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Nicht jedermanns Sache war das Alt-Weiber-Ballett von gut zwanzig Minuten, wie es die Regie Donizettis La Favorite ausgerechnet in des Komponisten Heimatstadt Bergamo angedeihen ließ, und so ist es verständlich, dass das Label Naxos neben der Bluray (dazu auch die Besprechung in operalounge.de) nun auch eine auf drei CDs zu erlebende Fassung für Nur-Hörer veröffentlicht hat. In deren Booklet, das von dem der Bluray abweicht, gibt es ein interessantes Gespräch mit dem Dirigenten der Aufnahme, mit Riccardo Frizza. Dieser setzt sich vehement für die Wahl der ersten, der französischen Fassung der Oper ein, einmal wegen der italienischen Zensur, die das Libretto des Werks nie genehmigt hätte, aber auch wegen der Tatsache, dass die Musik ein untrennbares Ganzes mit der französischen Sprache bilde. Interesssant in diesem Zusammenhang sind auch eine Besonderheit der Grand Opéra im Vergleich mit der italienischen Orchesterbesetzung mit fünf Streichergruppen, das Aufbrechen des starren Schemas von Rezitativ, Arie und Cabaletta und die Besetzung mit einem Falcon-Sopran (nach der französischen Sängerin Cornélie Falcon), denn den aus Verdi-Opern bekannten Mezzosopran à la Azucena kannte man damals in Italien noch nicht. Und diese neue ungekürzte Fassung ist mit rund 20 Minuten mehr an Musik den Vorgängern unbedingt überlegen.
War das Auge geblendet von der Attraktivität des Alphonse-Sängers und enttäuscht von der eher unscheinbaren Optik, die der Fernand ihm bot, so kann nun der Zauber des besonders schönen Timbres des Tenors ungestört wirken, während Schwächen in der Leistung des Baritons nicht mehr „übersehen“ werden können. Javier Camarena hat für den Fernand eine strahlende Höhe, auch im Falsettone, die Mittellage ist farbig, das Timbre insgesamt keusch, und der Säger befleißigt sich einer ausgeprägten messa di voce. Der französische Donizetti scheint ihm auf die Stimmbänder komponiert, er klingt empfindsam, aber nie wehleidig und das Ange pur ist von schöner Innigkeit. Für den Alphonse XI von Florian Sempey spricht natürlich, dass Französisch seine Muttersprache ist, unter Druck klingt der Bariton streckenweise stumpf, aber er bleibt präsent auch wenn er sich zurücknehmen muss, ist temperamentvoll im Léonor! Mon amour brave. Inmitten der übermütigen Hofgesellschaft Gehör verschaffen kann sich der Bass von Evgeny Stavinsky als Balthazar, klingt nur selten etwas hohl, meistens aber balsamisch und Autorität vermittelnd. Edoardo Milletti hat einen netten Tenor für den Gaspar.
Zumindest im ersten Teil recht viel zu singen hat die Inès von Caterina Di Tonno, deren frischer, rescher Sopran einen soubrettennahen Kontrast zum sanften Mezzo von Annalisa Stroppa bildet. Deren Stimme ist einheitlich gefärbt, hat klare Konturen und verschießt viel vokales Feuer. Das dunkle Metall kann leuchten, ihr O mon Fernand ist eine schöne, sanfte Klage, die Intervallsprünge werden mühelos beherrscht und das unangestrengte Singen gibt ihrem Entschluss, über Verdis Fenena und Maddalena nicht hinauszugehen, Recht. Das Orchestra Donizetti Opera unter Riccardo Frizza kann sogar dem Ballett viel abgewinnen und lässt sich von seinem Dirigenten in feiner Steigerung von einem Höhepunkt zum nächsten führen. Der zum Festival gehörige Chor, erstärkt um den Coro dell’Accademia Teatro alla Scala ist mit allerdings eher italienischer Vehemenz bei der Sache (Naxos 8.660549-51). Ingrid Wanja
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Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Laterna Magica/ Sammlung Bernoit
Und nun: Ein Theater der Stimmen – Alberto Mattioli im Gespräch mit Riccardo Frizza über eben diese Aufführung: Der aus Bergamo stammende Donizetti war nach dem frühen Tod Bellinis 1835 fast ein Jahrzehnt lang der führende Komponist der italienischen Oper. Seinen ersten Erfolg hatte er mit Zoraida di Granata im Jahr 1822. Es folgten eine Reihe von 60 weiteren Opern und ein Umzug nach Paris, wo sich Rossini zu seinem Vorteil niedergelassen hatte. Donizettis letzte Krankheit hielt ihn für etwa 17 Monate in einem französischen Krankenhaus gefangen, bevor er nach Bergamo zurückkehrte, wo er 1848 starb. Er war nicht nur ein Opernkomponist, sondern schrieb Musik aller Art – Lieder, Kammermusik,
Klaviermusik und eine Reihe von Kirchenmusik. Die Oper Anna Bolena, die bei ihrer Uraufführung 1830 in Mailand einen beachtlichen Erfolg feierte, enthält in ihrem Finale Piangete voi? eine beliebte Sopranarie, während Deserto in terra aus der letzten Oper Dom Sébastien, die 1843 in Paris aufgeführt wurde, bei Operntenören von Caruso bis Pavarotti beliebt war. Die Komödie Don Pasquale, die 1843 in Paris aufgeführt wurde, ist ein beliebter Teil des Standardrepertoires, ebenso wie L’elisir d’amore („Das Elixier der Liebe“), aus dem die Tenorarie Una furtiva lagrima (“ Eine versteckte Träne“) besonders bekannt ist. Erwähnenswert ist auch La Fille du régiment („Die Regimentstochter“), die 1840 in Paris uraufgeführt und für Mailand unter dem Titel La figlia del reggimento überarbeitet wurde . Lucia di Lammermoor, die auf einem Roman von Sir Walter Scott basiert, bietet ein intensives musikalisches Drama für Tenöre im letzten Akt mit Tomba degl’avei miei (‚Grab meiner Ahnen‘) und für die Heldin in ihrer berühmten Wahnsinnsszene. Wie La Fille du régiment wurde auch La Favorite 1840 in Paris uraufgeführt und diente als Quelle für weitere Opernarien.
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Sänger der Pariser Uraufführung: Gilbert Duprez und Rosine Stoltz in „La Favorite“/ Wikipedia
Maestro Riccardo Frizza, bei den Festspielen haben Sie La Favorite dirigiert, mit einem abschließenden ‚e‘, denn Donizettis Oper wurde in der kritischen Ausgabe und auf Französisch aufgeführt. Warum ist es so wichtig, die Oper in der Sprache aufzuführen, in der sie geschrieben wurde? Ich würde sagen, dass es immer wichtig ist, aber in diesem Fall noch mehr. Bei der Eroberung von Paris – einem besonders wichtigen Opern-‚Schauplatz‘, weil die Stadt nach Walter Benjamins berühmter Definition ‚die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts‘ war – hat Donizetti die französische Sprache und Prosodie gründlich beherrscht. Außerdem wurde die ins Italienische übersetzte Fassung der Oper von der Zensur heftig kritisiert, was im Italien der Vorwendezeit bei einem Thema, das einen Mönch, der aus dem Priesterstand austritt, und einen König, der eine Mätresse hat, unvermeidlich war. Wenn man das italienische Libretto liest, hat man wirklich Mühe zu verstehen, worum es in der Oper geht, und einige dramatische Wendepunkte sind immer noch unverständlich oder zumindest nebulös. Ich würde auch sagen, dass die Übersetzung zu einem Verrat wird, wenn man, um die Noten an Worte anzupassen, für die sie nicht geschrieben wurden, auch die Musik verändert.
Obwohl La Favorite in dramaturgischer und struktureller Hinsicht eher untypisch ist, gehört es sicherlich zur Gattung der Grand Opéra von Rossini und Meyerbeer. Wie interpretiert Donizetti sie? Vom musikalischen Standpunkt aus gesehen, sind die wichtigsten Neuerungen im Orchester zu finden. Denken Sie an die Streicherbesetzung. In seinen italienischen Opern schreibt Donizetti für vier Stimmen, das klassische Streichquartett, die erste und zweite Geige, die Bratsche und das Cello, dem in der Regel die Basslinie anvertraut wird. In La Favorite ist die Besetzung fünfstimmig, wobei der Kontrabass die Basslinie spielt und das Cello eine neue Rolle spielt. Man kann deutlich einen anderen musikalischen Gedanken dahinter erkennen.
Welche typisch „Donizetti“-Elemente weist diese Oper dagegen auf? Ich würde sagen, die Konstruktion der Melodie, die, obwohl Donizetti sich an die dramaturgischen und musikalischen Regeln der Opéra gehalten hat, immer noch „italienisch“ und, wie ich finde, sehr „donizettistisch“ ist. Glücklicherweise ist Donizetti auch mit einfachen Mitteln sofort als Melodiker zu erkennen. Man denke nur an Fernands Arie Ange si pur, die im Italienischen zum berühmten Spirto gentil wird: Es handelt sich um eine scheinbar einfache Phrase, deren musikalischer Wert und theatralischer Sinn durch eine kaleidoskopische und raffinierte harmonische Konstruktion gegeben sind. Ich möchte hinzufügen, dass Donizettis handwerkliches Geschick auch darin zum Ausdruck kommt, dass er Rezitative in einer Sprache komponierte, die letztlich nicht seine eigene war.
Rosina Stoltz und der Gilbert Duprez in Donizettis Oper „La Favorite“/Illustration/Donizetti-Society
Lassen Sie uns auch über den Gesangsstil sprechen: La Favorite ist nicht gerade eine leicht zu singende Oper. Sicherlich ist die interessanteste Stimme die der Protagonistin. Mezzosopran, sagen wir gewöhnlich. Aber den Mezzosopran im verdianischen Sinne des Wortes gab es 1840 noch nicht. Vor La Favorite in Bergamo habe ich Il trovatore im Liceu in Barcelona dirigiert: Nun, Azucena scheint mir die erste echte Mezzopartie zu sein, aber zur Zeit von La Favorite war Il trovatore noch 13 Jahre entfernt. Léonor ist eigentlich ein ‚Soprano-Falcon‘, von Cornélie Falcon, der legendären ersten Interpretin von Meyerbeers Hugenotten und Halévys La Juive, zwischen einem Sopran und einem Mezzo. Rosina Stolz, für die Donizetti diese Rolle schrieb, gehörte zweifellos zu dieser ganz besonderen Gesangskategorie, die für das transalpine Repertoire typisch war und im italienischen Repertoire zu jener Zeit nicht vorkam. Eine weitere französische Besonderheit dieser Oper, die es erforderlich macht, sie in der Originalsprache aufzuführen.
Und natürlich in der kritischen Ausgabe von Rebecca Harris-Warrick, und zwar in ihrer Gesamtheit. Diese Regel gilt eigentlich für das gesamte Repertoire. La Favorite darf nicht gekürzt werden, genauso wie, sagen wir, Semiramide oder La traviata nicht gekürzt werden dürfen. Es ist sicherlich eine Frage der Struktur, die im Fall von La Favorite besonders wichtig wird, weil Donizetti hier in seiner musikalischen und dramaturgischen Reife und als Komponist für die Pariser Oper die stereotypen Formen der zeitgenössischen italienischen Oper zu überwinden suchte, um aus der Wiederholung von Rezitativ-Kantable-Tempo di mezzo-Kabaletta auszubrechen. Dies wird besonders in den Rezitativen deutlich, die ungewöhnlich lang und entwickelt sind und in der „Szene“ gipfeln, die später ein wesentliches Merkmal von Verdis Theater werden sollte. Die Integrität der Partitur zu respektieren bedeutet nicht nur, die Schrift und damit den Willen des Autors zu respektieren. Es bedeutet, den dahinter stehenden Gedanken besser zu verstehen, Donizettis „Werkstatt“ zu betreten, in der Musik und Dramaturgie nur selten mit dem Blick auf das Theater als unfehlbar erdacht und „gewogen“ wurden.
Die Oper enthält in ihrer Gesamtheit auch die Cabaletta des Duetts zwischen Léonor und Alphonse, die in Paris nach den ersten Aufführungen gestrichen wurde, wie man in den kritischen Anmerkungen der Editionen nachlesen kann. Dieses Stück ist im Anhang der kritischen Ausgabe enthalten. Es wurde nach den ersten Aufführungen gestrichen, aber nicht aus musikalischen oder theatralischen Gründen, auch nicht wegen seiner Länge, sondern nur aus politischen Gründen. Hier wettert Alphonse gegen die Kirche mit Ausdrücken, die damals ziemlich „stark“ klangen und dementsprechend für das Regime von Louis Philippe inakzeptabel gewesen wären, auch wenn es liberal und bürgerlich war. Die Autoren zogen es vor, kein Risiko einzugehen und kürzten dieses Stück. In Bergamo wird die Cabaletta schließlich ihre – vermutlich – erste moderne Aufführung erleben.
„La Favorite“ / zeitgenössische Illustration von Leee Woodward Ziegler/ Wikipedia
Und natürlich werden wir auch das aufwendige Tanzdivertissement hören, das seit Lullys Zeiten, also seit der Gründung der Opéra, jeden Operntitel begleitet hat Donizettis Vorbild ist eindeutig die brillante Musik der Ballette zu Rossinis französischen Opern. Hier ist Donizettis Komposition sehr aufgeladen, um alle Möglichkeiten des Opernorchesters auszuschöpfen, und besonders aufwendig. Der Effekt ist sehr interessant: Diese Musik klingt gut und „reich“, wenn ich das sagen darf. Natürlich ist, um ehrlich zu sein, nicht alles gleich gut. Einige Nummern sind wirklich bemerkenswert, während andere, wie der Pas de deux, ein wenig etwas manieriert sind. Wir sehen, dass es Donizetti in diesem Fall darum ging, die ausgezeichneten étoiles der Académie Royale de Musique hervorzuheben, ein Theater, in dem das Ballett seit jeher als ebenso wichtig oder vielleicht sogar wichtiger als die Oper angesehen wird.
Wir wissen sehr gut, wie die meisten Opern Donizettis sowie das gesamte Repertoire der italienischen Romantik zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Spielplänen der Theater verschwunden sind. Jahrhunderts aus den Spielplänen verschwanden. Doch La Favorite, oder besser gesagt La Favorita, ist, wenn auch durch die Übersetzung und Kürzungen verunstaltet, immer im Repertoire geblieben. Und warum? Weil es eine von Donizettis Opern ist, die die meisten berühmten Stücke enthält. Sie haben vielleicht den Gesamtsinn der Oper und sicherlich auch ihre stilistischen Eigenheiten nicht verstanden, aber das Publikum war empfänglich für den Charme einiger der berühmtesten und mitreißendsten Arien, die Donizetti geschrieben hat.
Donizettis „Favorite“ in Bergamo 2022/Ballettszene/Foto Franco Rota
In diesem Sinne müssen wir den großen Sängern dankbar sein, die sich in diese Oper verliebt und das Publikum dazu gebracht haben, sich ebenfalls in sie zu verlieben. Wäre La Favorita eine der beliebtesten Opern von Kraus oder Pavarotti, Simionato oder Cossotto, Bruscantini oder Bruson, würden die Theater sie ganz klar für sie programmieren. Wir sollten schockiert sein: Donizettis Theater ist auch (Achtung: auch, nicht nur) ein „Theater der Stimmen“. Man denke nur an den neuen Reichtum, den La Fille du régiment in den letzten Jahren erlangt hat, eine Oper, die ein wenig in Vergessenheit geraten war, seit sie zum Signaturtitel eines Tenors wie Juan Diego Flórez wurde. Wenn diese Interpretationen es dem Publikum ermöglichen, auch die musikalische und theatralische Größe von Gaetano Donizetti zu entdecken, umso besser. Englische Übersetzung: Michela Compagnoni/Naxos/Deutsch DeepL
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Als kleines rechthaberisches PS. sei daraufhin gewiesen, dass das Liceu von Barcelona bereits 2018 radioübertragen (und Sammler-beheimatet) eine komplette (?) Favorite mit Michael Spyres und Clémentine Margaine brachte, mit Ballett (das zweigeteilt gespielt wurde). G. H.