„Um seine wiege war sorgloser glänz, Ihm reiften rühm und huldigung, doch eitel War ihm ein trachten ohne frommes tun, Er half zum dank für nie erschöpfte wonnen Die Hellas schenkte — deren matten erben Im kriege … Jetzt beschämt noch unsre söhne Die sich in schaler Lust für künftige ämter Verstumpfen — seine wunde wie sein lorbeer“. „An Clemens, gefallen am 23. April 1897„, lautet die Widmung eines Gedichts in Stefan Georges „Siebentem Ring“, überschrieben „Pente Piagadia“, zu deutsch „Fünf Brunnen“. Wer war, so fragte sich lange Jahre die Literaturkritik, jener Clemens, der laut George zu einer Zeit fiel, da in Europa kein Krieg wütete? Gemeint ist der britische Komponist Clement Hugh Gilbert Harris, der sich mit einem selbst angemieteten Söldnerheer für den griechischen Freiheitskampf stark machte, ein später Erbe von Lord Byron.
Ein privilegiertes Leben: Kein unbedeutender Komponist, und auch keineswegs unbekannt, wenn auch lange Zeit vergessen, wurde Harris zu Lebzeiten in seinem Heimatland durchaus Edward Elgar an Bedeutung gleichgesetzt. Aber beginnen wir von vorn: Clement Hugh Gilbert Harris; geboren am 8. Juli 1871 in Wimbledon als fünftes von sechs Kindern. Die Eltern sind wohlhabend. Der Vater ist der Senior der Reederei Dixon and Harris. Obendrein ist er Zunftmeister und königlicher Friedensrichter für die Grafschaft Glamorgan. Als Harris 1885, im Alter von dreizehn Jahren, in Harrow eingeschult wird, fragt ihn der Rektor: Und was willst du einmal werden? „Berühmt!“ ist die Antwort des jungen Clement. Und in seinem Tagebuch erzählt er: „Die meisten freien Nachmittage verbrachte ich in der Bibliothek. Ein anderer Lieblingsaufenthalt war der Kirchhof. Ich mag mich besinnen, wie ich einmal auf demselben Stein, auf dem schon Byron gesessen und geträumt hatte, Tränen der Schwermut vergoss und wie dabei im Herzen die Sehnsucht erwachte, auch mein Name möge meinem Vaterland dereinst Ruhm und Ehre erwerben.“ Mit fünfzehn Jahren gibt er das Violinspiel auf und übt stattdessen Klavier: Bereits im Juli 1889 sieht man ihn als Opernbesucher – an der Seite von Oscar Wilde und dessen Frau Constanze. Mit siebzehn Jahren, im September 1889, geht Harris an das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt. Clara Schumann will keine Schüler mehr annehmen. Bereits seit einiger Zeit kann sie schnell aufeinanderfolgende Harmonien nicht unterscheiden und hört oft ganz andere Töne, als gespielt werden. Aber auf Bitten des Direktors Bernhard Scholz hört Clara Schumann das Vorspielen von Clement Harris an — und sie akzeptiert ihn als Schüler.
Aber der Musik gilt nicht Clements ausschließliches Interesse. Sein Studierzimmer mit dem Klavier und Vasen frischer Rosen gemahnt an einen Alchemisten: „Am Fußboden ausgebreitet astronomische Tabellen und — von früh auf Lieblingsspielzeug — elektrische Basteleien und Apparaturen.“ Mit Vorliebe magnetisiert Clement Harris seine Kommilitonen. Ganze Gesellschaften finden sich dazu in seinem Studierzimmer ein. Darunter auch der Komponist Hans Pfitzner und sein Librettist James Grun, der in jenen Kreisen selbst als Prophet gefeiert wird. „Ich magnetisierte den Propheten, diesmal mit so viel Erfolg, dass ich eine Nadel durch seinen Arm zog, um zu beweisen, dass keine betrügerische Täuschung vorläge. Imboden (einem Kommilitonen) wurde ganz übel dabei und musste mit Wasser erfrischt werden. Ich verfüge zweifellos über eine sehr wundersame Kraft.“ Clement genießt den Unterricht bei Clara Schumann: „O, dieser heutige Vormittag!! Sie spielte mir alleine vor, sie war so anmutig und gütig, und ihr Anschlag vollendet und rührend und doch so silbrig. Man wird beschämt über das Unzulängliche der eigenen Bemühungen.“
Wesensfreund Siegfried Wagner: Im Salon des ihm befreundeten Ehepaars Edward Speyer in Frankfurt erlebt Clement Johannes Brahms, der Frau Speyer bei einem Lied begleitet. Durch Speyer, der selbst Sohn eines Komponisten ist, lernt Clement auch die andere Seite der musikalischen Gegenwart kennen. Denn hier verkehren auch der Direktor des Städel’schen Kulturinstituts, Henry Thode, und seine Frau Daniela Thode, geborene von Bülow, und deren Halbbruder Siegfried Wagner. „Der Sohn des Riesen war auch da. Wir hatten ein langes Gespräch über Wagner. Er sieht seinem Vater sehr ähnlich, hat aber einen weniger mächtigen Kopf“, vermerkt das Tagebuch am 12. Dezember 1889.
In seinen lesenswerten Erinnerungen „My Life and my friends“ berichtet Edward Speyer, dass sich Clement Harris und Siegfried Wagner bei ihrer ersten Begegnung in seinem Haus sogleich angezogen fühlten. Bei den Künstlerfesten im Hause Speyer travestiert Siegfried Wagner gerne als Primaballerina, auch zu Musik von Jacques Offenbach. Clement steht in einer Ecke des Saals mit dem Maler Hans Thoma und spricht plötzlich aus, was der denkt: „Wo werden all diese fröhlichen und lachenden Paare in hundert oder auch nur in fünfzig Jahren sein? Sie sind heute so jung, so glücklich — unvorstellbar, dass sie je alt und traurig würden.“ Hans Thoma, erschreckt, dass jemand seine Gedanken lesen kann, lädt den jungen Engländer in sein Atelier ein. Clement weint angesichts der Bilder „Paradies“ und „Ruhe auf der Flucht“.
In der Neujahrsnacht 1890 vermerkt Harris in London in seinem Tagebuch: „Manchmal glaube ich, verrückt zu sein. Vielleicht bin ich es. In dem Leben ist man nie zufrieden; man will immer, was man nicht hat und das ist? Die Liebe.“ Er verspricht der besorgten Mutter, am kommenden Sonntag in die Kirche zu gehen, aber im Nebel verläuft er sich in der Stadt und gelangt in die Tite Street zur Wohnung Oscar Wildes: „Ich saß in Oscars Arbeitszimmer und las und unterhielt mich mit ihm, bis Constanze – Wildes Frau – zur Mittagszeit aus der Kirche kam. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag: ich hatte mein gegebenes Versprechen gebrochen. Mir wurde eiskalt. Das Gespräch mit Oscar streifte viele und verschiedenartige Themen: Kant, Schopenhauer, das ewige Leben in einer anderen Welt, den Meister und anderes mehr. Er ist ein ausgeprägter Idealist, was ihn mir nahe bringt. Idealismus ist Kunst, Realismus Natur – aber – unter der Hand eines Genies gewinnt das Ideale die höchste Realität.“ Bereits am Tag darauf ist er zum Lunch erneut bei Oscar Wilde, der Clement zu Ehren Kaviar servierte: „,Kaviar‘ – wie er sich ausdrückte – von einem Geschmack, den man nur in Träumen kostet‘. Anschließend hatten wir ein langes Gespräch über das schönste und wunderbarste, was es gibt, Malerei, Musik, Liebe.“ Im Sommer 1891, als sich Clement Harris bei Oscar Wilde für dessen Buch der gesammelt erschienenen Aufsätze über Kunst bedankt, tut er dies mit den Worten: „Es bedeutet mir viel, jemandem zu begegnen, der meinen eigenen Kunstanschauungen so nahe steht.“
Kurz darauf sind Clement und Siegfried Wagner Duzbrüder. Und Wagner erklärt Clement am 8. Juli 1890, seinem 19. Geburtstag, zum Vorbild: „Neunzehn Jahre alt und noch nichts geleistet. Es gibt nur einen, den ich wage, zum Vorbild meiner Wünsche zu erheben. Ihn, der zwanzigmal mehr gelitten hat als ich; ihn, der in Kunst und Leben die Philister und Ungläubigen bekämpfte und zuletzt den Sieg errang. Er sei mein Leitstern, der Leuchtturm in brandender See und ein Hafen, in dem ich ankern kann. Ich bin jung, ich kann arbeiten. Ich will sehen, wie weit ich es bringe.“ „O, könnte ich doch alle Gegner von der Echtheit und gigantischen Größe des Meisters überzeugen.“
Im Spannungsfeld Clara Schumann – Bayreuth: Nun kann der Streit mit Clara Schumann nicht ausbleiben. Sie klassifiziert den „Tristan“ für das Widerwärtigste, was sie in ihrem Leben gesehen und gehört hat: „Den ganzen zweiten Akt hindurch schlafen und singen die beiden, den ganzen letzten Akt stirbt der Tristan, volle 40 Minuten, und das nennen Sie dramatisch!!! Das sind ja nicht mehr Gefühle, das ist Krankheit, sie reißen sich förmlich das Herz aus dem Leibe, und die Musik versinnlicht das in den widerlichsten Klängen!“ Für Clement aber verschlingen sich im „Tristan“ „Gedankentiefe und besessene Ekstase, und wie abgerundet und präzise ist dabei das Ganze, ein gefasster Edelstein, der im Dunkeln blitzt. Ein geheimnisvolles Gruselmärchen mit einem strahlenden und zugleich grässlichen Ende. Worte können nicht schildern, wie der erste Eindruck auf mich war. Ich bin überwältigt vom kolossalen Ausmaß des Ganzen. Dem Text vermochte ich nicht recht zu folgen, glaube aber, dass auch nur wenige Deutsche ihn wirklich verstehen. Ich hoffe, ihn eines Tages zu begreifen und in seiner vollen Wucht auf mich wirken zu lassen.“ So schreibt er nach einer „Tristan“-Probe. Und nach der Aufführung: „O Tristan, Tristan, was für eine großartige Schöpfung du bist! Ich war völlig erschlagen nach der Aufführung, die mit Abstand die beste war, die ich von irgendeinem der Werke gesehen habe. Später ging ich in die Stadt, um eine Kleinigkeit zu essen, mochte aber vor Erregung nichts zu mir nehmen. Ich lief weiter in Richtung Ginnheim und kam erst um zwei Uhr in der Früh nach Hause. Dann lag ich wach im Bett, bis es dämmerte. Ich fand keinen Schlaf.“
Im Juli 1891 tritt Harris seinen ersten Bayreuth-Besuch an. Cosima klassifiziert er als „eine wirklich sehr ungewöhnliche Frau von starker Faszination“. Den „Tristan“ erlebt er in der Familienloge der Wagners, „aufgeregt und völlig zermürbt“ und schluchzt wie ein Kind. Bei einem Bayreuther Juwelier erwirbt er eine Halskette, an der er ein ihm von Daniela Thode geschenktes, in Lava geschnitztes Amulett trägt: „Zum Schutze unserer Freundschaft“. Es ist ein Familienerbstück, das Richard Wagner seiner Frau in Neapel zum Geschenk gemacht hatte. Harris führt die englische Korrespondenz für die Festspielleitung. Er verkehrt mit den Familienmitgliedern der Wagners, Baron Clemens von Franckenstein, Houston Stewart Chamberlain und Richard Strauss. Nur an der Judenhatz, wenn der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stöcker, der größte Antisemit seiner Zeit, bei Cosima zu Besuch ist, beteiligt Harris sich nicht: „Seine Ansichten über Judaismus konnte ich nicht alle als ungetrübte Wahrheit akzeptieren.“
Die Ostasienreise: Kurz darauf lädt Clement Harris Siegfried Wagner zu einer Ostasienreise auf der „Wakefield“, einem der Kaufmannsschiffe seines Vaters, ein. Wie Cosima im Brief einer Freundin mitteilte, begrüßte Siegfried die Aufforderung zur Reise „wie eine Befreiung“. In einem Brief teilt Clement Clara Schumann mit, dass er seine Pianistenausbildung in Frankfurt abbrechen werde: „Ich übernahm mich während der letzten zwei drei Monate in Deutschland. Die häufigen Reisen nach Karlsruhe (zu Felix Mottl und zu dem dort am Polytechnikum studierenden Siegfried Wagner) und jene großartigen, aber erregenden Aufführungen waren für meine Nerven einfach zu viel. Als ich in London ankam, war ich ein Wrack. Ich werde jetzt auf einem von Vaters Schiffen eine Seereise machen, um mich gesundheitlich wieder herzustellen.“ Die Trennung von Clara Schumann war die Folge von Harris‘ Bindung an Bayreuth. Denn in seinem Tagebuch ist zu lesen: „Mein großer Wunsch ist immer noch, Pianist zu werden. Möge das neue Jahr mir gute Fingerfertigkeit bescheren – und noch etwas andres, was ich nicht aufschreiben darf, nicht aufzuschreiben wage.“ Gleichzeitig reift aber auch sein Entschluss, sich „einer höheren und größeren Kunst zuzuwenden, ich meine die Kunst, ein Orchester zu dirigieren“. Über Singapur, Saigon, Hongkong, Kanton, Macao, Manila, Santa Cruz, Colombo, den Philippinen und zurück über Ceylon nach Neapel führt Harris und Siegfried Wagner die Ostasienreise. Vor China liest Harris Miltons „Paradise Lost“. „Die Sonne steht jetzt genau über mir: ich habe keinen Schatten mehr und vermisse diesen finstren Begleiter. Es ist, als verlöre man einen Teil seiner Seele.“ Und Siegfried Wagner vermerkt in seinem Reisetagebuch: „Auf der Batän Insel, unweit Formosa, „landeten wir, krabbelten wieder herum und suchten eine geeignete Stelle zum Baden […] Wir zogen uns aus, ließen unsre Sachen unter einem Busch und stürzten uns — zwei Adame — in die warme See und schwammen. Wir pfiffen und sangen, und die Kokospalmen werden wohl zum erstenmal ,Es gibt ein Glück, das ohne Reu‘ gehört haben.“
Durch das unverhoffte musikalische Erlebnis eines Chors aus Bachs Johannes- Passion, mitten im Straßenlärm von Singapur, durch mannigfaltige sinnliche Eindrücke, aber insbesondere durch den Zuspruch des englischen Freundes entschließt sich Siegfried Wagner, seine Pläne als Architekt aufzugeben und sich ganz der Musik zu widmen. („Wir sitzen den ganzen Tag in unseren Deckstühlen, nur in unsere dünnsten Pyjamas gehüllt (nichts darunter als mich selbst). Ach ist das schön hier!“ schrieb Siegfried Wagner von seiner Schiffsreise mit Clement Harris nach Hause.) Während Clement Harris an Bord des Schiffes die Themen zu seinem sinfonischen Poem „Paradise Lost“ entwarf, keimte in Siegfried Wagner der Gedanke zu einer sinfonischen Dichtung nach Schiller, die schließlich auch im selben Jahr beendet wurde wie Clement Harris‘ Komposition. Am 6 Juni 1895, seinem 26. Geburtstag, brachte Siegfried Wagner sein erstes Orchesterwerk in London zur Uraufführung. Die Jahre nach der Rückkehr von der Ostasienreise mit Siegfried Wagner sind geprägt durch weitere Reisen. Mit seinen Kompositionen will Harris „Werke schaffen, die das Niveau der englischen Musik über ihren heutigen Stand erheben sollen. Dies ist mein Ziel, mein Wunsch. Ob ich über die Begabung verfüge und fähig bin, sie zu realisieren, wird die Zukunft lehren.“ Im Juli 1893 interpretiert Harris seine vier Etüden für Pianoforte. Die Londoner „Times“ referiert: „unglaublich schwierig und höchst gekonnt. Der junge Komponist trug sie mit seltener Brillanz vor.“ Auf Empfehlung von Daniela Thode setzt Harris seine Kompositionsstudien bei Philipp Wolfrum in Heidelberg fort. Daneben besucht er die kunstgeschichtlichen Vorlesungen von Henry Thode.
„Paradise Lost“: Sein im August 1893 vollendetes sinfonisches Poem „Paradise Lost“ erläutert der Komponist: „Die Themen entstanden auf der Reise in den Fernen Osten, die meisten an Bord des Schiffs. Die lange Einleitung folgte dann Stück um Stück auf einsamen Gängen in Mitternachtsstunden auf der Terrasse vorm Heidelberger Schloss. Den Schlussteil schrieb ich diesen Sommer während meiner letzten drei Wochen in Heidelberg […] Gegen Ende lebte ich ausschließlich von Keksen und Selterwasser mit einem Schuss Wein; ich konnte keine feste Nahrung mehr zu mir nehmen, d.h. keine Eier und kein Gemüse.“ Fleisch aß Clement Harris ohnehin nicht. Laut seiner eigenen Analyse übernimmt die sinfonische Dichtung „Paradise Lost“ von Miltons Werk „den metaphysischen, nicht den deskriptiven Charakter„.
Das griechische Abenteuer: Stefan George lernt Harris im August 1896 im Hause des Komponisten Clemens von Franckenstein, des späteren Münchner Staatsintendanten, kennen. Einen Monat später nimmt Harris 1896 in Korfu Griechisch-Stunden. Die griechisch-türkische Auseinandersetzung um die Insel Kreta spitzt sich im Februar 1897 zu. 1897 setzt Harris mit dem Staatsanwalt von Korfu, Kyrgousios, zum Festland über. An Bord des Dampfers ist Munition, die für die Front in Epirus bestimmt ist. Das Schiff ankert etwa zwei Kilometer vor der türkisch besetzten Grenze. Ein Boot mit zwei Mann wird herabgelassen, sie sollen die Meerenge erkunden. In Arta schallen Harris die Worte: „Anglos Philhellen! (Engländer, Griechenfreund!)“ entgegen. Hochrufe bahnen ihm den Weg durch die Menge ins Lager.
Am 5. April 1897 erklärt Harris: „Ich handle, wohlverstanden, aus völlig freien Stücken. Keiner hat mich dazu beredet, mein Leben in den Dienst der Griechen zu stellen; vielmehr haben wohlmeinende Freunde mich bisher daran gehindert, meine Absicht auszuführen {…]. Der Schritt, den ich tue, mag vielen als ein Akt des Wahnsinns erscheinen. Für mich, der ich die Sache gründlich erwogen habe, ist er das Wenigste, was ein Mann von Ehre für ein Land tun kann, das im Namen des Kreuzes nach Freiheit ruft und der Reihe nach von jedem der so genannten zivilisierten Mächte beleidigt und gehindert worden ist.“ Der Dichter Lorenzo Mavilis und Clement fuhren einen Trupp von dreißig Mann an, begeistert von der Bevölkerung auf Korfu mit dem Ruf „Harris – Charis!“ („Harris-Liebreiz!“) angefeuert. An seine Mutter, Elizabeth Rachel Harris, schreibt er: „Liebe Mutter! Ich bin jetzt ganz in meinem Element, weit weg von all den sinnlosen Verbindlichkeiten der modernen Gesellschaft, und genieße es vollauf.“
Harris‘ Briefe an Siegfried Wagner wurden leider vernichtet. Aber einige an Siegfrieds Halbschwester Daniela Thode gerichtete Briefe von Harris haben sich erhalten. Hier heißt es am 9. April 1897: „Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen. Ich möchte mit niemandem in der Welt tauschen, obschon ich mir der hiesigen Gefahren wohl bewusst bin. Ich hoffe nur, die Griechen gewinnen den Krieg, der jetzt unvermeidbar scheint, und wenn ich nicht mehr zurückkomme, so werden Sie zumindest wissen, dass ich mein Leben für die Freiheit eines Volkes gab, dem meine Bewunderung zu zollen ich gelernt habe und das ich als Kinder betrachte, die sich mit der Zeit zu edlen und großartigen Männern entwickeln und, als würdige Erben ihrer historischen Ahnen, dem Land Ehre erweisen werden.“
Die Stadt Arta ist verwüstet. Die Häuser wurden von den abziehenden türkischen Truppen in Brand gesteckt. Nur ein Türke soll in der Stadt zurückgeblieben sein. Harris gibt den Befehl, den Zurückgebliebenen zu suchen und ihn zu beschützen, die Plünderer zu verjagen und für die Verwundeten zu sorgen. Er selbst springt auf einen Dachstuhl und bekämpft mit einer Axt den Brand. Vor dem Pass von Pente Pigadia hat die von Harris angeführte kleine „Rotte Korah“ ihre Gewehre in Pyramiden abgestellt und rastet, als ihnen eine Menge entgegenkommt, die sie für Epiroten halten und mit geschwenkten Armen begrüßen. Aber die Ankommenden eröffnen das Feuer — es sind Türken. Harris kriecht hinter einen Felsen und feuert zurück. Er wird getroffen. Die „London Times“ berichtet am 22. Mai 1897: „Die Verwandten von Mr. Clement Harris, der im Kampf mit den griechischen Truppen in Epirus verwundet wurde, haben über seinen Tod am 23. April bei Pente Pigadia authentische Nachricht erhalten.“
In Griechenland werden noch Dezennien nach Harris‘ Tod Ansichtskarten mit dem Porträt von Clement Harris verkauft. An der Englischen Kirche in Athen erinnert seit dem Dezember 1900 eine Gedächtnistafel an den Philhellenen Clement Harris. Siegfried Wagner aber komponierte zum Gedächtnis an Clement Harris im Jahre 1923 die Sinfonische Dichtung „Glück“. Sie ist ein kompositorisches Pendant zu Stefan Georges Gedicht „Pente Pigadia“. Beziehungsreich gibt Siegfried Wagner als Schlussdatum seiner Partitur den 10. Mai 1923 als „Himmelfahrtstag“ an. Bei Konzerten hat der Komponist es sich selten nehmen lassen, die Zuhörerschaft selbst in sein Werk einzuführen.
Das hinterlassene Werk: Harris‘ Sinfonisches Poem „Paradise Lost“ kam noch häufiger zur Aufführung: 1901 im Heidelberger Bach-Verein unter Philipp Wolfrum, im Dezember 1905 von der Haiford Concerts Society in Birmingham, 1937 im antiken Odeion in Athen und 1938, gespielt vom BBC-Orchester, erstmals im Rundfunk. 1993 wurde das beim Verlag Schotts Söhne in Mainz erschienene, dort aber nicht mehr auffindbare Aufführungsmaterial neu erstellt für mehrere Aufführungen durch die Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt, die Harris‘ Orchesterwerke auch erstmals auf CD eingespielt haben (Marco Polo CD 8.223660). 1999 erfolgte im Megaro Musikis in Athen eine erneute Aufführung mit dem Orchestra Chroomatoon unter Miltos Logiadis. Harris‘ Lieder und Romanzen kamen in den Jahren 1992 bis 1995 bei den Rudolstädter Festspielen zur Wiederaufführung. Hier erfolgte im Sommer 1994 auch Ulrich Urbans erstmalige Interpretation von Clement Harris‘ „Ballade“.
Viele seiner Werke sind heute in keiner Bibliothek mehr vorhanden, auch nicht bei den Verlagen. Dennoch konnte ein Großteil seiner Kompositionen für die Einspielung auf der CD aufgefunden werden. Nur die Versuche, die (nach 1897) bei Metzler in London erschienenen Six Songs („Faith“, „Forget me not“, „Absence“, „The Return“, „Hope“, „Vision“) zu finden, waren vergeblich. Glücklicherweise besaß Harris‘ Biograf Claus Victor Bock in Amsterdam eine Fotokopie von Harris‘ Manuskript von einem dieser sechs Lieder, „Forget me not“. Vielleicht findet sich mithilfe dieser Publikation doch noch ein Exemplar der Druckausgabe der Six Songs? Die „Quatre Etudes de Concert“ erschienen 1893 bei Schott in London, Mainz, Brüssel und Paris. Sie sind gleichzeitig Stimmungsbilder, und ein zutreffender Titel wäre „Die vier Jahreszeiten“, denn jede der vier Etüden, die Harris Cosima Wagners Tochter Daniela, der Halbschwester Siegfried Wagners, gewidmet hat, trägt eine Jahreszeit als Überschrift. Das „Lied de Peter Cornelius“ in der „Transcription de Concert pour Piano par Clement Harris“ erschien 1893 bei Schott in London, Mainz, Brüssel und Paris. Cornelius‘ Lied „In Lust und Schmerzen“ aus dem Jahre 1854 auf ein eigenes Gedicht ist Marie von Sayn-Wittgenstein, der Tochter von Liszts Lebensabschnitts-Gefährtin Caroline, gewidmet. Auch Franz Liszt hat Gedichte von Peter Cornelius vertont. Zwei Romanzen von Clement Harris bemühen sich offenbar, den in Richard Wagners OEuvre nahezu ausgeklammerten Bereich der Kammermusik in Denkungsart, Formgebung und Harmonik des Bayreuther Meisters einzubringen. „Das Meer ist ein Teil meiner selbst, und lange von ihm getrennt sein, macht mich ruhlos und schwermütig. Ich existiere zu Land, zu Wasser aber lebe ich.“ Harris‘ letzte Komposition waren die „Songs of the Sea“ auf Gedichte von Auberton Herbert, die er seinen Eltern widmete.
Nachdem der Pianist Ulrich Urban sich über fünf Jahre lang intensiv mit dem pianistischen Schaffen von Clement Harris auseinander gesetzt und die Werke des britischen Jugendfreundes von Siegfried Wagner häufig in die Programme seiner Klavierabende integriert hatte, war 2001 beim MDR Leipzig die Gesamteinspielung von Harris‘ Klavierwerken erfolgt. 2004 erschien diese Einspielung beim Label VMS als CD, ergänzt um weitere Kammermusik und Lieder von Clement Harris, ebenfalls mit Ulrich Urban als Pianisten und Begleiter. Das Beiheft zur CD enthält ausführliche Werkanalysen aus der Feder von Peter P. Pachl. Der Titel „The Complete Piano Et Chamber Music“ ist insofern zutreffend, als bis heute kein Exemplar der „Six Songs“ in irgendeiner Bibliothek aufgefunden werden konnte, so dass diese Werkgruppe auf der CD nur mit einem Lied berücksichtigt werden konnte: Clement Harris: The Complete Piano Et Chamber Music. Ulrich Urban, Klavier; Andreas Hartmann, Violine, Anna Nie- buhr, Violoncello, Alexander Roske, Klarinette, Henryk Böhm, Bariton; VMS 124 DDD. Peter P. Pachl
Wir danken Peter P. Pachl – erfolgreicher Musikwissenschaftler, Theatermann, Regisseur und Autor mit Schwerpunkt Siegfried Wagner – für die wie stets sehr liebenswürdige Genehmigung zur Überlassung seines Textes.
Das große Foto oben ist ein Screenshot auf dem ZDF-Film „Der Wagner Clan – eine Familiengeschichte“, der in Kooperation mit dem ORF 2014 im deutschen ZDF lief und als DVD zu beziehen ist (Mona-Film). Heino Ferch, Lars Eidinger und viele mehr geben diesem Film Kontur. Iris Berben verkörpert Cosima Wagner, ihr Sohn Oliver Berben führt Regie. Im Berliner Tagelspiegel schrieb Jörg Seewald: Im Geist von Visconti – das ZDF macht aus dem Wagner-Clan ein Schauspielerfest mit einem prachtvollen Bilderreigen….Für Produzent Oliver Berben war es zunächst undenkbar gewesen, einen Wagner-Film zu drehen. Erst die Biografie des Engländers Jonathan Carr „Der Wagner-Clan“, die ihm sein Kollege Gero von Boehm in die Hand drückte, brachte ihn zum Umdenken. Drehbuchautor Kai Hafemeister begriff laut Berben schließlich die Aufgabe, „nur kein Biopic zu schreiben, sondern in einer unterhaltsameren Form. Ohne Hafemeister würde es diesen Film nicht geben“, der ausdrücklich „kein Musikfilm ist“, wie Berben betont… Wie gesagt: Kein Film für Wagner-Fans, eher eine Chance für die vielen, die wie Iris Berben Vorbehalte gegen Wagners Gedankenwelt hegen, „das eigene Halbwissen zu überdenken“. Den Wissbegierigen, die mit den historischen Ungenauigkeiten von „Der Wagner-Clan“ nicht leben können, sei der anschließende Film von Gero und Felix von Boehm ans Herz gelegt: „Der Wagner-Clan – Die Dokumentation“ beleuchtet das weitere Schicksal der Familie Wagner.