Testament überrascht mit einer CD, die zu Recht als „previously unpublished“ ausgewiesen ist (SBT 1508). Sir John Barbirolli dirigiert Mozart und Wagner mit dem Hallé Orchestra, dessen Chef er fünfundzwanzig Jahre gewesen ist. Er hat sich Zeit seines Lebens mit Richard Wagner beschäftigt. Gesamtaufnahmen sind in seiner umfangreichen Diskographie bis jetzt aber nicht nachzuweisen. Nur Ouvertüren, Vorspiele, einige hochkarätig besetzte Szenen, ein konzertanter zweiter Tristan-Aufzug mit Kirsten Flagstad, Eyvind Laholm und den New Yorker Philharmonikern von 1939. Damals war er noch deren Chef. Sonst nichts. Im Booklet der neuen CD ist zu lesen, dass Barbirolli von der EMI eingeladen worden war, die Plattenproduktion der Meistersinger von Nürnberg in der DDR zu leiten. Er lehnte ab, weil er sich seinem Kollegen Rafael Kubelik solidarisch verbundene fühlte, der dazu aufgerufen hatte, alle Länder auch künstlerisch zu boykottieren, die sich an der der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968 beteiligte hatten. Darunter war die DDR. 1970 übernahm Herbert von Karajan die Aufgabe in Zusammenarbeit mit der Ostberliner Plattenfirma Eterna.
Barbirolli gehörte zu den ersten Dirigenten, die Szenen aus Wagners Opern in Konzerten singen ließen. In den USA waren solche Programme sehr beliebt, später auch in Großbritannien. 1964 und 1965 veranstaltete er solche Konzerte in Manchester und Sheffield. Als Solistin war Anita Välkki mit dabei. Sie hatte 1961 als Walküren-Brünnhilde in Covent Garden Aufsehen erregt (der Mitschnitt ist ebenfalls bei Testament herausgekommen) und war daraufhin auch nach Bayreuth engagiert worden. Auf der Testament-Neuerscheinung ist sie mit dem Schlussgesang der Brünnhilde aus Götterdämmerung zu hören.
Die aus Finnland stammende Välkki singt stilistisch sehr sicher. Ihre Stimme ist geschmeidig, nicht zu dunkel, nicht zu hell. Niemals grell. In der Höhe ausgewogen. Für Wagner sind das beste Voraussetzungen. Barbirolli hält sie an der langen Leine. Sie braucht viel Atem, Kraft und Ausdauer, um seinen gedehnten Tempovorgaben folgen. Der Vorteil ist, es geht nichts unter. Sie hat alle Zeit der Welt, um Details auszuformen – musikalisch und textlich. „Ruhe, ruhe, du Gott!“ Selten ist das so wörtlich genommen wie in dieser Aufnahme. Und doch fehlt etwas. Ein letztes Quäntchen Ausdruck und Emphase, das diesen Ritt der tödlich verletzten Wotans-Tochter ins Feuer glaubhaft machen könnte. Trotz dieser Einschränkungen, die nicht auf die Goldwaage gelegt werden sollen, wäre die Välkki heute ein unangefochtener Weltstar. Damals stand sie noch in harter Konkurrenz zur Nilsson. Und die Erinnerungen an Martha Mödl und Astrid Varnay waren auch noch sehr frisch.
Die rein musikalischen Nummern stammen auch aus der Götterdämmerung: Morgendämmerung und Siegfried Rheinfahrt sowie der Trauermarsch, von Barbirolli mit mächtigen Steigerungen versehen. Von Wolfgang Amadeus Mozart ist die Sinfonie Nr. 40 in g-Moll zu hören, groß und etwas erdenschwer, doch einzigartig federnd beim berühmten Beginn. Sämtliche Werke wurden am 21. Januar 1964 in der Town Hall in Manchester für die BBC aufgenommen, noch in Mono. Es wird nicht ganz klar, ob Publikum dabei war oder nicht. Entsprechende Geräusche, die darauf hinweisen, sind nicht aufzumachen. Aber das sagt nichts. Techniker können heutzutage beim Remastering jedes Klatschen, Husten und Rascheln herausfiltern. Rüdiger Winter