Archiv für den Monat: November 2015

Liebe im Doppelpack

 

Zwei ähnliche Konzepte mit frühbarocker Musik zum Thema „Liebe“ präsentieren das Berliner Pera Ensemble mit der CD „Momenti d’Amore“ und L’Arpeggiata  mit „L’amore Innamorato“.  Christina Pluhar und ihr Ensemble L’Arpeggiata widmeten sich 2009 auf der CD „Teatro d’amore“ Monteverdi, nun präsentieren sie auf der neuen CD „L’amore Innamorato“ eine weitere Herzensangelegenheit: Musik aus sechs Opern von Monteverdis Schüler Francesco Cavalli (1602-1676) – Arien aus L’Ormindo (1644), La Calisto (1651), La Rosinda (1651) und L’Artemisia (1657) sowie die Ouvertüren zu Il Giasone (1649) und L’Eliogabado (1668),  „L’amore Innamorato“ ist übrigens der Titel einer verschollenen Oper Cavallis. Ergänzt wird Cavalli durch Musik von Giovanni Girolamo Kapsberger und Andrea Falconieri. Christina Pluhar, die selber auch Theorbe und Barockharfe spielt, und ihr Orchester stellen erneut ihren instrumentalen Farbenreichtum unter Beweis, eine Spielfreude strahlt durch, die ansteckend erscheint und einzelne Instrumente betont, bspw. das Kornett, wunderbar gespielt von Doran David Sherwin oder Elisabeth Seitz am Psalterium, Paulina van Laarhoven an der Lirone und Pluhar selber an der Harfe – die drei musizieren zusammen die Toccata prima von Kapsberger. Die 18 Instrumentalisten der Aufnahme erzeugen einen lebendigen und farbigen Klang. Die Sopranistinnen Nuria Rial und Hana Blažíková bieten in den Arien ein breites Spektrum: keusch, verführerisch, sehnend, klagend oder kokett und tragen klangschön ihren Anteil zum Gelingen bei. Die limitierte Deluxe-Edition enthält zusätzlich eine DVD „15 Jahre L’Arpeggiata“, die einen Querschnitt mit Musik von Live-Mitschnitten zeigt. (L’Arpeggiata, Leitung: Christina Pluhar; Nuria Rial und Hana Blažíková, 1CD + 111minütige Bonus-DVD. Erato 0825646166435)

Momenti D'amore Lombardi-Mazzulli Berlin ClassicsDas Pera Ensemble verfolgt mit der CD „Momenti d’amore ein ähnliches Kozept und präsentiert Gesang und Musik aus dem italienischen und spanischen Barock. Eine Arie aus Francesco Cavallis La Calisto und ein Lied von Andrea Falconieri finden sich auch hier, dazu Gesang und  Instrumentalmusik von Barbara Strozzi  (die Schülerin Cavallis eröffnet die CD mit Liebesschmerz), Girolamo Frescobaldi, Giulio Caccini, Claudio Monteverdi, Gaspar Sanz, Joan Ambrosia Dalza und Diego Ortiz. Das Pera Ensemble ist kleiner besetzt als L’Arpeggiata: sechs Musiker spielen für diese Aufnahme auch auf ungewöhnlichen Instrumenten: einer orientalischer Kurzhalslaute (Oud), einer arabischen Zither (Kanun) und orientalischem Schlagwerk. Das von dem aus der Türkei stammenden und seit seiner Kindheit in München lebenden Begründer, Musikwissenschaftler und Kurzhalslauten-Virtuose Mehmet C. Yeşilçay geleitete Pera Ensemble erzielt dadurch einen teilweise verfremdeten Höreindruck, Spanien und Italien erklingen orientalisiert – ein ungewöhnlicher Flair, der sehr schön musiziert ist, trotz kleiner Besetzung wird auch hier ein abwechslungsreicher Klang erzielt. Für die CD „Baroque Oriental“ bekam das Pera Ensemble übrigens 2012 einen ECHO-Klassik in der Kategorie »Klassik ohne Grenzen«. Die italienische Soporanistin Francesca Lombardi Mazzulli trifft mit sehr schöner Stimme den Charakter ihrer Arien ideal: innig, sinnlich und poetisch erklingen ihre Liebeslieder und für mich gelingt es Mazzulli stärker noch als den Sängerinnen von L’Arpeggiata, den Zuhörer zu fesseln. (Pera Ensemble, Leitung: Mehmet C. Yeşilçay,  Francesca Lombardi Mazzulli, 1CD, Berlin Classics 0300664BC). Marcus Budwitius

Frivoler Hochgenuss

 

Drunter und drüber geht es an der MET in Rossinis Le Comte Ory in  der Regie von Bartlett Sher nicht nur, was den stürmischen Dreier im gar nicht keuschen Ehebett der Gräfin angeht, sondern auch bei den Kostümen (Catherine Zuber) hat man alles auf die Bühne gebracht, was attraktiv ist, von der Ritterrüstung über Mittelalter, Barock, Rokoko und Empire, und bleibt dabei doch charmant, weil stets ein Schuss Ironie das Abgleiten ins Grobe verhindert. Am Ende siegt nicht die viel besungene Gattenliebe, sondern Page und Comtesse Adèle fallen einander in die Arme, während der brave Kreuzrittergatte ziemlich perplex daneben steht. Die Bühne von Michale Yeargan ist die denkbar einfachste, wie auf einem Jahrmarkt aufgebaut, und alle Aufgaben von Beleuchter, Requisiteur und Souffleur werden von einem vertrottelten Faktotum mürrisch ausgeführt. Lustig wirkt es, wenn aus einer Pappwand von Schloss eine Zugbrücke herabgelassen wird oder wenn der Mann für alles eine Kurbel dreht, damit die Zuschauer genau sehen können, was sich in dem dann schräg gestellten Bett abspielt.

Vom Allerfeinsten ist, was das Haus an Sängern aufgeboten hat. Michele Pertusi, inzwischen ein gestandener Verdi-Sänger, ist zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und singt einen geschmeidigen Gouverneur. Etwas raubeiniger, auch was die vokale Leistung angeht, ist der Gefährte des lasterhaften Grafen, sein Gefolgsmann Raimbaud, der von Stéphane Degout gesungen wird. In der kleinen Partie der Alice weiß Monica Yunus erotisch aufzutrumpfen. Etwas verhalten beginnt Susanne Resmark als Ragonde, die im zweiten Akt vollmundig die Stimme der üppigen Figur Konkurrenz machen lässt.

Ganz und gar umwerfend komisch wie bezaubernd ist das Trio Juan Diego Flórez, Diana Damrau und Joyce DiDonato. Der Tenor beherrscht in der Titelpartie  das lustige Hin und Herr zwischen so schmachtendem wie draufgängerischem Möchtegernliebhaber und frömmelnder Nonne souverän, seine Stimme ist etwas trockener geworden, die Höhe nach wie vor bombensicher, eine gewisse Monotonie des Singens stört kaum. Der Mezzo hat sichtbar Freude an der Hosenrolle, singt einschmeichelnd und mit vielen Farbfacetten. Hinreißend komisch ist der deutsche Sopran in seinem Schwanken zwischen Begehren und Tugendstreben, in seinen Zweideutigkeiten, dem geradeso Vorbeischrammen am hysterischen Ausbruch. Die gesangliche Leistung steht hinter der darstellerischen nicht zurück, die Mühelosigkeit im Virtuosen verbindet sich mit der Sinnfälligkeit, die es nie Selbstzweck werden lässt. Maurizio Benini am Dirigentenpult sorgt dafür, dass die szenischen Turbulenzen Hand in Hand mit musikalischer Disziplin gehen (Blu-ray ERATO 0825646054503). Ingrid Wanja              

Immer höher

 

Die letzte Platte von Valer Sabadus mit Gluck-Szenen liegt noch nicht lange zurück, da überrascht der Counter schon wieder mit einer neuen Anthologie – diesmal sind es Arie concertate von Antonio Caldara. Der Familienname des venezianischen Komponisten steht dann auch als Titel über dieser Sammlung von neun Arien, von denen mehr als die Hälfte Weltersteinspielungen bedeuten. Sie stammen aus Opern, Kantaten und Oratorien. Durchweg fallen deren farbige Instrumentierung, der motivische Reichtum des Orchesterparts und die anspruchsvolle Behandlung der Singstimme auf.

Sabadus erweist sich in allen Nummern als ein gebührend virtuoser Interpret, der bei den vertrackten Koloraturläufen in keinem Moment in Bedrängnis gerät und dabei mit solcher Natürlichkeit singt, als handele es sich um ein schlichtes Kinderlied. Ein Orchesterstück steht am Beginn, die Sinfonia aus der Kantate Osminda e Fileno, in der das Cello in den Dialog mit der Viola tritt. Hier hat das begleitende Ensemble Nuovo Aspetto unter seinem Leiter Michael Dücker Gelegenheit für gewichtig-majestätisches Musizieren. So wie es später im dreisätzigen Concerto da camera a violoncello solo mit munter-vitalem Duktus gefällt. Und dem Solisten ist es jederzeit ein beflügelnder Partner – in den lyrischen wie heroischen Stücken. Er beginnt mit der Arie der Urania, „Merta il propizio“, aus der Festmusik Le Lodi d’Augusto von 1731. Die Muse der Sternkunde wird hier von den virtuosen Figuren der Violine begleitet, schwingt sich empor zu höchsten Höhen. Sabadus klingt betörend und entrückt, vermag auch die sphärischen Passagen mit schmeichelndem Wohllaut zu erfüllen. Aus diesem http://viagraonline-cheapbest.com/ Werk erklingt später noch die Arie der Calliope, „Vive l’immagine vostra“, in der die Muse der Philosophie und des Saitenspiels von einer Solo-Laute begleitet wird. Ein Jahr später entstand das Oratorium Sedecia, aus dem zwei Arien zu hören sind. In „Ah! Come brand name cialis quella un tempo città“ wird vom Propheten Jeremia die zerstörte Stadt Jerusalem beweint, was der Sänger mit eindringlichem Klageton umsetzt. In „Esca da l’Aquilon“ vernimmt man die Weissagung vom Ende der babylonischen Gefangenschaft canadianpharmacy-drugstorerx.com – in Komposition und Interpretation eine sehr eindringliche Arie. Kokett und schwärmerisch im Duktus bietet „Ah se tocasse a me“ aus Il giuoco del quadriglio in der Stimmung einen schönen Kontrast. Die Arie der Nymphe Nigella, „Questo è il prato“, stammt aus der Pastorale Tirsi e Nigella und lässt die verlassene Titelheldin in galanten Tongespinsten ihrer Trauer nachgehen. Das Oratorium Le Profezie Evangeliche di Isaia erklang erstmals 1723 in der Wiener Hofkapelle, die Arie „Reggimi“ ist besonders viagra online anspruchsvoll in ihren reichen cialis and drinking Fiorituren und Sabadus demonstriert hier einmal mehr seine stupende Kunstfertigkeit. Aus der Festmusik Il nome più glorioso stammt die Arie „Giunse appena quel bel nome“, in der Amor ein inniges Lob auf den Herrscher anstimmt. Effektvoll beschließt Sabadus seine Arienauswahl mit dem Dankgebet des David aus dem Oratorium David umiliato von 1731 (Valer Sabadus: Caldara; SONY 888751 29732). Bernd Hoppe

Ein deutscher Offenbach?

 

Unseren Großeltern (und Ur-Großeltern vielleicht, für die jüngere Generation) war der Operettenkomponist Oscar Straus (1870 – 1954) absolut kein so Unbekannter wie uns heute, wo er so gut wie nie aufgeführt wird und seine Titel nur noch Kuriosen sind. Ein paar kommen bei cpo in diskutablen Neuaufnahmen vor, so Die Perlen der Cleopatra vielleicht (die wieder nach Berlin zurückkommen). Die lustigen Nibelungen (1904, ehemals bei Cappriccio), die es vor Zeiten in der deutschen Provinz und in Wien gab, ganz selten der Praliné-Soldat (1908), ein Hit vor allem im englischsprachigen Revuetheater ehemals. Joan Sutherland singt auf ihrem ebenso zähen wie titelreichen Album „Love live forever“ Evergreens aus dem Chocolate Soldier und andere Operetten-Pralinés mehr.

strauss pachl grinUnd wenn man die Titel aus Straus´umfangreichem Oeuvre aufzählt, geht ein großes „Ach ja, natürlich!“ durch den Raum: Natürlich die Musik zum Film La Ronde (1950), aber auch Operetten wie Ein Walzertraum (1907), Die Teresina (1925), Eine Frau, die weiß was sie will (1932, unsterblich durch die göttliche Fritzi), Drei Walzer (1935) und viele, viele mehr. Zur Vita von Straus lohnt ein Blick auf Wikipedia (das spart hier Platz). Und dass Straus hervorragend und „seriös“ ausgebildet war, zeigt ein Blick auf seine Lehrer: Max Bruch und Arnold Schönberg. Wer war dieser Oscar Straus also, der eigentlich als Oscar Strauss in Wien zur Welt kam, und sein zweites – s – abstreifte, um nicht mit den anderen – ss – verwechselt zu werden? Freund Kevin Clarke vom Operettenmagazin ORCA machte uns auf Peter P. Pachls neues Buch zu Oscar Straus aufmerksam, das im Verlag Grin online erschienen ist und aus dem wir hier eine lange Leseprobe mit Erlaubnis des Autors nach-“drucken“.  G. H.

 

Oscar Straus - Foto um 1918 von Edith Barakovich/ Wikipedia

Oscar Straus – Foto um 1918 von Edith Barakovich/ Wikipedia

Ein Komponist, der im Kaiserreich der Donaumonarchie geboren ist und auch noch in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts aktiv war, bietet sehr viel Stoff, ­ auch für Anekdotisches und kaum Haltbares. Und dies noch mehr, wenn er nur mit einem sehr kleinen Teil seines künstlerischen Gesamtschaffens präsent ist. Manch Hinterfragenswertes rund um das Werk von Oscar Straus hat sich durch die letzten zwei Jahrhunderte mitgeschleppt und wurde vielfach ungeprüft rezipiert. Angesichts der 224-seitigen Straus-Biographie von Bernard Grun, ,,Prince of Vienna” fällt das Kapitel, das die Komponisten Eysler, Fall und Straus in der ,,Kulturgeschichte der Operette” desselben Autors zusammenfasst, eher dürftig aus. Über das Studium von Oscar Straus bei Max Bruch (1838 ­ 1920) ist da zu lesen: ,,Zwei Jahre lang unterwarf er sich dessen diktatorischer Persönlichkeit, komponierte Kammermusik und symphonische Werke, ein Requiem sogar […].”

Oscar Strauss: "Ein Walrzertraum", UFA 1938/ Wiki

Oscar Strauss: „Ein Walzertraum“, UFA 1938 mit Willy Fritsch und Mady Christians/ flikr.com

Bei diesem in der Straus-Literatur gern zitierten ,,Requiem” handelt es sich aber keinesfalls um den kompletten Messtext der Totenmesse in lateinischer Sprache, sondern um ein sich wunderbar zur Vertonung eignendes Gedicht von Friedrich Hebbel (1813 ­ 1863) , ,,Seele, vergiss sie nicht,/ Seele, vergiss nicht die Toten!” Diesen Text hatte vor Oscar Straus bereits Peter Cornelius (1824 ­ 1874) für gemischten Chor und Streicher vertont und nach ihm zweimal Max Reger (1872 ­ 1916) ­ als op. 83 für Männerchor und als op. 144b für Alt, Chor und Orchester ­ und als Lied auch Josef Scheib (1894 ­ 1977).

Oscar Strauss: "Die Perlen der Cleopatra"/ Frotenspiece des Klavierauszgs/ Wiki

Oscar Straus: „Die Perlen der Cleopatra“/ Frotesspiece des Klavierauszgs/ Wiki

Eine Sonderstellung im Oeuvre von Straus bietet diese Textvorlage keineswegs, denn auch später hat dieser Komponist Gemütvolles und Ernstes vertont, bis hin zum Alten Ghettoliedchen. Sie kam ihm zugute beim dezidierten Einsatz für die ernste Musik, ­ so etwa, als der Brünner Stadttheaterkapellmeister eine neue Bühnenmusik zu komponieren hatte für ,,Die Schweden vor Brünn”, als das Spektakelstück von Emanuel Schikaneder (1751 ­ 1812) aus dem Jahre 1807 im Jahre 1895 als Festspiel zur Wiederaufführung gelangte. Dem Thema Dreißigjähriger Krieg kam Straus dann ­ in etwas heiterer Form ein Dezennium später erneut nahe: ,,Mamzell Courasche” 4 auf ein Libretto von Erich Korn wurde 1906 in Wien uraufgeführt, ­ und damit mehr als ein Vierteljahrhundert vor Bert Brechts ,,Mutter Courage”, bei deren Uraufführung in Zürich im Jahre 1941 übrigens auch Lieder eines Operettenkomponisten erklangen von Paul Burkhard (1911 – 1977).

Oscar Straus: "The Chocolate Soldier", Poster für den Fim 1941

Oscar Straus: „The Chocolate Soldier“, Poster für den Fim 1941/en.wikipedia.org

Aber offenbar war Straus die Ernsthaftigkeit seiner Musik sogar in der Zeit seiner Anstellung als Kapellmeister des ,,Überbrettl” ein wichtiges Anliegen, denn der Komponist bekannte im Jahre 1908 in einem Interview, dass er ,,in meinen besten Kompositionen aus jener Zeit […]bestrebt war, das Triviale, Varietémäßige zu vermeiden und mehr die Wiederbelebung der so anmutigen und innigen Biedermeierzeit angestrebt habe”.

Jene ,,burlesk-komische Oper”, die Straus ­ laut Grun ­ hinter dem Rücken seines Lehrers ,,im geheimen” geschrieben und den Theatern angeboten habe, was dann zum Bruch mit Bruch geführt habe, hat sich offenbar nicht erhalten, ­ es sei denn es handelt sich dabei um das offizielle erste Bühnenwerk von Oscar Straus, die am 1. 12. 1894 in Pressburg uraufgeführte komische Oper ,,Der Weise von Cordoba”. In diesem Fall träfe die Charakterisierung von Straus’ zweitem Kompositionslehrer Hermann Graedener (1844 ­ 1929) durchaus zu, welcher die Partitur der burlesk-komischen Oper gar nicht erst ansehen wollte, denn ihm liege ,,die kleine komische Oper oder Operette unserer Tage ganz fern”. Als maßgebliches Kriterium für seine Beurteilung eines Bühnenwerkes benannte Graedener jedoch die theatrale Gesamtwirkung, also ,,welchen Eindruck” das Werk ,,von der Bühne herab” bauf ihn habe.

joansutherland-loveliveforeverAuch die häufig mit Sarkasmus und Komik gewürzten Handlungen der Bühnenwerke von Gilbert und Sullivan, und hier insbesondere die hoch artifizielle kompositorische Umsetzung durch Arthur Sullivan (1842 ­ 1900), haben unzweifelhaft künstlerisch verwandte Saiten in Straus’ künstlerischem Empfinden angeschlagen. Dies zeigt sich am deutlichsten bei Straus’ Vertonungen von Werken des Dramatikers Arthur Schnitzler (1862 ­ 1931), einer hochwertigen Dichtung in sentimentalistischer Vertonung.

Oscar Strauss: auch Zarah Leander gab die Frau, die weiss was sie will, 1986/ Seiler/ zarahleander.de

Oscar Strauss: Auch Zarah Leander gab die Frau, die weiss was sie will, 1986/ Seiler/ zarahleander.de

Arthur Schnitzler zählte seit der Eröffnung des Berliner Kabaretts ,,Überbrettl” zu den Freunden von Oscar Straus. Schnitzlers Bühnenwerk ,,Liebelei” vertonte Straus im Jahre 1933 postum und schuf 1950 auch die Musik zu Max Ophüls’ freier Verfilmung von Schnitzlers ,,Reigen” (,,La Ronde”). Sein einaktiges Puppenspiel ,,Der tapfere Kassian” hatte Arthur Schnitzler im Jahre 1907 eigens für die musikalische Realisierung durch Oscar Straus eingerichtet. Straus hat zu den geistreichen, formvollendeten Versen Schnitzlers eine echte Jugendstil-Musik beigesteuert, heitere und sentimentale Melodien, die sich beim Zuhörer als echte Ohrwürmer erweisen. Und dies gleichermaßen im Lachen der Musik und ihrer Rezipienten über die dem Baron Münchhausen verwandten, angeberischen Abenteuer des Titelhelden, wie in dessen tragischem Scheitern und Tod, die den Rezipienten nahe gehen.

Oscar Straus: "The Chocolate Soldie" mit nelson Eddy und Rise Stevens", 1958/ findpic.com

Oscar Straus: „The Chocolate Soldie“ mit Nelson Eddy und Rise Stevens, 1958/ findpic.com

Die Uraufführung der seltsamem Menage á trois erfolgte als Teil eines Oscar-Straus-Triptychons am 30. Oktober 1909 im Stadttheater Leipzig. Anschließend nahm Felix Weingartner diese Oper sogar für die Wiener k. k. Hofoper an, ­ aber aufgrund von Weingartners Demissionierung erlebte das Werk seine Wiener Erstaufführung im Carltheater, allerdings mit Kräften der Wiener Hofoper und begleitet von den Wiener Philharmonikern, am 17. März 1912.

Wie aber verhält es sich mit Straus’ Verwandtschaft zu dem von ihm erstbenannten musikalischen Vorbild, zu Jacques Offenbach? Oscar Straus’ Operette ,,Die lustigen Nibelungen” werden gern als Offenbachiade rezipiert und sein Komponist somit als ein ,,deutscher Offenbach”. Einer Antwort auf die Frage, wo im Werk von Oscar Straus sich der Einfluss Offenbachs zeige, muss zwangsläufig eine Definition vorausgehen, worin die Spezifik von Jacques Offenbach(1819 ­1880) bzw. von dessen Offenbachiaden beruht. Folgt man Wikipedia, so war es Karl Kraus (1874 ­ 1936), der den Begriff ,,Offenbachiaden” für sein eigenes Oeuvre prägte, ,,um deutlich zu machen, dass er der einzige Vertreter dieses Genres sei.” Im selben Artikel charakterisiert die Volksenzyklopädie Offenbachs Bühnenwerke als ,,schwungvolle, eingängige Musik mit einer meist satirisch-hintergründigen Handlung, die treffende Anspielungen auf die Sitten, Personen und Ereignisse seiner Zeit” aufweise.

Oscar Straus: "La Ronde" von Marcel Ophüls  mit Anton Walbrook alias Adolf Wohlbrück, 1958/ denofgeek.com

Oscar Straus: „La Ronde“ von Marcel Ophüls mit Anton Walbrook alias Adolf Wohlbrück, Danielle Darrieux und Daniel Gélin, 1958/ denofgeek.com

Das angebliche Antipodentum von Offenbach und Richard Wagner hat Walter Keller ausführlich untersucht und ist dabei zu dem Schluss gekommen, beide Komponisten seien ,,wie auch immer getrennte ­ Brüder”. Wagners verbale Injurien gegen seinen Zeitgenossen, führt Keller zurück auf eine Szene in ,,Carneval des revues”, mit welcher Offenbach Wagner als Zukunftsmusiker lächerlich gemacht habe. Verbunden seien beide Komponisten aber nicht nur durch die Pariser Erstaufführung des ,,Tannhäuser” im Jahre 1861, der als ,,Lever de rideau” Offenbachs Ballett ,,Le Papillon” vorangestellt wurde. Beide hätten auch auf ihre Weise der Großen Oper Meyerbeers den Kampf erklärt, Wagner zunächst primär als Schriftsteller, Offenbach hingegen praktisch in dem Kleintheater ,,Bouffes parisiens”, welches ­ wie später Wagners Festspielhaus ­ ausschließlich der Aufführung seiner Werke diente:

,,Indem Offenbach durch seine Travestie Meyerbeers pathetische Motive der Banalität zu überliefern vermag, zeigt er die Richtigkeit von Wagners Ausspruch in ,Oper und Drama’, ja noch mehr, er macht die ,großen Opern’ lächerlich und zerstört damit deren Wirksamkeit.”

Oscar Straus: Fritzi Massary, die Unvergleichliche, singt bei Berliner Musenkinder, einiges von Oscar Straus

Fritzi Massary, die Unvergleichliche, singt bei Berliner Musenkinder einiges von Oscar Straus

Folgt man Kellers Analyse, so gehen die Parallelen noch weiter:,,Offenbach gibt durch Parodie, Satire und Karikatur die gesellschaftlichen, politischen, Zustände seiner Zeit der Lächerlichkeit preis und macht so das schlechte Bestehende als solches sichtbar ­ Wagners Werke entwerfen das Bild des freien Menschentums jenseits der gesellschaftlichen Zwänge als Utopie.”

Zu ergänzen ist hier nur noch, dass auch Richard Wagner Offenbach persifliert hat, indem er ihn als Jack Offenback in seinem Lustspiel in antiker Manier ,,Eine Kapitulation” (1870), als handelnde Person auftreten und vom Chor als ,,herrlicher Jack von Offenback” akklamieren lässt.

Oscar Straus - Wagner-Karikatur/ Wiki

Oscar Straus – Wagner-Karikatur/ Wiki

Für unsere Untersuchung ergeben sich eine Reihe von Übereinstimmungen zwischen Wagner und Offenbach auf der einen und dem um eine Generation jüngeren Oscar Straus auf der anderen Seite. Auch Straus leitete ­ zumindest ­ zeitweise sein eigenes Theater, das ,,Operettentheater Ronacher” in Wien, in welchem er primär seine Werke aufführen wollte. Zur Eröffnung am 15. September 1916 brachte er eine Neufassung seiner Operette ,,Die lustigen Nibelungen” heraus ­ entgegen der beschworenen politischen Nibelungentreue von Österreich und Deutschland, mitten im ersten Weltkrieg. Allerdings stieß diese bewusst antizyklisch zu den Weltläufen angesetzte Aufführung auf einen derartigen Misserfolg, dass Straus die Produktion ab- und durch ,,Liebe im Schnee” von Ralph Benatzky ersetzen musste. Erfahrung als Theaterleiter gewann Oscar Straus schon kurz nach der Jahrhundertwende in einem Wandertheater: nach der Pleite des Berliner ,,Überbrettl” vermarktete er seine Kabarett-Hits on Tour, indem er mit den Diseusen Bozena Bradsky, Mitzi Bardi und einer kleinen Schar von Schauspielern und Musikern als ,,Oscar-Straus-Ensemble” über Land zog. Das Spannungsfeld von großer Oper und Kabarett bestimmt Straus’ spritzigste Operetten: ,,Die lustigen Nibelungen” (1904), ,,Hugdietrichs Brautfahrt” (1906) und ,,Die Perlen der Cleopatra” (1923). Peter P. Pachl in Von den Nibelungen zu den Perlen der Cleopatra – Oscar Straus: Ein deutscher Offenbach?, Grin Verlag

 

Lilli Palmer in Oscar Straus´“Eine Frau, die weiß was sie will“, 1958/ cinema.de (Foto oben) 

 

Luxus ihrer Herren

 

 

Das ist ein wahrer Luxus-Kasten! Bereits im Sommer 2015 herausgegeben, staunt der Rezensent über den elegant-gewichtigen Schuber im Querformat, in agentur-modischem Warhol-Waldesdekor gestylt, aufklappbar, links wie ein Schokoladensortiment die 8 CDs und eine Blu-Ray-DVD, rechts angeklebt das dicke 104 Seiten starke Booklet mit Tracks, Casts, Credits, Libretto und Aufsätzen von klugen Leuten (Rudolf Watzel/ehemaliger Star-Bassist, Otto Biba/Direktor Archiv, Bibliothek und Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde Wien sowie Anselm Cybinski mit und über Harnoncourt, auch im Live-Interview). Mehr geht nicht. Das toppt selbst die Ausgaben der Deutschen Grammophon zu Karajans Zeiten. Die Berlin Phils wissen zu beeindrucken und dem potenten Käufer Luxus pur schon rein physisch in die Hand zu drücken. Wie schreibt jpc:  In einer üppig ausgestatteten Edition bringen die Berliner Philharmoniker ihre Einspielungen aller Schubert-Symphonien, der Messen D. 678 und 950 sowie der Opernrarität »Alfonso und Estrella« unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt heraus. Die in den Jahren 2003 bis 2006 live aufgenommenen Konzerte in der Berliner Philharmonie sind auch technisch eine Meisterleistung. Die beigefügte Blu-ray Audio enthält neben allen Werken (stereo und DTS-HD 5.0 mit einer Spielzeit von 514 Minuten) auch ein 38-minütiges Interview mit Nikolaus Harnoncourt. Ebenfalls enthalten ist ein Download-Code zum Herunterladen der Musik in High Resolution sowie ein 7-Tage-Ticket für die Digital Concert Hall. Mit einer ebenso aufwendig ausgestatteten Edition von Schumanns Sinfonien unter Simon Rattle  feierten die Berliner Philharmoniker bereits im letzten Jahr die Eröffnung ihres eigenen Labels BPH (vermarktet von der Berlin Phil Media). Das mag man belächeln und mit einem „Na, ihr kriegt wohl nichts mehr bei anderen Firmen unter!“ kommentieren, wenn man an die Legion von Aufnahmen der Philharmoniker bei der DG und EMI zu Karajans und später Abbados Zeiten denkt. Diese Zeiten sind nun wohl doch vorbei, auch vielleicht dank Rattle und dem Niedergang der EMI, Rattles Mutterfirma. Die Berliner Philharmoniker haben – wie viele andere Institutionen – doch an Glanz eingebüßt. Nicht zuletzt auch wegen der verpatzten Chef-Suche kürzlich. Nichts ist mehr wie früher.

Schubert bei den Philharmonikern: Nikolaus Harnoncourt/ Foto Reinhard Friedrich/ BPh

Schubert bei den Philharmonikern: Nikolaus Harnoncourt/ Foto Reinhard Friedrich/ BPh

Auf der anderen Seite wurde es vielleicht auch höchste Zeit für eine solche Vermarktung der Radio- und Eigenbänder, denn viele bekannte Orchester wie das London Phil oder das Concertgebouw haben sich längst zur Publizierung ihrer Konzerte auf einem Eigen-Label entschlossen und produzieren dort – mehr oder weniger erfolgreich – fleißig, (und manchmal auch unnötig, s. London Symphony Orchestra). Der Erfolg ist stets eine Frage des guten Vertriebes und nicht nur der hippen Verpackung, und da möchte man den Berlin Phil vielleicht mehr Präsenz und Öffentlichkeitsarbeit wünschen: Ihre website ist ausbaufähig und der Vertrieb/Verkauf weitgehend nur im eigen Online- und Haus-Shop nicht wirklich umsatzfördernd. Aber das kann ja alles noch kommen. Ich selber erfuhr von der hier vorgestellten Ausgabe erst durch eine Sendung von Alfonso und Estrella  kürzlich im österreichischen Radio Stephansdom, die auf ihrer Seite das Cover der neuen Box abgebildet hatte. Also mit Pfadfinderarbeit gelingt ja vieles, und die Kooperation mit den Philharmonikern und deren Marketing-Abteilung ist wie stets liebenswürdig und effektiv….   Den Beginn der Eigenveröffentlichungen des neuen Berliner Labels BPH machten wie erwähnt 2014 Schumanns Sinfonien unter dem noch gegenwärtigen Chef Simon Rattle. Dann folgten eine dto. Sibelius-Ausgabe sowie ein paar DVD-Ausgaben (darunter Peter Sellars`  Inszenierung der Bachschen Passionen). Fühe Aufnahmen unter Lorin Maazel, Lutoslawski und manches mehr finden sich inzwischen auf der website des Philharmoniker-Shops. Bestellnummern finden sich auf der website allerdings nicht, nur im Booklet der Beilagen. schubert harnoncourt berliner philharmonikerUnd nun Schuberts Sinfonien, zwei Messen und die Oper Alfonso und Estrella unter Nikolaus Harnoncourt radio-live aus den Jahren 2003 bis 2006, was ein wenig erstaunt, gibt es die Sinfonien mit dem Concertgebouw Orkest doch recht wohlfeil bei der Firma Warner unter dem österreichischen Dirigenten. Ist sein Stellenwert für das Orchester so hoch, dass man ihn mit dieser üppig ausgestatteten, wenngleich in der luxuriösen Verpackung sehr unpraktischen  Präsentation gleich hinter dem scheidenden Chefdirigenten ehren möchte? Er ist ja nicht wirklich ein Berlin-Phil-Exklusiv-Künstler… schubert concertgebouw harnoncourt warnerHarnoncourts sehr eindrucksvoller Schumann-Zyklus mit dem Concertgebouw Orkest für Teldec (1992, nun Warner) gibt es also immer noch auf dem Markt und kostet nur ein Viertel der neuen Ausgabe bei Berlin Phil (8 CDs und eine DVD für ca. 80.- Euro). Also, was rechtfertigt selbst für erbitterte Fans des Dirigenten und des Orchesters diese neue Luxusausgabe? Die neue Sicht? Der Sound? Das Orchester selbst im Vergleich zu den Holländern? Man ist da ratlos. In der nun üblichen Zählung gibt es hier auf 4 CDs die Unvollendete als Nr. 7 und die große C-Dur als Nr. 8 neben den restlichen 6 Sinfonien in einer reich dekorierten Querbox mit einem dicken Booklet und den wie Schokoladen-Täfelchen aneinander gereihten CDs in verschiedenen Farben – das ideale Repräsentationsgeschenk für betuchte Geschäftskunden (vielleicht der Lufthansa in ihrer Erste Transatlantik-Klasse bei Nicht-Streik?). In den beiden Messen (As-Dur D. 678 & Es-Dur D. 950) hört man bedeutende und vom Maestro geliebte, wenngleich auch allgegenwärtige  Solisten wie Luba Orgonasova, Birgit Remmert oder Jonas Kaufmann und Bernarda Fink. In der Oper Alfonso und Estrella von 1822, live von 2005 und vorher Wien 1997 die erste Aufnahme des Werkes unter Harnoncourt, singen Dorothea Röschmann und Kurt Streit neben Hanno Müller-Brachmann und anderen. Eine Special-Blu-Ray Disc bietet das alles als visuelle DVD noch einmal in bester Hochauflösung sowie ein Interview mit dem Dirigenten (»Für mich ist Schubert der Komponist, an dem mein Herz am meisten hängt«). Natürlich sind die Aufnahmen unter Harnoncourt auch hier von hoher technischer und künstlerischer Qualität. Ob man nun mit ihm und seinen Interpretationen stets d´accord war oder nicht. In den vergangenen 25 Jahren machte er doch immer wieder durch die  Provokationen seiner Ansichten zu Tempi und Interpretation von sich reden, wenn er so traditionelle Orchester wie das Concertgebouw oder die Philharmoniker „aufmischte“, sie zu einem anderen Spiel führte, als man gewohnt war. Er löckte gerne gegen den Stackel. Auch in dieser neuen Ausgabe der Live-Aufnahmen („und die sind wirklich nicht retouschiert?“, fragt man als Kenner der Szene ketzerisch) finden sich die üblichen Harnoncourt-Markenzeichen – ein paar unnötige Rubati hier und ein paar sehr eigenwillige Tempi dort. Wie in den zwei Sätzen der Unvollendeten, die die Sinfonie in Gewicht und Grandeur in Bruckners Nähe rücken. Harnoncourt braucht für das eröffnende Allegro mehr als drei Minuten länger als Abbado bei der Deutschen Grammophon. Im Gegensatz dazu gelingt ihm das Finale der Großen C-Dur Sinfonie geradezu wunderbar überschäumend, wenn sich die Erregung stetig steigert. Und in der Fünften staunt man über die Leichtigkeit, mit der er die Sinfonie formt, selbst wenn auch hier das überdimensionale Format überrascht. Großes also für ein großes Orchester, das ihn ehrt. Dennoch finde ich seine Aufnahmen mit dem holländischen Musikern wärmer, herzklopfender, vielleicht auch menschlicher… Harnoncourt hat vor allem bei den Messen eine glückliche Hand, wo sich die illustren Solisten wie Bernarda Fink, Jonas Kaufmann, Dorothea Röschmann und Christian Gerhaher als ein Quartett-De-Luxe in dem E-Dur-Werk versammeln. Hier bestechen die perfekte Natürlichkeit und die Größe des Chorklanges. Nicht ganz so überzeugend gelingt ihm Schuberts Oper Alfonso und Estrella (Wien 1822), in der man vergebens nach der gleichen Magie sucht. Es gelingt ihm nicht, die dramatischen und dramaturgischen Unzulänglichkeiten des von ihm stets mit soviel Elan verfolgten und in der Berliner Radioaufnahme 2005 wie Wien 1997 aufgeführten Werkes vergessen zu machen. Zumal wie beim ersten Mal (auch als DVD bei Naxos von den Wiener Festwochen 1997) der Tenor der Schwachpunkt ist. Neben Luba Orgonasova war das damals in der Wiener Flimm-Inszenierung  Endrik Wottrich mit trockenem Ton und gewöhnungsbedürftigem Timbre. Nun  ist es konzertant Kurt Streit ohne die nötige jugendlich-heroische Leidenschaft als etwas meckeriger Alfonso. Aber die übrigen sind wirklich erste Klasse. Dorothea Röschmann, die gerade bei Decca eine bemerkenswerte Schumann-Berg-CD herausgegeben hat, singt mit dramatisch-warmen Ton und hinreißender Gestaltung und lässt ihre Estrella zum Mittelpunkt der Geschichte und des Abends werden. Christian Gerhaher geht den Frola wie Fischer-Dieskau balsamisch-liedhaft an und bleibt im romantischen Duktus. Jochen Schmeckenbecher ist ein nachdrücklicher, sonorer Mauregato mit vielen Nebenfarben in der Textgestaltung.Und Hanno Müller-Brachmann macht wieder einmal auf sein interessantes Timbre  mit dem Adolfo aufmerksam. Der Berliner Rundfunkchor steuert Wohlklang bei – in toto eine im ganzen vielleicht weniger dramatische als romantisch-klangvolle Aufnahme aus der Berliner Philharmonie. Nur wenige Opernfans werden sich diese Luxus-Ausgabe nur wegen Alfonso und Estrella  leisten wollen, nimmt man doch – wenn man nur die Oper haben möchte – die anderen CDs „mit in Kauf“, aber als Dokument ist dies die habenswerte Wiedergabe des Werkes, denn die übrigen sind entweder ältlich-muffig (Suitner/EMI, nun Brilliant) oder indiskutabel (Korsten/Dynamic) oder „nur“ ein DVD-Soundtrack (Harnoncourt/Naxos). Die alte Rai-Kiste unter Sanzogno ist zu vernachlässigen (und zudem in Italienisch). Nein, für die Fans ist diese der Grund zur Freude – vielleicht wird sie ja mal ausgekoppelt…  Hugh Ericson (Übersetzg. Stefan Lauter)   schubert alfonso naxosAls PS. soll auf eine Aussage von Wolfram Goertz in seiner Besprechung dieser CDs auf rp-online.de hingewiesen werden, der einen akuten Aufführungs-/Aufnahmefehler hört:  Die Berliner Philharmoniker leisten sich in einer Aufnahme von Schuberts 5. Sinfonie einen kuriosen Patzer. Keiner hat ihn bemerkt. Bei böswilliger Auslegung könnte die folgende Betrachtung den schlechten Ruf der Musikkritik als einer nörgelseligen, kleinkarierten Disziplin untermauern. Andererseits geht es um nichts anderes als um jene winzigen Späne, die im Sägewerk des Musizierens fallen und dummerweise ins Trommelfell des Zuhörers geraten. Es geht des Weiteren um eine kuriose Form des Versagens, das nicht länger als einen Wimpernschlag dauert. Es geht um einen Patzer, einen Spielfehler. Er ist aber nicht verheerend, sondern verwirrend und so leicht wie das Stück, in dem der Span uns irritiert. Die 5. Sinfonie B-Dur von Franz Schubert gilt als wunderbares Stück Musik. Sie fächelt einem äolisch milde Winde zu, und in den stürmischen Passagen arbeitet sie mit dem wohltuenden Gebläse der orchestralen Air Condition. Die Berliner Philharmoniker haben sie bereits hunderte Male gespielt. Auch der Dirigent Nikolaus Harnoncourt kennt sie wie kein anderer – und wie wunderbar es ist, wenn Kenner aufeinandertreffen, erlebt man in der neuen Schubert-Box der Berliner Philharmoniker, einem bibliophilen Gesamtkunstwerk aus lauter Konzerten im Schuber, den man so ehrfürchtig aufklappt wie einen Flügelaltar aus dem Elsass. Alle Sinfonien, die Messen, „Alfonso und Estrella“: Die acht CD bieten das große Schubert-Glück. Jedes Konzert haben die Philharmoniker drei Mal gespielt, und die Techniker haben die jeweils beste Version genommen. Leider nicht. Beim Beginn der 5. Sinfonie unterläuft dem Orchester, das sich selbst für eines der weltbesten hält und es vermutlich auch ist, ein Malheur. Im dritten Takt spielen die ersten Violinen, eingekleidet von Holzbläsern, eine absteigende B-Dur-Tonleiter, die mit einem witzigen Aufschwung startet. Das zweite F dieser Violinen hört man auf der CD als einen Ton mit Schmutz dran. Da stimmt was nicht. Die meisten Berliner Geiger spielen F, daran ist kein Zweifel, aber eine Geige spielt falsch. Oder sie rutscht übers Griffbrett. Oder ihr Bogen verspringt. Der misslungene Ton fällt deshalb auf, weil die ersten Geigen blank daliegen wie auf dem Präsentierteller. Wenn nur einer stört, produziert er einen Kratzer, der bleibt.  http://www.rp-online.de/kultur/musik/vergeigt-aid-1.5210548   Franz Schubert : Symphonien Nr.1-9 (mit Christian GerhaherBirgit RemmertKurt StreitLuba Orgonasova,Dorothea RöschmannBernarda FinkJonas KaufmannChristian Elsner,Hanno Müller-BrachmannRundfunkchor BerlinBerliner Philharmoniker,Nikolaus Harnoncourt); 8 CDs, 1 Blu-ray Audio  enthält Messen As-Dur D. 678 & Es-Dur D. 950; Alfonso und Estrella +Blu-ray Audio mit sämtlichen Werken in stereo und DTS-HD 5.0 (514 Minuten) sowie einem 38-minütigen Interview mit Nikolaus Harnoncourt (+Download-Code (High Resolution); +7-Tage-Ticket für die Digital Concert Hall; ; BPH, DDD/La, 2003-2006

Mageres Federvieh luxuriös serviert

 

Charles Gounod kennt man vor allem als Komponist großer Literaturopern wie Fausto der Roméo et Juliette. Kaum bekannt ist, dass er auch einige komische Opern geschrieben hat. Eine ist jetzt auf dem  Label Opera Rara erschienen: La Colombe (Die Taube).  Diese Oper ist im Gesamtwerk des Operngiganten etwa so wichtig wie ein Garnierungsradieschen auf einem großen Braten. Eigentlich absolut zu vernachlässigen, ohne musikhistorischen Wert, ohne großartige neue Erkenntnisse, was Gounods musikdramatisches Genie angeht. Aber ein amüsantes Luxushäppchen zwischen den beiden Hauptwerken Faust und Romeo und Julia.

Für den Nicht-Akademiker gibt’s durchaus Gründe, das Werk zur Kenntnis zu nehmen. Es ist erstaunlich einfach zu besetzen und bietet gute musikalische Unterhaltung. Es braucht nur ein kleines Orchester und lediglich vier Sänger, einen Chor gibt es nicht, ausgestattet ist es mit aparten melodiösen Nummern – wenn dies auch kein epochaler Wurf ist, so doch gutgestrickte französische Opernmusik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Verhangene Musik für ein sehr lustiges Stück: Das Schönste an La Colombe ist die absurde Handlung. Ein junger, armer Adliger nennt eine wunderbar dressierte Taube sein eigen. Aus der Ferne betet er eine reiche junge Frau an, die ihm immer wieder die kalte Schulter zeigt. Doch eines Tages kündigt sie ihren Besuch an – und in der Verzweiflung, ihr kein gutes Gericht vorsetzen zu können, bittet er sein (weibliches) Faktotum, die Supertaube zu schlachten. Und dann gibt es zwei Pointen – die eine ist, dass die schöne Sylvie eigentlich gekommen ist, um die Taube zu kaufen, und nun erfährt, dass der junge Mann aus Liebe zu ihr sein geliebtes Tier hat braten lassen, die treue Köchin aber bekennt, dass sie das nicht übers Herz gebracht und den beiden einen alten Papagei serviert hat.

Leider ist die Musik weit weniger lustig. Das verblüfft, denn gedacht war das Stück als Spaß für ein Kurtheater. Entstanden ist es 1860 für Baden-Baden, es ist also die große Zeit der Offenbach-Operette, damals leisteten sich einige reiche deutsche Kurorte gern kleine lustige Opern- oder Operetten-Premieren, die von berühmten internationalen Komponisten geschrieben wurden. Etwa zeitgleich kreierte auch Offenbach solche Stücke für Bad Ems. Und da enttäuscht der Ton des Werks von Gounod dann doch etwas: Die lustige überkandidelte Handlung und die meist larmoyante, verhangene Musiksprache wollen nicht recht zueinander passen. Immer wenn Gounod seine Helden mit Liebesschmerz und Sehnsucht konfrontiert, ist er großartig, aber in den quirlig getexteten Ensembles kommt er für mich nicht vom Boden hoch, da hätte ein Offenbach, ja sogar ein Adam mehr draus gemacht.

Nebenwerk glänzend gesungen und gespielt: Seit vielen Jahren bringt das britische Label Opera Rara in bunter Folge Lässliches und Kostbares auf den Markt. Man kann vielleicht nicht immer vorher wissen, welche Werke zünden und welche nicht. Fest steht: Nach Volltreffern wie Donizettis Les Martyrs und Offenbachs Fantasio war das hier ein eher zweitklassiger Output, auch wenn man staunend anmerken muss, dass mit teuren Edelstahl-Kanonen auf einen musikalischen Spatzen geschossen wurde (oder auf eine Taube, um bei der Story zu bleiben). Wer musikalisch Besseres aus der Schatzkammer der Opéra comique ausblendet, kann mit der Umsetzung mehr als zufrieden sein. Das kleine Gelegenheitswerk wurde aufs schönste und lyrischste herausgeputzt, vor allem durch das hinreißend besetzte Sopran-Tenor-Paar Erin Morley und Javier Camarena. Mit Mark Elder am Pult hat man einen Dirigenten gewonnen, der sich wirklich hervorragend ins französische Idiom eingelebt hat, er setzt seinen glanzvollen Weg fort, den er unter anderem mit Offenbachs Fantasio letztes Jahr eingeschlagen hat, das Werk klingt auch diesmal erfreulich unbritisch.
Einziges Ärgernis: Das 79 Minuten lange Stück wurde unnötiger Weise auf zwei CDs herausgebracht, obwohl es gut auf eine gepasst hätte. Das kostet entsprechend. Man muss also schon wirklich für diese Musikgattung brennen, um satte 40.- Euro dafür zu bezahlen. Dieser Preis liegt an der Grenze zur Unverschämtheit; ich hoffe, dass der Markt hier noch ein bisschen nachreguliert (Charles Gounod: La Colombe; Opéra comique in 2 Akten, mit Erin Morley, Javier Camarena, Michelle Losier, Laurent Naouri; Hallé-Orchester, Mark Elder, 2 CD Opera Rara. ORC53). Matthias Käther

Brünnhilde an der langen Leine

 

Testament überrascht mit einer CD, die zu Recht als „previously unpublished ausgewiesen ist (SBT 1508). Sir John Barbirolli dirigiert Mozart und Wagner mit dem Hallé Orchestra, dessen Chef er fünfundzwanzig Jahre gewesen ist. Er hat sich Zeit seines Lebens mit Richard Wagner beschäftigt. Gesamtaufnahmen sind in seiner umfangreichen Diskographie bis jetzt aber nicht nachzuweisen. Nur Ouvertüren, Vorspiele, einige hochkarätig besetzte Szenen, ein konzertanter zweiter Tristan-Aufzug mit Kirsten Flagstad, Eyvind Laholm und den New Yorker Philharmonikern von 1939. Damals war er noch deren Chef. Sonst nichts. Im Booklet der neuen CD ist zu lesen, dass Barbirolli von der EMI eingeladen worden war, die Plattenproduktion der Meistersinger von Nürnberg in der DDR zu leiten. Er lehnte ab, weil er sich seinem Kollegen Rafael Kubelik solidarisch verbundene fühlte, der dazu aufgerufen hatte, alle Länder auch künstlerisch zu boykottieren, die sich an der der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 beteiligte hatten. Darunter war die DDR. 1970 übernahm Herbert von Karajan die Aufgabe in Zusammenarbeit mit der Ostberliner Plattenfirma Eterna.

Barbirolli gehörte zu den ersten Dirigenten, die Szenen aus Wagners Opern in Konzerten singen ließen. In den USA waren solche Programme sehr beliebt, später auch in Großbritannien. 1964 und 1965 veranstaltete er solche Konzerte in Manchester und Sheffield. Als Solistin war Anita Välkki mit dabei. Sie hatte 1961 als Walküren-Brünnhilde in Covent Garden Aufsehen erregt (der Mitschnitt ist ebenfalls bei Testament herausgekommen) und war daraufhin auch nach Bayreuth engagiert worden. Auf der Testament-Neuerscheinung ist sie mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus Götterdämmerung zu hören.

Die Sopranistin Anita Välkki begann ihre internationale Karriere im Wagner-Fach in London. Das Foto entnahmen wir dem Booklets der Testament-CD.

Die Sopranistin Anita Välkki begann ihre internationale Karriere im Wagner-Fach in London. Das Foto entnahmen wir dem Booklet der Testament-CD.

Die aus Finnland stammende Välkki singt stilistisch sehr sicher. Ihre Stimme ist geschmeidig, nicht zu dunkel, nicht zu hell. Niemals grell. In der Höhe ausgewogen. Für Wagner sind das beste Voraussetzungen. Barbirolli hält sie an der langen Leine. Sie braucht viel Atem, Kraft und Ausdauer, um seinen gedehnten Tempovorgaben folgen. Der Vorteil ist, es geht nichts unter. Sie hat alle Zeit der Welt, um Details auszuformen – musikalisch und textlich. „Ruhe, ruhe, du Gott!“ Selten ist das so wörtlich genommen wie in dieser Aufnahme. Und doch fehlt etwas. Ein letztes Quäntchen Ausdruck und Emphase, das diesen Ritt der tödlich verletzten Wotans-Tochter ins Feuer glaubhaft machen könnte. Trotz dieser Einschränkungen, die nicht auf die Goldwaage gelegt werden sollen, wäre die Välkki heute ein unangefochtener Weltstar. Damals stand sie noch in harter Konkurrenz zur Nilsson. Und die Erinnerungen an Martha Mödl und Astrid Varnay waren auch noch sehr frisch.

Die rein musikalischen Nummern stammen auch aus der Götterdämmerung: Morgendämmerung und Siegfried Rheinfahrt sowie der Trauermarsch, von Barbirolli mit mächtigen Steigerungen versehen. Von Wolfgang Amadeus Mozart ist die Sinfonie Nr. 40 in g-Moll zu hören, groß und etwas erdenschwer, doch einzigartig federnd beim berühmten Beginn. Sämtliche Werke wurden am 21. Januar 1964 in der Town Hall in Manchester für die BBC aufgenommen, noch in Mono. Es wird nicht ganz klar, ob Publikum dabei war oder nicht. Entsprechende Geräusche, die darauf hinweisen, sind nicht aufzumachen. Aber das sagt nichts. Techniker können heutzutage beim Remastering jedes Klatschen, Husten und Rascheln herausfiltern. Rüdiger Winter

Wo die Liebe herrscht

 

Der griechische Poet Anakreon, ein Anhänger von Anmut und Genuß und damit passend zum royalen französischem Barock, schien es dem betagten Rameau (1683-1764) angetan zu haben: Er erschuf zwei  einaktige Ballettopern namens Anacréon, allerdings mit unterschiedlicher Handlung und Musik; die erste 1754 auf ein Libretto von Louis de Cahusac, die zweite 1757 zu dem Pierre-Joseph-Justin Bernards, die als Beginn der bekannteren Ballettoper Les Surprises de l Amour fungierte. Bei der hier vorliegenden Aufnahme handelt es sich um eine Ersteinspielung des ersten, von Dirigent Jonathan Williams aus Archiven rekonstruierten Anacréon von 1754, die durch die Zusammenarbeit der Musikfakultät der Universität in Oxford mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment ermöglicht wurde und bei Bärenreiter erschien.

anacreon signum classics rameauDrei Sänger werden für das knapp fünfzigminütige Werk benötigt, bei dem es um die Liebesgeschichte von Chloé und Batile geht, zwei Schülern Anacreons, die sich lieben, aber missverständlicherweise vermuten, dass Anakreon sich selber mit Chloé verbinden möchte. Doch der Lyriker  – der gute und wohltätige Herrscher in seinem Reich der Liebe, royale Assoziationen sind erlaubt – verbindet beide im glücklichen Ende. Besonders für die Rolle der Chloé komponierte Rameau bemerkenswerte Arien mit vielsagenden Titeln, „Tendre Amour!“, „Mille fleur parfument les airs“, „Quand l’Amour enflamme nos cœurs“ und „L’Amour, riant et sans bandeau“, die von Sopran Anna Dennis mit bemerkenswert schöner, offener Stimme gesungen werden und das sängerische Herz der Oper sind, Tenor Agustin Prunell-Friend als Batile und Bass-Bariton Matthew Brook als Anacréon sowie die Sänger des Choir Of The Enlightenment ergänzen sie auf ebenfalls hohem Niveau. Rameaus Musik zum Erstlings-Anacréon klingt auch nach Rameau, Überraschungen gibt es hier keine – ein charmantes kleines Bühnenwerk, das sich im Verlauf steigert und vor allem durch die orchestral schönen Tanzszenen an Fahrt gewinnt und durch die Festmusik zu Ehren Bacchus gut gelaunt endet. Librettist Cahusac verglich die Opéra-Ballets mit einer Abfolge schöner Bilder mit galanten Festen und mythologischen Gestalten des französischen Malers Jean-Antoine Watteau – ein Vergleich, den man beim Zuhören nachvollziehen kann. Dirigent Jonathan Williams und das renommierte Orchestra Of The Age Of Enlightenment werten dieses kurze Bühnenwerk durch ihr engagiertes und transparentes Spiel auf und bleiben dabei vor allem in den Arien unaufdringlich. Wo man erwarten könnte, daß bspw. die Chloé begleitende Flöte in den Vordergrund oder gar in einen Dialog mit ihr tritt, belässt sie Williams etwas zu unauffällig im Hintergrund. So hat man den Eindruck, daß ein wenig mehr Prägnanz und Elan möglich gewesen wäre. (Rameau – Anacréon, 1 CD, SIGCD402),  Marcus Budwitius

Das Rameau-Jahr 2014 anlässlich des 250. Todestags des Komponisten zeigt auch dieses Jahr noch einige Folgen durch die im vergangenen Jahr aufgezeichneten Live-Aufnahmen. Rameaus Bühnenschaffen umfasst verschiedene Kategorien: die Tragédies lyriques (Hippolyte et Aricie, Castor et Pollux, Dardanus, Zorastre und Les Boréades), Opéras-ballets (z.B. Les Indes galantes), Comédies lyriques (z.B. Platée) und die Pastorales héroïques, deren erstes Werk der selten zu hörende und bisher anscheinend nur einmalig, aber nicht vollständig (von Gustav Leonhardt mit La Petite Bande vor ca. vierzig Jahren) eingespielte Zaïs ist, der hier nun erstmalig als Gesamtaufnahme verfügbar ist. Diese heroische Pastorale  erlebte am 29. Februar 1748 in der Pariser Académie Royale de Musique ihre Uraufführung und war sehr erfolgreich: über 100 Aufführungen in zwei Jahrzehnten wurden verzeichnet. Über einen Prolog und vier Akte wird die Liebe in ungewöhnlicher Kombination auf den Prüfstand gestellt: Menschen, mythologische Naturgeister und Götter treten auf, im Prolog geht es um nichts weniger als die irdische Schöpfung und die Beseelung durch die Liebesgöttin Amor. Zaïs, der unsterbliche Fürst der Luftgeister, und die irdische Zélide lieben sich. Zélide weiß allerdings nichts von der Herkunft ihres Geliebten und betrachtet ihn als gewöhnlichen Schäfer. Amor befiehlt, diese Liebe auf die Probe zu stellen. Im himmlischen Reich der Luftgeister wird Zélide Prüfungen unterzogen, vier Statuen – Sinnbilder unterschiedlicher Liebhaber – werden beispielsweise zum Leben erweckt und beginnen vor Zélide zu tanzen. Doch Zélide besteht diese und alle anderen Anfechtungen, Zaïs entsagt seiner Unsterblichkeit für sie und der Geisterkönig Oromazès hat ein Einsehen und vereint beide als ewiges Paar. In der phantastischen Handlung versteckt sind Anleihen freimaurerischer Symbole und Gedanken (in Zoroastre (1749) und Les Boréades/1763 sollten sie noch deutlicher werden), wie das lesenswerte Beiheft in französischer und englischer Sprache erläutert. Von Rameaus Zaïs zu Mozarts Zauberflöte scheint sich ein Bedeutungsbogen zu spannen.

Interessant ist bereits die Ouvertüre. Joseph Haydn beschreibt in seiner Einleitung zum Oratorium Die Schöpfung (1798) das Chaos vor Gottes Ordnung, Rameaus Zaïs beginnt ebenfalls programmatisch und zu seiner Zeit visionär (Dirigent Christophe Rousset sah darin Ähnlichkeiten zu einem späteren Heroiker mit pastoralen Neigungen – Beethoven): Mysteriös-kosmisch wird das Chaos entwirrt, die Elemente geschieden. 1748 wollte man die kühne und für damalige Ohren gewöhnungsbedürftige Ouvertüre ersetzen, doch Rameau bestand auf sie. Was folgt ist eine nicht nur aufgrund des Seltenheitswerts empfehlenswerte Aufnahme für Rameau-Fans, die live (aber ohne erkennbare Einschränkungen beim Anhören) bei Vorführungen im November 2014 in der Opéra Royal du Château de Versailles entstand und vokal und instrumental bemerkenswerte Szenen enthält. Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset haben bisher mit Opern von Lully reüssiert und zeigen nun auch ihre Affinität zu Rameau – ob Phrasierung oder Tempi, ob in Begleitung der Sänger oder in den instrumentalen Gavotten, Menuetten, Sarabanden, Ballettstücken, etc., stets ergibt sich ein spielfreudiger und abwechslungsreicher Höreindruck, bei dem die eher undramatische Pastorale héroïque kaum Längen aufweist. Sängerisch erlebt man eine durchgängig sehr gute, harmonische Zusammenstellung schöner Stimmen, vor allem das zentrale Liebespaar, das emotionale Höhen und Tiefen erlebt und diese dem Zuhörer vermitteln muss, überzeugt. Der junge deutsche Tenor Julian Prégardien (Sohn von Christoph Prégardien) singt Zaïs mit heller, lyrischer Stimme, die wie stets in jeder Hinsicht tadellose Sandrine Piau stellt Zélidie dar – beide sind in exzellenter Form zu hören. Ergänzt werden Piau und Prégardien durch die beiden Bassisten Aimery Lefèvre als Oramazès und Benoît Arnould, der als Cindor seinen Freund Zaïs warnt, berät und Zélidie prüft sowie die beiden Soprane Amel Brahim-Djelloul (Grande Prêtresse de l’Amour / Une Sylphide) und Hasnaa Bennani (L’Amour) und Tenor Zachary Wilder (Un Sylphe). Der Chœur de Chambre de Namur profiliert sich als klangschönes Ensemble. 155 Minuten Musik – wer Rameau schätzt, dem wird diese Aufnahme Freude bereiten. (3 CD,  Aparte (harmonia mundi), AP109). Marcus Budwitius

Francoise Pollet

 

Eine meiner ganz großen Sängerlieben gehört zweifellos Francoise Pollet, die ich vielfach und mit größter Bewunderung live gehört habe. In Erinnerung bleiben mir ihre wunderbare Valentine in den Huguenots in Montpellier neben Leech unter Diederich, wovon es auch die Live-CD bei Erato gibt – wie ihre Solo-CD ebendort eines der ganz bedeutenden Dokumente französischen Operngesangs. Ich sah sie in den Troyens in New York, und ihre Didon auf der Decca-Aufnahme unter Dutoit gehört zu den immortellen Verkörperungen der Partie neben Marisa Ferrer, Régine Crespin und Josephine Veasey. Ihre Mitwirkung in Reyers Sigurd in Marseille war für mich ebenso ein Erlebnis wie ihre Madame Lidoine oder Ariane. Ihre Stimme ist ein echter Falcon. Dunkel, etwas kehlig im Timbre und von unerhörter Leuchtkraft in den oberen Bereichen, dabei von bemerkenswerter Wortdeutlichkeit. Nur wenige wissen, dass Francoise Pollet  ihre ganz frühen Auftritte im Staatstheater Lübeck als Marschallin oder Fremde Fürstin hatte. Daher auch ihr ganz exzellentes Deutsch. Über viele Jahre bin ich ihr nachgereist, habe mehrfach ihre Nuits d´été im Konzert erlebt und sie in manchen Rollen, auch italienischen wie Leonora/Trovatore, gehört – was für eine Stimme, was für eine wirklich bedeutende Künstlerin, was für eine bedeutende Frau.

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Heute unterrichtet Francoise Pollet, und es ist uns eine große Freude, ein Interview mit dem Chefredakteur Philippe Banel vom französischen Opern-Website-Tutti-Magazine übernehmen zu können, das uns der Autor freundlicher Weise überlassen hat (Ingrid Englitsch war wie stets für die Übersetzung aus dem Französischen zur Stelle; Credits nachstehend). Darin geht es zwar in erster Linie um ihre Lehrtätigkeit am Konservatorium von Lyon, aber sie hält auch mit ihrer sehr dezidierten Meinung zum Gesang, zu Sängerkarrieren heute und vielen anderen Erscheinungen des modernen Gesangslebens nicht zurück. Was für eine bemerkenswerte, unverwechselbare Frau. Vive la Grande Pollet! G. H.

 

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Poster an der Met/ Pollet

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Konzert-Poster an der Met/ Pollet

Sie sind seit 2002 Gesangsprofessorin am Conservatoire National Supérieur Musique et Danse von Lyon. Wie sind Sie zum Unterrichten gekommen? Ich habe sehr früh zu unterrichten begonnen, was mir erlaubt hat, diesen Wunsch, mein Wissen zu teilen, der schon immer in mir war, zu befriedigen. Der erste, der mich dazu initiiert hat, ist der Schweizer Tenor Ernest Haeffliger. Eine französische Sängerin hat sich ihm vorgestellt, um in die Hochschule München einzutreten, wo er lehrte, und er hat sie mir anvertraut, dass ich mit ihr arbeitete… So befand ich mich vor der Schwierigkeit, das Mittel zu finden, mein Wissen weiterzugeben. Welche Worte waren geeignet, um mich verständlich zu machen? Diese Sängerin hatte übrigens eine ganz andere Stimme als ich. Ich war damals noch lyrischer Sopran…

Als ich wenig später mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks arbeitete, traf ich auf Musikstudenten, die Gesangslehrer suchten. Die Praxis war Teil ihrer Studien und sie mussten verpflichtend Chorstunden nachweisen,  ob talentiert oder nicht. Diese Studenten mussten also ein Minimum an Technik erwerben, und ich habe sie unterrichtet. Aber meine Anfänge als Pädagogin, gestehe ich Ihnen, waren nicht besonders.

 

Fracoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Francoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Sie galten als ein Sopran spinto, aber zu der Zeit waren Sie noch lyrischer Sopran… So ist es. Ich habe für den Bayerischen Rundfunk mit Arien der Liù und der Pamina vorgesungen. Damals befolgte ich den Rat eines Agenten, der mir gesagt hatte: „Ihre Stimme entspricht nicht Ihrem Aussehen. Kommen Sie wieder, wenn Sie das singen, wonach Sie aussehen!“ Ich war jung und hatte einer so harten Bemerkung nichts entgegenzusetzen.  Wobei er ja nicht Unrecht hatte.  Die Tätigkeit von sechs Stunden Gesang pro Tag beim Chor ließ meine Stimme langsam immer schwerer werden, und ich wurde vom lyrischen Sopran zum Spinto-Sopran bzw. zum jugendlich-daramatischen Sopran, wie es so schön heißt. Mit Hilfe des Unterrichts, den ich nahm, hat sich dann alles natürlich entwickelt. Es ist nicht sinnvoll, mit Gewalt eine tessitura haben zu wollen, die nicht die eigene ist. Ich wiederhole es immer meinen Schülern: Es geht nicht um das Wollen, sondern um das Können!

 

Haben Sie nach Ihrer Tätigkeit bei den Chören des Bayerischen Rundfunks weiter unterrichtet? Ich war drei Jahre in Lübeck engagiert, danach kehrte ich nach Paris zurück. Meine Karriere entwickelte sich rasch, so dass ich keine Zeit mehr zum Unterrichten fand, obwohl mich das Bedürfnis dazu nie verlassen hat. Ich hatte einfach keine Zeit dafür. Die Einladung von Jean-Louis Petit, dem Direktor des Konservatoriums in Avray, die Klasse von Micheline Granger 1995 zu übernehmen, hat es mir dann erlaubt, mich wieder dem Unterrichten zuzuwenden, während ich noch bis 2006 weitersang.

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Durch eine Anzeige in Télérama erfuhr  ich, dass das Conservatoire National Supérieur von Lyon einen Gesangsprofessor suchte. Im Dezember 2000 wurde ich zu einem Gespräch eingeladen und auch dazu, zwei Studenten von unterschiedlicher Stimmlage und unterschiedlichem Niveau zwei Kurse von 20 Minuten zu geben. Henry Fourès, der Direktor, rief mich noch am selben Abend an, um mir die gute Nachricht mitzuuteilen. Ich gestehe, dass ich ein wenig überrascht war. Ich wusste, dass es für diese Stelle zahlreiche Kandidaten gab und einige von ihnen auch renommiert waren, was ich ihm sagte. Er antwortete mir: „Sie waren brillant, wussten Sie das nicht?“ Wie soll man so etwas wissen? Ich war nie selbstzufrieden, und ich wusste nicht, dass ich „brillant“ war, Ich hatte in den Kursen und im Gespräch nur ausgedrückt, was ich glaubte sagen müssen, und ich habe es im richtigen Moment gesagt. Ich wurde also Anfang 2001 Professorin in Lyon.

Anfangs bin ich wöchentlich zwischen Avray und Lyon hin- und hergefahren. Das hat zwei Jahre gedauert. Dann begriff ich, dass  nicht nur praktisch mein ganzes Gehalt für die Reisen und das Hotel draufging, sondern dass auch die Müdigkeit durch den ständigen Ortswechsel enorm war. Ich unterrichtet montags und dienstags in Lyon und donnerstags und freitags in Avray… Ich übersiedelte also 2003 nach Lyon.

Folgen Unterrichtende eigentlich den Spuren ihrer eigenen Lehrer? Als ich zu unterrichten begann, sicher. Aber nach und nach bildet man sich im Laufe der beruflichen und persönlichen Erfahrungen eine eigene Identität, und schließlich war ich sicher, eine Unterrichtsart entwickelt zu haben, die dem ähnelt, was ich dank einer 30-jährigen Karriere geworden bin. Ich gestehe das Glück zu haben, am CNSMDL gute Leute unterrichten zu können, von denen einige sicher Karriere machen: Solisten, Choristen oder Gesangsprofessoren, fast alle sind im Gesangsbereich professionell tätig.

Françoise Pollet interprète Reiza dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet interprète Rezia dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Die Meisterkurse, die ich im Opernstudio der Opéra National du Rhin von Straßburg ungefähr zehn Jahre lang gegeben habe, haben mir erlaubt, Beziehungen zu jungen Sängern zu knüpfen, die von Zeit zu Zeit zu mir kommen, um mich um Rat zu fragen. Andere Interpreten, die weiter fortgeschritten sind, suchen mich auf, um mit mir zu arbeiten, wenn sie auf der Reise nach Lyon kommen. Das ist zum Beispiel bei dem Bariton Jean-Sébastien Bou und der Mezzosopranistin Ève Maud Hubeaux der Fall. Die Beziehungen, die ich mit so guten Sängern unterhalte, geben mir sehr viel.

 

Man weiß ja, wie ein Gesangslehrerr seine Schüler beeinflussen kann. Glauben Sie, dass, umgekehrt, ein Unterrichtender durch seine Schüler beeinflusst werden kann? Ich bin sicher, dass die Erfahrungen, die jeder Lehrer  mit seinen Schülern macht, dazu beitragen, aus dem Pädagogen das zu machen, was er ist.  Unter den Sängern, die ich unterrichtet habe, haben mich einige stets durch ihr Timbre und ihre Sensibilität berührt. Wenn ich sie wiedersehe, fühle ich immer noch dasselbe. Es kommt vor, dass die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler weniger gut verläuft, aber diese Schüler beeinflussen mich dennoch. Es ist mir – selten – passiert, eine Klasse von Studenten zu haben, deren Niveau ich für einen Eintritt in ein CNS für ungenügend hielt. Ich liebe es nicht, zu versagen.

Eine so genannte „höhere“ Institution sollte das Vorzimmer des beruflichen Lebens sein, und die aufgenommenen Studenten sollten das Recht haben, zu glauben, dass sie das Potential für eine Karriere haben. Leider ist das aber nicht immer der Fall. Es ist mir schon passiert, dass ich meine Meinung über einen Studenten geändert habe. Doch mein Instinkt hat mich selten getäuscht.

 

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

 Was halten Sie von den Gesangswettbewerben? Wie auch immer die Jury zusammengesetzt ist, die Jury lässt sich hoffnunglos bluffen. Sänger, die sich präsentieren und und mit ihrem ganzen Körper vom Kopf bis zur Sohle singen, können weniger gut bewertet werden, wenn ihr Gesang ohne Ziererei und Affektiertheit wirkt. Andererseits kann ein Sänger, der seinen Körper nicht beherrscht und nicht das besitzt, was ich „ihn im Gleichgewicht halten“, auch große Zustimmung erreichen. Doch was kann ein solcher Sänger auf der Bühne geben, und was sind für ihn selbst die Konsequenzen für sein Instrument?

Ich erinnere mich an eine Episode, als ich Cassandre in den Troyens an der Met in New York sang. Meine Zweitbesetzung durfte laut Vertrag eine Vorstellung singen. Ich musste ihr also meinen Platz überlassen und befand mich für alle Fälle in den Kulissen. Als ich sah, was sie auf der Bühne anstellte, welches Erstaunen! Bei jeder hohen Note, die sie nicht herausbekam, verwandeltete sich diese in einen Schrei, den sie in die Kulissen tat, mit dem Rücken zum Publikum. Am Ende der Vorstellung bekam sie Ovationen vom Publikum! Sie können sich fragen, was zählt…

Das ist ein Thema, das ich oft bei meinen Studenten anspreche, wobei ich versuche, ihnen den Respekt vor dem Komponisten und dem Dichter zu übermitteln. Ich sage ihnen auch scherzhaft, dass sie für die hohen Töne bezahlt werden. Wenn ein Sänger eine hohe Note vier Takte lang aushält, die einen Takt lang geschrieben ist, erregt das Begeisterung im Saal. Es ist mir passiert, dass ich der auch Versuchung erlag und eine Art Vergnügen bei dem starken Applaus empfand. Ein Vergnügen, das aber mit Scham verbunden ist, weil man die Partitur nicht respektiert  hat. Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, Kompromisse einzugehen. Aber wenn ich an Haefliger oder Fischer-Dieskau denke, sie hätten um nichts auf der Welt so gehandelt. Sie wären „anständig“ geblieben. Das ist wahrscheinlich ein Phänomen der dieser Sängergeneration.

 

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Ihr Interesse am Text erklärt wahrscheinlich Ihre Leidenschaft für das Lied… Sicher. Ich erinnere mich an eine Kritik von Sergio Segalini, ich glaube, es war nach dem Trovatore im Capitole von Toulouse. Er meinte, dass ich nicht viel von diesem Repertoire verstehe, weil ich dem Text zu viel Bedeutung beimaß, den man nicht so sehr beachten müsse. Das ist wahrscheinlich bestreitbar, aber ich konnte nicht anders. Auch das ist eine Sache des Kompromisses. Wer wird einem schönen Legato, einer guten Stimmführung, starken und leisen Tönen, die nicht geschrieben sind, es vorziehen, zu verstehen, was Leonora in „Tacea la notte placida“ sagt.

 

Ist es dasselbe, eine Frau oder einen Mann zu unterrichten? Ich könnte Ihnen mit einem Scherz antworten: Es gibt nur eine Technik, nämlich die gute! Dennoch hat mir mein erster Kontratenor- Schüler etliche Fragen aufgeworfen… Das war in Montpellier, wo ich während meiner Zeit in Lyon einen Meisterkurs gab. Unter meinen Schüler gab es einen Kontratenor. Zuerst habe ich mich gefragt, was ich ihm sagen könnte, und bald habe ich begriffen, dass ich nur einen Sänger wie die anderen vor mir hatte und dass die Technik des Gesangs, des Atems und der Stütze auch für ihn galten. Für ihn wie für die anderen habe ich versucht, nicht zu viel zu tun, die richtige Energie zu finden.

 

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wenn Sie mit jemandem an einer Rolle oder einer Arie arbeiten, die Sie selbst gesungen haben, kommen Erinnerungen oder Reflexe auf? Das ist ja lustig, denn erst gestern habe ich mit jemand die Arie derZerbinetta gearbeitet. Die Erinnerungen, die mir kamen, waren nicht meine, sondern die von Sopranen, die diese Rolle neben mir gesungen haben. Ich erinnere mich an alle diese Partnerinnen, von Sumi Jo bis Dilbèr (Yunus)  und an die Art, wie sie die Schwierigkeiten der Partie bewältigten. Ich denke auch, dass die Erinnerungen an die Bühne eine Seite sind, die man rasch umblättern muss, sonst wird die wehmütige Erinnerung allgegenwärtig. Erinnerungen sind Erinnerungen, nicht mehr. Ich bin zu etwas anderem übergegangen, auch wenn mir einige Schüler mir manchmal sagen, dass ich beeindruckend sei. Meine starke Persönlichkeit verdanke ich wahrscheinlich den Jahren, in denen ich die großen Heroinen gesungen habe. Sie haben Spuren hinterlassen…

Ich habe Probleme, zu verstehen, was an mir „gebieterisch“ ist, aber offenbar kommen manche meiner Studenten nach vier Jahren Unterricht immer noch mit Herzklopfen in meine Stunden. Ich empfinde mich selbst aber nicht mehr als eine Bühnendarstellerin, sondern nur als Pädagogin., die darauf bedacht ist, die  Verwundbarkeit meiner Schüler nicht zu verletzen, eben Gesangslehrerin zu sein, die fordert, die viel Einsatz von seinen Studenten verlangt. Diese Forderung, denke ich, verliert sich in unserer schnelllebigen Zeit…

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Ich erinnere mich an die Bemerkungen eines großen Sängers, dass  die Karrieren heute nicht mehr das sind, was sie waren, seitdem man das Flugzeug hat und nicht mit dem Schiff den Ozean überquerte. Die Zeitumstellungen bringen Schäden mit sich. Die zu raschen Karrieren heute: Man muss jung sein, schön und möglichst eine Modelfigur haben. Doch warum darf die Bühne nicht dem Leben und seinen  unterschiedlichen äußeren Gestalten gleichen? Die Opern-Vorstellungen, die TV-Übertragungen  lassen mich viele Fragen über die Besetzungen, das technische Niveau gewisser Interpreten, die Vorbereitung anderer stellen…
Tatsächlich habe ich nicht mehr sehr viel Lust, ins Konzert oder in die Oper zu gehen. Ich gehe lieber in die Generalproben, um einen Schüler oder Sänger  zu hören. Glauben Sie aber nicht, dass ich überheblich bin. Denn der Grund, der mich von Opernbesuchen zurückhält, ist, dass das Niveau so gesunken ist. Etliche Sänger erwecken auf der Bühne den Eindruck, dass ihre Technik noch nicht ausgereift ist. Wie oft habe ich mir gesagt, dass dieser oder jener Sänger es an Wahrheit, Tiefe, Reife…fehlen lässt. Dennoch sieht es nicht so düster aus, denn die großen Künstler und Interpreten sind nicht verschwunden. Es geht aufwärts. Die Ablösung ist da!

 

 

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l'Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l’Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wie erklären Sie es sich, dass es heute üblich ist, zu junge Sänger für Rollen zu engagieren, die ihre Stimmen zu früh verbrauchen? Einerseits weiß ich es, weil das mein Beruf ist, aber ich bin nicht sicher, dass die Operndirektoren sich der Risiken bewusst sind. Andererseits, wenn sie es wissen, ist es ihnen egal. Was die Sänger betrifft, wenn sie wissen, welche Risiken sie eingehen, gehen sie das Risiko bewusst ein. Erst neulich habe ich mit Fassungslosigkeit festgestellt, dass Operationen des Kehlkopfbereichs nicht selten sind. Kortison reicht offenbar nicht mehr aus! Denn etliche dieser Probleme hängen direkt mit einer schlechten Arbeitsweise zusammen. Man muss den Unterschied machen zwischen einer Zyste, einem Polypen und einem Knötchen. Eine Zyste ist meist genetisch bedingt. Wie ein kleines Sandkörnchen in der Auster schließlich eine Perle wird, trägt man eine winzige Zyste mit sich, die schließlich größer wird. Sie entwickelt sich nicht speziell auf den Stimmbändern, sondern kann sich irgendwo im Körper entwickeln. Ein Polyp entsteht aus einer stimmlichen Müdigkeit, die man nicht beachtet. Dieses kleine Bläschen füllt sich mit Flüssigkeit. Die Operation ist einfach: Man entfernt es, es bleibt ein oberflächlicher chirurgischer Akt. Das Knötchen schließlich kommt von einer schlechten Technik, die immer wieder denselben Platz betrifft. Ein Sänger, der zum Beispiel schlechte Attacken wiederholt, misshandelt sein Organ und kann durch die Wiederholungen einen Knoten bekommen. Es versteht sich von selbst, dass man die Konsequenzen aus einem solchen Alarmsignal ziehen muss. Ich würde sogar sagen, dass, egal welche Operation angewendet wird, die Rekonvaleszens-Zeit unbedingt zum Nachdenken genutzt werden soll. Drei Monate Pause sind nötig. Die erste Woche ist absolutes Schweigen verordnet. Dann beginnt man langsam wieder mit dem alltäglichen Sprechen, dann in kleinen Dosen der Gesang.

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans Ariane et Barbe-Bleue de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans „Ariane et Barbe-Bleue“ de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Angesichts all dessen, werden Sie verstehen, was ich ständig meinen Schülern sage: der Körper zuerst! Man singt nicht mit seinen Stimmbändern, sondern mit seinem Körper. Den ganzen Körper einzubringen, wenn man singt, erlaubt es, technische Probleme zu vermeiden. Ich hätte dreimal die Marschallin im Rosenkavalier singen können, ohne stimmliche Probleme festzustellen. Doch meine Beine, meine Waden, meine Schenkel, mein Rücken hätten es nicht ertragen. Das bildet das Gerüst, das alles trägt. Natürlich muss man diese notwendige Struktur außerhalb des Gesangs zu üben. Deshalb lege ich Wert darauf, dass meine Studenten auch Kurse mit körperlichem Training absolvieren. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass die Hälfte der Studenten das nicht tut?

 

Sie waren am Beginn Ihrer Karriere drei Jahre am Staatstheater Lübeck in Deutschlanden. Ist das eine Erfahrung, zu der Sie jungen Sängern raten?  Das ist sogar eine unumgängliche Erfahrung! Dank dieses Ensembles habe ich meinen Beruf gelernt. In Lübeck war ich geborgen, geliebt und unterstützt. Heute sollte ein junger Sänger nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz gehen, um in einem Ensemble zu arbeiten. Ich verstehe nicht, warum Strukturen wie Saint-Étienne, Angers, Tours und viele andere nicht als Ensembletheater funktionieren. In Lübeck waren wir nicht mehr als 14 Sänger mit Jahresvertrag, die nicht weniger ala 5 oder 6 Opernproduktionen, eine Operette und ein Musical herausbrachten. Eine Gruppe von Sängern für 2 Jahre zu bezahlen und ein Repertoire zu konstituieren kostet zweifellos weniger als Produktionen herauszubringen, bei denen man Sänger von Fall zu Fall für nur drei Vorstellungen zu engagieren. Das wäre eine Möglichkeit, ihre Zahl zu erhöhen, ohne Hotelkosten usw..

MI0000965415Als ich in Lübeck ankam, ließ  ich nach 6 Jahren den Chor vom Bayerischen Rundfunk hinter mir, was einem Aufstieg auf der Karriereleiter entsprach. Ich  verdiente dort 4200.- DM pro Monat. Ich verließ diese Position, um all die  interessanten Rollen in Lübeck zu singen.  Vom ersten Jahr an die Marschallin, die Fremde Fürstin in Rusalka, die Mutter in Hänsel und Gretel, Giulietta in Hoffmanns Erzählungen und die Santuzza! Aber dafür, dass ich diese Rollen singen konnte, fiel mein Gehalt auf 3100.- DM pro Monat, das heißt um 1000 DM weniger als wenn ich Choristin geblieben wäre. Dieses Gehalt in Lübeck enthielt natürlich nicht die Kosten für Wohnung und Leben, und auch nicht die Gesangskurse. Dafür hatte ich Coachingstunden, und das Erlernen der Rollen spielte sich gemeinsam mit den Partnern ab. Fünf Personen kümmerten sich um uns, an deren Spitze die Studienleiterin stand. Ich erinnere mich, dass die Proben zum Rosenkavalier am 1.  August begannen, also hatte ich die Rolle der Marschallin in München lernen und mit jemandem arbeiten müssen. Der Zufall kommt einem manchmal zugute. Das war beim Chorchef der Fall, der Coach von Kim Borg für den Ochs in Glyndebourne gewesen war! Man muss sich an den speziellen Stil von Strauss gewöhnen, an diese Art von Konversation, wo das Wort perfekt mit dem der Partner zusammengehen muss. Es ist viel leichter, eine Mozart-Oper zu lernen als eine Strauss-Oper. Die zweite Strausspartie war dann für mich viel leichter zu lernen…

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans Reigen de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans „Reigen“ de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Sowie ich in Lübeck ankam, warteten drei Tage Arbeit mit dem Klavier auf mich, denn die Verantwortliche wollte sich vergewissern, dass ich die Rolle konnte. Danach begannen die Bühnenproben. Wir waren gerade beim 2. Akt, als man mich schon für Rusalka mit einem Co-Repetitor eingeteilt hatte, denn ich musste die Fremde Fürstin nur eine Woche nach meiner ersten Marschallin singen. Außerdem musste ich diese Rolle ohne Bühnenprobe übernehmen, weil es eine Reprise war. Bezüglich Hänsel und Gretel begannen die Proben drei Wochen nach dem Rosenkavalier. Diese Aufeinanderfolgen bewirken, dass Sie sozusagen nicht allein arbeiten müssen oder sehr wenig. Sie haben ständig etwas zu singen oder zu proben. Das scheint natürlich hart, aber ich kann Ihnen versichern, dass das ein wunderbares Mittel ist Partien zu lernen. (…)

 

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques "anciens", dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques „anciens“, dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Sie geben oft Meisterkurse. Was ist Ihr Ziel, wenn Sie Sänger für kurze Zeit unterrichten? Ich werde Ihnen so ehrlich wie möglich antworten: die Hoffnung, dass von diesen wenigen Tagen etwas bleibt! Oft werde ich sehr desillusioniert, wenn ich feststelle, dass nichts bleibt. Wenige Tage Arbeit  sind selten ausreichend. Außerdem können diese Studenten nicht genügend konzentriert sein, oft innerlich nicht bereit sein, das anzunehmen, was ich ihnen sage. Als ich im Rahmen der Académie Internationale de Musique Maurice Ravel, arbeitete, dauerte der Meisterkurs 15 Tage und ich dachte, das würde genügen. Ich stellte mit Schrecken fest, dass alles, worauf ich bestand, vor allem die französische Prosodie, verschwunden war. Ich wiederholte immer wieder meinen Studenten, dass man das „r“ locker rollen muss, denn es guttural auszusprechen ist das sicherste Mittel, dass der Ton nach hinten rutscht. Die „r“ sind eine Sache, das stumme „e“ ist eine andere, wenn man französisch singt, und man soll es vor allem nicht zu stark betonen. Die Silbe vor dem stummen „e“ ist verlängert. Das beste Beispiel ist die Art zu sagen  „je t’aime“. Man singt „je t’aièème“ und nicht „je t’aimeee„. (…)

 

Von einem Sänger zu verlangen, seine Gewohnheiten zu ändern, ist wahrscheinlich keine Sache, die leicht akzeptiert wird... Man muss bereit sein, sich zu entwickeln. Wie es der ungarische Pianist und Pädagoge György Sebök in der Dokumentation „Eine Musiklektion“ so perfekt sagt. Man muss, wenn man sich auf einen anderen Sessel setzen will und bereits sitzt, aufstehen und den Sessel wechseln. Man kann nicht gleichzeitig in zwei Sesseln sitzen! Also  muss man, wenn man sich entwickeln will, eine alte Auffassung hinter sich lassen. Denn genau dasselbe gilt für den Sänger und seine Stimme. Ich habe im Moment eine Schülerin, die nicht atmen kann, und es ist klar, dass man in einem solchen Fall sehr rasch auf psychologische Probleme stößt, die den Sänger in seiner Entwicklung blockieren. Manchmal gibt es glücklicherweise auch sehr anspornende Zeichen. Ich habe kürzlich mit dem jungen Tenor Rémy Mathieu gearbeitet, der am CNSMDL mein Schüler gewesen war. Ich habe bemerkt, dass sich in Bezug auf den Beruf des Opernsängers viel in seinem Körper geändert hat. Ich sehe darin ein Zeichen einer positiven Entwicklung. Aber ich stelle auch mit einer gewissen Angst fest, dass manche Sänger glauben, auf ihren eigenen Problemen „surfen“ zu können und vorwärts zu kommen, ohne sich Fragen zu stellen, während doch der Schlüssel der Entwicklung in der Konfrontation mit den eigenen inneren Dämonen liegt. (…)

 

pollet cd eratoSie wollen sich auch im Coaching von professionellen Sängern spezialisieren. Wie gehen Sie diese Tätigkeit an? Viele Faktoren können einen Sänger dazu veranlassen, mit mir arbeiten zu wollen. Ein professioneller Sänger kann bemerken, dass ein kleines Problem nicht gelöst ist und dass man es lösen muss. Ich würde diesen Sänger gern in seiner Vorgangsweise unterstützen. Im Übrigen ist es häufig, dass der Sänger nicht in der Lage ist, selbst die Art seines Problem zu erkennen. ich beobachte ihn, wenn er singt, um zu erkennen, wo sein Problem leigt, und um die Vorgangsweise zu bestimmen. Eine andere Art der Arbeit ist das Rollenstudium, denn eine neue Rolle stellt dem Sänger viele Fragen. Ich komme auf die französische Prosodie zurück, die so vielen Interpreten nicht klar ist. Das ist eine Arbeitsrichtung, die mich begeistert, und ich bin stets bereit, die Erfahrungen, die ich gemacht habe, weiterzugeben, indem ich meinen Kollegen helfe, die richtige Aussprache zu finden, die auch der Stimme erlaubt, sich am besten auszudrücken.

 

 

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien - Danke!

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Ihr Vertrag in Lyon läuft demnächst aus – was wird nun? Mein eigenes Leben, so stelle ich fest, besteht aus vielen Leben. Ich war zuerst Musiklehrerin an Gymnasien, parallel zu meinen Studien am CRR von Versailles, wo ich einen einstimmigen ersten Preis und die Glückwünsche der Jury erhielt. Dann bin ich nach Deutschland gegangen, wo ich wieder meine Studien aufnahm, die ich durch kleine Jobs finanzierte. Nach dem „Staatsexamen für Solo-Gesang“ wurde ich zuerst Choristin. Dann gab ich diese Sicherheit auf, um in das Ensemble von Lübeck zu gehen, bevor ich nach Frankreich zurückkam als freie Sängerin. All das habe ich aufgegeben, als meine Tochter 13 Jahre alt wurde. Die Ereignisse des Lebens brachten es mit sich, dass ich ruhiger werden wollte, für sie und für mich. Nach dem Konservatorium bin ich nun bereit, wieder in ein neues Leben zu treten, das sechste, ebenfalls im Unterricht und im Austausch. Ich hoffe, es wird reich an Begegnungen sein…

 

Das Interview fanden wir in dem französischen website-Magazine Tutti-Magazine.fr , dessen Chefredakteur Philippe Banel uns den Text und die Fotos von Frau Pollet dankenswerter Weise überließ. Mehr zu Francoise Pollet hier:  francoisepollet.com. Und natürlich geht der große Dank wieder an Ingrid Englitsch in Wien, die in Rekordzeit den langen Text für uns übersetzte. Merci Madame! G. H.

Übernahmen

 

In memoriam Maureen Forrester ist eine CD überschrieben, die mit Mahlers Des Knaben Wunderhorn und den Rückert–Liedern an die 2010 verstorbene kanadische Altistin erinnert (Praga Classics PRD 250 313). Ein Blick in das in operalounge.de besprochene Naxos-Buch bestätigt, dass es sich bei den von Felix Prohaska 1963 dirigierten Wunderhorn-Liedern mit Heinz Rehfuss und dem Vienna Festival Orchestra um die Vanguard-Aufnahme handelt; die RückertLieder nahm Ferenc Fricsay 1956 mit dem RIAS-Symphonie-Orchester für die Deutsche Grammophon auf. Beide Aufnahmen sind bekannt (was leider mit keinem Wort in der Beilage erwähnt wird, und live sind sie – wie fälschlich auf der Rückseite angegeben – auch nicht). Das schmälert den Rang der geschickten Kopplung nicht, da es sich um exemplarische Mahler-Deutungen handelt, denen die Zeit nichts anhaben konnte, denn – wieder Naxos – „Forrester possessed a sumptuous contralto voice which she used with great musicianship“. Das stimmt. In den von Prohaska und dem Wiener Orchester mit Volkliedton und Melancholie intonierten Wunderhorn-Liedern kommt der klangvoll edle und pastose Alt, mit dessen leisen und hohen Tönen die Forrester magische Wirkungen erzielt, vor allem in „Wo die schönen“ Trompeten blasen, vorzüglich zur Geltung, betörend die erhabene sonore Fülle im „Urlicht“. Der Schweizer Bassbariton Heinz Rehfuss singt eindringlich, doch die charaktervolle Stimme nimmt sich neben der Stimmpracht der Forrester noch hagerer als gemeinhin aus. Die Schönheit von Foresters Alt lässt in den Rückert-Liedern den Atem stocken. Die damals 26jährige Sängerin, die im Jahr vor der Aufnahme erstmals in Europa aufgetreten war und deren große Karriere noch bevorstand, überrumpelt in den von Fricsay klangmagisch gestalteten Liedern durch eine Klangfülle, die sich wie eine Kuppel über diese Lieder senkt, sowie eine erlesene Gestaltungskraft und Gesangskultur, die in „Um Mitternacht“ beschwörende Intensität annehmen.   R. F.

 

Ähnlich „ausgeliehen“ und genauso schlecht dokumentiert ist auch die Live-„Hommage an Rafael Kubelik“ bei Praga mit einem Klagenden Lied Mahlers vom Bayerischen Rundfunk 1979 in der Erstfassung von 1899 mit Julia Hamari, Rose Wagemann (nicht Wagermann – bezeichnend für die schlampige Dokumentation des Booklets) und David Rendall, der Altrhapsodie von Brahms (BR 1962) mit Grace Hoffmann würdig und pastos als Mezzosolo sowie – wirklich idiotisch! – den gestückelten Gurreliedern Schönbergs in der bekannten Aufnahme der DG (Mitschnitt vom BR 1965 und natürlich noch immer komplett erhältlich) mit wenig Inge Borkh, dafür Herta Töpper mit dem Lied der Waldtaube und dem etwas kratzigen Herbert Schachtschneider – immer noch eine der besten Aufnahmen des selten eingespielten werkes, hier aber knapp 30 Minuten verstümmelt. Wer macht denn sowas? Schon bei der obigen CD mit den Dokumenten von Maureen Forresters ärgerte man sich über die schlechte Dokumentation der Quellen der Übernahme. Gegen Restverwertung ist ja nichts zu sagen, aber schreiben muss man doch, wo man´s her hat und wo es schon einmal erschienen ist. Die Firma Praga sitzt in Paris, da hätte ein bisschen Recherche nichts gescadet.

kubelik mahler brahms pragaWie auch immer – es ist schön, die Live-Aufnahme des Klagendes Liedes aus München unter Kubelik zu haben, er hatte für Mahler eine besondere Hand, und diese Erstfassung, ist auch nicht oft dokumentiert worden – die Solisten sind kongenial, und besonders der schöne, helle Tenor David Rendalls freut das Ohr.  Grace Hoffmann war eine bedeutende, heute sehr unterschätzte Mezzosopranistin mit einer Karriere weitgehend in Deutschland. Sie war ebenso tüchtig wie vielseitig und besticht durch Identifikation und Wärme der Stimme. Brahms unter Kubeliks Hand hat eben auch diese Wärme, die indivduelle Sprache, die spontane Kommunikation. Alles in allem schöne Mementi. Aber der Schönberg, so gestückelt? Absurd (Praga PRD 350118, angeblich Digital Reminiscences, und warum steht groß „Wien“ über Kubeliks Namen, wenn die Aufnahmen alle vom BR München stammen? Naja.). G. H.

Hochglanzausgabe

 

 

An was erinnert das? An die originale Karl May-Ausgabe? Man kann kaum drauf schauen, so sehr blenden die glitzernden Ornamente dieser Ausgabe, Aquamarin auf Schilf? Das lässt sich nicht beschreiben. Auf jeden Fall ist es zu viel. Aber es soll natürlich auch nach etwas aussehen, wenn man sich einen von Palazzetto Bru Zane herausgegebenen Band der Collection Prix de Rome ins Regal stellt. Kostbar, im Buchformat, 2 CDs, 122 Seiten, französisch und englisch. Es gibt nur 2500 Exemplare davon. Darin enthalten sind mehrere Aufsätze, darunter einen über den Prix de Rome de Musique usw., Gesangstexte, genaue Besetzung, einzig die Qualität der Fotos ist nicht so, wie man sie sich bei solch einer Prachtausgabe wünschen könnte, dazu zwei CDs, die in den Sommermonaten 2014 und 2015 in Brüssel eingespielt wurden. Vol. 5 nennt sich schlicht Paul Dukas. Genauer gesagt handelt es sich um Kanten und Chornummern und Kleinstwerke, in deren Mittelpunkt Werke stehen, die Dukas zwischen 1886 und 1889 für den Prix de Rome komponierte: Pensée de morts auf einen Text von Lamartine, La fête de myrtes nach Toubin, L’Hymne au soleil nach Delavigne und die beiden halbstündigen Kantaten für drei Solostimmen und Orchester Velléda nach Beissier und Séméle nach Adenis.

dukas prix de rome edicionesDie Geschichte der Druidenpriesterin Velléda hatte kürzlich auch Francois-Xavier Roth eingespielt. Eingehüllt in einen klassizistischen Faltenwurf erleben wir den typischen Dukas, sensibel und behutsam in seiner Textbehandlung, berückend in den Modulationen, voll melodischer und instrumentaler Süße (Violine) und orchestraler Delikatesse, farbig, doch nicht überreich. Hervé Niquet, der Flemish Radio Choir und die Brussels Philharmonic musizieren so hingebungsvoll, dass keine der mit 47 und 55 Minuten Spielzeit nicht übervollen CD zu lang erscheinen will. Unter den Solisten ragen in Séméle Kate Aldrich als Didon gleiche Junon hervor sowie in Velléda der kernig markante Andrew Foster-Williams als Ségenax.

Tassis Christoyannis, den Jupiter, treffen wir wieder auf der mit Unterstützung von Palazzetto Bru Zane entstandenen Gesamtaufnahme der Lieder von Édouard Lalo (harmonia mundi 2 CD AP 110). Im Januar und März dieses Jahres hatte sich der griechische Bariton in einem Theaterchen in Bourges der rund 30 Lieder Lalos angenommen, deren kürzestes nur eine Minute dauert, während Le Novice mehr als 14 Minuten währt. Die meisten der über einen Zeitraum von vierzig Jahren entstandenen Lieder sind kurze, einfache und einschmeichelnde Piècen von hohem Stimmungsgehalt, Strophenlieder mit ausdrucksvollen Rezitativen, manche weiten sich zu theatralischen Szenen, bleiben aber immer geschmackvoll elegante Salonunterhaltung. In dem Zyklus Six Romances populaires de Pierre-Jean de Béranger behandelte Lalo soziale Brennpunkte der Zeit, spätere Lieder sind teils humoristische, teils stimmungsvolle Impressionen, wie die Verweise auf Venedig in Le zueca und La Fenaison. Lalo verfällt nie in Extreme, wird nie zu leidenschaftlich, nie zu heftig, was Chistoyannis mit reduzierter Attacke und einem zu schlichter Einfarbigkeit neigendem Bariton gut einfängt.  R. F.

 

Smetanas „Dalibor“

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Smetanas heroische Oper Dalibor gehört für mich zu den wenigen Schätzen für die einsame Insel – seit ich Nicolai Gedda und Teresa Kubiak unter Eve Queler (New York 1977, inzwischen auch auf Gala) darin gehört habe, muss ich mir jedesmal die Augen wischen, so sehr ergreift mich das Liebesduett der beiden im zweiten Akt, Miladas wunderbares Solo ebenfalls dort und seine zu Herzen gehende Freiheits-Arie im dritten. Gedda – immer am besten als gebrochener Held (wie in seinen Meyerbeer- und Berlioz-Partien) – war hier unerreicht, pathoserfüllt und eben jener ideale Zwischenfachtenor von Jugendlichkeit, Heroik und Liebender. Ich kenne nichts Besseres von ihm.

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Es gibt für westliche Ohren kaum überzeugende Dalibor-Aufnahmen, zudem sind die meisten offiziellen von der Supraphon aus der Tschechoslowakei betagt. Während sich die Tenöre meistens gut schlagen (Prybl, Blachut und andere) bleiben die Damen oft stimmlich scharf und weiß in der Höhe und bestätigen Vorurteile gegen tschechische Soprane (Podvalova, Hrncirova, Abramova, Kniplova/brrrrrrrr u. a.), einzig die Subrtova  (Krombholz) und die Depoltova (Smetacek) stimmten mich milde, weil bei gedeckter Höhe liebenswürdig im Klang. Selbst die Janku, erfolgreich in italienischen Partien, bleibt hier unfreundlich, auch die Mikova in Edinburgh oder die Veberova zuletzt in Pilsen. Aus Cagliari erreicht uns ein Live-Mitschnitt mit der nicht wirklich sympatischen Milada der Urbanova und dem strammen Dalibor von Popov auf Dynamic – schon sehr spannend dirigiert von Yoram David, aber nicht wirklich idiomatisch und irgendwie global. 1995 war die letzte Aufnahme der Supraphon mit wiederum Urbanova (und da bleibe ich bei meinem Urteil, sie baute doch was den Klang betrifft schnell ab und ist mir zu heroisch-scharf) und einm sehr annehmbaren Marian als Dalibor unter Kosler, aber für meinen Geschmack ohne diese Magie der neuen Aufnahme.

Nicolai Gedda singt den Dalibor bei Eve Queler/OBA

Unbefriedigend ist der Dalibor aus München unter dem hinreißenden Kubelik (Myto), denn Konya schluchzt sich durch die Partie, und die Weathers bleibt viel zu klein in der Stimme. Aus Wien gibt es eine RCA-Live-Aufnahme mit der Rysanek, die da wie immer ihr eigenes Ding veranstaltet, und Spiess, der stemmt und den Dalibor mit dem Radamès verwechselt. Aber bei beiden hat man Deutschsprachiges vor sich, was dem Verständnis dient. Tschechisch ist ja im Ausland kaum verbreitet. Eine BBC-Aufnahme (Gala) lässt uns die eher trocken-fulminante denn stimmschöne Tinsley hören, die daraus einen englischen Turandot-Auftritt macht und nicht sonderlich sympatisch herüberkommt – alle (und es gibt noch weitere Live-Mitschnitte) haben was, aber wenige das oben Gewünschte und Erlebte.

Aber es gibt Abhilfe! Endlich. Bei Onyx ist (bei schlampiger Ausgabe) der Mittschnitt eines BBC-Konzertes aus der Londoner Barbican Hall vom Sommer 2015 erschienen, und der lässt keine Wünsche offen (selbst wenn mir Gedda & Kubiak im Ohr bleiben). Denn unter Jiří Bělohlávek erlebt  man eine der überwältigendsten Opernaufnahmen der letzten Jahre – und dafür stehe ich! Was er mit dem BBC Symphony Orchestra dem dem BBC-Chor hier hören lässt ist eine Glanzleistung an Klang, an Interpretation und an Feuer. Dalibor (1868 Prag, Libretto von Josef Wenzig in der tschechischen Übertragung von Ervin Spindler) steht stilistisch/inhaltlich zwischen Beethoven und Wagner (und Dvorák natürlich)

Die wunderbare polnische Sopranistin Teresa Kubiak singt eine erfüllte Milada bei Eve Queler/ poland.us

und kann machtvolle Chöre ebenso aufbieten wie zarteste Liebesduette, ergreifende Soloszenen und -Arien und eben jenen pathosreichen, vaterländisch-tschechischen  Klang, den wir mit Smetanas Moldau assoziieren, wo bei prachtvollen Holzbläsern und wunderbar-weichen Streicherfiguren ein Panorama der tschechischen/mährischen Befindlichkeit vor uns ausgebreitet wird.

Dalibor ist Smetanas einzige tragische Oper, die überquillt von Gefühlen, von Hass und Verzweiflung, von grenzenloser Liebe und elementarem Freiheitsdrang, von Nationalstolz und Selbstbewusstsein. Dies alles lässt uns Bělohlávek in genialer Weise erleben, lässt uns daran teilnehmen, lässt uns eintauchen in eine heroisch-romantische Welt der Klänge. Orchester wie Chor hat man selten so homogen und eben so „befindlich“ gehört. Und da es ein Livemitschnitt ist, springt der Funke vom enthusiasmierten Publikum auch auf uns über – eine große, bedeutende Erfahrung.

Richard Samek/ operaplus.cz

Richard Samek/ operaplus.cz

Gesungen wird ganz prachtvoll. In der Titelpartie hört man den jungen Richard Samek voller Heldentum, voller feuriger Jugendlichkeit, aber eben auch empfindsam, Gedda-nah und ihm in manchen Wendungen sehr ähnlich. Ein gebrochener, jugendlicher Held mit Empfindsamkeit, ein Lohengrin in Böhmen & Mähren vielleicht, denn die musikalischen Assoziationen stellen sich durchaus  ein, 18 Jahre nach  Wagners Oper. Dana Buresovas Stimme war mir in den ersten Minuten ein wenig zu hell, und vielleicht ist die Partie der Milada ein Quentchen zu groß für sie, aber sie steigert sich ungemein, erfüllt mit leuchtendem, festem und höhengedecktem Sopran die Rolle der widerwillig Liebenden mit Leuchtkraft – eine tschechische Leonore großen Zuschnitts und großer Interpretation. König Vlasdislav ist mit Ivan Kusnjer bestens besetzt: eine feste, sonore und gutsitzende Baritonstimme, auch er ein eher schlanker Held und ein ganzer Mann. Als Freundin und Vertraute Jitka macht Alzbeta Polackova absolut beste Figur, mit schön-timbrierter, fester und vor allem auch höhenstarker Sopranstimme in dieser wichtigen Nebenrolle. Arles Voracek, Svatopluk Sem und Jan Stava holen viel aus ihren kleineren Partien heraus und runden dieses nationalsprachige Ensemble ab. Was für ein Gesamterlebnis!

Leider wird dieser Eindruck rein faktisch durch die popelige Ausgabe bei Onyx getrübt. Neben einem viersprachigen Einführungstext findet man die Besetzung in Kleinstschrift (weiß auf grün) nach einigem Suchen auf der Cover-Rückseite, Angaben zu den Sängern werden mit dem Hinweis bedient: Schauen Sie auf unserer website nach! Dort findet man unter vielem Klicken einen Hinweis auf das genannte Konzert in der Londoner Barbican Hall. Und ein weiterer Hinweis gilt dem eben nicht abgedruckten Libretto („1951 Supraphon“), das man auch auf der Onyx-website suchen muss. Besser ist es, gleich nach dem Konzert vom 2. Mai 2015  im Netz zu suchen und von den überwältigenden Kritiken bestätigt zu werden: Bei der BBC und anderen websites kann man das alles nachlesen (2CD Onyx 4158). Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Abschluss von Jacobs’ Mozart-Zyklus

 

Seine Einspielung der großen Mozart-Opern für harmonia mundi setzt René Jacobs – nach der da-Ponte-Trilogie, den opere serie Idomeneo und Tito, der frühen Finta giardineria und der späten Zauberflöte – nun mit dem Singspiel Die Entführung aus dem Serail fort und sorgt damit  für einen gewichtigen Schlusspunkt in der Reihe seiner Mozart-Aufnahmen. Wie erwartet, gelingt dem Dirigenten auch bei diesem so oft eingespielten Werk (die Anzahl der Gesamtaufnahmen dürfte zwischen 50 und 100 liegen) eine ganz ungewöhnliche, unkonventionelle Deutung. Dies bezieht sich vor allem auf den Einsatz des gesprochenen Dialogs, der hier fast ungekürzt zu hören ist und sogar während der Musiknummern eingesetzt wird. Fließend gehen Musik und Sprache ineinander über, was an manche Opernhörspiele des Rundfunks in den 1950er/60er Jahren mit ihrer lebendigen Geräuschkulisse erinnert. Auf der anderen Seite lässt Jacobs vom Hammerklavier (Andreas Küppers) in den Dialog Musikfetzen aus anderen Kompositionen Mozarts einfließen – so einige Takte aus der c-Moll-Fantasie KV 475 in einer Szene Bassa/Konstanze. Das Instrument ist durchweg präsent und untermalt beinahe alle Gesangsnummern, mit den erregt tremolierenden Akkorden aber auch das riskante Unterfangen des nächtlichen Fluchtversuchs.

Das Ensemble singt fast durchweg auf hohem Niveau. Alle Interpreten finden in ihren Arien zu individuellen Akzenten und reichen Verzierungsvarianten. Mit Robin Johanssen ist die zentrale weibliche Partie des Stückes stimmig besetzt. (Auch nimmt der Sammler überrascht und erfreut zur Kenntnis, in einer Jacobs-Aufnahme einmal nicht Sunhae Im zu begegnen.) Die heikle Auftrittsarie, „Ach, ich liebte“, meistert sie bravourös und lässt keinerlei Probleme mit den vertrackten Koloraturen erkennen. Das ist keine Primadonnenstimme, aber eine jugendliche und zutiefst menschliche. Das Rezitativ „Welcher Wechsel“ gestaltet  sie mit bebender innerer Erregung, die Arie „Traurigkeit“ mit innigem Ausdruck und reichem Ton. Die vom Orchester heftig eingeleitete „Martern“-Arie (wo noch Sprachfetzen von ihr und vom Bassa zu hören sind) gelingt ihr gleichfalls sehr ansprechend, sieht man von der etwas flachen Tiefe ab. Kultiviert, lyrisch-schlank und mit großer Empfindsamkeit singt Maximilian Schmitt den Belmonte. Das noch um ein Vielfaches erweiterte Zierwerk in der Arie „Wenn der Freude“ bewältigt er mit leichter Emission und in keinem Moment strapaziertem Ton. Auch die gefürchteten Koloraturen der „Baumeister“-Arie gelingen imponierend. Für den Pedrillo ist Julian Prégardien geradezu eine Luxusbesetzung, denn er singt die Partie mit reicher lyrischer Substanz und vermeidet jeden buffonesk-neckischen Anstrich. Das „Frisch zum Kampfe“ ertönt entschlossen und mit kämpferischem Mut, die nächtliche Serenade wird nicht gesäuselt, sondern mit schöner Substanz formuliert. Das Da capo deutet in seinem drängenden Tempo die Eile des Unternehmens an. Auch Mari Eriksmoen verleiht der Blonde einen reizenden Tonfall mit ihrem kecken, silbrigen Sopran. Nur die Extremnoten der ersten Arie klingen etwas gequietscht, „Welche Wonne“ singt sie keck und beherzt. Köstlich ist ihre übermütige Überlegenheit in den Szenen mit Osmin. Dimitry Ivashchenko überrascht in dieser Partie mit fast akzentfreiem Gesang, der Bass selbst ist nicht von erster Qualität. Da fehlt die satte Fülle, da stört manch verfärbter Ton. „O, wie will ich triumphieren“ erklingt zwar mit höhnischem Spott, doch mangelt es an Gefährlichkeit, die er erst im finalen Vaudeville erreicht. In der Sprechrolle des Bassa irritiert der langjährige Salzburger Jedermann, Cornelius Obonya, mit recht verschwommener Sprache von heiserem Klang und deutlich verhaltenen Ausbrüchen. Interessant ist der bewusst eingesetzte fremde Akzent. Bassas erster Auftritt wird noch vor dem üblichen Chor der Janitscharen mit einem Türkischen Marsch von Michael Haydn eingeleitet. Jacobs betont überhaupt das türkische Lokalkolorit der Musik, lässt deren orientalische Elemente mit oft martialischer Gewalt hereinbrechen, die Becken, Triangel, Trommeln und Schellen rasseln. Die Akademie für Alte Musik Berlin spielt mit explosiver Verve und musikantischer Lust. Der Dirigent reizt schon in der Ouvertüre die Kontraste zwischen wuchtigem forte und verhaltenem piano beinahe extrem aus. Wild und aggressiv ertönen die Janitscharen-Motive. Im Kontrast dazu werden die menschlichen Konflikte der Geschichte mit schmerzlicher Lyrik von stärkster Intensität ausgebreitet. Die orchestrale Qualität gehört zweifellos zu den Meriten dieser Aufnahme (3 CD harmonia mundi, HMC 902214-15). Bernd Hoppe

Kunst und Oberfläche

 

Die Komische Oper Berlin – zusammen mit den Forschern Bettina Brandl-Risi und Clemens Risi – hat ein außerordentlich vielseitiges und kontroverses Buch über Operette zusammengestellt, dessen Titel schon provoziert: Kunst und Oberfläche: Operette zwischen Bravour und Banalität. Das Buch mit seinen 21 Essays zum Thema ist beim Henschel Verlag erschienen. Um den Appetit zur Lektüre und Beschäftigung mit dieser spannenenden Materie anzuregen, folgt nachstehend die Einleitung von Bettina Brandl-Risi, Clemens Risi und Rainer Simon mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des Henschel Verlages. Dank auch an Kevin Clarke vom Operetta Research Center, auf dessen website wir diesen anregenden Text erstmals fanden. G. H..

henschel brandl-risi kunst der oberflächeDie Operette genoss und genießt auch heute noch in der Musiktheaterpraxis einen mitunter zweifelhaften Ruf – zu leicht, zu albern, zu kitschig und vor allem zu oberflächlich. Flankiert wird diese Haltung von einer Opern- und Theaterforschung, die dieses Genre bis ins 21. Jahrhundert hinein eher stiefmütterlich behandelt. Seit einigen Jahren kann jedoch eine Veränderung in dieser Wahrnehmung, eine regelrechte Renaissance der Operette beobachtet werden – nicht zuletzt an der Komischen Oper Berlin unter der Intendanz von Barrie Kosky.

Dort wurde der oftmals verkannten Gattung zu Beginn des Jahres 2015 ein gemeinsam mit der University of Chicago, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der internationalen Fachzeitschrift The Opera Quarterly (Oxford University Press) veranstaltetes, dreitägiges Symposium mit Musik-, Theater-, Kulturwissenschaftlern, Philosophen und Künstlern aus Europa und den USA gewidmet. Dieser Band fasst die Ergebnisse der Tagung unter dem vieldeutigen Titel Kunst der Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität und unter Beibehaltung des mitunter mündlichen Gestus der Beiträge zusammen. Ziel ist hierbei einerseits, die abschätzigen Zuschreibungen, die sich unter der negativ konnotierten Begriffsverwandten „Oberflächlichkeit“ zusammenfassen lassen, in näheren Augenschein zu nehmen. Andererseits ist gerade nach den produktiven Möglichkeiten an der Oberfläche zu fragen. Denn sind es nicht diverse Oberflächenäußerungen, die uns mitunter die tiefsten Einblicke in historische, gesellschaftliche und ästhetische Zusammenhänge geben?

Operette par excellence: Fritzi Massary/ Wiki

Operette par excellence: Fritzi Massary/ Wiki

Und führt nicht das Funkeln und Glitzern der sinnlichen Oberflächen – ob einer Stimme, eines Raumes oder eines Körpers – zu ganz eigenen ästhetischen Erlebnissen, die es näher zu betrachten lohnt? Und sollte daher die vorschnelle Einordnung als „bloße Unterhaltungskunst“ nicht überdacht und auf den Prüfstand gestellt werden? Dass sich die Vorbehalte auch in der Wissenschaft gegenüber der Operette in den letzten Jahren glücklicherweise fundamental gewandelt haben, dafür hat auch und vor allem die Riege der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesorgt, die im vorliegenden Band vertreten sind.

Das Symposium verfolgte eine doppelte Zielrichtung: Zum einen wurde die historische Dimension der bislang eher biographisch und werkorientiert denn kulturwissenschaftlich aufgearbeiteten Blütezeit des musikalischen Unterhaltungstheaters in Deutschland neu zur Diskussion gestellt. Es wurden also zum einen historische Bohrungen insbesondere zur Szene der 1920er- und 1930er-Jahre (mit Rückblicken auf den Beginn des 20. Jahrhunderts) vorgenommen, die kulturpolitische Funktionen und Funktionalisierungen und deren philosophische Reflexion, die Verhandlung gesellschaftlicher Debatten ebenso wie theaterästhetische, medienästhetische, darstellungstheoretische und technikgeschichtliche Implikationen der Aufführungspraxis von Operetten herauspräpariert haben. Und zum anderen richtete sich der Fokus auf die Gegenwart der Aufführungspraxis, also das neu erwachte Interesse für die Operette der 1920er- und 1930er-Jahre. Was bedeutet diese Renaissance heute? Gibt es ein erneutes Interesse für eine kulturelle Praxis jenseits von „E“ und „U“ und wieso?

Operette mit Schmalz: "Rosen in Tirol"/ Youtube

Operette mit Schmalz: „Rosen in Tirol“/ Youtube

Angeknüpft werden konnte dabei an die für die Operettenforschung maßgeblichen Studien in biographischer Perspektive,[1] in musik- und theaterwissenschaftlicher Perspektive, [2] in literaturwissenschaftlicher Perspektive [3] sowie in im weitesten Sinne kulturhistorischer und diskursanalytischer Perspektive (zu topographischen Fragen, zu Frauen- und Genderrollen, zur politischen Dimension) [4]. Das Anliegen des Symposiums ging aber gerade dezidiert über diese bereits etablierten Forschungspositionen hinaus, indem nach den Gründen für die erneute Beschäftigung mit der (Revue-)Operette der Zwischenkriegszeit gefragt und insbesondere die Diskussion über die aktuellen Inszenierungs- und Aufführungsstrategien der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der (Revue-)Operette geführt wurde.

Nach einem einführenden Text zur Konjunktur der Oberfläche im Gegenwartstheater wird diesen Fragen in vier jeweils thematisch unterschiedlich ausgerichteten Sektionen nachgegangen.

Operette mit Mädels, Berlin 1929/ youtube

Operette mit Mädels, Berlin 1929/ youtube

In der ersten Sektion Hochkultur und Entertainment: Operette zwischen E und U wird mit einer grundsätzlichen Befragung der kulturkritischen Debatten um „E“ und „U“ aus der Perspektive der Philosophie/Musikästhetik, der Theaterhistoriographie und der Praxis ein theoretischer Horizont für die Diskussion um die Renaissance der (Revue-)Operette der 1920er- und 1930er-Jahre bereitgestellt. Kritisch beleuchtet werden hierbei ebenso die historischen Diskurse des „Ernsten“ und des „Leichten“/„Unterhaltenden“ wie die Frage, welchen Status diese Debatten der Moderne für die kulturellen Praktiken der Gegenwart haben, in denen einerseits postmoderne Ästhetiken noch spürbar sind, andererseits programmatische Ästhetiken der Politisierung eingefordert werden. Zur Sprache kommen insbesondere historische Positionen zu „E“ und „U“ (Adorno, Kracauer). Offen bleibt die Frage der Standortbestimmung von (Musik-)Theater im Zeichen der Globalisierung, etwa im Sinne der „McTheatre-Debatte“[5], die der Konfektionierung einer Marktlogiken folgenden Theaterorganisation das Wort redet, im Gegensatz zu den zahlreichen Diversifizierungsmöglichkeiten in einem (zutiefst lokal verankerten) Kunstsubventionssystem wie in Deutschland.

Operette auf dem See: Der Zigeunerbaron" in Mörbisch 2011/ youtube

Operette auf dem See: Der Zigeunerbaron“ in Mörbisch 2011/ youtube

In der zweiten Sektion Stars und Diven: Genregrenzen und der Charme der Überforderung werden Operetten als Agenten von medien- und genre-sprengenden künstlerischen Praktiken und der Hybridisierung der Künste (zwischen Oper – Schauspiel – Film – Revue) befragt. Lässt sich bereits das Genre Operette selbst als Zitatkunst (der Darsteller und Handlungen/Dramaturgien) verstehen, so fungieren die Operettenstars und -diven als Hybride zwischen Aufführung und Mediatisierung [6] ebenso wie zwischen den unterschiedlichen Künsten. Den spezifischen Charakteristika der Stars und Diven der Operette und den besonderen Herausforderungen an sie wird besondere Aufmerksamkeit zuteil. Verschiebt sich das Konzept der Diva im Falle dieser Operetten? Im Operngesang geschulte Stimmen treffen mit Stimmen von Schauspielerinnen und Schauspielern und solchen aus dem Bereich des Jazz und des Chanson zusammen. Unerwartete Übernahmen von Kompetenzen aus anderen Gewerken bestimmen die Aufführungspraktiken damals wie heute: Sängerinnen müssen sich bewegen wie Revuetänzerinnen, Schauspielersingend neben Sängern bestehen können. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Besetzung von aus anderen Zusammenhängen berühmten Stars (Gustaf Gründgens, Hans Albers, Käthe Dorsch, Richard Tauber; heute z. B. Dagmar Manzel, Katharine Mehrling, Max Hopp, Christoph Marti) sowie der Frage der Historizität des Stars, inwiefern also jeder dieser Stars immer auch als Zitat seiner eigenen Geschichte auftritt. Zeigt sich in diesem „Charme der Überforderung“ jenseits von Genregrenzen, dieser Reibung der Kompetenzen, deren je eigene Virtuosität hohes Attraktionspotential birgt, eine Nähe zu jenen Ästhetiken der auf die virtuose Spitze getriebenen Imperfektion, die in aktuellen künstlerischen Konzepten im Gegenwartstheater [7] virulent sind? Erweist sich gerade das Hybride der Operetten als Attraktionsmoment für gegenwärtige Theaterschaffende, die das Diskontinuierliche des Materials zu betonen scheinen und ein Genießen der Oberflächenphänomene jenseits von Handlung und Psychologie ermöglichen? Dem Ruf nach der Überschreitung von Genregrenzen und nach performativen Hybridformen, die die experimentelle zeitgenössische Musiktheaterpraxis immer wieder fordert, wird in deren scheinbarem Gegenpol, der Operette, seit jeher gefolgt.

Operette mit Hula: "Die Blume von Hawai" 1933/ youtube

Operette mit Hula: „Die Blume von Hawai“ 1933/ youtube

Die dritte Sektion Operette als gesellschaftlicher / kultureller / technologischer Seismograph widmet sich der Frage, inwiefern sich Operetten als Seismographen ihrer Zeit begreifen lassen. Zur Diskussion steht hier die Verflechtung theatraler Praktiken mit neuen Medien und Technologien des Audiovisuellen (Operette und Tonfilm), der Telekommunikation und akustischen Medien wie Telefon und Radio (als Übertragungsmedien) sowie der Ausprägung spezifischer „auditiver Kulturen“ des frühen 20. Jahrhunderts. Der Ort der historischen Operetten innerhalb einer Kultur der Metropole mit ihren spezifischen Erfahrungen von Modernität wird dabei ebenso befragt wie ihre Funktion als Vehikel und Symptom der Internationalisierung und Globalisierung (das „Transatlantische“).

Inwiefern können Operetten als Austragungsort von Debatten über Gender-Fragen, deren Ambivalenzen und auch die Rolle von Sexualität verstanden werden? Oder lässt sich die kulturelle Funktionvon Operette in dieser Zeit eher als Nostalgie-Figur der Selbstreflexionin der Kultur der Weimarer Republik fassen? Unweigerlich geraten mit der Diskussion der Operetten der 1920er- und 1930er-Jahre politische und kulturpolitische Krisenmomente in den Blick. Was geschieht mit diesem Genre und seinen Machern zwischen nationalsozialistischerVereinnahmung, Konformität, Verbot, Vernichtung und Exil? Die durch das Aufkommen des Nationalsozialismus gebrochene Geschichte der Operette und die damit einhergehende Vereinnahmung und Domestizierung des vormals wilden Genres kann so sichtbar werden, also die Folgen jenes dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte, das mit Maßnahmender NS-Kulturpolitik wie Aufführungsverboten begann und in der Verfolgung und Vernichtung der vielen jüdischen Künstlerinnen und Künstler endete, die die Operetten der 1920er- und 1930er-Jahre produziert und aufgeführt hatten. Es geht um die Frage von Mechanismen der Hegemonialisierung und Verdrängung im Repertoire, die bis in unsere Gegenwart wirken.

Master of Operetta: Max Reinhardt/ wiki

Master of Operetta: Max Reinhardt/ wiki

In der vierten und letzten Sektion Operette heute steht die Frage zur Diskussion, wie die Musiktheaterpraxis heute mit diesen Operetten umgeht. Welche Haltungen werden zu den textlichen, musikalischen, formalen und den im weitesten Sinne diskursiven Vorlagen (zum Beispiel der latenten oder expliziten Ironie) eingenommen? Lässt sich so etwas wie Nostalgie diagnostizieren nach einer Zeit, die ihrerseits (in den 1920er-Jahren) selbst eine nostalgische war? Wird hier ein Aushandlungsfeld einer in bestimmten Aspekten vergleichbaren gesellschaftlichen Situation aufgesucht, die von (ökonomischer) Krise, Globalisierung, einer Vergewisserung über Fragen von Moderne/Modernität, Hybridisierung und der Debatte über Gender-Fragen bestimmt ist?

Sowohl der Gegenstand als auch der Veranstaltungsort des Symposiums gaben Anlass, die eingangs formulierten Fragen aus verschiedenen Perspektiven und in ganz unterschiedlichen Formaten zu beleuchten.

Master of Operetta 2: Ernst Lubitsch/ Wiki

Master of Operetta 2: Ernst Lubitsch/ Wiki

Dieser Vielfalt der Formate entsprechend, finden sich in diesem Band neben ausführlicheren Abhandlungen auch kürzere Statements, bei denen wir daran interessiert waren, den mündlichen und diskussionsorientierten Duktus auch in der Buchform beizubehalten. Insbesondere war uns daran gelegen, auch den künstlerischen Beiträgen innerhalb des Symposiums einen Ort in der Publikation einzuräumen, da uns von Beginn an wichtig war, unseren schillernden Gegenstand nicht nur wissenschaftlich-theoretisch, sondern ebenso künstlerisch-praktisch zu beleuchten. Entsprechend eines Verständnisses von Kunst und Wissenschaft, das ersterer auch Forschungsqualitäten und letzterer auch performatives Potential beimisst, das nicht nur die Dichotomie zwischen Oberfläche und Tiefe, sondern auch diejenige zwischen Theorie und Praxis produktiv hinterfragt, fanden

während des Symposiums künstlerische Interventionen statt, welche sich mit den verschiedenen Themenbereichen kreativ auseinandersetzten: Die Musicaldarstellerin Katharine Mehrling zeigte eine durchaus unterhaltsame Seite an Adornos ernsthaften Ausführungen über die Operette auf – in einem Vortrag, der übertrieben seriöse bis hin zu parodistischen Elementen, dadaistisch anmutende Wortverdrehungen, Gesangseinlagen und -improvisationen vereinigte. Gemeinsam mit Christoph Marti von den Geschwistern Pfister berichtete sie in einem halbfiktiven Gespräch von den Sonnen- und Schattenseiten des Lebens als Star, wobei die beiden Diven, in Kostüm und Maske und in Begleitung zweier Schoßhündchen, stets zwischen ihrer jeweiligen Operettenrolle und der Privatperson, zwischen Daisy Darlington (aus Ball im Savoy) und Katharine Mehrling einerseits, zwischen Clivia Gray (aus Clivia) und Christoph Marti andererseits changierten.

Die Operette Möriken-Wildegg hat seit rund 90 Jahren Tradition. Alle zwei Jahre gibt es eine Aufführung, dieses Jahr «Die Herzogin von Chicago» von Emmerich Kalman. Über 200 Personen sind an der Produktion beteiligt, darunter ein Laienchor, ein Profi-Orchester und Baletttänzerinnen/ srf.ch

Die Operette Möriken-Wildegg hat seit rund 90 Jahren Tradition. Alle zwei Jahre gibt es eine Aufführung, dieses Jahr «Die Herzogin von Chicago» von Emmerich Kalman. Über 200 Personen sind an der Produktion beteiligt, darunter ein Laienchor, ein Profi-Orchester und Baletttänzerinnen/ srf.ch

Gemeinsam mit der Performance-Gruppe Interrobang und dem Publikum wurde am letzten Symposiumstag in Form einer interaktiven Feldforschung nach Antworten auf die Frage gesucht, wie die Operette der Zukunft aussehen könne. Einige Bild- und Textspuren sowohl dieser Liveveranstaltungen als auch der zahlreichen Diskussionen, deren performative Qualitäten sich nur sehr begrenzt in einem Buch darstellen lassen, finden sich an der ein oder anderen Stelle dieses Bandes wieder. Maßgeblichen Anteil an der Konzeption und Durchführung des Symposiums hatten Johanna Wall und Pavel B. Jiracek, in deren Händen die dramaturgische Betreuung der künstlerischen Interventionen von Interrobang und von Katharine Mehrling lag und deren ebenso elegante wie eloquente Moderation einen Nachhall in den am Ende jeder Sektion abgedruckten Zitaten aus den Diskussionen finden.

Abschließend möchten wir uns bei der Augstein Stiftung, der Peter Dornier Stiftung und der Zeitschrift The Opera Quarterly (Oxford University Press) für die finanzielle Unterstützung des Symposiums, das die Grundlage dieses Bandes bildete, bedanken. Für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses geht unser Dank an den Universitätsbund Erlangen-Nürnberg sowie an das Präsidium der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zudem möchten wir Cordula Reski-Henningfeldt und Andra-Maria Jebelean für die redaktionelle Mithilfe Dank sagen.Bettina Brandl-Risi, Ulrich Lenz, Clemens Risi, Rainer Simon/ Berlin und Erlangen, Juni 2015

Kunst und Oberfläche – Operette zwischen Bravour und Banalität von Bettina Brandl-Risi, Ulrich Lenz, Clemens Risi, Rainer Simon, 224 Seiten, Henschel Verlag, ISBN-13: 9783894877804

 

Dazu Anmerkungen: [1] Vgl. z. B. Kevin Clarke, „Im Himmel spielt auch schon die Jazzband“. Emmerich Kálmán und die transatlantische Operette 1928–32, Hamburg 2007; Stefan Frey, Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik, Tübingen 1995; ders., „Unter Tränen lachen“. Emmerich Kálmán. Eine Operettenbiographie, Berlin 2003; Ute Jarchow, Analysen zur Berliner Operette. Die Operetten Walter Kollos (1878–1940) im Kontext der Entwicklung der Berliner Operette, München 2013. [2] Vgl. u. a. Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918), Tübingen 2006; Clarke, „Im Himmel spielt auch schon die Jazzband“, a. a. O. [3] Vgl. z. B. Ethel Matala de Mazza, „O-la-la“. Auftritte einer Diva, in: Bettina Brandl-Risi/Gabriele Brandstetter/Stefanie Dieckmann (Hrsg.), Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 217–239; dies., Wo kein Wunder geschieht. Goetheliebe und anderes Leid in der lyrischen Operette Franz Lehárs, in: Daniel Eschkötter/Bettine Menke/Armin Schäfer (Hrsg.), Das Melodram – ein Medienbastard, Berlin 2013, S. 98–114; Heike Quissek, Das deutschsprachige Operettenlibretto – Figuren, Stoffe, Dramaturgie, Stuttgart 2012. [4] Vgl. u. a. Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, Oldenburg 2014; Tobias Becker/Len Platt/David Linton (Hrsg.), Popular Musical Theatre in London and Berlin 1890 to 1939, Cambridge 2014; Kevin Clarke, Glitter And Be Gay. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer, Hamburg 2007; Moritz Csáky, Kultur als Kommunikationsraum – am Beispiel Zentraleuropas, in: Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik 1 (2011), S. 3–24; Albrecht Dümling (Hrsg.), Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat, Neuss 2007; Marion Linhardt, Inszenierung der Frau – Frau in der Inszenierung. Operette in Wien zwischen 1865 und 1900, Tutzing 1997; Daniel Morat, Die Sinfonie der Großstadt. Berlin und New York, in: Gerhard Paul/Ralph Schock (Hrsg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013, S. 156–161; Wolfgang Schaller (Hrsg.), Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und „Entartung“. Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, Berlin 2007. [5] Vgl. Dan Rebellato, Theatre & Globalization, Basingstoke 2009. [6] Vgl. Elisabeth Bronfen/Barbara Straumann, Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002; Werner Faulstich/Helmut Korte (Hrsg.), Der Star. Geschichte, Rezeption, Bedeutung, München 1997. [7] Vgl. Bettina Brandl-Risi, „Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir“. Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hrsg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 137–156.

 

Foto oben: The merry Widow, Ernst Lubitsch 1934 MGM, Ausschnitt/ artsemerson.org

Grosses Kino

Nicht nur eine Oper in der Oper gibt es in Rufus Wainwrights Erstlingswerk Prima Donna, die Entstehungsgeschichte der CD selbst könnte schon Stoff für ein Musikstück liefern. Ursprünglich als Auftragswerk für die Met geplant, wurde es dort wegen des Bestehens des zweisprachig in Kanada aufgewachsenen Komponisten auf der französischen Sprache nie aufgeführt, sondern weit weniger spektakulär im Jahre 2009 in Manchester, danach noch in Toronto und Melbourne, die CD kam erst nach einem aufreibenden Spendenauftreiben bei der Deutschen Grammophon heraus. Der Komponist, vor der Uraufführung seiner zunächst als Einakter, dann um einen weiteren Akt erweiterten Oper als Singer, Songwriter und Mitwirkender an Filmmusik bekannt, schildert in bewegten Worten, wie verschiedene Ereignisse, so das Sehen des Interviews Lord Harewoods mit Maria Callas und die Krebsdiagnose der Mutter, das Entstehen der Oper beeinflussten, dass offensichtlich angezweifelt wurde, er habe die Instrumentierung selbst vollbracht und dass die Kritiken sehr unterschiedlich ausfielen.

Das Thema entspricht in etwa dem des Hollywood-Films Sunset Boulevard, handelt von einer alternden Diva, die ihr Comeback plant, nachdem ihr sechs Jahre zuvor bei einem schwierigen Duett beim hohen Ton die Stimme wegbrach. Nun fühlt sie sich bereit, sich wieder an die Partie der Aliénor von Aquitanien zu wagen, unterstützt von einem treu erscheinenden, aber sich als berechnend erweisenden Butler und einem Dienstmädchen. Ein Journalist soll mit einem Interview das Wiedererscheinen der Prima Donna auf der Opernbühne vorbereiten, verführt sie aber dazu, das Duett zu singen, wobei das gleiche Malheur geschieht wie vor sechs Jahren. Auch ein Traum oder eine Wahnvorstellung, in dem der Journalist ihr Tenorpartner in eben diesem Duett ist, bringt sie nicht davon ab, auf ihr Comeback zu verzichten. Der Butler verlässt sie, der Journalist, der sie geküsst hatte, erscheint mit seiner Verlobten, um sich ein Autogramm geben zu lassen. Die Diva bleibt allein zurück und betrachtet vom Fenster aus das Feuerwerk am Abend des französischen Nationalfeiertags 14. Juli.

Auf einem Foto im Booklet zeigt sich der Komponist als Verdi verkleidet, während sein Partner als Puccini auftritt. Dessen Musik, mehr noch die Massenets, scheint das Idiom Wainwrights beeinflusst zu haben, das im Zentrum des Werks stehende Duett aus der fiktiven Oper Alinéor  (á la Citizen Kane) erinnert stark an Berlioz´ „Nuit d’ivresse“, die Harmonik ist effektvoll, auch wenn das oft eigentlich nicht zur Handlung passen mag, ein musikalisch irrlichterndes Flimmern und Flirren durchzieht das gesamte Werk, das abgesehen von manchen Extremhöhen, die aber handlungsbedingt sind, sehr singbar ist. Der Vorwurf der Gefälligkeit dürfte nicht ausbleiben, nichts Bahnbrechendes, aber durchaus Brauchbares und dankbare Rollen, wenn auch an Kitsch und Klischee  gemahnend, kann der Hörer erwarten.

Die Partie der Madame Régine Saint Laurent wird von Janis Kelly gesungen, deren sonstiges Repertoire zwischen Despina und Marschallin angesiedelt ist. Der Sopran ist recht dunkel getönt, kann einen hysterischen Anstrich annehmen wie auch den Ausdruck des Entrückten. Marie, der mitfühlende Dienstbote, lässt im sehr hellem, unerweckt klingendem Sopran von Kathryn Guthrie nicht das Schicksal der von Mann und Kindern stark beanspruchten Frau aus dem Volk erkennen, er klingt oft gläsern klirrend und hat Probleme mit der Extremhöhe. Einen herben, hellen, etwas trockenen Tenor, der auch ätherisch klingen kann, hat Antonio Figueroa für den Journalisten André Letourneur, der Bariton Richard Morrison singt mit zunächst dumpfer, später im Schwelgen in Erinnerungen angenehm sonorer Stimme. Es gibt zwei stumme Rollen mit der Braut des Journalisten und einem weiteren Diener. Jayce Ogren leitet das BBC Symphony Orchestra und lässt es in üppigen Tönen schwelgen (DG 479 5340). Ingrid Wanja