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Wann, wenn nicht jetzt? Warner hat im Bruckner-Jahr 2024 dessen Sinfonie drei bis neun mit Sergiu Celibidache und den Münchner Philharmonikern neu aufgelegt (5021732248558). Bruckner wurde vor 200 Jahren, nämlich am 4. September 1824 in Oberösterreich geboren. Es handelt sich um Stereo-Mitschnitte zwischen 1982 und 1995 aus der Philharmonie am Münchner Gasteig. Sie waren nach dem Tod des Dirigenten zunächst bei EMI erschienen. Und zwar mit seiner testamentarischen Billigung. Platteneinspielungen hatte er zu Lebzeiten grundsätzlich abgelehnt. Als Teile einer umfangreichen Edition gab es auch Werke anderer Komponisten. Bruckner aber ragte mit insgesamt zwölf CDs wie ein Gebirge heraus. Um ihn drehte sich das gesamte geistige und musikalische Wirken von Celibidache. Für ihn war er der „größte Symphoniker aller Zeiten“. Niemand sei so weit wie er „mit seiner klangbezogenen Korrelationsfähigkeit in den Kosmos eingedrungen“, wird Celibidache in dem Buch Stenographische Umarmung (ConBrio Verlagsgesellschaft 2002) zitiert. Entsprechende Denkanstöße liefert auch das Booklet. Doch die Besonderheit der neuen Ausgabe ist technischer Natur. Wer sich auskennt, entdeckt das Super-Audio-CD-Logo schon auf der Vorderseite der Box. „Newly remastered for Hybrid SACD by Astuo Fujita“, ist im Innern zu erfahren. Das komplizierte technische Verfahren wird in nicht eben einfacher Sprache erläutert. Dass der „reiche Klang, die Weichheit und der Hall des Saals bewahrt oder verbessert“ worden seien, versteht auch der Laie und dürfte von jenen Konzertbesuchern mit Erleichterung aufgenommen werden, die mit der Akustik am Gasteig seit jeher fremdelnden. In der Tat können sich die Aufnahmen hören lassen. Für den Dirigent aber sind „breite Tempi die unabdingbare Voraussetzung“ um die „Vielfalt der Stimmen und Klangphänomene zum Aufblühen zu bringen“. Sie bleiben vom Remastering unberührt und haben dem Dirigenten viel Kritik eingebracht. Selbst noch so geglückte Mitschnitte wie in der Warner-Box können das Phänomen Celibidache und seine Einzigartigkeit nicht vollständig erfassen. Man muss ihn auch gesehen, gespürt haben. Betrat er das Podium, war die Stimmung im Saal plötzlich eine andere. Während er sich etwas umständlich vor dem Orchester positionierte, übertrug sich eine fast unerträgliche Spannung bis in die letzte Reihe. Stille. Der hartnäckigste Husten verstummte. Ging es dann endlich los, war es wie eine Erlösung. In der Hamburger Laeiszhalle hatte ich mir ganz bewusst einen Rangplatz neben dem Proszenium gesichert, um sein Gesicht zu sehen, auf dem sich ganz genau abbildete, was aus den Instrumenten kam. Es war mir bis dahin nicht bewusst gewesen, dass ein Antlitz so viele unterschiedliche Regungen zeigen kann. Er dirigierte immer aus dem Kopf. Eine gedruckt Partitur hätte ihn womöglich gestört, denn er hatte sie in sich. Sozusagen immer dabei.
Mir fällt Knappertsbusch ein, der einst auf die Frage, warum er nicht auch auswendig dirigiere, antwortete: „Weil ich Noten lesen kann.“ Für diesen konservativen Kapellmeister alter Schule war die Partitur auf dem Pult wohl auch ein Sinnbild des Respektes, der dem musikalischen Kunstwerk und seinem Schöpfer zu zollen war. Dennoch hielt Celibidache nicht allzu viel von ihm. In dem bereits erwähnten Buch wird er mit den Worten zitiert: „Ein schlechter Musiker und nicht so schlechter Dirigent. Die wenigen Proben, die er brauchte, das Orchester noch zusammenzuhalten, das war schon eine Leistung.“ Dabei sind sie sich so unähnlich nicht. Sie hatten in München ihren Lebensmittelpunkt gefunden, trafen sich in ihrer abgöttischen Liebe zu Bruckner, hielten Distanz zu Aufnahmestudios und ließen Musik erst im Moment der Aufführung entstehen. Der gravierende Unterschied war, dass sich Knappertsbusch wohl stärker als sein Kollege von der Inspiration des Augenblicks tragen und mitreißen ließ. Bei Celibidache war alles bis ins Allerkleinste kalkuliert und vorbereitet. Auch wenn dasselbe Werk immer etwas anders klang. Wie die Coda von Bruckners 4. Sinfonie in ihrer kolossalen Steigerung, die sich in einem anderen Mitschnitt aus München noch monumentaler entlädt als in der Aufnahme der klanglich verbesserten neuen Ausgabe. Für derartige aufschlussreiche Vergleiche sind Tondokumente unerlässlich. Für Celibidache begann die Bruckners Meisterschaft erst mit der dritten Sinfonie. Daraus erklärt sich, dass nicht alle einschlägigen Werke aufgeführt wurden was schade ist. Andererseits wirft diese Praxis auch ein Licht auf den Dirigent, der sich offenkundig nicht in der Lage sah, einen etwaigen Mangel in der Komposition durch eigenes Zutun am Pult auszugleichen.
Ergänzt wird das CD-Programm durch eine Probe der unvollendeten 9. Sinfonie sowie das Te Deum und die Messe Nr. 3 in f-Moll. Margaret Price wirkt in beiden Werken mit. Im Te Deum singt Christel Borchers die Altpartie. Doris Soffel ist damit in der Messe besetzt. Einmal mehr behauptet sich diese Sängerin in ihrer enormen Vielseitigkeit, die sie mit allen bedeutenden Dirigenten zusammenführte. Die Tenöre sind Claes H. Ahnsjö und Peter Straka, die Bassisten Karl Helm und Matthias Hölle. Rüdiger Winter