Luxus ihrer Herren

 

 

Das ist ein wahrer Luxus-Kasten! Bereits im Sommer 2015 herausgegeben, staunt der Rezensent über den elegant-gewichtigen Schuber im Querformat, in agentur-modischem Warhol-Waldesdekor gestylt, aufklappbar, links wie ein Schokoladensortiment die 8 CDs und eine Blu-Ray-DVD, rechts angeklebt das dicke 104 Seiten starke Booklet mit Tracks, Casts, Credits, Libretto und Aufsätzen von klugen Leuten (Rudolf Watzel/ehemaliger Star-Bassist, Otto Biba/Direktor Archiv, Bibliothek und Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde Wien sowie Anselm Cybinski mit und über Harnoncourt, auch im Live-Interview). Mehr geht nicht. Das toppt selbst die Ausgaben der Deutschen Grammophon zu Karajans Zeiten. Die Berlin Phils wissen zu beeindrucken und dem potenten Käufer Luxus pur schon rein physisch in die Hand zu drücken. Wie schreibt jpc:  In einer üppig ausgestatteten Edition bringen die Berliner Philharmoniker ihre Einspielungen aller Schubert-Symphonien, der Messen D. 678 und 950 sowie der Opernrarität »Alfonso und Estrella« unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt heraus. Die in den Jahren 2003 bis 2006 live aufgenommenen Konzerte in der Berliner Philharmonie sind auch technisch eine Meisterleistung. Die beigefügte Blu-ray Audio enthält neben allen Werken (stereo und DTS-HD 5.0 mit einer Spielzeit von 514 Minuten) auch ein 38-minütiges Interview mit Nikolaus Harnoncourt. Ebenfalls enthalten ist ein Download-Code zum Herunterladen der Musik in High Resolution sowie ein 7-Tage-Ticket für die Digital Concert Hall. Mit einer ebenso aufwendig ausgestatteten Edition von Schumanns Sinfonien unter Simon Rattle  feierten die Berliner Philharmoniker bereits im letzten Jahr die Eröffnung ihres eigenen Labels BPH (vermarktet von der Berlin Phil Media). Das mag man belächeln und mit einem „Na, ihr kriegt wohl nichts mehr bei anderen Firmen unter!“ kommentieren, wenn man an die Legion von Aufnahmen der Philharmoniker bei der DG und EMI zu Karajans und später Abbados Zeiten denkt. Diese Zeiten sind nun wohl doch vorbei, auch vielleicht dank Rattle und dem Niedergang der EMI, Rattles Mutterfirma. Die Berliner Philharmoniker haben – wie viele andere Institutionen – doch an Glanz eingebüßt. Nicht zuletzt auch wegen der verpatzten Chef-Suche kürzlich. Nichts ist mehr wie früher.

Schubert bei den Philharmonikern: Nikolaus Harnoncourt/ Foto Reinhard Friedrich/ BPh

Schubert bei den Philharmonikern: Nikolaus Harnoncourt/ Foto Reinhard Friedrich/ BPh

Auf der anderen Seite wurde es vielleicht auch höchste Zeit für eine solche Vermarktung der Radio- und Eigenbänder, denn viele bekannte Orchester wie das London Phil oder das Concertgebouw haben sich längst zur Publizierung ihrer Konzerte auf einem Eigen-Label entschlossen und produzieren dort – mehr oder weniger erfolgreich – fleißig, (und manchmal auch unnötig, s. London Symphony Orchestra). Der Erfolg ist stets eine Frage des guten Vertriebes und nicht nur der hippen Verpackung, und da möchte man den Berlin Phil vielleicht mehr Präsenz und Öffentlichkeitsarbeit wünschen: Ihre website ist ausbaufähig und der Vertrieb/Verkauf weitgehend nur im eigen Online- und Haus-Shop nicht wirklich umsatzfördernd. Aber das kann ja alles noch kommen. Ich selber erfuhr von der hier vorgestellten Ausgabe erst durch eine Sendung von Alfonso und Estrella  kürzlich im österreichischen Radio Stephansdom, die auf ihrer Seite das Cover der neuen Box abgebildet hatte. Also mit Pfadfinderarbeit gelingt ja vieles, und die Kooperation mit den Philharmonikern und deren Marketing-Abteilung ist wie stets liebenswürdig und effektiv….   Den Beginn der Eigenveröffentlichungen des neuen Berliner Labels BPH machten wie erwähnt 2014 Schumanns Sinfonien unter dem noch gegenwärtigen Chef Simon Rattle. Dann folgten eine dto. Sibelius-Ausgabe sowie ein paar DVD-Ausgaben (darunter Peter Sellars`  Inszenierung der Bachschen Passionen). Fühe Aufnahmen unter Lorin Maazel, Lutoslawski und manches mehr finden sich inzwischen auf der website des Philharmoniker-Shops. Bestellnummern finden sich auf der website allerdings nicht, nur im Booklet der Beilagen. schubert harnoncourt berliner philharmonikerUnd nun Schuberts Sinfonien, zwei Messen und die Oper Alfonso und Estrella unter Nikolaus Harnoncourt radio-live aus den Jahren 2003 bis 2006, was ein wenig erstaunt, gibt es die Sinfonien mit dem Concertgebouw Orkest doch recht wohlfeil bei der Firma Warner unter dem österreichischen Dirigenten. Ist sein Stellenwert für das Orchester so hoch, dass man ihn mit dieser üppig ausgestatteten, wenngleich in der luxuriösen Verpackung sehr unpraktischen  Präsentation gleich hinter dem scheidenden Chefdirigenten ehren möchte? Er ist ja nicht wirklich ein Berlin-Phil-Exklusiv-Künstler… schubert concertgebouw harnoncourt warnerHarnoncourts sehr eindrucksvoller Schumann-Zyklus mit dem Concertgebouw Orkest für Teldec (1992, nun Warner) gibt es also immer noch auf dem Markt und kostet nur ein Viertel der neuen Ausgabe bei Berlin Phil (8 CDs und eine DVD für ca. 80.- Euro). Also, was rechtfertigt selbst für erbitterte Fans des Dirigenten und des Orchesters diese neue Luxusausgabe? Die neue Sicht? Der Sound? Das Orchester selbst im Vergleich zu den Holländern? Man ist da ratlos. In der nun üblichen Zählung gibt es hier auf 4 CDs die Unvollendete als Nr. 7 und die große C-Dur als Nr. 8 neben den restlichen 6 Sinfonien in einer reich dekorierten Querbox mit einem dicken Booklet und den wie Schokoladen-Täfelchen aneinander gereihten CDs in verschiedenen Farben – das ideale Repräsentationsgeschenk für betuchte Geschäftskunden (vielleicht der Lufthansa in ihrer Erste Transatlantik-Klasse bei Nicht-Streik?). In den beiden Messen (As-Dur D. 678 & Es-Dur D. 950) hört man bedeutende und vom Maestro geliebte, wenngleich auch allgegenwärtige  Solisten wie Luba Orgonasova, Birgit Remmert oder Jonas Kaufmann und Bernarda Fink. In der Oper Alfonso und Estrella von 1822, live von 2005 und vorher Wien 1997 die erste Aufnahme des Werkes unter Harnoncourt, singen Dorothea Röschmann und Kurt Streit neben Hanno Müller-Brachmann und anderen. Eine Special-Blu-Ray Disc bietet das alles als visuelle DVD noch einmal in bester Hochauflösung sowie ein Interview mit dem Dirigenten (»Für mich ist Schubert der Komponist, an dem mein Herz am meisten hängt«). Natürlich sind die Aufnahmen unter Harnoncourt auch hier von hoher technischer und künstlerischer Qualität. Ob man nun mit ihm und seinen Interpretationen stets d´accord war oder nicht. In den vergangenen 25 Jahren machte er doch immer wieder durch die  Provokationen seiner Ansichten zu Tempi und Interpretation von sich reden, wenn er so traditionelle Orchester wie das Concertgebouw oder die Philharmoniker „aufmischte“, sie zu einem anderen Spiel führte, als man gewohnt war. Er löckte gerne gegen den Stackel. Auch in dieser neuen Ausgabe der Live-Aufnahmen („und die sind wirklich nicht retouschiert?“, fragt man als Kenner der Szene ketzerisch) finden sich die üblichen Harnoncourt-Markenzeichen – ein paar unnötige Rubati hier und ein paar sehr eigenwillige Tempi dort. Wie in den zwei Sätzen der Unvollendeten, die die Sinfonie in Gewicht und Grandeur in Bruckners Nähe rücken. Harnoncourt braucht für das eröffnende Allegro mehr als drei Minuten länger als Abbado bei der Deutschen Grammophon. Im Gegensatz dazu gelingt ihm das Finale der Großen C-Dur Sinfonie geradezu wunderbar überschäumend, wenn sich die Erregung stetig steigert. Und in der Fünften staunt man über die Leichtigkeit, mit der er die Sinfonie formt, selbst wenn auch hier das überdimensionale Format überrascht. Großes also für ein großes Orchester, das ihn ehrt. Dennoch finde ich seine Aufnahmen mit dem holländischen Musikern wärmer, herzklopfender, vielleicht auch menschlicher… Harnoncourt hat vor allem bei den Messen eine glückliche Hand, wo sich die illustren Solisten wie Bernarda Fink, Jonas Kaufmann, Dorothea Röschmann und Christian Gerhaher als ein Quartett-De-Luxe in dem E-Dur-Werk versammeln. Hier bestechen die perfekte Natürlichkeit und die Größe des Chorklanges. Nicht ganz so überzeugend gelingt ihm Schuberts Oper Alfonso und Estrella (Wien 1822), in der man vergebens nach der gleichen Magie sucht. Es gelingt ihm nicht, die dramatischen und dramaturgischen Unzulänglichkeiten des von ihm stets mit soviel Elan verfolgten und in der Berliner Radioaufnahme 2005 wie Wien 1997 aufgeführten Werkes vergessen zu machen. Zumal wie beim ersten Mal (auch als DVD bei Naxos von den Wiener Festwochen 1997) der Tenor der Schwachpunkt ist. Neben Luba Orgonasova war das damals in der Wiener Flimm-Inszenierung  Endrik Wottrich mit trockenem Ton und gewöhnungsbedürftigem Timbre. Nun  ist es konzertant Kurt Streit ohne die nötige jugendlich-heroische Leidenschaft als etwas meckeriger Alfonso. Aber die übrigen sind wirklich erste Klasse. Dorothea Röschmann, die gerade bei Decca eine bemerkenswerte Schumann-Berg-CD herausgegeben hat, singt mit dramatisch-warmen Ton und hinreißender Gestaltung und lässt ihre Estrella zum Mittelpunkt der Geschichte und des Abends werden. Christian Gerhaher geht den Frola wie Fischer-Dieskau balsamisch-liedhaft an und bleibt im romantischen Duktus. Jochen Schmeckenbecher ist ein nachdrücklicher, sonorer Mauregato mit vielen Nebenfarben in der Textgestaltung.Und Hanno Müller-Brachmann macht wieder einmal auf sein interessantes Timbre  mit dem Adolfo aufmerksam. Der Berliner Rundfunkchor steuert Wohlklang bei – in toto eine im ganzen vielleicht weniger dramatische als romantisch-klangvolle Aufnahme aus der Berliner Philharmonie. Nur wenige Opernfans werden sich diese Luxus-Ausgabe nur wegen Alfonso und Estrella  leisten wollen, nimmt man doch – wenn man nur die Oper haben möchte – die anderen CDs „mit in Kauf“, aber als Dokument ist dies die habenswerte Wiedergabe des Werkes, denn die übrigen sind entweder ältlich-muffig (Suitner/EMI, nun Brilliant) oder indiskutabel (Korsten/Dynamic) oder „nur“ ein DVD-Soundtrack (Harnoncourt/Naxos). Die alte Rai-Kiste unter Sanzogno ist zu vernachlässigen (und zudem in Italienisch). Nein, für die Fans ist diese der Grund zur Freude – vielleicht wird sie ja mal ausgekoppelt…  Hugh Ericson (Übersetzg. Stefan Lauter)   schubert alfonso naxosAls PS. soll auf eine Aussage von Wolfram Goertz in seiner Besprechung dieser CDs auf rp-online.de hingewiesen werden, der einen akuten Aufführungs-/Aufnahmefehler hört:  Die Berliner Philharmoniker leisten sich in einer Aufnahme von Schuberts 5. Sinfonie einen kuriosen Patzer. Keiner hat ihn bemerkt. Bei böswilliger Auslegung könnte die folgende Betrachtung den schlechten Ruf der Musikkritik als einer nörgelseligen, kleinkarierten Disziplin untermauern. Andererseits geht es um nichts anderes als um jene winzigen Späne, die im Sägewerk des Musizierens fallen und dummerweise ins Trommelfell des Zuhörers geraten. Es geht des Weiteren um eine kuriose Form des Versagens, das nicht länger als einen Wimpernschlag dauert. Es geht um einen Patzer, einen Spielfehler. Er ist aber nicht verheerend, sondern verwirrend und so leicht wie das Stück, in dem der Span uns irritiert. Die 5. Sinfonie B-Dur von Franz Schubert gilt als wunderbares Stück Musik. Sie fächelt einem äolisch milde Winde zu, und in den stürmischen Passagen arbeitet sie mit dem wohltuenden Gebläse der orchestralen Air Condition. Die Berliner Philharmoniker haben sie bereits hunderte Male gespielt. Auch der Dirigent Nikolaus Harnoncourt kennt sie wie kein anderer – und wie wunderbar es ist, wenn Kenner aufeinandertreffen, erlebt man in der neuen Schubert-Box der Berliner Philharmoniker, einem bibliophilen Gesamtkunstwerk aus lauter Konzerten im Schuber, den man so ehrfürchtig aufklappt wie einen Flügelaltar aus dem Elsass. Alle Sinfonien, die Messen, „Alfonso und Estrella“: Die acht CD bieten das große Schubert-Glück. Jedes Konzert haben die Philharmoniker drei Mal gespielt, und die Techniker haben die jeweils beste Version genommen. Leider nicht. Beim Beginn der 5. Sinfonie unterläuft dem Orchester, das sich selbst für eines der weltbesten hält und es vermutlich auch ist, ein Malheur. Im dritten Takt spielen die ersten Violinen, eingekleidet von Holzbläsern, eine absteigende B-Dur-Tonleiter, die mit einem witzigen Aufschwung startet. Das zweite F dieser Violinen hört man auf der CD als einen Ton mit Schmutz dran. Da stimmt was nicht. Die meisten Berliner Geiger spielen F, daran ist kein Zweifel, aber eine Geige spielt falsch. Oder sie rutscht übers Griffbrett. Oder ihr Bogen verspringt. Der misslungene Ton fällt deshalb auf, weil die ersten Geigen blank daliegen wie auf dem Präsentierteller. Wenn nur einer stört, produziert er einen Kratzer, der bleibt.  http://www.rp-online.de/kultur/musik/vergeigt-aid-1.5210548   Franz Schubert : Symphonien Nr.1-9 (mit Christian GerhaherBirgit RemmertKurt StreitLuba Orgonasova,Dorothea RöschmannBernarda FinkJonas KaufmannChristian Elsner,Hanno Müller-BrachmannRundfunkchor BerlinBerliner Philharmoniker,Nikolaus Harnoncourt); 8 CDs, 1 Blu-ray Audio  enthält Messen As-Dur D. 678 & Es-Dur D. 950; Alfonso und Estrella +Blu-ray Audio mit sämtlichen Werken in stereo und DTS-HD 5.0 (514 Minuten) sowie einem 38-minütigen Interview mit Nikolaus Harnoncourt (+Download-Code (High Resolution); +7-Tage-Ticket für die Digital Concert Hall; ; BPH, DDD/La, 2003-2006