dessen Veröffentlichung 1760/63 eine ganze Generation begeisterte, wurden zu einem beliebten Lesestoff für Napoléon Bonaparte. Saint-Victor widmete sein Gedicht Girodet, der für einen Mort de Malvina verantwortlich zeichnete: Die Leute sind jedoch nicht auf den Betrug des Autors hereingefallen, der aus fast dem gesamten Stück eine schottische Mythologie konstruiert hat. Außerdem wies der Chronist des Journal de l’Empire vom 21. Mai 1806 mit charmantem Schalk darauf hin, dass es sich bei der Handlung um eine Umgestaltung von Plutarchs Leben von Agis und Kleomenes handelt, wo Kleombrotus (Uthal), der Ehemann von Chelonis (Malvina), den Thron seines Schwiegervaters Leonidas (Larmor) besteigt. „Vielleicht wollte der Autor von Uthal eine Art flüchtige Mode ausnutzen, die die schottischen Barden in Paris genossen:

Méhul: Der Autor des Fake-„Ossian“ – James Macpherson, Gemälde von George Romney/Wiki

Er dachte vielleicht, dass Ossian mehr à la mode wäre als Plutarch, und ich denke, dass er nicht weit daneben lag. Das Thema wäre allerlei Glanz und Ansehen beraubt worden, wenn M. de Saint-Victor es nach griechischen Gepflogenheiten behandelt hätte. Es gab eine Zeit, in der die Lakedämonier für einen besseren Ton gesorgt hätten als die Barden […] Ich habe eher das Gefühl, dass die Leiern der lakedämonischen Musiker sich als harmonischer erwiesen hätten als die so genannten goldenen Harfen dieser vergangenen schottischen Priester, die zu einer Zeit und in einem Land lebten, in dem es nicht viel Gold zu sehen gab und in dem man überhaupt keine Musik kannte.“ Auch die Gazette de France vom 19. Mai 1806 zeigte sich streng mit Saint-Victors Libretto, das in seiner Gestaltung nichts Neues und nichts wirklich Interessantes bietet. Die einzelnen Szenen sind unzureichend miteinander verbunden. Der Autor begreift auch nicht, welchen Weg er einschlagen will.

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Méhul: James Macphersons Fake-„Ossian“/OBA

Es ist bekannt, dass die ossianischen Helden – wie ihre homerischen Vorbilder – oft zu Fuß unterwegs waren, weder mit Gefolge noch mit Prunk. Die Schönheiten aus Morven und Erin machen es sogar noch besser; sie greifen gelegentlich im Kampf zur Lanze und trotzen dem Tod an der Seite ihrer Liebsten. Doch in unserem Theater erwecken all dieses Herumgehetze und die nächtlichen Monologe nicht dieselbe Illusion; uns erscheint es sehr eigenartig, dass der wilde Uthal ganz allein auf der Jagd nach seiner Frau steht und ein ganzes feindliches Heer herausfordert. Der Inhalt des Themas hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von König Lear: Malvinas großmütige Art, zu erklären, dass sie die Unglücklichste ist, ist schon tausendmal verwendet worden; im Übrigen aber sind die Charaktere recht gut definiert, das Lokalkolorit wird erfolgreich beibehalten. Oft sind die Verse gelungene Nachahmungen des schottischen Barden; die Stille des Abends, das Murmeln der Gebirgsbäche, die Sturmwinde, die Wolkenpaläste, die Gespenster der Helden kehren immer wieder dorthin zurück; mit beiden Händen streut der Autor die Wildblumen der ossianischen Zunge aus, und das alles erzeugt eine recht merkwürdige Wirkung im Land der Opéra Commique.

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Was die Musik betrifft, so hat sich die Meinung des Kritikers völlig geändert: Der Komponist hat das Thema viel besser erfasst: Seine Musik wird an der Stelle des trône de la fête merklich erregt. Seine Ouvertüre, von breitem Stil und dunklem Kolorit, kündet gekonnt von den nächtlichen Gespenstern und den Sturmwinden. Das Duett zwischen Larmor und Malvina ist äußerst süß und zärtlich eingefangen. Die Ankunft von Morvens streitlustigen Kindern [Nr. 2, „Le grand Fingal, pour punir les rebelles“] ist ein originelles Stück; der Klang der Harfen, vermischt mit den fernen Worten der Barden, erzeugt einen herrlich weltfremden Effekt. Die Ankunft der Barden aus Ossian ist schon oft gepriesen worden; ich bezweifle, dass dies auf eine bezauberndere Weise geschehen kann als hier.

Der Verweis auf Jean-François Le Sueurs Oper Ossian oder Les Bardes (nach dem Gedicht von Calthon und Colmal), die am 10. Juli 1804 an der Opéra uraufgeführt wurde, war unvermeidlich; ebenso vorausschauend warf das Ausmaß ihres Erfolgs einen Schatten auf Méhuls kleines Werk. Unter diesem Gesichtspunkt sind die einleitenden Bemerkungen im Journal du soir, de politique et de littérature des frères Chaigneau vom 18. Mai 1806 zu verstehen: Gestern hat die Uraufführung der einaktigen Oper Uthal, die die Gedichte nach dem Vorbild der Ossian-Gedichte nachahmt, im Théâtre Feydeau einen vollen Erfolg erzielt. Dieses Werk hätte auch an der Académie Impériale de Musique Erfolg gehabt, wo es weder besser aufgeführt noch sorgfältiger inszeniert worden wäre. Der Stil ist großartiger und gehobener, als man es von den Opern des Théâtre Feydeau gewohnt ist; aber was diese Oper noch interessanter macht, ist die Tatsache, dass ihre Musik von dem berühmten Méhul stammt.

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Méhul: Und noch einmal die folgenschwere Ausgabe des „Ossian“/ibrary.loyno._.edu

Das Journal général de France vom 19. Mai 1806 geht sogar noch weiter und präzisiert: „Es handelt sich keineswegs um eine Opéra comique, sondern um eine Tragödie im wahrsten Sinne des Wortes. Das Stück ist fast gänzlich in alexandrinischen Versen geschrieben und mit der ganzen Feierlichkeit des tragischen Stils geschmückt. Die ausgedrückten Gefühle, die Figuren und die Situationen entsprechen den Anforderungen dieses Stils. Dieses neue Stück hat die Schauspieler gezwungen, den Tonfall, den Akzent, die Gestik und die ganze der französischen Bühne angemessene Formalität zu erfassen, und für einen ersten Versuch muss man sagen, dass sie sich sehr erfolgreich verhalten haben. Bei mehreren Gelegenheiten wurde die Abschaffung des Rezitativs in der Oper und das Sprechen desselben vorgeschlagen. Hier gab es wirklich eine große Oper mit einem gesprochenen Rezitativ, und das Publikum schien damit zufrieden zu sein“. Der Chronist scheint vergessen zu haben, dass es an alexandrinischen Dialogen auf den französischen Opernbühnen von Méhuls Euphrosine bis zu Cherubinis Médée keinen Mangel gab.Die Gazette de France vom 19. Mai 1806 griff dieses Thema auf und nutzte die Gelegenheit, um die Interpreten zu würdigen: Der Übergang von der Übertragung von Prosa zum Gesang hat immer etwas Merkwürdiges und Unstimmiges; aber die Verbindung von Poesie und Musik ist wirklich trügerisch; viele Schauspieler wären besser, wenn sie dieses Genre unterstützen würden: zum Beispiel Madame Scio, die, ausgestattet mit einer tiefen Intelligenz und Sensibilität, fast so gut rezitiert wie sie singt. Sie hätte es verdient, am Ende des Werks zusammen mit den Autoren zurückgerufen zu werden. Gavaudan ist in diesem Genre, in dem er seine Ambitionen begrenzen sollte, bereits hinreichend bekannt. Möge es ihm eine Freude sein, uns an der Opéra-Comique zum Weinen zu bringen. Andernorts könnten sowohl er als auch das Publikum verloren gehen: Er ist in der Rolle des Uthal so grimmig wie Madame Scio in der der Malvina rührend ist. Solie hat die Rolle des Larmor übernommen; seine Stimme ist zwar im Niedergang begriffen, hat aber immer noch etwas Ehrwürdiges und Väterliches an sich. Baptiste, dem die Rolle des ersten Barden anvertraut wurde, hat ihren Chant Consolateur perfekt vorgetragen. Er ließ die Unwahrscheinlichkeit der Szene vergessen, und dieses Lob sollte für ihn ausreichen.

Méhul: Der Naturkult in der Folge des „Ossian“/Stich von Mallet/OBA

Wenn man sich diese Berichte zwei Jahrhunderte später ansieht, ist es interessant zu sehen, wie diese provokativen Bemerkungen immer noch ihren Sinn erfüllen; so fällt der Chant des bardes, der nahe am Schluss der Oper steht (für dessen emotionale Haltung er den Weg ebnet), weniger durch seine Unwahrscheinlichkeit als durch die Expressivität der Baritonstimme auf, die sich um das tonale Zentrum in seinem oberen Register und durch seine schroffe Unterbrechung entwickelt. Castil-Blaze informiert uns, dass „das Thema dieser Romanze oder Ballade aus der rührenden Episode von D’Ailly stammt, die in La Henriade mit dieser Zeile endet: ‚Il le voit, il l’embrasse, hélas! C’était son fils‘„. Voltaire zu Gast bei Ossian, in der Tat; das gibt zu denken…

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Méhul: Der Autor, Komponist und Musikwissenschaftler Gérard Condé/paris.mg

Unser Verhältnis zur aufkommenden Romantik mit ihren Trends, Wurzeln und Moden hat sich verändert. Bei der Entdeckung von Uthal suchen wir nicht mehr nach der Neuheit, die die Zeitgenossen mit Recht erwarten durften, sondern nach jenem Gefühl der Verbesserung, das uns ein retrospektiver Ansatz bieten kann, denn Werke aus der Vergangenheit können uns interessieren, wenn sie sich ausreichend in ihre eigene Zeit einschreiben, um uns dorthin zurückversetzen zu können, und gleichzeitig reich genug an Substanz sind, um sich mit unserer Zeit zu befassen und ein Licht auf sie zu werfen. Auf diese Weise können wir eine gültige Verbindung zu dem herstellen, was unsere Vorgänger vielleicht aus Gründen abgelehnt haben. Man kann die Geschichte nicht ändern; es ist die Geschichte, die uns auffordert, sie neu zu schreiben. Gerard Condé/ Übersetzt mit DeepL

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Den Text entnahmen wir dem Booklet zur Einspielung beim  Palazetto Bru Zane mit Dank; Bild oben: Ossian Receiving the Ghosts of Fallen French Heroes, 1805; Ölgemälde von Anne Louis Girodet-Trioson/Wikipedia. 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Tsunami d’amour

 

Wo besser als in Indien oder Ceylon und damit in Bizets Les Pȇcheurs de Perles bietet sich für Regie die Möglichkeit, archaische Bräuche, religiöse Verstiegenheit und moderne Technik unter einen konzeptionellen Hut zu bringen, und so kombiniert denn auch Regisseurin Penny Woolcock unbekümmert, aber durchaus nicht werkentstellend einen zottelhaarigen guruhaften Hindupriester mit einem laptopbedienenden Verwaltungsbeamten, der allerdings durch allgemeinen Zuruf zum König berufen wurde, kein Ende findendes Voreinanderverneigen mit Benzinkanistern, die über den Häuptern der zum Tode Verurteilten ausgegossen werden. Auch die Kostüme von Kevin Pollard reichen von in allen möglichen Orangetönen gehaltenen Saris und Pluderhosen zu strengen Anzügen im europäischen Stil. Bühnenbildner Dick Bird hat viel Holzgestänge auf die Bühne gebracht, dahinter ist das Bild eines wohl ertrinkenden Mädchens zu sehen, noch weiter entfernt Hochhäuser einer modernen Großstadt, die librettogerecht am Schluss abbrennen, während das Liebespaar die Flucht ergreift. Die erste Szene des dritten Akts spielt im mit Akten vollgestopften, aber auch mit Bierflaschen gefülltem Kühlschrank versehenen Büro von Zurga.

Viel zu tun hat der Chor (Donald Palumbo), und er erledigt sich seiner vielfältigen, zwischen Gebet und Rachegeschrei angesiedelten Aufgaben mit Bravour. Das Orchester der Met unter Gianandrea Noseda bringt das Ungewöhnliche der Instrumentierung durch Bizet wirkungsvoll zur Geltung.

Diana Damrau als Leila ist auch als Brünette sehr hübsch anzusehen, ihr Sopran erfreut durch seine außergewöhnliche Reinheit und Süße, die leichte Emission und die schwerelos wirkende Führung der Stimme passen gut zur Partie. Das entsprechende Lied klingt tatsächlich so federleicht schwebend wie Text und Musik es erwarten lassen, die Koloraturen sind wahrhaft deliziös, haben nichts rein Mechanisches an sich. Die Darstellung mag Geschmackssache sein, wird manchen Zuschauer als zu zappelig, zu affektiert, zu manieriert anmuten. Nicht durch sein angenehmes Spiel, sondern durch seinen Gesang ist der Nadir von Matthew Polenzani eine Enttäuschung, denn sein Tenor ist nicht prägnant genug, hat auch nicht die Süße und Eleganz von Vorgängern in der Partie wie  Legay, Vanzo oder auch aus neuerer Zeit wie Alagna oder Korchak, und die heiklen Höhen erscheinen als allzu wenig an die Stimme angebunden. Wesentlich besser kann Mariusz Kwiecien als Zurga mit dunklem Timbre und schlanker Stimmführung, dazu großzügiger Phrasierung gefallen. Eher optisch als vokal imponieren kann Nicolas Testé als Nourabad.

Insgesamt bezeugt die Produktion, dass das Werk durchaus repertoirefähig ist und es mit entsprechender Besetzung sein Publikum finden kann (Erato 0190295893613). Ingrid Wanja        

Ein Vielvermisster

 

Am 27. Jänner 2017, ist Rudolf Bibl überraschend im 88. Lebensjahr in Frontignan (Frankreich) verstorben. Dazu schreibt die Wiener Volksoper : Die Volksoper und ihr Publikum trauern um einen hoch geschätzten und geliebten Kollegen und Freund.

Bis zuletzt stand Professor Bibl am Pult unseres Orchesters. Er begleitete die Volksoper im Mai 2016 zum Japangastspiel nach Tokio, wo er drei Vorstellungen von „Die Csárdásfürstin“ dirigierte. Seine letzte Vorstellung an der Volksoper war die Fledermaus am 1. Jänner 2017.

Volksoperndirektor Robert Meyer: Professor Rudolf Bibl war der Volksoper fast ein halbes Jahrhundert verbunden. Er hat an unserem Haus unglaubliche 2273 Vorstellungen dirigiert. Er war eine Dirigentenlegende, eine Ikone, vor allem ein wunderbare Kollege und Freund, hochgeschätzt und geliebt. Trotz seines hohen Alters ist sein plötzlicher Tod ein großer Schock für uns alle. Es ist aber ein Trost, dass er bis zuletzt aktiv geblieben ist und an unserem Haus dirigiert hat. Ich empfinde es als großes Glück, dass er die Volksoper noch einmal auf das Japangastspiel im Mai 2016 begleiten konnte und sich so von dem japanischen Publikum, das ihn vergöttert hat, verabschieden konnte. Wir werden ihn alle sehr vermissen.

Rudolf Bibl wurde in eine musikalisch vorbelastete Familie hineingeboren. Großvater und Urgroßvater waren k. u. k. Hofkapellmeister und Domorganisten. Schon während der Gymnasialzeit studierte Rudolf Bibl an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien Klavier, Klarinette und Komposition und besuchte die Dirigentenklasse. Nach der Matura wollte er Biologie oder Veterinärmedizin studieren, doch Prof. Hans Swarowsky, der Dirigent und weltberühmte Lehrer einer ganzen Dirigentengeneration, wusste dies zu verhindern. Er engagierte den jungen Künstler 1948 als Solorepetitor an die Grazer Oper. Von dort ging er 1952 als Kapellmeister nach Innsbruck und wieder nach Graz als Operettenchef. 1960 kehrte Rudolf Bibl nach Wien zurück, zuerst an das Raimundtheater und dann als Erster Dirigent an das Theater an der Wien. Von 1969 bis 1973 war er Musikdirektor in Trier, verbunden mit ständigen Gastspielen in Frankreich und Luxemburg.

Seine lange Verbundenheit mit der Volksoper begann, als er am 2. Dezember 1972 für „Das Land des Lächelns“ zum ersten Mal am Pult des Hauses stand. Ab der Saison 1973/74 bis zu seiner Pensionierung am 31.8.1989 war Prof. Rudolf Bibl fest an der Volksoper engagiert. Aber auch danach blieb er dem Haus bis zuletzt auf einzigartige Weise verbunden.

1991 wurde Prof. Rudolf Bibl zum Ehrenmitglied der Volksoper Wien ernannt. Er ist Träger des Ehrenkreuzes des Landes Burgenland. Vom österreichischen Bundespräsidenten erhielt Rudolf Bibl das Verdienstkreuz erster Klasse für Kunst und Wissenschaft und anlässlich der Vorstellungen von „Die lustigen Witwe“ und „Die Fledermaus“ in der Wiener Staatsoper das Silberne Ehrenkreuz der Republik Österreich.

An der Volksoper hat er im Laufe von 45 Jahren an 2273 Abenden ein umfassendes Opern-, Operetten- und Musicalrepertoire dirigiert. Er leitete die Uraufführung von „Robert Stolz – Servus Du“ und weitere 18 Premieren: u. a. „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ (1975), „Im weißen Rössl“ (1976 und 1993), „Der Fremdenführer“ (1978), „Gasparone“ (1980) „Die Csárdásfürstin“ (1982), „Die lustigen Weiber von Windsor“ (1982), „Hello, Dolly!“ (1984), „Das Land des Lächelns“ (1985), „Madame Pompadour“ (1986), „Der Zigeunerbaron“ (1989) und „Der fidele Bauer“ (1997). Weiters dirigierte der Künstler die Neuinszenierungen von „Die Fledermaus“ (1974), „Der Graf von Luxemburg“ (1977) und „Die Zirkusprinzessin“ (1990).

Ein wichtiges Ziel war ihm immer, Wiener Musik in höchster Qualität der Welt bekannt zu machen. Er betreute zahlreiche Auslandsgastspiele, wie jene in Den Haag (1975, 1976), Moskau (1983), Berlin (1986), Japan (1979, 1982, 1985, 1989, 1993, 2016) oder den USA (1984).

Als Konzertdirigent war Rudolf Bibl stets gern gesehener Gast in Japan, wo er auch zahlreiche Neujahrskonzerte mit dem Symphonieorchester der Volksoper Wien und dem NHK Tokio dirigierte. Zudem leitete er Operettenproduktionen in St. Gallen, an der Opéra de Bastille Paris, an der Berliner Staatsoper und bei den Seefestspielen Mörbisch, deren musikalischer Leiter er über viele Jahre war. (Quelle: Wiener Volksoper; Foto oben: Rudolf Bibl/ Foto Wiener Volksoper)

Jennifer O’Loughlin

 

Als Titelheldin in Bellinis La Sonnambula feierte Jennifer O’Loughlin in der Spielzeit 2015/16 große Erfolge im Münchner Prinzregententheater. Ein weiteres Rollendebüt für die US-amerikanische Sopranistin stellte im Januar 2017 die Leïla in Les Pêcheurs de perles von Bizet dar. Nach ihrem Karrierebeginn an der Wiener Volksoper und neben dem aktuellen Engagement am Münchner Gärtnerplatztheater verfolgt Jennifer O’Loughlin eine internationale Karriere; in den letzten drei Jahren gastierte sie z.B. am New National Theatre Tokyo als Fledermaus-Adele (inszeniert von Heinz Zednik und dirigiert von Alfred Eschwé),  2015 mit dem Sopransolo in Orffs Carmina burana unter Kristjan Järvi beim „Georges Enescu“-Festival 2015 von Bukarest und 2016 in Händels Messias mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter Edward Polochick sowie als Tytania in Brittens Midsummer Night’s Dream am Opernhaus von Valencia, unter der musikalischen Leitung von Roberto Abbado. Sebastian Stauss traf die Sängerin in München während der Proben zu den Pêcheurs de Perles!.

Sexy und selbstbewusst: Jennifer O’Loughlin/ Foito David Martin Jacques

Wie für alle ihre Partien beschäftigt sich Jennifer O’Loughlin beim Einstudieren von Bizets Leïla sehr gründlich mit dem Idiom und dem Stil ihrer Partie: „Schon während der Ausbildung am Konservatorium waren meine intensivsten Aussprachekurse jene in der französischen Sprache. Es gibt so viele Regeln und Nuancen! Aber ich habe es immer genossen, französisches Lied zu singen. Vor ein paar Jahren habe ich für meine Interpretation von Poulenc-Liedern den ‚Poulenc Plus’-Wettbewerb unter der Leitung von Dalton Baldwin gewonnen.“ Auch mit Thomas Grubb (u.a. Autor des Buches Singing in French, a Manual of French Diction and French Vocal Repertoire) hat Jennifer O’Loughlin zusammengearbeitet: „Es war wichtig zu lernen, wie man die nasalen Vokale singt, ohne dass Töne direkt in die Nase gehen. Dies erfordert, wie in allen Sprachen, im Französischen aber ganz besonders: viel Stütze, eine sehr offene Kehle, Nase und ein hohes Gaumensegel. Was ich außerdem als Herausforderung empfinde, ist das Schwa, wie z.B. in: ‚Me voilà seule’. Im Wesentlichen ist es ein offenes E mit abgerundeten Lippen – gefährlich, weil es regelrecht in die Kehle zurückfallen kann. Dieses Problem wird durch das Hinzufügen der abgerundeten Lippen verschärft. Also muss ich mir vorstellen, den Schwa-Laut ‚da draußen’ zu halten.“

Jennifer O’Loughlin: Amina in „La Sonnambula“ mit Maxim Kuzmin-Karavaev/ Münchner Gärtnerplatztheater/ Foto Thomas Dashuber

Neben souveräner Koloratur und großer Phrasierungskunst ist, wie selbst Muttersprachler/innen attestieren, auch im italienischen Repertoire die sorgfältige Aussprache kennzeichnend für Jennifer O’Loughlins Interpretationen. Beste Voraussetzungen also für weitere Rollen im so genannten Belcanto-Fach, nach der hoch gelobten Amina in La Sonnambula? Schließlich brachte gerade die Wahnsinnsszene aus Lucia di Lammermoor Jennifer O’Loughlin schon bei den Paris Opera Awards 2013 den „Maria Callas“-Preis ein, und die Aufnahmen der Callas kennt sie ebenso gut wie jene von anderen berühmten Sopranistinnen in italienischen Koloratur-Partien (z.B. Sutherland oder Scotto).  „Was wir heute als Belcanto bezeichnen – Rossini, Donizetti und Bellini –, war bereits das Ende der Belcanto-Ära, die bei Händel und Mozart auf dem Höhepunkt stand. Bellinis Musik finde ich in ihrer Eleganz, Raffinesse, Melodiösität und Introvertiertheit am stärksten, ähnlich wie Chopin. Wie dieser starb Bellini ja jung und konnte nicht annähernd so viel komponieren wie Donizetti oder Rossini, dessen Musik ich als extrovertiert und sehr funkelnd empfinde. Donizetti erscheint mir dagegen dramatischer; er malt gleichsam mit breiteren Strichen und führt näher an Verdi heran.“ Als Partnerin von Elīna Garanča (auf deren jüngstem CD-Recital) ist Jennifer O’Loughlin übrigens in einem Duett aus Verdis Don Carlo als Tebaldo zu hören. „Verdi war quasi die Brücke. Er verkörperte beides, sowohl die ältere Schule des Gesanges als auch das, was wir jetzt Verismo nennen. Ich denke, deshalb sind seine Werke so beliebt. Der Grund, warum das Konzept von Belcanto als Sängerschule so schwer fassbar ist, ist wohl, dass es anfangs von Kastraten perfektioniert und weitergegeben wurde. Eine vereinfachte Sichtweise besteht darin, dass es zwei Gesangsphasen und zwei pädagogische Philosophien gibt: ‚Prä- und Post-Wagner’ bzw. die Kontrolle der Stimme als rein physikalischer Mechanismus gegenüber der Verwendung der Phantasie, um den Körper zu kontrollieren. Ich persönlich gebe der älteren Schule des Gesanges den Vorzug.“

Jennifer O’Loughlin: „Die Kluge“ (mit Wolfgang Koch)/ Volksoper Wien/ Foto Dimo Dimov

Mozart als „eigentlicher“ Belcanto-Komponist bleibt in der Fachentwicklung von Jennifer O’Loughlin zentral. Zu den Münchner Wiederaufnahmen 2016/17 von Così fan tutte und der Entführung aus dem Serail mit O’Loughlin als Fiordiligi bzw. Konstanze kommt bei der Don Giovanni-Premiere im Juni noch das Rollendebüt als Donna Anna: „Meiner Meinung nach ist Donna Anna die bisher dramatischste Rolle in meinem Repertoire.  Und ich denke, es ist gut, dass ich davor noch einige Male als Konstanze auf der Bühne stehe. Rollen mit Noten über dem hohen C halten mich ‚rein und ehrlich’! Ich bleibe damit auf Kurs.“ Zwischen Leïla und den Mozart-Rollen steht im März noch eine Uraufführung des Gärtnerplatztheaters an, Frau Schindler von Thomas Morse, auf die sich Jennifer O’Loughlin ebenfalls freut: „Ich mag moderne Musik und habe eine Menge davon in der Schule gesungen,  einschließlich einem Opern-Einakter, geschrieben von einem der Kompositionsschüler. Es ist interessant, eine Rolle zu kreieren, die niemand zuvor verkörpert hat. Es ist meiner Meinung nach wichtig, daran teilzunehmen und neue Musik zu fördern, weil nur so unsere Kunstform erweitert wird. Ich genieße und erschließe mir möglichst viele verschiedene Stile, damit meine Repertoire-Möglichkeiten schier endlos sind, besonders wenn ich noch das Lied und Oratorium hinzufüge.“

Auch die abschließende Frage, welche Möglichkeiten der Regie sie für exotische Handlungsorte wie bei den in München nur konzertant gespielten Pêcheurs de perles sieht, beantwortet Jennifer O’Loughlin sehr offen: „Ich glaube, dass dieser Exotismus uns im 21. Jahrhundert weniger befremdet als zur Entstehungszeit von Pêcheurs de perles oder Lakmé! Reisen ist so viel schneller heute, und wenn ich etwas über Sri Lanka erfahren will, muss ich gar nicht hinfahren. Ich kann mir im Internet eine Reihe von Dokumentationen über dieses Land abrufen. Das Einzige, was ich von einer Inszenierung verlange, ist, dass sie sinnfällig ist und der Musik dient. Ob sie in der ursprünglich vorgesehenen Zeit angesiedelt ist, finde ich nicht so wichtig. Die Inszenierung muss dem Drama dienen, das in der Musik liegt.“

 

(Foto oben: Jennifer O’Loughlin als Tytania im „Midsummer Night’s Dream“, Volksoper Wien (C) Dimo Dimov; eine ausführliche Biographie und weitere Details finden sich auf Jennifer O’Loughlins website: http://www.jenniferoloughlin.com/)

Ein Leben lang Erste Geige

 

Eher ein Trachtenjanker als der feierliche Frack scheint zu dem freundlich-verschmitzt lächelnden Gesicht auf der Titelseite des Buches von Peter Brem, Ein Leben lang Erste Geige, zu passen, und so kontrastreich wie das Cover ist auch der Inhalt des Buches, das sich mit den höchsten und letzten Dingen der Musik in einer Art und Weise befasst, dass man es lesen kann wie einen spannenden Roman. 46 Jahre lang war der Münchner Mitglied der Berliner Philharmoniker, Teil einiger berühmter Kammerensembles und für einige Semester auch Lehrer an der Berliner Hochschule für Musik.

Wie ein Musikstück gegliedert ist die Autobiographie mit Kapiteln wie „Vorspiel“, „Auftakt“ oder „Punktierung“, nicht durchweg chronologisch aufgebaut, sondern dem Leser auch „Intermezzi“ anbietend und vor allem jedem, der eine Karriere als Musiker anstrebt, wertvolle Einsichten und Ratschläge vermittelnd. So mag es manchem Leser nicht schmecken, wenn er kategorisch erklärt: “Eine andere Methode funktioniert nicht“, und damit das kontinuierliche, von Vorlieben und Launen unabhängige ständige Üben und noch einmal Üben meint. Bei Brem führte das sogar so weit, dass er zunächst auf den Besuch des Gymnasiums verzichtete, um die Geige nicht zu kurz kommen zu lassen. Und seine Karriere wäre vielleicht anders verlaufen, wenn er sich nicht so vehement gegen ein Studium in der SU gewehrt hätte, denn an anderer Stelle stellt er fest, dass von dort vor allem zum Solisten ausgebildete, aber nicht Orchestermusiker kamen und kommen.

Höchst aufschlussreich ist der Bericht über das Vorspielen bei den Berlinern, deren besondere Organisationsform dem Leser ausführlich und nachvollziehbar geschildert wird, interessant sind die musikalischen Charakterbilder der Konzertmeister, so Michael Schwalbés, von Brandis, in dessen Quartett er jahrelang mitspielte, und von Spierer – Berliner Konzertbesuchern der letzten Jahrzehnte bestens bekannt. Brem scheut nicht vor gewagten Vergleichen zurück, wenn er schildert, dass ihm Karajan als Gott, Schwalbé als Petrus und der Rest des Orchesters als Engel vorkamen.

Der spezielle Klang der Berliner wird erwähnt, die Findung der Chefdirigenten Abbado und Rattle beschrieben und nicht nur deren spezielle Arbeitsweisen analysiert, sondern auch die von Maazel, Muti, Bernstein, Celibidache, Thielemann und vieler anderer Dirigenten, die mit dem Orchester arbeiteten. Dabei weist Brem mehrfach drauf hin, dass eigentlich bei der Wahl Abbados wie der Rattles eigentlich Daniel Barenboim sein Favorit war. Die Probenarbeit und Aufführungspraxis der drei Chefdirigenten, die er erlebte, wird miteinander verglichen, so die an Brahms‘ 3. Sinfonie. Ab und zu gibt es auch einen Einblick in Privates, so  das gemeinsame Kind von Abbado und Mullova betreffend.

Als jahrelanger Geschäftsführer kann Brem natürlich auch über Nichtkünstlerisches berichten, so darüber, dass die Philharmoniker eigentlich, wer hätte das gedacht, zu schlecht bezahlt wurden oder dass es feine Unterschiede zwischen dem Berliner Philharmonischen Orchester und den Berliner Philharmonikern gibt. Besonders hervorgehoben wird die Jugendarbeit von Rattle, der der Verfasser zunächst recht skeptisch gegenüber stand, und ein leiser Tadel schwingt in der Feststellung mit, dass der britische Dirigent trotz angeblichen Thomas-Mann-Lesens im Original die Proben nie auf Deutsch stattfinden ließ. Er befasst sich auch aufschlussreich mit der Frage, was einen „Superdirigenten“ ausmache, schildert die Aktivitäten der Philharmoniker anlässlich des Mauerfalls und setzt sich mit den atmosphärischen Strömungen im Publikum der Philharmonie auseinander. Als Revolutionär zeigt er sich in der Zusammenarbeit seines Orchesters mit den Scorpions unter Klaus Meine (gegen Abbados Meinung dazu), ebenso in seiner Bejahung der Einrichtung der Digital Concert Hall, die weit weniger umstritten war.

Aber nicht nur musikalische Höhenflüge, sondern auch ganz „Gewöhnliches“ beschäftigt ihn, so  die Hustengeräusche aus dem Publikum und die einheitliche Kleidung für nichtabendliche Auftritte, dunkelblaue Anzüge von Joop, die sich zu seinem Leidwesen bis heute bei den Damen im Orchester nicht durchsetzte.

Zu denken geben sollte manchem Musiker, wie strikt Brem persönliche Beziehungen zwischen z.B. Angehörigen eines Kammermusikensembles ablehnt, welche Schwierigkeiten die Aufführung von Opern, insbesondere des Rosenkavaliers, einem Orchester bereiten können. Nicht überraschend ist für den Leser, wie eng hingegen die Beziehung eines Musikers, vor allem eines Geigers zu seinem Instrument ist, und mit viel Anteilnahme wird er lesen, welche Bedeutung die vier Geigen Brems für ihren Besitzer hatten. Auch Niederlagen wie das vergebliche Bemühen um die Stelle des Konzertmeisters werden nicht verschwiegen, und manch kritischer Blick wird u.a. auf die Auswüchse des Artenschutzgesetzes geworfen, das die Mitnahme uralter Instrumente z.B. in die USA verhindert. So pessimistisch der Blick auf die Zukunft der zu zahlreichen Musikstudenten ausfällt, so optimistisch ist dieser, wenn der Verfasser auf seine nun nicht mehr beruflich, aber privat geübte Beschäftigung mit Musik richtet und damit den Leser in einer gar nicht pessimistischen Stimmung zurücklässt (260 Seiten, rororo 2016; ISBN 978 3 499 63141 2Ingrid Wanja