Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Conradin Kreutzers „Taucher“

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Eine neue Oper von einem so scheinbar Bekannten/Unbekannten sollte doch eigentlich für Opernfreunde ein Grund zum Aufhorchen sein. Sollte eigentlich! Denn Conradin Kreutzer (* 22. November 1780 in der Thalmühle bei Meßkirch im Fürstentum Fürstenberg; † 14. Dezember 1849 in Riga, nicht zu verwechseln mit dem älteren Franzosen Rudolphe Kreutzer/* 16. November 1766 in Versailles; † 6. Januar 1831 in Genf), dessen Namen unsere Groß- und Urgroßeltern wie ein Haushaltswort ihr eigen nannten,  hat nicht nur seine heute einzig bekannte Oper Das Nachlager in Granada (nebst Ohrwurm für jeden antiken Bariton von Rang) geschrieben. Neben einigen Aufnahmen davon (mit und ohne Hermann Prey aber auch mit Jörn W. Wilsing) gibt es zudem einen Radiomitschnitt der Alpenhütte von 1965 aus Freiburg und einen privat gehandelten Mitschnitt seiner Oper Melusina aus Linz 2023,  aus Rastatt  gab´s im Radio 2021 Gesänge aus Goethes Faust mit vier Solisten zum Klavier, zudem Kammer- und einige Sinfonische Musik auf CD, was nicht gerade viel ist, bedenkt man Kreutzers ehemaligen Ruhm. Aber …

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Nun hat die Firma Carus die Vertonung von Schillers Ballade Der Taucher in der Fassung von 1813 in einer Aufnahme des SWR herausgegeben (Leitung: Frieder Bernius. Mitwirkende: Sarah Wegener, Philipp Mathmann/Countertenor, Johannes Hill, Pacal Zurek, Daniel Schmidt, Hofkapelle Stuttgart, Kammerchor Stuttgart, 1 CD 83536).

Das ist ein sehr gemischtes Glück, Tauchen in flachen Gewässern sozusagen, und lässt mich ratlos, schon weil die ursprüngliche Damen-Hosenrolle des Tauchers mit einem Counter (dem mit einer erstaunlichen Vita behafteten Philipp Mathmann) besetzt wird, was nicht nur unverständlich a-historisch, sondern (natürlich nur für mich allein) auch nicht wirklich erfreulich ist. Zumindest entlockt Frieder Bernius seinem Orchester schöne, historisch orientierte Klänge. Aber  reicht das? Zumal dies auf 64 Minuten reduzierte Singspiel fragwürdiger Provenienz auch im Ganzen nicht viel hermacht. Armer Kreutzer.

Dazu schreibt die Firma mutig: Frieder Bernius ist es ein großes Anliegen, vergessene Werke in den Archiven aufzustöbern und dem Publikum vorzustellen. Conradin Kreutzers zweiaktige Oper Der Taucher (frei nach Schiller) ist solch eine Rarität. Sie besticht durch wunderbar eingängige lyrische Melodik und farbenreiche, frühromantische Orchestrierung. Entstanden ist das Werk ursprünglich für eine Aufführung im Stuttgarter Hoftheater im Jahr 1813. Heute ist vor allem eine zweite Fassung bekannt, die Kreutzer für spätere Aufführungen in Wien erstellte. Erstmalig liegt nun eine Einspielung der ursprünglichen, originalen Fassung vor.

Wirklich? Counter? Im Stuttgarter Hoftheater 1813? 64 Minuten only? Und wo kann man die einsehen? Keine Quellenangabe! Wer hat die Partitur erstellt? Im Netz gibt´s nur die Wiener Fassung von 1824 und die von Bürde für Reichardt (1811). Im Programm zum gleichnamigen Konzert in Backnang 2023 (vom SWR mitgeschnitten und bei Sammlern vorliegend) wird immerhin von „Ausschnitten“ gesprochen. Der Beitext zur Carus-CD hält sich da sehr bedeckt: Wo ist da der Sinn einer ausführlichen Betrachtung über die Wiener Fassung 1824, wenn hier die „originale“ (?) von 1813 (in welcher Form auch immer) eingespielt wurde? Weiss man dazu nichts? Wer hat gesungen? Wann genau wurde das Operchen aufgeführt? Keine Quellen, keine Zeitungsberichte? In Stuttgart, damaliger Hauptstadt des Landes? Schlampig, sorry. Da ist man doch als Käufer recht mürrisch …

Aber da es sowenig von Kreutzer gibt, seufzten wir einmal durch und baten den Wiener Musikwissenschaftler Gerrit Waidelich (und die Firma Carus) uns seinen Einführungstext aus der 1-CD-Ausgabe über die spätere und hier nicht aufgenommene Wiener Fassung zu überlassen. Zumindest lernt man da was, wenn auch nicht das Gewünschte. G. H.

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Nun also Gerritt Weidelich: Conradin Kreutzer (1780–1849), der Sohn eines Mühlenpächters aus Meßkirch in Baden, war als einer der produktivsten deutschen Opernkomponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt und beliebt. Nach Erfahrungen mit geistlichen Singspielen während seiner Schulzeit in Zwiefalten und Schussenried sowie mit Opernkompositionen während seiner Freiburger Studienzeit entschloss sich Kreutzer 1804 zu einem Wechsel nach Wien, wo er bis 1810 verblieb.

Conradin Kreutzer, Daguerrographie/Ipernity

Aufführungen von großen Opern in den dortigen Theatern, aus dem Umfeld Schikaneders, von Antonio Salieri, Luigi Cherubini und insbesondere auch von Beethovens Fidelio, begeisterten ihn derart, dass er neben seiner Tätigkeit als Musiker und über seine Kompositionsstudien bei Albrechtsberger hinaus Ambitionen entwickelte, nun auch selbst „große Opern“ komponieren zu wollen. In seinen Briefen an Freunde, Mäzene, Verleger und Mitarbeiter äußerte sich Kreutzer ständig über seine Aktivitäten. Hier wird sehr viel Wissenswertes mitgeteilt über konzeptionelle und ästhetische Erwägungen, über das Feilen an der Struktur seiner Werke, bis hin zu den komplizierten Vertriebswegen, damit seine Opern auf die Bühne gelangen konnten. Nach wenigen Jahren in Wien hatte er mehrere Opern fertiggestellt, und er konnte davon ausgehen, dass sie auch auf die Bühne gelangen würden, berichtete er doch 1808: „Dieses Jahr habe ich für das National-Theater eine heroische Oper geschrieben, die so eben einstudirt und längstens in 3 Wochen aufgeführt werden wird. Mir pocht jetzt schon das Herz, denn dieß ist wirklich in Wien ein gewagtes Werk. Seit ich hier bin haben schon mehr wie 10 Kompositeure gescheitert, selbst Beethoven hat mit seiner Oper nicht reüßirt, er hat über der schönen Instrumentirung den Sänger vergeßen und oft selbst der Instrumentirung den Instrumentisten.“

Bei der von ihm erwähnten eigenen Oper könnte es sich um die verschollene Frühfassung des Taucher handeln. Aber aufgrund der wirtschaftlich und politisch heiklen Situation dieser Jahre hatte er als freier Komponist ohne offiziellen Kapellmeisterposten keine Chance, eines seiner großen Werke wirklich auf die Bühne zu bringen.

„Der Taucher“/Illustration zur Schillerausgabe 1880/Wikipedia

Außerdem hatte Kreutzer in Joseph Weigl, einem seinem Naturell durchaus wesensverwandten Tonsetzer, wohl seinen stärksten Konkurrenten und zog es daher vor, sein Glück wieder anderenorts als ausübender Musiker zu versuchen. Seine Reisen führten ihn nach Belgien, in die Niederlande und nach Paris, wo er sogar Gaspare Spontini erstmals persönlich begegnete. Auf dem Rückweg erlangte er dann in Stuttgart die Position eines Hofkapellmeisters, die er vier Jahre lang bekleidete. Dort brachte er zwar mehrere eigene Opern erfolgreich auf die Bühne, musste aber das ganze Repertoire betreuen und die lokale Einrichtung von Opern italienischer und französischer Meister arrangieren, wobei er bei fremden Werken vielfach Rezitative oder die Orchestrierung ergänzte, so dass er sie in der „großen Form“ Spontinis Vestale oder anderen Vorbildern seiner Zeit anglich. Nach Auflösung seines Vertrags in Stuttgart und einem Engagement in Donaueschingen strebte er wieder nach Wien. Und seine Vorliebe für die Schiller-Ballade Der Taucher, die ihn schon um 1808/1809 in Wien und 1813 in Stuttgart zu Opern inspiriert hatte, ließ ihn dieses Sujet nochmals neu bearbeiten. Über sein neues Werk nach der großen Oper Libussa und dem spektakulären Monodram Cordelia für Wilhelmine Schröder(-Devrient) schrieb er an mehrere Verleger, seine Musik zum Taucher habe „sehr viel Gesang […] ich habe darin zwischen Weber und Roßini die Mittelstraße eingeschlagen!“ Diese Orientierung schien nach der umstrittenen Uraufführung von Webers Euryanthe und der Absage von Schuberts Fierrabras taktisch klug zu sein.

Ende 1823 berichtete Kreutzer: „Den Sommer über habe ich nun wieder eine neue große Oper, der Taucher, geschrieben […]  ich verspreche mir hievon noch größeren Succès – weil ich nun die Richtung des hiesigen musikalisch-theatralischen Geschmakes näher kennen lernte – dem ich zwar niemals auf Unkösten der hohen Kunst fröhnen werde, allein kleine Modificationen muß sich ein kluger Componist wohl gefallen lassen – Im ganzen ist hier doch noch immer, trotz den schrecklichsten Roßiniaden, sehr viel Liebhaberey für schön gedachte, warm und wahr empfundene Compositionen – nur fehlt es wie überall der deutschen Oper an bessern Sängern – mit den Sängerinnen – wenigstens mit 3 bin ich sehr gut zufrieden – das sind eine Mll: Sontag – Sopran – und Mlle. Unger, und Mad: Schütz 2 herrliche MezzoSoprane –“

Die hochbegabten, bald auch international erfolgreichen Sängerinnen inspirierten ihn dazu, die vokalen Ansprüche der Partien virtuos auszugestalten. Zugleich betonte er gegenüber den Liebhabern der „großen romantischen Oper“, sein neues Werk sei „durchaus in höherem pompeuserem Style geschrieben ist, und durchaus in Musick ohne Prosa –“ In der Wiener Theaterzeitung wurde dann gleich moniert, Kreutzer habe sich in dieser Hinsicht zu sehr an der Euryanthe orientiert, hier sei »Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre.« Kreutzer wies diesen Vorwurf zurück, da er sein Werk verfasst habe, bevor er Webers Oper kennen habe können. Selbst wenn seine Orchesterbehandlung in der Regel als gewandt und originell eingestuft wurde, wenn auch gewiss nicht als so eigenwillig und brillant wie jene Webers, nahmen die Zeitgenossen wahr, dass es für Kreutzers Inspiration entscheidend war, stets in Melodien zu denken, wodurch er letztlich ähnlichen Idealen huldigte wie eine ganze Reihe zeitgenössischer Exponenten der italienischen oder auch französischen Oper dieser Zeit. In einer Besprechung über Kreutzer heißt es denn auch: „Seit je her ist bei Kreutzer der Gesang immerdar der Alles umschlingende Zaubergürtel, der eben sowohl in seinen reizenden Cantilenen als vielstimmigen Combinationen sich entfaltet, dann weiß er die Melodie des italienisches Styles mit französischer Eleganz und teutscher Kraft zu vereinen; sein Instrumentalspiel endlich ist feurig, brillant, voll Leben und höchst wirksam, ein Resultat erprobter Kenntnisse.“

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876/Wikipedia

Kreutzer komponierte anfangs im Stil der Wiener Klassiker und Frühromantiker, aber er beschritt alle für ihn gangbaren Wege der Entwicklung einer differenzierten und effektvollen Instrumentation wie auch arios-rezitativischen Deklamation, und setzte sich erfolgreich dafür ein, zu beweisen, dass auch in der deutschen Oper neben dem motivisch-semantisch durchgestalteten Orchestersatz die Gesangsmelodie ihre Berechtigung hat.

Durch das Metier seines Vaters, eines Mühlenpächters, seit frühester Jugend vertraut mit dem Wasser als einem energetischen Element des Lebens an und für sich und dessen wirtschaftlichem Aspekt, hatte Kreutzer zeit seines Lebens eine ganz besondere Affinität zur Donau und dem Rhein, den Strömen seiner Heimatgegend. Dies thematisierte er immer wieder, und auch die großen Flüsse Elbe, Moldau und Düna (bei Riga) hat er kennengelernt. Über eine Wahrnehmung des Meeres oder auch großer Seen scheint er sich nicht näher geäußert zu haben, ob er jemals geschwommen oder gar getaucht ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Friedrich Schillers Ballade Der Taucher schien für ihn und andere Musiker der Zeit jedoch ein sehr reizvolles Objekt zur Vertonung. Aber anders als Schubert ließ er sich weder in durchkomponierter noch melodramatischer Form auf Schillers Originaldichtung ein.

Wie Kreutzer an das Libretto des Breslauer Autors Samuel Gottlieb Bürde (1753–1831) geriet, ist nicht überliefert. Er dürfte es in handschriftlicher Form zur Kenntnis genommen haben, da es vor der Vertonung durch Kreutzer und dem in Berlin wirkenden Johann Friedrich Reichardt nicht im Druck erschienen ist. Bürde entwarf im Grunde eines der zahlreichen Opernbücher, die von Shakespeares letztem Drama Sturm (The Tempest, 1611) inspiriert waren und verknüpfte dieses mit Schillers Ballade, von der er jedoch fast nur ganz am Schluss jenes Moment heranzog, dass die Titelfigur ins Wasser springt. Ansonsten geht es, wie in den meisten Opern dieser Epoche, um Liebesdinge und Heiratssachen sowie um berechtigte und unangemessene Machtansprüche von Herrschern und Usurpatoren.

Conradin Kreutzer: Das Stuttgarter Hoftheater, Ort der Uraufführung seiner Oper „Der Taucher“1813/Wikipedia

Aber zurück zum Titel der Oper: Der Tatsache, dass beim Prozess des Tauchens durch den Sauerstoffmangel Halluzinationen entstehen können, trägt der Aspekt Rechnung, dass das Textbuch eine Fata Morgana und eine Feen-Erscheinung thematisiert. Luftspiegelungen kann es zwar nur beim zerstäubten Wasser – etwa bei dem Kreutzer aus heimatlichen Gefilden vertrauten Rheinfall bei Schaffhausen – geben und nicht in der Meerestiefe selbst, aber es ist ja keineswegs nötig, in romantischen Opernlibretti realistische Szenarien zu thematisieren. Beim ersten Anlauf Kreutzers, das Libretto zu vertonen, war es in seiner Eigenart und der expliziten Bezeichnung „romantisch“ noch vergleichsweise untypisch, während es später in der Zeit des Biedermeier zahllose „romantische“ und „pseudoromantische“ Handlungen auf den Bühnen gab.

Bürdes Libretto entsprechend, gab es in den ersten Versionen noch zwei später völlig ausgeschiedene Hauptrollen, nämlich eine Erzieherin (Alt) der Alphonsine und die explizit komische Rolle für einen Baßbuffo. An Stelle der umfangreichen Episoden und Ensembles mit diesen Charakteren wurde in die späteren Fassungen ein Nebenbuhler des Tauchers im Wettstreit um die Prinzessin eingeführt, der junge Antonio, Herzog von Calabrien, als anspruchsvolle Partie für einen Tenor, weshalb die ursprünglich alternativ vorgesehene Besetzung des hohen Mezzosoprans Ivo (eine sogenannte Hosenrolle) mit einer Tenorstimme verworfen wurde.

Das Wiener Kärntnertortheater, langjährige Wirkungsstätte Kreutzers als Dirigent, mit acht Uraufführungen zwischen 1810 und 1838/Wikipedia

Bei seinem dritten Versuch, das Süjet in Musik zu setzen, hatte Kreutzer an der Wiener Hofoper eine durchaus beachtliche Stellung inne. Die wesentlichen Verantwortlichen dieses Opernhauses waren zu der Zeit jedoch ein italienischer Impresario (Barbaja) bzw. ein französischer Tänzer (Duport). Man wartete von dieser Seite zunächst ab, ob sich deutschsprachige Werke rechnen oder gar etablieren konnten. Kreutzer standen die Sterne des Ensembles zur Verfügung, namentlich die später auch international äußerst erfolgreichen jungen Damen Henriette Sontag und Caroline Unger. Darüber hinaus trat Therese Elßler, Schwester der berühmten Tänzerin Fanny Elßler, in der Rolle der Fee in Erscheinung. Auch die männlichen Protagonisten waren umjubelte Darsteller aller markanten Rollen des Repertoires. Im Bereich der Szene setzte man auf höchsten Aufwand in der Ausstattung, auf optische Effekten, Ballett, Chor und Statisterie: Auf der vergleichsweise kleinen Bühne des Kärntnertortheaters traten ungefähr 60-80 Darsteller|innen in Erscheinung.

Theater in der Josephstadt, hier fanden 1834 –1837 acht Kreutzer-Uraufführungen statt/Wikipedia

1824 an der Hofoper und dann auch wieder 1834 im Theater in der Josefstadt setzten sich zahlreiche Journale mit Kreutzers Werk auseinander, und man verglich es mit anderen Opern seiner Zeit, in erster Linie mit jenen italienischer und französischer Provenienz, aber auch Webers Freischütz und der in Wien jüngst uraufgeführten Euryanthe: „Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug. […]“

Als Kreutzer den Taucher Ende 1834 noch einmal herausbrachte an jenem damals als Opernhaus sehr erfolgreichen und mit der Hofoper konkurrierenden Vorstadttheater in der Josefstadt, hatte er sich dort bereits als Schöpfer des Nachtlager in Granada (nach einem Sujet des Freischütz-Librettisten Friedrich Kind) und mit der Schauspielmusik zu Ferdinand Raimunds Verschwender etabliert. Man brachte seinen neuen Bühnenwerken inzwischen große Wertschätzung entgegen, und das über viele Jahrzehnte (bis ins 20. Jahrhundert hinein) erfolgreiche Nachtlager begründete – neben seinen Chören und dem Liedschaffen – seine langjährige Beliebtheit. Gerritt Waidelich/Carus

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Noch einmal sehr herzlichen Dank an Gerritt Waidelich, dem renommierten Wiener Musikwissenschaftler und Spezialisten zur Musik des frühen 19. Jahrhunderts, für seinen Artikel und vor allem für die ausgiebige Erschließung der weiteren Quellen und des Bildmaterials! G. H.

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Hier ein paar Kritiken 1823/4: Conradin Kreutzer – Der Taucher/ Theaterzeitung (Wien), 29. Januar 1823, Nr. 13, S. 51ff./ K. Kärnthnerthortheater. Endlich wieder eine neue deutsche Oper, welche allgemein gefiel; dies ist die am 24. Jänner zum ersten Mahl gegebene Composition; sie heißt: »der Taucher,« romantische Oper in zwey Aufzügen, Musik von Hrn. C. Kreutzer, Kapellmeister des k. k. Hoftheaters nächst dem Kärnthnerthor.

„Der Taucher“, Ballade (1797) von Friedrich Schiller, Holzschnitt, 1876 veröffentlicht

Das Buch machte eine vortheilhafte Ausnahme von andern Opernbüchern. Es kommt in selbem ein schwermüthiger Herzog Lorenzo vor, welcher seinen Bruder vertrieb, und nun von Gewissensbissen verfolgt wird. Der vertriebene Bruder erscheint als Pilger, und dessen, vielleicht mitpilgernder Sohn, als Schützling der Fee Morgana. Diese zeigte ihm des Herzogs Lorenzo Tochter im Traume, und als sich diese im Walde auf der Jagd verirret, erkennet der junge Ivo sogleich sein geliebtes Traumbild in ihr. Die Prinzessinn findet an dem Vetter auch mehr Behagen als an dem ihr zugewiesenen Bräutigam, dem Herzoge von Calabrien. Selbst der Herzog Lorenzo findet sich von dem Jünglinge so angezogen, daß er ihn an seinen Hof mitnimmt. Als der Herzog Lorenzo seinen pilgernden Bruder sieht, wird zwar die Erinnerung an sein Benehmen gegen denselben wach, doch ohne daß er ihn eigentlich erkennet. Ein Traum aber bestimmt ihn, seinen goldenen Becher in der Charibde Schlund zu werfen, damit ihm mit demselben auch Gemüthsruhe und Versöhnung mit dem Bruder herauf geholet werde. Auf das Versprechen, die Tochter als Preis dem Kühnen zu geben, stürzt sich Ivo hinab, und bringt den Becher. Die Verbindung der Liebenden und die Versöhnung der Brüder ist der Lohn. Der Bräutigam war schon früher durch das Zureden der Braut aus dem erbitterten Gegner der Freund ihres Liebhabers geworden. Das Ganze endet nach Wunsch.

Die Musik ist angenehm, leicht, verständlich und heiter. Der geachtete Compositeur mahlet alle Situationen aus, ohne den Zuhörer zur besonderen Anstrengung zu nöthigen. Seine Instrumentation ist höchst effektvoll und die Musik erhielt vielen Beyfall. Hr. Kreutzer wurde nach jedem Akte gerufen. Unter den Tonstücken ist keines, welches lange Weile machte, mehrere gefielen besonders, wie ein Chor im ersten Akte, ein Duett, ein Terzett und das Finale desselben, sodann ein Duett und Terzett des zweyten Aktes so wie auch ein Chor desselben.

Bey den folgenden Darstellungen soll noch über mehrere Details dieser Oper gesprochen werden. Jetzt nur noch, daß die Aufführung sehr brav war. []

Die Ausstattung der Oper ist sehr angenehm; schöne Dekorationen, reitzende Tableaux zieren das Ganze. Nur die Charybdis gleichet einem Ringel-Spiel-Mechanism, oder einer horizontalen Windmühle. Solche Phänomene nachzuahmen, kann der Dekorateur nicht wagen, hier thut ein bescheidenes Versteck noch die beste Wirkung. Hoffentlich wird diese Oper viele Wiederholungen erleben.   M–r.

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Gedenktafel für Conradin Kreutzer in der Wiener Dorotheengasse 9/Wikipedia

Wiener Zeitschrift, 3. Februar 1824, Nr. 15, S. 123ff. Oper. [] Der Stoff, so wie er hier dramatisch behandelt, man darf wohl auch sagen, größten Theils erfunden worden, scheint die Einbildungskraft des Tonsetzers wenig angeregt, und noch weniger begeistert zu haben. [] Das Recitativ – denn die Handlung ist nur an einigen Stellen in Prosa dialogirt – hat den Vortheil einer verständigen, und den Vortrag oft sehr begünstigenden Declamation.

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Theaterzeitung (Wien), 10. Februar 1824, Nr. 18, S. 70f. Noch etwas über die Oper, »der Taucher.« Von einem geschätzten Kunstfreund eingesendet. Wir haben uns mit Beurtheilung der Musik des Herrn Conradin Kreuzer deshalb nicht übereilen wollen, weil bey den neuesten Erscheinungen im Gebiethe der deutschen Oper beynahe gewöhnlich der Fall eintritt, daß ohnerachtet des manchen Musikstücken gezollten Beyfalls, doch immer noch ein großer Theil des gebildeten Publikums eines andern Sinnes ist, und so manche Forderung, welche an ein neues Tonwerk gemacht werden könne, nicht darin erfüllt findet.

Wenn bey Weber’s »Euryanthe« der außerordentliche Kunstaufwand, der in mehreren Scenen bis zur Verschwendung getrieben und nicht selten dem genialen Fluße der Musik höchst nachtheilig ist, als ein Mangel der neuen Schöpfung erkannt, und dieselbe von vielen wahren Kennern dem »Freyschützen« deshalb nachgesetzt wurde, so tritt hier ein ganz anderer Fall ein. Weber zeigte in seiner Musik ein all zu sichtbares Streben nach Originalität, und daraus entstand wirklich eine gewisse düstre Farbe seiner Composition, eine gewisse Steifheit vieler Tonstücke, welche sich in seinem »Freyschützen« nicht vorfindet. Kreuzer hat überall eine liebliche Melodie anzubringen, und dieselbe noch obendrein stets mit einer recht blumigen Instrumentirung zu schmücken gesucht. Hierbey ist er aber oft in den Fehler gefallen, daß er nach einem fremden Muster gearbeitet und sich öfters selbst copirt hat.

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga (Die Gartenlaube, 1868)/Wikipedia

Ja wenn diese Oper ganz so in die Scene gegangen, und in den vielen Proben von der Hand eines geschickten Kenners nicht in vielen Theilen beschnitten worden wäre, so würden besonders mehrere Reminiscenzen aus der »Libussa« der Aufnahme geschadet, und vielleicht gar den ersten günstigen Eindruck vernichtet haben. Der Mangel an Originalität zeigt sich unverkennbar, und wird nur auf den ersten Moment durch die fleißige Arbeit des geschickten Compositeurs überdeckt. Sehr lieblich sind viele Melodien, sehr lebendig die Bewegungen, welche den Gesang im Orchester begleiten, aber die Töne, welche aus der Tiefe der Seele hervorklingen, sind darin nicht aufzufinden.

Weber’s »Euryanthe« ist in manchen Scenen allzudeutlich zum Grunde gelegt. In den instrumentirten Rezitationen aber ist Weber’s Manier besonders sichtbar. Wir glauben sogar, daß manche Musikstücke besser imponiren und aus der Masse hervortreten würden, wenn nicht das ganze Orchester in immerwährenden Figuren bewegt, in beständiger Anstrengung gehalten wäre. Das Thema eines Duetts, einer Arie würde weit besser hervortreten, wenn diese ewige Bewegung unterbrochen, und durch gehörige Ruhepunkte getrennt wäre. Ein immerwährendes Streben verbannt die Ruhe, welche doch bey jeder Bewegung erst die nöthige Steigerung möglich macht, ganz aus dem Werke.

Die Leistungen der Sänger sind vom Tonsetzer mit so viel Umsicht und Geschick behandelt, und der Gesang gewöhnlich sehr dankbar geführt. Als ein Vorzug muß ebenfalls angeführt werden, daß der Gesang gewöhnlich nicht so sehr in der Tiefe sich verliert als dieß oft bey Weber der Fall ist. Hr. Kreuzer hat die Individualität seiner Sänger sehr genau beachtet und dadurch die freundliche Mitwirkung derselben erzielt, ein Umstand, der seiner Musik viel genutzt hat.

Dem. Sonntag, welche darin sehr glänzend aufgeführt ist (sie gab die Alphonsine) trägt auch in der That sehr viel zum Gelingen dieses Werks bey, und man darf annehmen, daß es ohne ihre liebenswürdige Persönlichkeit seines größten Reitzes ermangelt hätte. Gleich ihr erster Auftritt in der Introduktion sichert ihr den Beyfall für den Abend. Sie singt so gefühlvoll, und zeigt in jeder Bewegung ihrer Stimme die gebildete treffliche Sängerinn. Im Duett mit Ivo (welcher von Dem. Unger gegeben wurde) herrscht eine anmuthige Frische der Melodie, und beyde Sängerinnen rivalisirten mit Glück im Vortrage dieses Tonstücks.

Gerade in diesem Musikstücke, wo Ivo Alphonsinen seinen Arm zum Schutze anträgt, ist auch Dem. Unger sehr glücklich in ihrer Leistung. Hr. Forti, der den König gibt, zeigte sich im ganzen Stücke äußerst brav, aber als ein höchst ausgezeichneter Sänger erschien er im Duett mit Lorenzo (Hr. Preisinger). Diese Scene besonders erinnert sehr an die »Euryanthe.« Hr. Preisinger stand sehr brav an der Seite des genannten Sängers. Er befriedigte ganz im Gesange und wenn auch sein Spiel weit hinter dem eines Vogel zurück blieb, so kann man doch ohne Unbilligkeit von einem so jungen Operisten nicht mehr Routine verlangen. Im Komischen übertrifft er unsre Erwartungen gewöhnlich. Seine Arie im ersten Akt hat einen recht natürlichen Melodienfluß und liegt gut für die Stimme. Er trug sie brav vor.

Hr. Haitzinger zeigte sich sehr vortheilhaft. Gleich seine erste Scene im ersten Akte gab seiner hellen, hohen Tenorstimme treffliche Gelegenheit hervorzutreten. Die Scene mit Chor im Anfang des zweyten Akts entwickelt noch mehr Kraft und wird von ihm brav executirt. Hr. Kreuzer hat mit kluger Vorsicht die tieferen Lagen ganz vermieden. In den Ensemblestücken trat der sonore Tenor dieses Sängers gut hervor. Doch gestehen wir, daß das Gefühl seinem Vortrage in solchem Grade mangelt, als es Hr. Jäger besitzt. Der Chor zeichnet sich im Vortrage des Fischerliedes aus durch Präcision und ein gutes Verhältniß im Forte und Piano. Der Jagdchor wollte nicht so recht ansprechen. Es fehlt ihm an Einfachheit und Originalität, das erste Finale hat einige kräftige Momente gegen das Ende, doch imponirt es zu wenig durch Größe des Styls.

Die Ouverture hat zu wenig entschiedenen Charakter. Als die Oper das vierte Mahl zu Hrn. Kreuzers Einnahme gegeben wurde, war das Haus wenig besucht. Parterre und Logen waren nur zur Hälfte besetzt.

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Gedenkmarke für Conradin Kreutzer für die Französische Zone Baden 1949/Wikipedia

Der Sammler (Wien), 12. Februar 1824, Nr. 19, S. 75f./ Notitzen. Schauspiele. (Hoftheater nächst dem Kärnthnerthor.)/ [] Um von der Musik eine vorläufige Übersicht zu geben, müssen wir sagen, daß Hr. Conradin Kreutzer durch dieselbe bewiesen hat, wie er die Fortschritte der neuesten Zeit geschickt zu benutzen, und zu verfolgen versteht. Weber und Rossini haben bedeutenden Einfluß auf seine Manier gehabt. Das eigentliche Recitativ, welches hauptsächlich in Webers »Euryanthe« in einen fortgesetzten, melodischen Fluß verwandelt, und beständig mit der ganzen Maße der Instrumentirung in Verbindung gesetzt ist, erscheint auch hier ganz in derselben Gestalt. Manches wird bey dieser Manier gewonnen, manches verloren. Verloren wurde die Deutlichkeit, Charakteristik und oft auch die Wahrheit. Gewonnen wird die Aufmerksamkeit des Publicums auf jeden einzelnen Moment, in welchem bald dieser, bald jener individuelle Reitz der Instrumentirung das Interesse fesselt. Die vier Waldhörner geben durch ihre gestopften Töne so manchen effectvollen Moment, und die neue Methode, welche ein immerwährendes Umstecken der Bogen für gar keinen Mißbrauch mehr hält, erhöht diese frappanten Momente bey unerwarteten Transitionen.

Die Clarinetten, Oboen, Fagots ec. nahmen auch ihren Antheil bey der fortgesetzten, nie unterbrochenen Mitwirkung des Orchesters. Die Sänger sind genöthigt, einer ununterbrochenen Cantilena ihre physische Kraft zu widmen, aber eben deßhalb treten die lyrischen oder dramatischen Momente der Oper, in denen die Musik in ihrer ganzen melodischen Kraft und Gewalt erscheinen, in denen also eine Arie, Duett oder Ensemblestück beginnen soll, etwas mehr in den Hintergrund, als bey der Oper, wie sie sonst war.

Wir haben es schon öfter erfahren, daß ohne Textbuch deßhalb der Inhalt der Opern etwas unverständlich wird. Daß bey manchen Textbüchern eine Oper dadurch gerade gewinnen kann, weil der Zuhörer gar nicht in den Stand kommt, das Ganze zu verstehen – dieß gehört auf eine andere Rechnung.

Was den Charakter der Kreutzer’schen Recitative sowohl, als der ausgeführten melodischen Tonstücke betrifft, so wird Niemand läugnen, daß er auf der von Rossini und Weber vorgezeichneten Bahn mit Vorliebe fortgegangen, nicht selten aber so fest in ihre Fußstapfen getreten ist, daß man seinen Gang für einen und denselben Schritt halten sollte. Nahmentlich die Euryanthe wäre bey mehreren Stellen zu citiren, ganz augenscheinlich aber in der Scene zwischen Alphonso und Lorenzo, vor dem zweyten Finale.

Sehr klug verfuhr der Tonsetzer, daß er seinen Tonstücken so viel melodischen Reitz als möglich zu geben bemüht war, und dieses Verdienst wird ihm jeder unpartheyische Kenner und Freund der Kunst zugestehen; doch wird auch Niemand läugnen, daß der schöpferische Genius, die originelle, hohe Kraft, vor welcher die Mit- und Nachwelt freudig staunt, daraus gar nicht hervor leuchtet.

Die ganze Composition zeugt von einem fleißigen, sehr lobenswerthen Studium der neuesten Erscheinungen, welches vielleicht auch durch öfteres Dirigiren dieser Werke veranlaßt wurde. Ein sehr lieblicher Fluß der Melodien bezeichnet die meisten Piecen dieser Oper, eine dankbare Führung der Singstimme, welche besonders die Tonlage der singenden Individuen schön berücksichtigt, ist an ihr sehr lobenswerth, und in dieser Hinsicht verdient sie vor manchem neuesten Werke den Vorzug.

In Betreff der Instrumentirung, wie wir sie jetzt am ganzen Werke betrachten, ist das Verfahren des Hrn. Kreutzer eben so lobenswerth, denn er hat die Virtuosität der meisten Mitglieder, nicht selten in Anspruch genommen.

Sein Violinen-Orchester steht beynahe stets in dem Verhältnisse eines verzierten Contrapuncts gegen die Singstimmen, ja man kann dreist sagen, daß es beynahe zu oft in einer laufenden oder trippelnden Bewegung erscheint.

Hieraus wird einiger Maßen der Mangel erklärbar, den ein großer Theil des Publicums aufrichtig empfand, wenn er hohe Einfachheit, Würde und originelle Kraft vermißte.

Was die Charakteristik der einzelnen Rollen betrifft, so läßt sich nach dem Gesagten eigentlich der Schluß schon von selbst machen. Der individuelle Reitz hebt die ideale Schönheit schon von selbst auf. []

Conradin Kreutzers Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga zum 175. Geburtstag/Wikipedia

Der Jägerchor ist wohl unter den Chören einer der schwächsten. Die Solostimmen arbeiten viel hinein, dann sind die Modulationen auch etwas zu gesucht für eine Musik, welche durch Klarheit und Charakteristik imponiren, nicht aber durch Virtuosität der Solosänger reitzen soll.

Im Allgemeinen ist der zweyte Act besser gehalten und reicher an musikalischer Kraft. Hierunter sind aber auch die Scenen verstanden, welche wir schon als der Euryanthe Webers entlehnt, bezeichnet haben.

Die Vorzüge, die wir an diesem Werke gerühmt, und worunter wir besonders die Lieblichkeit der Melodie bezeichnet haben, errangen ihm vorzüglich dadurch das Glück des Beyfalls. Hr. Kreutzer wurde zweymahl hervorgerufen, und der Beyfall erhielt sich auch in den nächsten Vorstellungen. (Gerritt Waidelich)

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Abbildung oben: Ausschnitt/“Der Taucher“/Illustration zu Schillers Ballade von Ary Schaeffer (1795 – 1858)/Aquarell/Artnet/ Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper finden Sie  hier

Rossini in Wien

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Viel zu verdanken hat der italienische Opernkomponist Gioacchino Rossini dem unermüdlichen Schweizer Opernforscher Reto Müller, (operalounge-Lesern wegen seiner Veröffentlichungen im Umfeld eben dieses Komponisten kein Unbekannter), der nun auch für die Herausgabe des zwölften Bandes der Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft und zwar des Tagungsbands mit dem Titel Rossini in Wien verantwortlich zeichnet. Die Tagung fand 2022, genau zweihundert Jahre nach dem Gastspiel Rossinis und seiner aus Neapel stammenden Operntruppe, die auch die ihm frisch angetraute Sängerin Isabella Colbran umfasste, in Wien statt, und das Buch beleuchtet das Ereignis in überaus vielseitiger, mehr oder weniger erhellender Art.

Abgedruckt sind das Programm der Tagung und das eines im Zusammenhang mit derselben stattgefunden habenden Konzerts mit Mitgliedern der Opernklasse  des mdw. Es schließt sich ein Vorwort des Vorsitzenden der Rossini Gesellschaft, Jakob Lehmann, an, das dem Leser wohl das erste zustimmende Nicken abnötigt, denn auch er wird sich wie der Verfasser fragen, warum Wien, nicht aber Bologna, Pesaro, Neapel oder Paris zum Gegenstand der Tagung wurde. Immerhin gibt es gewichtige Gründe für die Wahl Wiens, das als Ort der Vermittlung zwischen Nord und Süd gelten kann und wo Rossini während des monatelangen Aufenthalts bedeutende Erfolge erzielte. Es folgt unter dem Titel Vorbemerkungen ein Bericht Reto Müllers über die durch Corona erschwerten Vorbereitungen der Tagung, die Gewinnung von 24 Referenten und die die Lektüre erleichternde Übersetzung der fremdsprachlichen Beiträge ins Deutsche.

Jeder Leser des umfangreichen, immerhin fünfhundert Seiten umfassenden Bandes wird den Schwerpunkt seines Interesses bei unterschiedlichen Artikeln finden, die eng am Thema Rossini und Wien verharrenden bevorzugen oder ihen ausweichen, dem weit ausschweifenden, das Thema verlassenden etwas abgewinnen oder ihn als unpassend empfinden, so dass auch eine Beurteilung des Gesamtbandes schwer und nicht einheitlich ausfallen kann.

Viel Gewinn und neue Erkenntnisse ziehen kann der Leser sicherlich aus dem Beitrag Reto Müllers, der sich mit der eng begrenzenden Frage befasst, ob es eine Begegnung zwischen Rossini und Beethoven im Jahre 1822 gegeben hat. Der Beitrag ist spannend wie ein Krimi und gewissenhaft abwägend wie eine wissenschaftliche Abhandlung, konfrontiert den Leser mit einer Fülle von Quellen, die kritisch beäugt  und nicht ohne Humor dargestellt werden, so die Aussagen des wortreichen Edmond Michotte, der Rossini Jahrzehnte mach dessen Wienaufenthalt befragte.

Eine Art Gegenpol zu diesem so sachlichen wie unterhaltsamen und humorvollen Beitrag bietet Anke Chartons Die Italienerin in Wien: Performativität und verkörperte Vokalität im Rossini-Gesang, in dem gendernd über „gegenderte Darstellung“ geschrieben, über „Gruppenhierarchie nach Fachprinzip“ referiert  und zur Schlussfolgerung gekommen wird, dass Rossinigesang lesbar sei als „gegenderte, verkörperte Vokalität“.  Da kehrt man gern zurück zu sich tatsächlich an Wien und 1822 haltende Beiträge wie Melanie UnseldsSuper Coupleoder „Compositeur, sammt Gattin“, wo sich an Quellen gehalten wird, wie in Martina Gremplers Beitrag über den Übersetzer Grünbaum, wagt gern auch einen Blick ins von Rossini verlassene Neapel in Paolo Fabbris und Maria Chiara Bertiers Aufsatz.

Beachtenswert ist auch Ilaria Naricis Einsicht, dass Rossini durch seinen Erfolg in Wien den endgültigen Durchbruch als europäischer Komponist vollzog, sind die Erkenntnisse über das Wirken von Impresarii wie Domenico Barbaja, das Auf und Ab, was die Aufführungszahlen von Rossiniopern in Wien betrifft, denn nach dem Rossini-Fieber setzte eine schlimme Vernachlässigung ein, ehe durch Pesaro und Alberto Zedda eine Wiederentdeckung stattfand.

Marco Beghellis Beitrag über den Tenor Giovani David kann man entnehmen, welche Anforderungen die Musik Rossinis an die menschliche Stimme stellte und wie der gefeierte Sänger diese erfüllte, ob Falsett oder nicht zum Rossinigesang gehört, wer nun eigentlich als Erster von ihm Abschied nahm. Das geht zwar über das Tagungsthema hinaus, erfreut aber durch die „Praxisnähe“ zum Singen.

Gewinn ziehen kann der Leser auch aus dem Vergleich der beiden Fassungen von Elisabetta, regina di Inghilterra, die eine für Neapel, die andere für Wien bestimmt. Vincenzo Borghetti ist der Autor. Verzichtbar, wenn auch amüsant ist Guido Johannes Joergs Beitrag über Kanone und Kanon trotz der niedlichen Kanönchen im Text, müßig ist es, sich zu fragen, warum Rossini als Opernkomponist erfolgreicher war als Schubert. Auch das Verlagswesen wird kontaktiert von Fabian Kolb, wenig Berührungspunkte gibt es zwischen Raimund und Rossini (Bernd-Rüdiger Kern), und dem Vermarkten auch von Rossini-Ouvertüren für den Gebrauch beim Musizieren zu Hause wird Rechnung getragen (Simone Di Crescenzo).  Joachim Veit hingegen widmet sich dem Vergleich mit Weber in Wien 1822/23 und das Verhältnis von deutschem und italienischem Ensemble der Hofoper.

Der Band bietet ein überaus breites Spektrum von vielen mehr oder einigen weninger das Thema berücksichtigenden Beiträgen, die stilistisch ebenso breit gefächert erscheinen und ein vielfarbiges Bild des Schwans von Pesaro und des Wiener Opernlebens malen.

Ein umfangreicher kritischer Apparat  und ein Anhang, bestehend aus Personenregister, Werkregister und Sachregister vervollständigen das Buch (Rossini in Wien/ Tagungsband/ Herausgegeben von Reto Müller/ Leipziger Universitätsverlag 2024/ 500 Seiten / ISBN 978 3 96023 576 7/ 10. Juni 2024 ). Ingrid Wanja 

Joachim Raffs „Samson“

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Das Alte Testament ist nichts für schwache Nerven: da werden zerteilte Jungfrauen per Kurier verschickt, junge Männer im vermeintlich heiligen Krieg geopfert und hin und wieder ganze Völker eliminiert. Die Episode um den Israeliten Samson bildet in Sachen Mord und Totschlag keine Ausnahme. Samson hat sich in Delilah verliebt, eine Frau aus dem Lager seiner Widersacher – eine eher ungünstige Fügung, die ihn seine Frisur, sein Augenlicht und später alle Beteiligten das Leben kosten wird.

In den 1850er Jahren griff der Komponist Joachim Raff das Thema auf und machte daraus eine Oper mit dem Titel Samson. Anders als der spätere Camille Saint-Saëns schrieb er auch das Libretto. Wenn Raffs Samson auch mindestens so blutig ist wie die Passage aus dem Buch der Richter, so ist sein Samson doch reicher an zahlreichen Szenen mit tiefem und innigem Gefühlsausdruck – weniger ein religiöser Akt (übrigens in dieser Fassung ohne den Mythos des Haarschnitts), mehr ein menschliches Drama. Sieben Jahre lang hat Raff an seinem Samson gearbeitet. Entstanden ist eine groß angelegte Komposition mit abwechslungsreicher Orchestrierung, feiner Linienführung, einigen beeindruckenden Massenszenen und einer immer wieder spürbaren Affinität zum Musikdrama à la Richard Wagner. Trotz der unbestreitbaren Anziehungskraft des Werkes verzögerte sich die Uraufführung: 2022 wurde sie am Nationaltheater in Weimar uraufgeführt.

Das ausführliche Libretto der Ersteinspielung der Oper liefert eine Erklärung für diese verspätete Premiere. Übrigens enthält es auch das Libretto in drei Sprachen – sehr schön! Henrike Leissner

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Selten oder nie gespielte Opern haben ja für Opernfreunde stets ihren Reiz, zumal wenn sie vom Plot her Parallelen aufweisen: Es ist stets spannend zu sehen, wie das die Kollegen gemacht haben. Aber das Bessere ist eben auch leider der Feind des Guten oder des Soliden. Und es gibt da ja auch die Frage, warum ein Werk keinen Erfolg hatte oder warum es nicht zur Aufführung kam. Nicht alle Ausgrabungen lohnen sich, zumindest nicht für einen laufenden Theaterbetrieb, eher für Festivals. Oder die CD, wie nun hier.

In den 1850er Jahren beschäftigte sich der Komponist mit dem Thema des biblischen Samson, bei dem ich als Zuhörer weniger der Verführung sondern eher der Langeweile erliege, denn die neue Aufnahme bei der Schweizer Fonogramm – so verdienstvoll sie sicher ist – kann in keiner Weise mit Saint-Saens´ Bauchtanz-Oper mithalten (diese noch im Titel durch die Dame selbst erweitert). Bei Raff liegt sicher der Akzent auf dem allzumenschlichen Gefühl, auf alemannischer Befindlichkeit, wenngleich es da auch um Mord und Todschlag geht. Und natürlich ist Raff der Komponist des Kraftvollen ebenso wie des Zarten, der intimen Szenen ebenso wie der monumentalen kriegerischen Auseinandersetzungen (wie soll man das inszenieren?), aber im schweizerischen Bern verbleibt alles eher im Händelschen Oratorien-Fahrwasser, bleibt unüberzeugend, akademisch, papiern. Und eben im Gesamteindruck langweilig.

Dem arbeitet die neue Aufnahme nicht entgegen. Sicher, Philippe Bach am Pult des Berner Symphonieorchester, dem Chor der Bühnen Bern (toll!) und der Protagonisten macht einen wirklich guten Job und versucht uns von der Klangfülle der Komposition zu überzeugen – aber da ist mir zu wenig musikalisches Backing, zu wenig Rückhalt für die Protagonisten, die doch angeblich in elementaren Situationen aufeinandertreffen.

Und eben diese sind das Defizit der Aufnahme, denn einen so stentoralen Samson hat man seit Jon Vickers nicht mehr erlebt (und seiner kam aus Frankreich): Magnus Virgilius und Michael Weinius als Samson und Micha lassen mich jede Minute zum Lautstärkeregler greifen, um einer Kündigung meiner Wohnung vorzubeugen. Das ist einfach zu forciert, zu sehr unter Druck, zu unschön im Ton, Altes Testament oder nicht. Und es wird in der Dynamik schlicht zu monochrom. Auch Bariton Robin Adams als Abimelech muss sich den Vorwurf einer recht grauen, unscharfen Stimmführung gefallen lassen (meine Meinung sag ich mal gleich prophylaktisch). Das ist alles nicht spannend, nicht ereignisreich.

Der Dirigent Philippe Bach/ Wikipedia

Die Dame selbst, Olena Tokar, verwechselt Sinnlichkeit mit Kraft. Jeder Samson würde aus seiner Trance erwachen und ihr die Schere aus der Hand schlagen. Das ist mir zu viel Vibrato, zu robust der Ton, wenngleich sie von den Dreien zumindest um Zärtlichkeit und bewegende Momente bemüht ist. Auch ihr Schluss macht was her, in der Tat, selbst wenn man bei den hohen Noten etwas in Deckung geht.

Die übrigen sind funktional im großen Ganzen, das mich ab CD2 mehrere Teepausen einlegen ließ. Bei aller Wertschätzung der ganz sicher kostspieligen, mit Schweiß und Ausdauer verbundenen Bemühungen diese seltene Oper eines wenig bekannten Komponisten ans Tageslicht zu bringen und eben diesem Komponisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Mehr als akademisches Interesse kann ich der neuen Aufnahme nicht entgegenbringen. Pardon. Stefan Lauter

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Dazu auch ein Text zum Komponisten und Werk von Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, anlässlich der Uraufführung in Weimar 2022: Mit der Uraufführung des Lohengrin unter dem Taktstock von Franz Liszt am 28. August 1850 im Weimarer Hoftheater begann der Siegeszug der Wagnerschen Bühnenwerke im deutsch-sprachigen Raum und bald auch darüber hinaus. Der Komponist des bahnbrechenden Werkes war zum Zeitpunkt der Entstehung jedoch schon einige Schritte weiter: In seinen theoretischen Schriften, die der Exilant von seinem neuen Wohnort Zürich aus in die Welt entließ, entwirft er das «Musikdrama», das sich kategorisch von der zu überwindenden, kommerziellen Oper unterscheiden soll. «Wie hast du’s mit Wagner?» wurde bald zur musikästhetischen Gretchenfrage der Zeit. Zu den gründlichsten Kennern von Wagners Werk und Theorie in dieser Sattelzeit der Geschichte des Musiktheaters gehört der damals knapp 30-jährige Lehrer und autodidaktische Komponist Joachim Raff, der von 1850 bis 1856 in Weimar als Assistent von Franz Liszt wirkte. Ermuntert durch den Erfolg der Weimarer Uraufführung seiner grossen historischen Oper König Alfred am 9. März 1851 machte sich Raff sogleich an sein zweites Bühnenwerk, Samson. In einem Brief an seine Stuttgarter Freundin Kunigunde Heinrich charakterisiert Raff das Werk folgendermassen: «Was nun meine neue dramatische Arbeit anlangt, so verlasse ich darin den Boden der Oper, auf dem der ‹König Alfred› noch steht, gänzlich, und stelle mich aufs Gebiet des von Wagner angebahnten Musikdrama’s; auf welchem ich übrigens in einer von jenem Componisten und Dichter verschiedenen Weise zu arbeiten gedenke oder vielmehr im Begriffe bin.»

Der Autor: Severin Kolb, MA und Leiter der schweizerischen Joachim Raff-Gesellschaft/ Facebook

Raff zeigt sich in seinem Schaffen als Komponist, der stets versucht, die Positionen seiner Vorgänger zu einer Synthese zu amalgamieren. So ist auch Samson ein Versuch, Wagners Schaffen mit der Grand Opéra, insbesondere mit Giacomo Meyerbeers überaus erfolgreichen Werken, zu versöhnen, wie schon auf den ersten Blick auf die Einteilung des Werks in drei Abteilungen und die fünf Akte der französischen Tragödie sichtbar wird. Bei der Lektüre von Raffs parallel zum Samson entstandener Schrift Die Wagnerfrage, der ersten Wagner-Monographie überhaupt, kristallisiert sich heraus, in welchen Belangen Raff an Wagners Theorie und an Lohengrin (in Ermangelung an bereits existenten Musikdramen) anknüpfte, und in welchen er andere Wege ging.

Die Musik soll auch für Raff im Dienst des Dramas stehen, dessen Sujet er zwar der Bibel entnimmt, aber realistisch wie einen säkularen historischen Stoff behandelt: Parallel zur Ent-stehung des Werks wollte sich Raff mit einer Doktorarbeit über den Samson-Stoff an der Universität Jena «in der Gelehrtenwelt hinlänglich accreditieren». Der Plan scheiterte. Doch die Arbeit war nicht vergebens, denn Raff legte höchsten Wert auf eine historisch fundierte, re-alistische und enorm detailgetreue Umsetzung von Bühnenbild und Kostümen. Die Gestaltung des Titelhelden ist zeittypisch: Samson erscheint in Raffs eigenhändig verfasstem Libretto wie Wagners Rienzi oder Raoul de Nangis aus Meyerbeers Les Huguenots als Spielball des Schicksals, nicht als dessen Schmied. Zwischen den einzelnen Akten vergeht einige Zeit, so dass die Anlage des Werks Züge eines Stationendramas trägt, zumal Raff mehrfach an die biblische Passionsgeschichte anspielt.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/ Foto Candy Welz

Wie in der Grand Opéra üblich (auch Wagner geht im Lohengrin keine anderen Wege), kombiniert Raff eindrückliche Massenszenen und eine intime Privathandlung, die an den widrigen Umständen letzten Endes scheitert und zum Untergang der beiden Hauptprotagonisten führt. Der dramatischen Anlage des Werks entsprechend stehen sich in der Partitur grossbesetzte Szenen (sowohl der erste Akt mit dem eingängigen Bittgesang der Philister im Zentrum oder der finale Akt mit dem umfangreichen Ballett, das ebenfalls auf die Grand Opéra verweist, sind gross angelegte Massenszenen) und psychologisch subtil gestaltete Solonummern und Duette gegenüber. In Bezug auf die Dramaturgie folgt Raff Wagners Forderung zur Auflösung von Einzelnummern in ein größeres Gefüge, ohne jedoch selbst die Unterschiede zwischen Rezitativ und Arie zu nivellieren. Die arienartigen Gebilde sind zumeist kurz, verzichten auf viel Textwiederholung und bieten wenig Gelegenheit zur Demonstration von vokaler Virtuosität – obwohl die Partitur hohe Ansprüche an die Interpretierenden stellt. Wäh-rend sich die beiden Soloszenen von Abimelech (2. Akt) und Samson (3. Akt) an der traditionellen, aus zwei kontrastierenden Teilen bestehenden Scena orientieren, lösen sich die Duette in kleingliedrigere Einzelteile auf. In dieser Hinsicht ragt das Duett des 4. Akts hervor, der Kerkerszene mit der Wiederbegegnung von Samson und Delilah, in der die Liebenden im-mer wieder neue Affekte durchleben. Raffs Tonsprache verbleibt trotz immer wieder kühnen Modulationen, chromatischen Einfärbungen und Ausflügen in ferne tonartliche Regionen weitgehend diatonisch. Er gliedert die Vertonung seiner Verse zudem weitgehend in jene quadratische syntaktische Taktgruppen, die Wagner in seinen Musikdramen auf der Suche nach der «endlosen Melodie» immer mehr aufsprengt. Dies hängt nicht zuletzt mit dem auf traditionelle Weise gereimten Libretto zusammen: Raff schätzte Wagners Dichtung des Lohengrin, verwarf aber dessen vor allem in Oper und Drama angebahnte Emanzipierung des Stabreims, der den Ring des Nibelungen prägt.

Zu Raffs „Samson“: Franz Liszt am Klavier in Weimar/ Postkarte/ Weimar-Lese

Raff nutzt die Möglichkeiten des Komponierens für Orchester auf der Höhe der Zeit: Mehrere Leitmotive setzt er auf subtile Art und Weise ein, jedoch nicht annähernd in dem Ausmaß wie Wagner im Ring des Nibelungen: (Samson-Herausgeber Volker Tosta schreibt dazu: Raff verwendet das gleiche Orchester wie Wagner im „Lohengrin“, also die Kräfte, die er am Hoftheater Weimar erwarten konnte. Er verwendet damit im „Samson“ die größte Orchesterbesetzung aller seiner Werke. Mehr noch als Wagner setzt Raff aber auf ein kammermusikalisches Klangbild mit zahlreichen Instrumentalsoli. Ein volles Orchestertutti und entsprechende Lärmentfaltung ist äußerst selten.) Während das Samson-Motiv, das vielleicht nicht zufällig dem «Siegfried/Schwert»-Motiv gleicht, die Präsenz des Helden sogar noch dann andeuten kann, wenn sich dieser gar nicht auf der Bühne befindet, wird der zweite Akt durch ein ahnungsvolles Motiv geprägt, das mit Abimelechs Intrige verknüpft ist – in der Verwendung nicht unähnlich wie das «Frageverbot»-Motiv aus Lohengrin. Ausgedehnte instrumentale Passagen – zu einem Vorspiel existiert bloß eine Skizze – verwendet Raff in erster Linie, um Szenerien zu charakterisieren, so das mit «Ländliches» überschriebene pastorale Vorspiel zu dritten Akt oder das die Kerkerszene einleitende düstere Fugato des vierten Akts. Ersteres er-scheint im vierten Akt als Erinnerungsmotiv. Steht die Instrumentalmusik der ersten vier Akte weitgehend im Dienst des Dramas, so zeigt sich Raff im die Handlung retardierenden Ballett auch als geschickter Komponist von geschlossenen Marsch- und Tanzformen. In den meisten Szenen dient das Orchester zur traditionellen Begleitung oder der Charakterisierung der Stimmung, doch in Samsons Arie des dritten Akts erweist es sich besonders deutlich als «wissendes Orchester», das durch Molleintrübungen auf Samsons Selbsttäuschung hinweist und dessen Aussagen unterminiert. Da Raff schon als feinsinniger Instrumentator gelobt wurde, ehe er überhaupt die Gelegenheit hatte, eigene Orchesterwerke zu hören, so überrascht es nicht, dass auch Samson zahlreiche faszinierende Einfälle enthält.

Zu Raffs „Samson“: Wagners Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld/ hier mit Ehefrau Malwina als Isolde auf einem Foto von Albert, sollte die Titelpartie singen/ Wikipedia

Zwar zeigten sich so eminente Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Hans von Bülow und, der erste Sänger von Wagners Tristan, von dem Stück begeistert. Zu einer Aufführung kam es bis heute jedoch nicht. Scheiterte eine Produktion in Darmstadt an «Delilahmangel», so lag es in Weimar zunächst an Engpässen in der Spielplangestaltung. Wegen der sabotierten Aufführung der von Liszt protegierten Oper Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius legte dieser sein Amt als Kapellmeister im Dezember 1858 nieder und begrub dadurch die Hoffnung, den Samson in Weimar zur Aufführung zu bringen, auf längere Zeit. In den frühen 1860er Jahren versprach Raff seinen Freunden Hans von Bülow und Lud-wig Schnorr von Carolsfeld, das Werk wieder in Angriff zu nehmen. Nach Schnorrs unerwartetem Tod im Alter von bloß 29 Jahren gab Raff das Werk 1865 erneut auf. Albert Schäfer, der im Jahre 1888 das erste Verzeichnis der Werke Raffs herausgab, berichtet jedoch, dass der Komponist in seinem Todesjahr noch mehrfach davon gesprochen habe, den Samson zu überarbeiten, um ihn endlich aufgeführt zu sehen. Nach Raffs Tod geriet das Werk, das so früh wie kaum ein zweites auf das im Entstehen begriffene Musikdrama Wagners reagierte, weitgehend in Vergessenheit (…). Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, gab uns 2022 seinen Text anlässlich der Uraufführung der Oper am Nationaltheater Weimar. Mit herzlichem Dank an den Autor.

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Und der Herausgeber der musikalischen Edition des Samson, Volker Tosta, schreibt dazu: Es kommt fast einem Wunder gleich, wenn ein Herausgeber/Verleger es einmal schafft, ein Theater für ein vergessenes Werk zu begeistern. Normalerweise ist man dort gerne autark, auch wenn es darum geht Randrepertoire zu erkunden. Im Falle des Musikdramas in fünf Aufzügen Samson von Joachim Raff (1822-1882) mag geholfen haben, dass der Komponist in diesem Jahr 200 Jahre alt wurde, aber der Enthusiasmus, mit dem die Verantwortlichen des Deutschen Nationaltheaters Weimar den schon 2019 zum ersten Mal herausgegebenen Klavierauszug des Stücks begrüßten, war doch sehr bemerkenswert.

Joachim Raffs „Samson“ in Weimar 2022/ Szene/Foto Candy Welz

Die hohe Meinung von dem Werk, die sich jetzt bei den Proben unter den Beteiligten noch gesteigert hat, lässt die Überzeugung wachsen, dass sich der Funke bei der Premiere am 11. September 2022 auch auf das Publikum in Weimar überträgt. Es ist vielleicht DIE Ausgrabung der vergangenen Jahre. Schon Hans von Bülow, enger Freund Joachim Raffs, schrieb diesem: „Lass den ‚Samson‘ nicht liegen! Dass der einschlägt, ist mir sicher.“ Aber Raff ließ den 1851 begonnen und 1857 fertiggestellten „Samson“ tatsächlich liegen. Da halfen auch die flehentlichen Bitten Ludwig Schnorr von Carolsfeld (dem ersten Tristan) nichts, der das Werk in Dresden herausbringen wollte. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Vermutlich war Raff, der im Parteienstreit zwischen Neudeutschen und Traditionalisten eine neutrale Position einnehmen wollte, dieses Werk doch zu nahe an Wagner, zu modern geraten.

Volker Tosta, Herausgeber der Edition Nordstern/ Link

Das DNT schreibt im Flyer zu Produktion: „Die Musik Raffs erinnert an Wagner, ist jedoch kühner in der Harmonik und klassizistischer in ihrer Durchlässigkeit.“ Man kann noch hinzufügen, dass sie kontrapunktischer ist und die traditionellen Formen immer wieder durchscheinen lässt. Raff konzipierte das Werk, zu dem er auch das Libretto selbst verfasste, als Musik gewordene Manifestation seiner umfangreichen Schrift „Die Wagnerfrage“, mit der er 1856 ordentlich Wirbel im Kreise der Neudeutschen entfachte. Die 1850 erfolgte Premiere des „Lohengrin“, bei er selbst tatkräftig Liszt assistierte, waren Raff Anlass zu Lob aber auch Tadel an Wagners Werk. So erscheint der „Samson“ als Melange zwischen deutschem Musikdrama und französischer grand opéra. Dabei ist das reichbesetzte Orchester oft kammermusikalisch reduziert und gibt der vokalen Linie ungeschmälerte Präsenz. Bülow schreibt: „…das (dramatisch)-Gesangliche hat mich fast durchgängig im höchsten Grade überrascht. Reiche, schöne – ‚blühende‘ – Melodik – ungeheuer sangbar – ungeheuer dankbar!“

Zu Raffs „Samson“: Der Dirigent Hans von Bülow/ Wikipedia

Obwohl Raffs Verhältnis zu Liszt durch die Nachwirkungen der „Wagnerfrage“ getrübt war, bemühte sich dieser um eine Uraufführung des „Samson“ in Weimar, verlor dort aber bald seine Stellung und konnte das Projekt nicht weiter verfolgen. Erst 1870 gab es wieder die Premiere einer Raff Oper in Weimar. Das war aber dann die komische Oper „Dame Kobold“, mit der Raff allen neudeutschen Einflüssen abschwor und seine Ambitionen für das ernste Musikdrama für immer einstellte. Es sollten noch drei weitere Opern folgen, alle von heiterem oder lyrischem Charakter. Ausgerechnet in Weimar erfolgte dann 1877 die Premiere eines Konkurrenzwerks über den gleichen Stoff: Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Die Riege der handelnden Personen in beiden Opern ist durch die gemeinsame Vorlage (AT: Buch der Richter) natürlich ähnlich, aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Motivation ist deutlich verschieden. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Raff Religion und Metaphysik keine Rolle spielen. Alles ist menschlich, politisch und diesseitig. Auch in seiner tiefsten Agonie kommt Raffs Samson der Ausruf „Gott“ nicht über die Lippen. Frappant ist auch die Parallele zwischen dem großen Liebesduett zwischen Samson und Delilah  im dritten Akt und der dramaturgisch ähnlichen gebauten Szene in Wagners „Tristan und Isolde“, die beide durch Eindringlinge von außen jäh beendet werden. Mit Genreszenen hält sich Raff in den ersten vier Aufzügen zurück, um dann aber im fünften Aufzug ein opulentes Fest der Philister mit großem Ballet zu zeigen. Auch hier gibt es Orientalismen, aber nicht so auffällig wie bei Saint-Saëns, der den Vorteil hatte, derartige Musik selbst gehört zu haben. Volker Tosta/ Nordstern

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Die Autoren: Severin Kolb (*1988), ist M. A., Studium der Musikwissenschaft, Religionswissenschaft und Hermeneutik an der Universität Zürich (Abschluss 2016), wo er nach einer Masterarbeit über Raffs Sinfonik über das Verhältnis von Raff zu Richard Wagner dissertiert. Seit 2016 ist er im Vorstand der Joachim-Raff-Gesellschaft und wirkt als wissenschaftlicher Leiter des Joachim-Raff-Archivs. (Quelle arbido)

Der Musikforscherr Volker Tosta von der Edition Nordstern ist der Herausgeber vieler Aufführungspartituren vergessener Opern, so zuletzt der von Meyerbeers Feldlager in Schlesien an der Oper Bonn und so auch des Samson von Raff nun am Nationaltheater Weimar im September 2020, zu dem wir dann eine längere Präsentation planen und die Aufführung auch besprechen werden. Das Vorspiel zum 3. Akt ist in einer Aufnahme unter Roland Kluttig auf youtube zu hören.  G. H.

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Abbildung oben: Samson et Dalilah von José Echenagusia Errazquin/Ausschnit.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

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Jung und alt

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Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts etwas miteinander zu tun haben? Ja, meinen die Urheber der CD Debussy & Strauss und finden es darin, dass beide Komponisten für ihnen nahe oder sehr nahe stehende Sängerinnen komponiert haben. Das wäre für Debussy seine allerdings anderweitig verheiratete Geliebte Mary Garden, später seine erste Melisande, und für Strauss seine Gattin Pauline, die allerdings Jahrzehnte vor dem Entstehen der Vier letzten Lieder sich als Sängerin, so als erste Freihild im Guntram produzierte. Müssen die einzelnen Programmpunkte eines Konzerts in einem Kontrast zueinander stehen? Auch ja, meinen seine Verursacher und sehen diesen darin, dass Debussy beim Entstehen von Ariettes oubliées erst 24, Strauss hingegen beim Entstehen seines Mini-Zyklus, der nicht als solcher gedacht war, bereits 84, war allerdings zu dieser Zeit und auch sonst nicht gezwungen, ins Exil in die Schweiz zu gehen, wie das Booklet behauptet.

Die Texte zu Debussys Chansons wurden auf Gedichte des Symbolisten Paul Verlaine vertont, ursprünglich mit Klavierbegleitung, die Begleitung durch Orchester komponierte Brett Dean auf Anregung von Simon Rattle und Magdalena Kožena und orientierte sich dabei zwischen La Mer und L’Après-midi d’un faune. Für Strauss weist das Booklet interessanterweise darauf hin, dass aus Eichendorffs letzter Zeile „Ist das etwa der Tod“ ein „Ist dies etwa der Tod“ und damit eine größere Nähe zum nahenden Lebensende wurde.

Die Sängerin der beiden Zyklen ist Siobhan Stagg, eine australische Sopranistin, die dem Berliner Publikum durch jahrelange Präsenz an der Deutschen Oper Berlin bestens bekannt ist. Hier konnte man sie als leichten, dann lyrischen Sopran zwischen Sophie und Pamina erleben, inzwischen hat sie eine internationale Karriere gemacht und kümmert sich auch bereits um die nachfolgende Sängergeneration mit den Siobhan Stagg Encouragement Awards. Der Dirigent der Aufnahme ist Jaime Martin, Chefdirigent des Melbourne Symphony Orchestra, das er auch für dieses Konzert leitet.

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Strauss hatte sich für die Uraufführung, die er selbst nicht mehr erlebte, Kirsten Flagstad gewünscht, die auch als Erste, begleitet von Wilhelm Furtwängler, den Zyklus sang. Frühe Aufnahmen gibt es auch von Sena Jurinac und Fritz Busch, Lisa della Casa und Kurt Böhm sowie Elisabeth Schwarzkopf und Herbert von Karajan. Das sind sehr unterschiedliche Stimmtypen für eine Musik, für die man sich die lockere Stimmführung, den natürlichen, duftigen Klang einer Sophie und die Wärme und den melancholischen Touch einer Marschallin wünscht, dazu noch wegen der hohen Qualität der Texte eine perfekte Diktion. Die von Siobhan Stagg ist etwas verwaschen, da vertraut die Sängerin wohl darauf, dass das australische Publikum sowieso auf eine Übersetzung angewiesen ist. Der Sopran nimmt allerdings sehr schön das Farbenspiel des Orchesters auf, die Stimme  schraubt sich mühelos in die höchsten Höhen, dem Klangrausch die Textverständlichkeit opfernd. Ein sehr sanfter Tod wird mit einem schön verhallenden Schluss des letzten Liedes verheißen. Die leichte Veränderung des Eichendorfftextes von „ist das“ in „ist dies vielleicht der Tod“ wird damit eher zurückgenommen als bestätigt.

Der Debussy-Zyklus beginnt mit einer „extase langoureuse“ in schillernder Bewegtheit, allerdings auch wieder verhuschter Diktion, der Sopran korrespondiert in Il pleur dans mon cœur schön mit den Orchesterfarben und hat für L’ombre des arbres eine reiche Agogik. Leichtigkeit und Geschmeidigkeit zeichnen den instrumental geführten Sopran in Chevaux de Bois aus, Eleganz und schillernde Farben hat sie für Green und kraftvoll aufblühen kann sie für Spleen– insgesamt ist sie bei der Interpretation des jungen Debussy noch weit mehr in ihrem Element als bei der des über achtzigjährigen Strauss., während das Orchester beiden Komponisten in seiner begleitenden Funktion gerecht wird (SACD MSO 001)I. Ingrid Wanja  

Eric Tappy

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Mit großem Bedauern und persönlicher Betroffenheit las ich vom Tode des von mir außerordentlich bewunderten Schweizer Tenors Eric Tappy. Kaum eine andere männliche Stimme hat mich so erreicht wie die seine, zumal auch seine elegante, virile Erscheinung seine Wirkung auf der Bühne und im Konzert ergänzte. Ich erinnere mich sehr lebhaft an seinen Monteverdi-Nerone im bezaubernden Holztheater des schweizerischen Jura, an seine Auftritte in Salzburg und Zürich (die dankenswerter Weise als DVD dokumentiert sind). Sein Pelléas neben der erotischen Rachel Yakar unter Armin Jordan bei Erato bleibt für mich der beste überhaupt (und zudem einer der wenigen Tenöre in dieser Partie).  An seine vielen Aufnahmen unter Corboz und Harnoncourt et.al.  braucht man nicht zu erinnern. Seine Lieder-Einspielungen bleiben beispielhaft (Claves et al.), aber seine Wirkung war eben auch eine optische von unerreichter Wirkung. Was für eine Persönlichkeit und Präsenz. Er war für mich eine feste Größe meines eigenen Musiklebens. Daher die Betroffenheit. Nachstehend eine Würdigung durch die englische Wikipedia mit Dank. Geerd Heinsen

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Eric Tappy und Rachel Yakar in Monteverdis „Poppea“ in Zürich/Film/Wikipedia

Éric Tappy (19. Mai 1931 – 11. Juni 2024) war ein Schweizer Operntenor. Er trat international auf, sowohl in der Oper, bekannt als Mozart-Tenor, als auch im Konzert, insbesondere als Evangelist in Bachs Passionen. Ab 1981 konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit. Von 1962 bis 1974 war Tappy Mitglied des Grand Théâtre de Genève, wo sein breites Repertoire große Mozart-Rollen und Uraufführungen wie La Mère coupable von Darius Milhaud umfasste. Er gilt als legendär, weil er Monteverdis Orfeo, den Tamino in Mozarts Die Zauberflöte und Debussys Pelléas mit einer Stimme von beispielhafter Klarheit und Diktion gesungen hat.

Tappy wurde am 19. Mai 1931 in Lausanne als Sohn des Metallarbeiters Constant Albert Tappy und seiner Frau Cécile Emile, geborene Apothéloz, geboren. Er erhielt früh musikalischen Unterricht in Geige und Chorgesang von seinem Cousin André Charlet.

Nachdem Tappy 1951 Lehrer geworden war, studierte er Gesang am Conservatoire de Musique de Genève bei Fernando Carpi. Weitere Studien absolvierte er am Salzburger Mozarteum bei Ernst Reichert,[2] am Conservatorium van Hilversum bei Eva Liebenberg,[7] und in Paris bei Nadia Boulanger.[2] Die Konzerttätigkeit begann 1956, und verstärkte sich, als er 1958 mit einem Preis ausgezeichnet wurde, mit Konzerten in der Schweiz und im Ausland; 1959 gab er deshalb seinen Lehrauftrag auf.[3] 1959 sang er in Straßburg erstmals die Rolle des Evangelisten in Bachs Matthäuspassion. Im Dezember 1959 sang er die Tenorpartie in Frank Martins Oratorium Mystère de la Nativité in Genf.

Als das Grand Théâtre de Genève 1962 wiedereröffnet wurde, trat Tappy als Graf de Lerme in Verdis Don Carlos auf. Er trat dem Ensemble bei und sang dort zwölf Jahre lang ein breites Repertoire, darunter große Mozart-Partien und Rollen in neuen Werken wie Martins Monsieur de Pourceaugnac und La Tempête; er wirkte bei der Uraufführung von Darius Milhauds La Mère coupable mit.

Er gastierte international in Rameaus Zoroastre in Bordeaux und in Paris, in der Titelrolle von Monteverdis L’Orfeo am Schlosstheater Drottningholm und als Nerone in L’incoronazione di Poppea an der Staatsoper Hannover. Im August 1970 beeindruckte er als Tamino in Mozarts Die Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen, gefolgt von derselben Rolle und der Titelrolle in Mozarts La clemenza di Tito beim Festival von Aix-en-Provence.

Eric Tappy als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“/Agence Nouvelle/HB

Nachdem er 1979 als Nerone in L’incoronazione di Poppea am Opernhaus Zürich unter der Regie von Jean-Pierre Ponnelle und unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt an der Seite von Rachel Yakar in der Titelrolle aufgetreten war, wurde die Produktion auch beim Edinbourg Festival und an der Mailänder Scala gezeigt und gefilmt.[ Tappy trat erstmals 1974 am Royal Opera House in London in Mozarts La clemenza di Tito auf.

1981 zog sich Tappy von der Bühne zurück; seine letzten Auftritte auf der Bühne waren Mozarts Lucio Silla in Zürich und Nerone an der San Francisco Opera.

Nach seiner Pensionierung arbeitete Tappy als Regisseur und konzentrierte sich auf das Unterrichten. Er gründete ein Opernstudio, das Atelier d’interprétation vocale et dramatique, an der Opéra National de Lyon und leitete es. Von 1984 bis 1999 lehrte er am Conservatoire de Musique de Genève. Er starb am 11. Juni 2024 im Alter von 93 Jahren.

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Aufnahmen: Tappy nahm 1968 L’Orfeo auf. Zweimal nahm er Debussys Pelléas et Mélisande auf, 1969 eine Live-Aufnahme in Genf unter der Leitung von Jean-Marie Auberson mit Erna Spoorenberg, Gérard Souzay und dem Orchestre de la Suisse Romande und 1979 unter der Leitung von Armin Jordan mit Yakar, Philippe Huttenlocher und Chœurs et Orchestre National de L’Opéra Monte Carlo. Ein Rezensent bemerkte seine „feine, schlanke Stimme“, viriler und durchsetzungsfähiger als die mancher Kollegen, „kraftvoll in seinen Liebesbekundungen“, aber „geneigt, hart im Ton zu werden, wenn man ihn drängt“. [9] Tappy sang die Rolle des Tamino in einer Aufnahme von Die Zauberflöte, die 1980 bei den Salzburger Festspielen entstand, neben Ileana Cotrubaș als Pamina und Zdzisława Donat als Königin der Nacht, dirigiert von James Levine.  Tappy war auch in zwei Filmen von Ponnelle zu sehen: L’incoronazione di Poppea (1979)[1] und La clemenza di Tito (1980), neben Tatiana Troyanos und Carol Neblett. Er nahm das Oratorium L’Enfance du Christ von Berlioz unter der Leitung von Colin Davis und Clairières dans le ciel, einen Liederzyklus von Lili Boulanger, auf[1].

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Für seine Darstellung von Monteverdis Orfeo wurde Tappy 1966 mit der Goldmedaille des Drottningholm-Theaters ausgezeichnet. Zwei Jahre später erhielt er den Edison Award für seine Aufnahme derselben Rolle. 1994 wurde er Offizier des Ordre des Arts et des Lettres. 2007 wurde er mit dem Prix culturel de la Fondation Leenaards und der Médaille d’or von Lausanne ausgezeichnet./ Wikipedia

WONDER WOMEN

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Forschungen der Musik der Spätrenaissance im Übergang zum Frühbarock haben ergeben, dass es eine ganze Reihe ansprechender Werke von Komponistinnen gibt, die entsprechend den gesellschaftlichen Gegebenheiten eher im Stillen gewirkt haben. Stücke dieser Frauen hat.

Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata in den Mittelpunkt ihrer neuesten CD mit dem Titel WONDER WOMENMusic by and about women gestellt. Im sehr instruktiven Beiheft weist die kompetente Lautenistin darauf hin, dass es bereits im 17. Jahrhundert „wundervolle“ Komponistinnen“ gegeben habe, „von denen Lieder hier interpretiert werden.“ Außerdem habe man sich Inspiration aus der traditionellen Musik Mexikos und Italiens geholt; so erklingen Lieder über „außergewöhnliche, starke, mutige, aber auch traurige Frauen“.  So hört man Lieder der venezianischen Sängerin und Komponistin Barbara Strozzi (1619-1677), von Francesca Caccini (1587-1641) aus der florentinischen Musikerfamilie sowie je ein Lied von Antonia Bembo (1640-1720) aus Venedig, Isabella Leonarda (1620-1704), einer Nonne aus Norditalien, und Francesca Campana (1615-1665). Zusätzlich enthält die CD mehrere, von Christina Pluhar arrangierte Traditionals aus Mexiko und Italien, die sich dem Stil der Alten Musik gut anpassen. Im Übrigen sind drei Instrumentalstücke von männlichen Komponisten dabei, und zwar vom neapolitanischen Lautenisten Andrea Falconieri (1586-1678) und Maurizio Cazzati (1616-1678), der hauptsächlich in Bologna als Kirchenmusiker tätig war. Bei den rein instrumentalen Stücken, aber natürlich auch bei der Begleitung in den vokalen Werke fällt besonders positiv auf, wie stilsicher und gut durchhörbar das Instrumentalensemble L’Arpeggiata unter seiner Gründerin musiziert. Das schon länger mit Christina Pluhar zusammen arbeitende Gesangsensemble ist eine Klasse für sich: Alle wissen ihre Stimmen dem Stil der Spätrenaissance entsprechend schlank zu führen, was die Verständlichkeit der Lieder erheblich erleichtert, obwohl der Abdruck auch in deutscher Sprache hilfreich gewesen wäre. Die belgische Sängerin Céline Scheen verfügt über einen volltimbrierten Sopran mit großer Ausdruckspalette, die sie überzeugend einzusetzen weiß. Ein dunkel getönter Mezzosopran ist der Schwedin mit chilenischen Wurzeln Luciana Mancini eigen, der bestens zu mexikanischen Traditionals wie La Bruja (Die Zauberin) oder den Vorwürfen gegenüber Alcina (Cosi, perfida Alcina von Francesca Caccini) passt. Die andere Mezzosopranistin der Aufnahme ist Benedetta Mazzucato, deren helle Stimme ebenfalls über unterschiedliche, geschickt eingesetzte Farben verfügt. Ausgesprochen feminin klingt der Altus von Vincenzo Capezzato, wodurch das italienische Traditional La Canzone di Cecilia angenehm authentisch wirkt. Insgesamt ist die CD allen zu empfehlen, nicht nur den ausgemachten Liebhabern dieser Alten Musik (ERATO 5054197959163).

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Unter dem Titel Mélodies d’ailleurs ist bei Carpe Diem Records eine CD erschienen, die spätromantische Lieder enthält, die die schweizerischen Künstlerinnen Viviane Hasler (Sopran) und Maren Gamper (Klavier) präsentieren. Im Kontrast dazu enthält die CD den Zyklus Ophelia sings von Wolfgang Rihm. Bereits in den sechs fast durchgängig melancholischen Ariettes oubliées nach Gedichten von Paul Verlaine von Claude Debussy zeigen sich die Vorzüge der jungen Sopranistin, die mit den teilweise extremen Intervallsprüngen keine Probleme hat. Mit den lautmalerischen Effekten im Klavier (Regen und Pferde-Karussell auf dem Jahrmarkt) werden die jeweiligen Stimmungen überzeugend nachempfunden. Das setzt sich in fünf gegenüber Debussy etwas schlichteren Liedern von Ernest Chausson fort, wenn hier unterschiedliche Gemütslagen ebenfalls mit perfektem Legato und damit ausgesprochen weicher Stimmführung wiedergegeben werden. Dazwischen erklingt der erste der drei Gesänge Ophelias, deren zum Wahnsinn führende Zerrissenheit mit hohen technischen Anforderungen an die Sängerin darzustellen ist. Wie diese im von ihr verfassten, sehr instruktiven Beiheft schreibt, erfordern die drei eingestreuten Lieder „schnelle Wechsel in Lagen, Dynamik und Gestus und umfassen einen weiten Ambitus“. Trotz dieser enormen Schwierigkeiten, zu denen auch gesprochene Einwürfe im Klavierpart gehören, gelingen den kompetenten Musikerinnen eindrucksvolle Seelenbeschreibungen. Mit sprudelnder Leichtigkeit und auch zurückhaltender Verträumtheit werden vier feine Miniaturen von Cécile Chaminade gestaltet. Den Abschluss der gut gelungenen CD bilden fünf Lieder von Raynaldo Hahn, die wieder mit wie selbstverständlicher Intonationsreinheit und leichter Stimmführung in exzellentem, partnerschaftlichem Zusammenspiel musiziert werden (CARPE DIEM RECORDS 11792009).

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Schwarze Erde ist eine neue CD übertitelt, die Solo MUSICA herausgebracht hat. Der Titel weist auf das erste der Acht ungarischen Volkslieder von Béla Bartók hin, der diese  sozusagen zu Kunstliedern erhoben hat. Ähnlich ist Zoltán Kodály vorgegangen, indem er in den Verspäteten Liedern op. 6 ebenfalls auf ungarische Volksmusik zurückgegriffen hat. Die aus einer deutsch-ungarischen Familie stammende Sängerin Corinna Scheurle und die Pianistin Klara Hornig interpretieren diese Lieder sowie auch die frühen Lieder op. 2 von Alban Berg, die fast alle tiefe Traurigkeit atmen. Zusätzlich enthält die CD als kompositorisch krassen Gegensatz zu den Anfang des 20. Jahrhunderts komponierten Werken die romantischen Fünf Lieder op. 40 von Robert Schumann, die allerdings thematisch passen, indem auch sie um unglückliche Liebe und die Nähe von Liebe und Tod kreisen. Bestechend an den ausgefeilten Deutungen der Lieder ist die klare, prägnante Tongebung der zur Zeit im Ensemble des Staatstheaters Nürnberg tätigen Mezzosopranistin, die ihre charakteristisch timbrierte Stimme abgerundet durch alle Lagen zu führen weiß. Allgemein ist bei der Liedgestaltung die Textverständlichkeit immens wichtig, die wohl wegen ihrer Abstammung auch in den ungarischen Liedern geradezu perfekt ist. Außerdem setzt die Sängerin den Farbenreichtum ihres Mezzos dem jeweiligen Inhalt der melancholischen Lieder angepasst gekonnt ein. Schließlich ist ihr die Pianistin, die den anspruchsvollen Klavierpart sicher beherrscht, jeweils eine gleichrangige Partnerin, so dass jeweils ungemein eindrucksvolle Stimmungsbilder entstanden sind (Solo MUSICA SM435). Gerhard Eckels

On the Golden Road to Samarkand

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Kaum jemand hierzulande dürfte noch Beechams Aufnahme von Intermezzo and Serenade von Frederick Delius Schauspielmusik zu Hassan kennen. Wie denn der in Bradford geborene und seit der Jahrhundertwende bei Fontainebleau lebende Delius (1862-1934) trotz des Einsatzes von Thomas Beecham bereits zu Lebzeiten ein wenig in Vergessenheit geriet. Mit der Schauspielmusik zu Hassan rief sich Delius als Komponist nochmals in Erinnerung, wobei er offenbar nicht die erste Wahl war. Auf jeden Fall gelang ihm damit einer der größten Erfolge seiner Laufbahn, zugleich eines der letzten Werke, bevor der Kranke auf die Hilfe und Unterstützung des jungen Komponisten Eric Fenby angewiesen war, der Delius bis zu seinem Tod betreute und seine Werke notierte. Den Auftrag erhielt Delius durch den Schauspieler und Regisseur Basil Dean, der ihn in Grez-sur-Loing aufsuchte und überredete die Musik zu einem Stück des berühmten James Elroy Flecker (1884-1915) zu schreiben, das dann 1923 im Londoner His Majesty’s Theatre eine exorbitant aufwendige und überladene Aufführung erlebte: Das Versdrama The Story of Hassan of Baghdad and How He Came to Make the Golden Journey to Samarkand. Delius zierte sich ein wenig. Doch Delius‘ Frau schrieb bald danach an Dean: „Ich werde nie vergessen, wie Sie herkamen und uns das ganze Drama vorlasen. Es war so aufregend zuzusehen, wie Delius immer interessierter wurde“.

Die Musik war rasch geschrieben, wobei Delius und später dessen Freund, der australische Komponist Percy Grainger, weitere Musik für erforderliche Szenenwechsel beisteuerten. Die Aufführung in Deutschland (Darmstadt, Juni 1923), wo sich Delius aufgrund der Uraufführung dreier seiner Opern einer gewissen Beliebtheit sicher sein konnte, war ein Reinfall. Die Londoner Aufführung ein Vierteljahr später am 20. September 1923 war indes ein großer Erfolg, an dem u.a. der Ballets Russes-Choreograph Michel Fokine und der Dirigent Eugene Goosens Anteil hatten. Die reine Bühnenmusik hängt an einem seidenen Faden. Ohne die Geschichte, die weitgehend den englischen Übersetzungen von Tausendundeine Nacht folgen, bleibt sie blutleer.

Einer der Vorzüge der neuen 80minütigen, im Februar 2023 entstandenen Chandos-Aufnahme (CHAN 20296/ das Label nun neu im Naxos-Verrtieb) besteht darin, dass zu den Britten Sinfonia Voices und der Britten Sinfonia quasi als gleichberechtigter Partner der Rundfunkmann und durch vielfache Beteiligung als Sprecher bei klassischen Konzerten und Projekten hervorgetretene Zeb Soanes hinzukommt. Soanes gelingt es die von Meurig Bowen eingerichteten Texte und die rund 20 Minuten verbliebene Sprechzeit derart lebhaft zu füllen, dass man sich mit den kurzen Hinweisen des Narrators mühelos den Fünfakter imaginieren kann. Jamie Phillips überzeugt durch dramatische Gestaltungskraft und sublime Farben vor allem im fünften Akt, in dessen Schlussszene sich der weltkluge Hassan einer Pilgerkarawane anschließt, die durch die Wüste „zu den großen Bildungs- und Religionszentren von Buchara und Samarkand unterwegs ist“. Rolf Fath

 

In Offenbachs Spuren

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Nur Mascagnis einziger Ausflug zur Operette ist um einen Buchstaben kürzer: Si ist der Name einer Schauspielerin der Folies Bergère, die nicht „nein“ sagen kann oder will. In Maurice Yvains Opérette Yes! handelt es sich um das bedeutungsvolle „Ja“, das dem schönsten Tag im Leben eines Paares das Glanzlicht aufsetzt. Bei Totte und Maxime ist es jedoch ein nüchterner Akt, mit dem man Maxime Gavards Vater, dem neureichen „Nudel-König“ („Il n’est qu’un roi sur terre“), eins auswischen möchte. Der alter Gavard besteht darauf, dass sein Sohn zur Festigung geschäftlicher Beziehungen eine exotische Schönheit aus Valparaiso heiraten solle. Der junge Maxime lebt vom Geld seines einfältigen Vaters und unterhält eine Beziehung zu Lucette de Saint-Eglefin, deren Gatte von dem jungen Charmeur ebenso angetan ist wie Madame. Gemeinsam verfallen sie auf den Plan einer Heirat in England, wo man ohne größere Formalitäten sein „Yes“ vor dem Standesamt sagen und bald darauf lösen könne. Nach vielen frivolen Verwicklungen bleiben Maxime und seine Manikürin Totte zusammen, der Nudel-König erkennt die Liebe der beiden und heiratet selbst die reiche Geschäftsfrau aus Südamerika.

Es ist ein Stoff, aus dem noch in den 1920er Jahren Operetten gezaubert wurden. Auch in Paris, wo Yes! nach dem Bestseller Totte et sa chance von Pierre Solanine und René Pujol am 28. Januar 1928 über die Bühne des kleinen Théâtre des Capucines ging. Die schmale Bühne wurde durch kein Orchesterchen zusätzlich verkleinert: Yvain begnügte sich mit zwei Klavieren, wobei die Pianisten Georges Raffit und Léo Kartun zu den Stars der umjubelten Uraufführung gehörten, und zwei spätere Stars des französischen Kinos, Arletty und Renée Devillers, frühe Erfolge feierte. Einen Monat später wechselte die Show in das Théâtre des Variétés, wo die beiden Klaviere durch ein zehnköpfiges Orchester ergänzt wurde. Im Mai zog Yes! schließlich ins 2000-Pätze-Theatre Apollo, wo zusätzlich zu den neuen Dekorationen und Kostümen das Orchester auf 35 Musiker aufgestockt wurde und Chorus Girls auftraten. Volker Klotz beschreibt in seiner Operetten-Enzyklopädie diesen Schritt, „Yvain, der ironische Gegner musikalischer Verkitschung ergab sich später leider dem Trend zur aufgeblasenen „opérette a grand spetacle“, die den internationalen Verfall der Gattung klangbunt besiegelte“.

Über rund drei Jahrzehnte setzte der 1891 in Paris und 1965 in Suresnes bei Paris gestorbene Yvain mit seiner alerten Handwerkskunst bedeutende Akzente im französischen Unterhaltungstheater, das nur selten ins Ausland vordrang. Vor allem war er, obwohl er noch nach dem Zweiten Weltkrieg tätig blieb, der „prägende Meister der Pariser Operette in den zwanziger Jahren“, eigentlich der Meister der Kammeroperette. Dieser untrügliche Bühneninstinkt, der Sinn für gestisch mitreißende Melodik, treffsicher illuminierte Texte, die bis in die 50er Jahre fast durchgehend von Albert Willemetz stammen, springen den Hörer in dieser glänzenden, im Juni 2022 entstandenen Aufnahme von Alpha-Classics (2 CD Alpha 974, engl.-franz. Beiheft, franz. Libretto) mit Les Frivolités Parisiennes in der Orchesterfassung mit Michael Ertzscheid und Nicolas Royez an den Klavieren sofort an. Das Ensemble hält Spannung und Tempo auf bewundernswerte Weise, ist jazzig und südamerikanisch, leicht und rhythmisch elegant, stets graziös und durchsichtig wie im Sextuor du thé, drall wie in Arlettys „Moi je cherche un emploi“ oder rasant purzelnd wie im Terzett „Dites à mon fils“. Die Stimmen haben Charakter und Gesicht, sind sicherlich nicht in jedem Fall hübsch, aber prägnant und sprechend, wie die unschuldig engstimmige, raffinierte Sandrine Buendia als Totte oder Guillaume Durand mit einem farblos gewöhnlichen Bariton, der schon wieder reizvoll klingt, als Maxime. Jugendliche Stimme mit außerordentlich Projektionskraft. Clément Rochefort gibt den Sprecher mit milder Affektiertheit. Die eineinhalb CDs mit 61 Minuten und 33 Minuten Spielzeit vergehen wie im Flug, hinterlassen den Hörer aber auch etwas ermattet, da die vielen kurzen temporeichen und artistischen Nummern kaum eine Atempause einlegen (13.06.24). Rolf Fath

Enchantement doublé

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Desmarests Circé zum Zweiten: Höchst ungewöhnlich ist die Veröffentlichung von Henry Desmarests Circé bei cpo (555 594-2, 3 CDs), hatte doch das Label Château de VERSAILLES diese Tragédie en musique etwa ein halbes Jahr zuvor herausgebracht (die Rezension s. nachstehend). Eine zweite Aufnahme bei einer solchen Rarität ist ohnehin ein Wagnis. Die Einspielung entstand im August 2022 in Bremen als Koproduktion des Boston Early Music Festival und radiobremen. Wenn sie auch nicht das Siegel der Erstveröffentlichung tragen kann, so doch das der ersten kompletten Aufnahme, ist sie immerhin etwa 45 Minuten länger als die Vorgängerin bei VERSAILLES unter Sébastien d´ Hérin. Auf diesen Seiten wurde sie bereits besprochen, so dass wir jetzt auf eine Inhaltsangabe verzichten können.

Das Boston Early Music Festival Orchestra wird geleitet von Paul O´Dette und Stephen Stubbs, die durch die Wiedereinfügung mehrerer Tänze (Menuet, Gigue, Bourrée, Gavotte, Canarie, Sarabande, Rondeau, Ritournelle, Loure, Passe-pied, Rigaudon) die Balance zwischen orchestralen und vokalen Teilen wiederherstellen. Das Orchester musiziert sehr kultiviert mit eher moderaten Tempi und originellen instrumentalen Effekten. Der Boston Early Music Festival Chorus nimmt seine vielfältigen Aufgaben (besonders im Prologue als Götter und Nymphen) mit hörbarem Einsatz und hoher Gesangskultur wahr.

Die Besetzung wird dominiert von der Mezzosopranistin Lucile Richardot in der Titelpartie. Sie ist eine singende Darstellerin mit sehr persönlich timbrierter, eigenwilliger Stimme und reizt die Emotionen der Figur bis zum Äußersten aus. Besonders reizvoll ist ihre Färbung in der tiefen Lage, welche bis in die Contralto-Dimension reicht und ihrem Vortrag einen sinnlich-androgynen Hauch verleiht. Ihre Szene zu Beginn des 4. Aktes „Sombres Marais du Styx“, von der Windmaschine aufregend untermalt, deklamiert sie furios, was sich mehr und mehr zu wilden Ausbrüchen steigert. Die Stimme nimmt zuweilen einen hysterischen oder heulenden Ton an, der doch stets als Ausdrucksmittel eingesetzt ist. Ihre Interpretation gipfelt im 5. Akt mit einer veristischen Hasstirade („O Rage/ô douleur mortelle!“) und in der ausgedehnten Schluss-Szene („Ah! quelle rigueur extrême“), in der sie bei aller Raserei auch eine tragische Dimension erreicht.

Ihre Gefährtin Astérie gibt Teresa Wakim mit lieblichem Sopran. Sie liebt Polite (Douglas Williams mit resonantem Bassbariton), einer der Griechen, die von Circé in wilde Tiere verwandelt wurden. Beide können im 5. Akt endlich ihr Glück besingen („Enfin le juste Ciel a comblé nos désirs“). Der Bariton Jesse Blumberg ist ein markanter Elphénor, den Circé nicht verzaubert hat, da er ihr die geplante Flucht der Griechen verraten hatte. Da seine Liebe zu Astérie unerfüllt bleibt, scheidet er aus dem Leben. Diese seine Todesszene am Ende des 3. Aktes gestaltet er mit packender Intensität.

Circés Liebe gehört Ulisse (der Tenor Aaron Sheehan mit weicher, ausgewogener Stimme), doch hat sie eine Rivalin in Èolie (Amanda Forsythe mit delikatem Sopran), die am Ende mit dem Helden vereint auf einem Schiff die Insel verlässt („Ne nous quittons jamais“). Gewaltiger Donner begleitet diese Szene und führt das Werk zu einem grandiosen Finale. Bernd Hoppe

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Und das Ganze bei Chateau de Versailles: Der Tod von Lully 1687 öffnete seinen Rivalen endlich die Türen der Pariser Opéra – neben Charpentier auch Henry Desmarest und seinen Werken, darunter die Tragédie en musique Circé. Das Libretto dieser 1694 in Paris uraufgeführter Oper stammt von Louise-Geneviève Gillot de Saintonge, einer Frau also, was höchst ungewöhnlich ist. Aber es gab in dieser Zeit auch eine Komponistin, Elizabeth Jacquet de la Guerre mit ihrer Oper Céphale et Procris, die gleichfalls 1694 ihre Premiere erlebte und vom starken Einfluss französischer Künstlerinnen in dieser Epoche zeugt.Zur Renaissance der französischen Barockoper trägt auch diese Neuveröffentlichung der Circé auf zwei CDs von Chateaux de Versailles bei, die im Januar 2022 in Versailles aufgenommen wurde (CVS085). Die Oper in einem Prologue und fünf Akten sowie Divertissements gemäß der französischen Tradition schildert die schicksalshafte Begegnung von Ulysse mit der Zauberin Circé  Diese ist gleich der Medea eine mythische Figur – eine leidenschaftliche, von Rache erfüllte Frau, die am Ende der Oper spektakulär ihre Insel zerstört, welche in den Fluten versinkt.

Für die vorliegende Einspielung war es ein Glücksfall, die renommierte französische Sopranistin Véronique Gens für die Titelrolle verpflichten zu können. Beim Auftritt im 1. Akt zeigt sie sich in wehmütiger Stimmung über die Freuden und Schmerzen der Liebe („Ah! que l’amour aurait des charmes“) und Gens gibt dieser Szene berührend melancholischen Anstrich. Spätestens im 4. Akt ändert sich der Tonfall, wenn Circé erkennen muss, dass sie Ulysse an ihre Rivalin verloren hat. „Bei „Sombres marais du Styx“ färbt Gens die Stimme dunkel und düster, die Diktion wird kantiger, aggressiver. Ihre großen Szenen am Ende des  letzten Aktes („Ô rage! Ô douleur  mortelle!“/„Ah! quelle rigueur extrème“) verdeutlichen Circés Ausnahmezustand mit einer Deklamation, welche in ihrer Heftigkeit und Wucht ihresgleichen sucht.

Nach dem Prologue, der wie üblich eine Huldigung an den französischen König darstellt, offenbart Circé ihrer Gefährtin Astérie (Caroline Mutel mit lieblichem, doch etwas unausgeglichenem Sopran) Zweifel an der Aufrichtigkeit von Ulysses Zuneigung, da sie von Elphénor (Nicolas Courjal mit resonantem, gelegentlich stark vibrierendem Bariton) vernommen hat, dass dieser die Insel verlassen will. Die Zauberin verwandelt Ulysses Gefährten in Monster und die Insel in einen Garten, in welchem sie ein Fest geben will. Ulysses Bitte, seine Gefährten zu befreien, will Circé als Zeichen ihrer Macht erfüllen. Ihre Rivalin in der Gunst Ulysses ist Éolie (Cécile Achille mit feinem, kultiviertem Sopran), der Ulysse bei einer Begegnung im Wald erneut Liebe schwört („Quand on aime tendrement“), was Elphénor belauscht und Circe verrät. Als Belohnung verspricht ihm die Zauberin die Hand von Astérie. Als diese sich weigert, begeht Elphénor Selbstmord. An seinem Grab will Circé den Namen ihrer Rivalin erfahren, doch wird ihr diese Auskunft von Elphénors Schatten verweigert. Rasend ruft sie die Geschöpfe der Unterwelt herbei und lässt Ulysse von Eumeniden verfolgen. Ihm und seiner Éolie übergibt Mercure eine Blume, welche die Gabe besitzt, Verzauberungen aufzuheben. Das rettet beide vor Circés letztem verzweifeltem Versuch, die Liebenden zu vernichten.

Neben Gens singt ein weiterer angesehener französischer Interpret – der Tenor Mathias Vidal als Ulysse. Er ist ein versierter Stilist im Repertoire des französischen Barock und überzeugt auch hier mit markanter Deklamation,  prononciertem Gesang und starker Emphase.

Das Ensemble Les Nouveaux Caractères leitet Sebastien d’Hérin, der das auf historischen Instrumenten musizierende Orchester 2006 gegründet hatte. Spezialisiert auf seltene Werke des Barock, lebt seine Einspielung von großer musikantischer Frische und künstlerischer Freiheit. Im Prologue zeugen die majestätische Ouverture, das Air pour les Jeux et les Plaisirs sowie Tänze wie Menuet, Gigue, Bourrées und Gavotte vom festlichen Anlass der Aufführung. Am Ende unterstreicht d’Herin mit orchestralem Aufruhr die dramatischen Vorgänge der Handlung mit dem Untergang der Insel. Den Esprit des französischen Barock trifft der Dirigent mit seinem Orchester in bewundernswerter Vollkommenheit (03.06.23). Bernd Hoppe

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.Foto oben: Still aus dem Film „Die Irrfahrten des Odysseus“ mit Kirk Douglas und Silvana Mangano, Italien 1954, Regie Mario Camerini/Die Nacht der lebenden Texte/Wordpress

Starbesetzt aus der Met

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Ist dies eine Virginia Woolf-Oper? Eine Mrs. Dalloway-Oper? Am treffendsten vermutlich eine Oper nach dem Film The Hours. Der wiederum basiert auf dem 1998 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichneten Roman des amerikanischen Roman- und Drehbuchautors Michael Cunningham, der darin das Schicksal dreier Frauen verfolgt, deren Leben in Bezug zu Woolfs Roman Mrs. Dalloway stehen. Also eine Oper nach gleich zwei Romanen. Der Film bot 2002 die Stars Nicole Kidman, Julianne Moore und Meryl Streep auf, die Oper wurde zum Star-Vehikel für Joyce DiDonato, Kelli O’Hara und Renée Fleming, die in der jeweils an einem einzigen Tag über drei Zeitebenen 1923, 1949 und 2001 spielenden Handlung die entsprechenden Rollen bzw. Partien als Virginia Woolf, Laura Brown und Clarissa Vaughan übernehmen. Tatsächlich wurde die Idee von Renée Fleming aufgebracht, als sie mit dem Komponisten Kevin Puts (Pulitzer Prize 2012 für seine erste Oper Silent Night) an einem Lied-Zyklus arbeitete, „She suggested that it would be great to do something that takes place in different time periods all at the same time, like The Hours, and right away I thought it was an amazing idea.“

Bei der Uraufführung am 22. November 2022 kehrte Fleming erstmals nach fünfjähriger Abwesenheit an die Met zurück. An Puts (* 1972) wird keiner mehr im Zusammenhang mit der Oper denken. Was vermutlich ungerecht ist. Puts und Librettist Greg Pierce behielten die Grundstruktur des Films bei, der an einem einzigen Tag vom Schicksal dreier Frauen erzählt: außerhalb von London, in Richmond, beginnt Virginia Woolf 1923 mit einem neuen Roman, den sie anfangs The Hours nennen will. In Los Angeles liest die schwangere Hausfrau Laura Brown 1949 den Roman, der sie stark beeindruckt. Mit ihrem Sohn Richie bereitet sie einen Kuchen für den Geburtstag ihres Mannes vor. Sie liebt heimlich ihre Nachbarin, plant ihren Selbstmord, scheut aber zurück. 1999 plant die New Yorker Lektorin Clarissa eine Party für ihren an AIDS erkrankten Freund Richard. Richard ist der Sohn Laura Brown. Obwohl mit ihrer Freundin Sally zusammen, wünscht sie sich die Stunden mit Richard zurück. Man merkt Fleming an, wie sie sich nach der Partie sehnte. Gleich in der Anfangssequenz – mit Denyce Graves als Sally – singt sie die selbstbewusste Clarissa mit breit strömender, flexibel reagierender und farbiger Mittellage, textbewuster, als man es von ihr in Erinnerung hat, mit fester und sicherer Höhe.

Schade, dass die nur mit englischsprachigem Beiheft karg ausgestattete Aufnahme (2 CD Erato 5054197910524) auf ein Libretto verzichtet. Joyce DiDonato, auf dem Titelbild mit den drei Damen in altbackener Zurückhaltung, gibt uns Virginia Woolf mit der Autorität und in sich ruhender Selbstgewissheit der Dichterin. Mit ruhigem Mezzosopran und reichem Ton tastet sie sie sich Zeile um Zeile vor. Unauffälliger schaltet sich die klassisch ausgebildete, vor allem durch ihre Broadway-Auftritte populäre Kelli O’Hara, die an der Met Despina und Valencienne gesungen hat, als Laura Brown in das Geschehen. Viele namhafte Met-Protagonisten steuern Miniaturen bei, darunter Kyle Ketelesen als Richard. Kevin Puts stattet sie mit einer filigranen Wohlfühlmusik aus, die allen Situationen entspricht, die den Pulsschlag der Handlung aufgreift, sich aber nicht aufdrängt und allen drei Frauen und ihrem Zeitalter im Sinn einer etwas altmodischen Literaturoper ein Gesicht geben will. Zu den memorablen Momenten des musikalisch vielfach rauschhaften, schwelgerischen Werks gehört zweifellos das Terzett „All along?“ der drei Frauen am Ende der Oper, in dem sich Strauss‘ Der Rosenkavalier und Barbers Vanessa begegnen. Yannick Nézet-Séquin dirigiert die beiden Akte (82 und 60 Minuten) mit freundlicher Dezenz.                     R.F.

Massenets Werther als Bariton

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Und wieder bannt uns das renommierte Label Palazzetto Bru Zane in Erstaunen ob seiner Repertoire-Politik. Diesmal mit Massenets Werther in der Bariton-Version, die Massenet für den berühmten Bariton seiner Zeit, Mattia Battistini, schrieb, dem er sehr zugetan war. Nur eben: Es gibt eigentlich keine französische Version für Bariton, denn Battistini sang diese Partie nur (??) in seiner Heimatsprache. Erst 2004 nahm Thomas Hampson (nach Dale Duesing im fernen Seattle) eine Version auf, die auf der Grundlage der Battistini-Absachrift die Baritonlage an die Noten- und französisch-sprachliche Linie anpasst. Seitdem haben es manche Baritone gesungen und sind damit dokumentiert (und als DVD/2004 erhältlich). Von Luca Grassi 2007 Martina Franca in Italienisch), sodann in Französisch Dale Duesing (Seattle 1989), Thomas Hampson (Version Almeida, Met 1999 mit DVD Konzert Paris 2004 Mezzo) über Philip Addes (2011 Montreal), Adam Tunnicliffe und Ed Ballard (Glyndebourne Touring 2008), bis zu kürzlich Ludovic Tézier (2023 in Wien). Es ist das Verdienst der älteren Dynamic-Aufnahme von 2003 (ersch. 2004), mit Luca Grassi die originale Battistini-Version in eben dessen Heimatsprache herausgegeben zu haben. Und es ist ein Irrtum, wenn man nun von einer Battistini-Fassung spricht, aber die französische meint.

Es gibt lediglich die Übertragungen der Gesangslinie für Battistini als handschriftlicher Klavier-Auszug. Und eine Arbeitspartitur, in die ein Kopist die neue Bariton-Gesangslinie eingetragen hatte. Im Nachlass von Vanni Marcoux , dem berühmten französischen Bariton, befindet sich eine solche. Und es gibt Varianten von einer zur anderen, was auf schrittweise Bearbeitungen hindeutet, die vielleicht im Laufe von zehn Jahren erfolgten. Eine Version wurde in den USA ausgegraben und 1989 in Seattle mit Dale Duesing und 1999 an der Metropolitan Opera in New York mit Thomas Hampson aufgeführt, wobei der Text auf einer Partitur basierte, die sich im Besitz des Dirigenten Antonio de Almeida befand (Almeida war ja stets für Überraschungen auf dem musikalisch-archäologischen Sektor gut). Der Text zeigt einen früheren Stand als den, den Mattia Battistini für die beiden Auszüge aus dem Jahr 1911 aufgenommen hat, wobei die Varianten auf einigen Exemplaren (separates Stück oder Gesamtausgabe) erscheinen, die der italienische Bariton verwendet hat; dies geht aus Kopien hervor, die Jacques Chuilon, Autor einer Biografie über Mattia Battistini (Mattia Battistini, King of Baritons erschienen bei Rowman & Littlefield Publishing Group Inc 2009), vorlegte.

Jacques Chuilon ist der festen Überzeugung, dass die Vereinbarung zwischen Battistini und Massenet aus praktischen Gründen eine Baritonlinie vorsah, die ohne Änderungen in die bestehende Orchesterpartitur eingefügt werden konnte, damit die Repertoiretheater, die bereits mit dem Orchestermaterial der Tenorversion gearbeitet hatten, nicht darunter leiden mussten; diese Hypothese wird nicht durch die Tatsache widerlegt, dass Battistini zwei – derzeit verschollene – Orchestermaterialien von Werther besaß, da der Sänger diese Materialien sehr schnell in die osteuropäischen Länder liefern können musste, in denen er insbesondere „seine“ Version gesungen hatte. Solange diese Materialien jedoch nicht wieder aufgetaucht sind, wird man nicht wissen, ob sie Spuren der vom Komponisten vorgeschlagenen Änderungen tragen.

Der „nerue“ Bariton-Werther beim Palazzetto, Tassis Christoyannis/Agence Massis


Thomas Hampson, der zweite moderne französische Bariton-Werther nach Dale Duesing schreibt auf seiner Seite dazu: „Ein autographes Manuskript ist nicht erhalten, aber eine Arbeitspartitur, die Battistini gehörte, bildete die Grundlage für die hier (2004 konzertant im Pariser Châtelet) aufgeführte Fassung, in der die Rolle nicht nur transponiert, sondern auch umgeschrieben wurde, um der dunkleren und psychologisch reicheren Baritonstimme gerecht zu werden“.

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Die erneute Umarbeitung ins Französische und überhaupt betont erwartungsgemäß weniger die glanzvollen denn die dramatisch-dunkleren Momente, was mich nicht für die Fassung einnimmt. Das klingt für mich eher nach einem depressiven Hamlet als nach einem feuerköpfigen jungen Mann im Liebes-und Verzweiflungswahn, im Sinne Goethes. Die Partie erscheint nun viel älter, gesetzter, klingt nach spätem Glück eines Rentiérs. Zumal nun mit La Gens auch eine sehr stimmlich recht reife Frau sich zu ihm gesellt, ein wenig also: Eine Kaffee-Runde im Altersheim oder (Der Traum des Werther, haben Alberts Pistolen versagt?). Da stört der ältere Bariton-Mitbewerber Albert eher weniger.

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Nach einer DVD und einigen weiteren Live-Mitschnitten ist die neue Palazzetto-Buch-Edition aber zumindest die erste CD (!)-Ausgabe des Bairton-Werther, nämlich mit Glanz von Tassis Christoyannis neben einer ältlichen, abgedunkelten und nun wohl ins Mezzofach abgewanderten Véronique Gens gesungen. Der einzige Tenor weit und breit in Wetzlar ist nun Herr Schmidt. Aber Christoyannis kann für mich einfach alles singen, sogar das Telefonbuch von Neuilly, denn ich liebe diese tolle Bass-.Bariton-Stimme, zumal im Französischen. Was für ein Sänger, was für ein sinnliches Timbre, was für ein sexy Mann! Aber er allein reißt nicht alles raus. Thomas Dolie und Hélène Carpentier als Albert und Sophie sind wirklich befriedigend. György Vashegyi am Pult der beim Palazzetto bewährten Budapester Kräfte ist mir hingegen zu bodenlastig und nicht rauschhaft genug. Da gilt oben Gesagtes.

Dafür ist die Textbeilage (leider wie stets nur ein Englisch und Französisch trotz des überdimensional großen deutschsprachigen Marktes in der EU) wieder Grund für einen Neukauf! Und eben wegen der fehlenden deutschen Übersetzung bringen wir nachstehend zwei Auszüge (in eigener deutschen Übersetzung/DeepL) zur weiteren Information über die Bariton-Version, und anschließend zwei weitere interessante Beiträge von Danilo Prefumo und Lesley Wright . Es ist doch bemerkenswert, wie sich die Darstellung von Details unterscheiden. G. H.

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Mattia Battistini als Werther/Wikipedia

Alexandre Dratwicki schreibt beim Palazzetto: Auf Wunsch von Mattia Battistini stimmte der Komponist einer Neufassung der Titelrolle zu – eine Aufgabe, die Massenet bereits in groben Zügen für Massenet für Victor Maurel, der den Werther schließlich nicht sang (und die der italienische Bariton anscheinend selbst vollendet hatte) für die Aufführungen in St. Petersburg 1902 fertiggestellt hatte. Obwohl kein autographes Manuskript von Massenets Hand existiert, sind Skizzen von ihm erhalten, in denen die Rolle des Albert für einen Tenor umgeschrieben wurde, zweifellos, um den  französischen Provinztheatern die Möglichkeit zu geben, den Helden des Werks mit dem führenden Bariton des Hauses zu besetzen, während sie Albert einem Solotenor geben konnten. Aber die Adaption wurde nie vollendet. Dennoch veröffentlichte die Firma Heugel eine Vokalpartitur, wahrscheinlich nach Massenets Tod und unter Bedingungen der Eile, wie die zahlreichen Druckfehler verraten.

Die wenigen Auszüge aus Werther, die Battistini aufgenommen hat, unterscheiden sich deutlich von dieser Partitur, die wahrscheinlich das Werk eines „internen“ Bearbeiters ist, der das kommerzielle Potenzial der Oper erweitern wollte. Seitdem haben die Baritone, die diese Rolle singen, die Partitur häufig auf ihre eigenen stimmlichen Möglichkeiten zugeschnitten.

Die vorliegende Aufnahme – die dritte kommerzielle Veröffentlichung der Baritonfassung – soll einen Beitrag zur Nachwelt des Werther beitragen, indem sie zwei Aspekte beleuchtet, die die Musik in den Vordergrund stellt: den Text und die Frage nach der Stimmfarbe. Alexandre Dratwicki/DeepL

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Ebenfalls Palazzetto: Jean-Christophe Branger – ein Bariton-Werther. Nach mehreren gescheiterten Versuchen in Frankreich und im Ausland wurde Werther schließlich am 16. Februar 1892 in Wien (in deutscher Sprache) mit dem Tenor Ernest Van Dyck in der Titelrolle gegeben. Entgegen allen Erwartungen war die Premiere ein denkwürdiger Triumph. Das Werk wurde während der Spielzeit regelmäßig wiederaufgenommen und im selben Jahr in Weimar (ebenfalls in deutsch) aufgeführt. Aber es hatte Schwierigkeiten, sich in Frankreich und anderswo zu etablieren, da kein Tenor in der Lage war, eine Rolle, die solche stimmlichen und dramatischen Anforderungen stellte, auszuführen.

Die Pariser Premiere an der Opéra-Comique machte diese Schwierigkeiten deutlich. Im Herbst 1892 probte Étienne Gibert, der Schöpfer des Roland in Esclarmonde, mit der jungen Marie Delna. Doch verzweifelt von Massenets Forderungen und seiner wiederholten Unzufriedenheit mit ihm, gab der Tenor schließlich seine Rolle zurück. Die wurde dann Charles Delmas zugewiesen, der prompt erkrankte. Angesichts dieser vielfältigen Schwierigkeiten komponierte Massenet eine Fassung der Titelrolle für Bariton, die er für Victor Maurel, einem bewunderten Verdi-Interpreten, vorgesehen hatte Doch dieses Projekt, das für die Opéra-Comique geplant war, scheiterte jedoch bald, bis der Tenor Guillaume Ibos Massenet anfragte, ob er sich der Herausforderung stellen könne. Ibos behauptete später sogar, er habe sich an Massenet gewandt, nachdem er von dem Projekt mit Maurel erfahren habe. Allerdings überzeugte seine Darstellung die Kritiker nicht. Werther sollte erst 1903 in Frankreich dank des Talents des jungen Léon Beyle seine Nische in Frankreich finden.

Bariton Philipp Addis als Werther in Montreal/PHOTO MIGUEL LEGAULT, COLLABORATION SPÉCIALE Montreale 2011

In der Zwischenzeit tauchte die Baritonversion wieder auf, als Mattia Battistini (1856-1928) Massenet fragte, ob er Werther singen könne. Als gewiefter Stratege bot ihm der Komponist die für Maurel arrangierte Partitur an und behauptete, sie sei für ihn konzipiert worden, wie er an seinen Verleger Heugel schrieb: „Sie wissen sehr wohl, dass die Arbeit getan ist – sie ist fertig – aber ich möchte, dass, wenn ich meine Antwort gebe, bekannt wird, dass ich die Rolle auf diese Weise für Battistini arrangiert habe“. Nachdem er die Rolle mit Massenet studiert hatte, sang der italienische Bariton die Rolle (in Italienisch!) im November 1901 in Warschau und im folgenden Jahr in St. Petersburg und Odessa, ein Jahrzehnt bevor er einige Auszüge im Jahr 1911 aufnahm. Doch Massenets Autograph dieser Fassung ist bis heute nicht auffindbar und wurde nie veröffentlicht. Dennoch wurde sie wahrscheinlich weitergegeben, vielleicht sogar vom Komponisten oder auch von anderen, denn der französische Bariton Vanni Marcoux besaß ein Exemplar des Werther aus dem Jahr 1918, in der die – handschriftliche – Gesangslinie manchmal von dem abweicht, was wir in Battistinis Aufnahmen hören. Die Baritonfassung geriet schließlich in Vergessenheit, da die Tenöre in einer Oper, die inzwischen in den Opern-Kanon aufgenommen worden war, großen Erfolg hatten. (Erst 1989 tauchte die Baritonfassung in einer Bearbeitung  durch Antonio de Almeida) wieder auf. Nach Dale Duesing in Seattle im Jahr 1989 nahm Thomas Hampson die Oper 1999 wieder auf (dto. Almeida). Jean-Christophe Branger/ DeepL/ Kursiveinschübe G. H.

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Nachstehend ein weiterer interessanter Artikel des italienischen Musikwissenschaftler Danilo Prefumo aus dem Beiheft zu der erwähnten originalen Battistini-Version aus Martina-Franca 2007. 

Massenet hatte bereits seit 1880 begonnen, an Werther zu denken und vervollständigte sein Projekt dann im Februar 1882 zur Zeit der italienischen Erstaufführung von Hérodiade. Damals war er mit der Komposition von Manon und Le Cid beschäftigt und hatte nicht viel Zeit, um die Arbeit des Librettisten Paul Milliet zu verfolgen, die nur von Georges Hartmann, dem ersten Pariser Verleger des Komponisten, überwacht wurde. Da Hartmann und Massenet mit Milliets Arbeit wenig zufrieden waren, erbaten sie die Mitarbeit eines weiteren Librettisten ihres Vertrauens, Edouard Blau. Dessen Beitrag erwies sich für das gute Gelingen des literarischen Teils als entscheidend; sein Name erscheint denn auch als erster in dem von ihm zusammen mit Milliet (der dann nicht mehr mit Massenet arbeitete) verantworteten Libretto.

Dieses wurde Anfang 1885 beendet, und Massenet begann im Frühjahr desselben Jahres mit der Komposition. Die Klavierfassung war Ende Februar 1887 fertig, und die Orchestrierung wurde am 2. Juli desselben Jahres beendet. Ursprünglich sollte die Oper an der Opéra-Comique herauskommen, aber am 25. April 1887 ging das Haus in Flammen auf, und alle Pläne hinsichtlich des Werther wurden buchstäblich zu Rauch. Einige Jahre lang sollte von dem Werk nicht mehr die Rede sein.

Delores Ziegler (Charlotte) and Dale Duesing (Werther) in Massenet’s Werther, Seattle Opera 1989/Matthew McVay

Am 19. November 1890 ging Massenets Manon über die Bühne der Kaiserlichen Hofoper in Wien; die Hauptrollen sangen Marie Renard und der belgische Tenor Ernest van Dyck. Es war ein riesiger Erfolg, weshalb es wahrscheinlich ist, dass in dessen Sog der Einfall entstand, hier auch den noch unaufgeführten Werther spielen zu wollen. Der Leiter des Wiener Hauses, Wilhelm Jahn, nahm den Vorschlag begeistert auf.

Der Verleger Hartmann war aber anfangs 1891 gezwungen, eine Bankrotterklärung abzugeben, und dieses unglückselige Ereignis versetzte den Komponisten nicht wenig in Angst um das Schicksal seiner Oper. Zu Massenets Glück wurde das Verlagsarchiv von Heugel erworben, und damit unterlag Werther keinem Risiko.

Ludovic Tézier als Werther in Wien 2022/Foto Pöhl

So kam es endlich mit den erwähnten selben Sängern zur Wiener Uraufführung vom 16. Februar 1892. Wie damals üblich, wurde die Oper in deutscher Sprache geboten (die Übersetzung stammte von Max Kalbeck). Es kam zu einem vollem Erfolg bei Publikum und Kritik; auch der bei der Premiere anwesende Johannes Brahms gab seiner Bewunderung für die Partitur Ausdruck. Bei seiner Rückkehr nach Paris fand Massenet ein Schreiben von Léon de Carvalho, dem Direktor der wiedererstandenen Opéra-Comique, vor, in dem zu lesen war: “Revenez-nous […] et rapatriez ce Werther que, musicalement, vous avez fait français”.

Auf den Tag genau ein Jahr nach der Wiener Premiere und nach der eigentlichen französischsprachigen Premiere in Genf 1892 (mit Ernest van Dyck)  ging Werther mit triumphalem Erfolg am 16. Februar 1893 über die Bühne der Opéra-Comique, damals im Théatre Lyrique an der Place du Chatelet.

Massenets Widmungsfoto für den von ihm hochgeschätzten Battistini/Novo

Auf der Hauptprobe war es allerdings zu einem unerfreulichen Zwischenfall gekommen. Weil Massenet mit dem für die Titelrolle vorgesehenen Tenor (Etienne Gilbert) in keiner Weise zufrieden war, protestierte er gegen diesen auf aufsehenerregende Weise wegen Unfähigkeit. Le Figaro brachte die Nachricht in großer Aufmachung und fügte auch hinzu, Massenet hätte die Absicht, die Rolle von Tenor auf Bariton umzuschreiben und sie dann Victor Maurel (dem ersten Jago in Verdis Otello) zu übertragen.

Die Vorstellung einer Baritonfassung kam Massenet also sehr früh (1901) in den Sinn, obwohl diese erst etliche Jahre später zustande kam, was dem italienischen Sänger Mattia Battistini (Contigliano, Rieti, 1857 – Colle Buccaro, Rieti, 1928) zu verdanken war. Battistini hatte eine der bedeutendsten Baritonstimmen und oft Opern von Massenet gesungen, die damals auch in Italien sehr populär waren. Die Beziehung zwischen den beiden Künstlern war immer eine ausgezeichnete, und Massenet nahm den Vorschlag des Sängers einer Transponierung der Rolle des Werther vom Tenor zum Bariton gerne auf (auf dieselbe Weise transponierte er, gleichfalls für Battistini, die Rolle des Athanaël in Thaïs von Bass auf Bariton).

Natürlich wurde Werther in dieser Neufassung von 1901 von Battistini immer auf Italienisch gesungen, und der Künstler erkühnte sich nie, die Rolle in Frankreich zu singen, wo er sie hätte auf Französisch bringen müssen. Im übrigen gehörte damals der Purismus hinsichtlich der Originalsprache nicht zur landläufigen Meinung, und es wurde als ganz natürlich betrachtet, dass man eine Oper in die Sprache des Landes, in welchem sie gegeben wurde, übersetzte.

In jedem Fall diente damals das Italienische als übergeordnete Sprache, und französische Opern wurden, wenn sie außerhalb Frankreichs gespielt wurden – beispielsweise an der New Yorker Met – fast immer auf Italienisch gegeben.

Aufführungsposter für Battistini als Werther 1911/Ipernity

Die Erstaufführung des Werther in der Baritonfassung erfolgte am 18. November 1901 in Warschau mit Battistini in der Titelrolle und Salomea Kruscenski als Charlotte. Der Vorgang blieb nicht frei von kritischen Einwänden, auch wenn niemand wagte, den Wert von Battistinis künstlerischer Leistung zu beanstanden, der – wie Giancarlo Landini schrieb – „auf neue, unübliche Weise die Natur dieser Figur zeichnete: Ausbrüche und Leidenschaft fügten sich in eine höhere Schönheit der Ausdrucksweise, als Beweis für ein dermaßen vornehmes Fühlen, dass es zum Selbstmord trieb, um der Gewöhnlichkeit der Gesellschaft zu entgehen“.

Danilo Prefumo (Übersetzung: Eva Pleus). Entnommen der Beilage zur Dynamic-CD der Oper in der Einspielung eines Mitschnitts aus Martina Franca 2007 mit Luca Grassi unter Jean-Luc Tingaud.

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Und dazu noch ein Beitrag von Lesley Wright: Obwohl die Wiener Premiere sehr positiv aufgenommen wurde, brachte es das Werk an der Opéra-Comique in Paris zwischen 1893 und 1902 nur auf 56 Aufführungen. In London scheiterte die Oper 1894 grandios. Massenets schwierige und abenteuerliche Suche nach dem richtigen Tenor, der seinen tragisch-romantischen Helden an der Opéra-Comique spielen konnte, zögerte nicht nur die Pariser Premiere vom November 1892 auf den 16. Januar 1893 hinaus (so dass die Ehre der ersten französischsprachigen Produktion am 27. Dezember 1892 Genf zuteil wurde), sondern bewegte den Komponisten möglicherweise auch dazu, eine Fassung für Bariton vorzulegen.

Victor Maurel war Massenets idealer Werther, sang die Partie aber nie/Ipernity

Mit dieser Fassung verband der Komponist Berichten zufolge die Hoffnung, dass der große Sänger und Schauspieler Victor Maurel (der Verdis ersten Iago und Falstaff gegeben hatte) die Rolle im April 1894 an der Opéra-Comique übernehmen und mit Werther anschließend auf Welttournee gehen würde. (…) Viele Jahre später betonte der Tenor der Genfer Erstaufführung, Guillaume, Ibos noch einmal, wie viel Gewicht Massenet seiner Oper und ihrem Erfolg beimaß, weil sie „sein eigenes Leben als Mensch und Musiker“ widerspiegelte. Diese Behauptung scheint trotz der Beobachtung ihre Gültigkeit zu behalten, dass Ibos gegen Ende seines Lebens dazu tendierte, die Wahrheit auszuschmücken, vor allem was seinen eigenen Beitrag zur Geschichte des Werther anbelangt. Dieser Beitrag bestand darin, dass er in letzter Minute die Titelrolle übernahm und damit die Pariser Premiere ermöglichte. (…)

Die Bärenreiter-Neuedition geht den Unterschieden zwischen den verschiedenen Quellen aus der Zeit Massenets nach, erläutert diese und bringt sie zusammen (etwas, was dem Komponisten selbst nie gelang). Sie würdigt außerdem die Rolle des Librettos, korrigiert Fehler und Auslassungen und empfiehlt eine andere Paukenstimmung (davon ausgehend, dass heutigen Paukisten drei leicht zu stimmende Pauken zur Verfügung stehen). Anmerkungen machen ältere Lesarten zugänglich und erläutern Massenets Wunsch nach einem Zusammenwirken von Inszenierung und Musik.. Lesley Wright (aus [t]akte 2/2016) (Übersetzung: Anna-Lena Bulgrin)

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie Die vergessene Oper hier

 

Du bist wie eine menschliche Blume

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Seit seiner Uraufführung 1911 im Pariser Théâtre du Châtelet dürfte  das „Mystère en cinq mansions composé en rhythme français“, dessen Aufführung selbst gekürzt etwa viereinhalb Stunden dauerte, nicht eben häufig aufgeführt worden sein. Ich erinnere mich nur an eine von Maurice Béjart verwaltete, ratlos lassende Aufführung 1986 an der Mailänder Scala mit Eric Vu-An als Sébastien. Dirigiert wurde die Aufführung von Sylvain Cambreling, der sich eine Neigung für das Stück bewahrte und es als Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, wo er 1999 die Nachfolge von Michael Gielen angetreten hatte, im Januar 2005 in Freiburger Konzerthaus aufführte. Die Aufnahme erscheint nun neuerlich; diesmal beim hauseigenen Label (SWR19149CD).

Das ehrgeizige Unternehmen des Dichters, Dandys und Ästheten Gabriele D’Annunzio brauchte Attraktionen. Die Figur des Heiligen Sebastian schrieb er für die Tänzerin und Schauspielerin Ida Rubinstein, die in der Folge Aufträge an bedeutende Komponisten vergab, darunter Igor Strawinsky, der sich nicht scheute, sie als eine der dämlichsten Frauen der Kunstwelt zu bezeichnen. Der Choreograph Michel Fokine und der Ausstatter Léon Bakst, zwei Exponenten des Ballets Russes, waren Rubinstein durch ihre Petersburger Jahre vertraut. Punkten konnte D’Annunzio vor allem mit der Wahl der Musik, für die er Claude Debussy gewinnen konnte. Debussy stellte die Musik innerhalb kürzester Zeit, von Januar bis April, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten André Caplet her, insgesamt 17 Nummern von circa 50 Minuten Dauer. So entstand ein szenisches Gesamtkunstwerk, in dem Dichtung, Musik, Tanz und bildende Kunst miteinander verflochten sind und Schauspieler, Tänzer und Sänger eng zusammenwirken. Bald nach der Premiere waren Debussy und seine Schüler bestrebt, die Musik für den Konzertsaal zu retten, beispielswiese durch eine Orchestersuite.

Der Dirigent Inghelbrecht erstellte eine Konzertfassung mit einem zusätzlich zur Musik Debussys auf etwa 15 Minuten radikal gekürzten Text. Ebenso verfuhr Cambreling in Freiburg mit seiner 77minütigen Fassung, indem er der Musik Debussys Texte Martin Mosebachs entgegensetzte, die nicht unbedingt den Verlauf der Handlung wiedergeben. Die Musik führt, um den Titel des 2. Akts zu zitieren, in eine „Wunderkammer“, „La chambre magique“, in ein Reich altertümlicher Choräle, klarer Linien, raffinierter Schmerzensgesten, süßer Engelsgesänge und beschwörender Sanftmut, instrumental so kostbar austariert und abgehört, dass sich die exotisch mystische Atmosphäre unmittelbar einstellt. So sanftmütig Dörte Lyssewski sowohl die Erzählerin als auch den Heiligen gibt, lässt sich die der hybriden Anlage geschuldete Fremdheit und Steifheit im Zusammenspiel mit den Gesängen der himmlischen Chöre und der Zwillinge Markus (Dagmar Pecková) und Marcellianus (Nathalie Stutzmann), die auf glühenden Kohlen hingerichtet werden sollen, nicht überhören. Cambreling ist von großer Intensität in den zauberisch verinnerlichten ersten Akten, wo im zweiten Abschnitt das Lied der Erigone auffällt; Heidi Grant Murphy ist für himmlische Stimmen und seelenvolle Inbrunst zuständig. Ab dem dritten Akt am Hof des von Sebastians Schönheit verzauberten Kaisers Diokletian prunken Cambreling und das SWR Sinfonierochester Baden-Baden und Freiburg sowie das Collegium Vocale Gent mit der schillernden Prachtentfaltung, mit der Debussy das Leiden und Sterben Sebastians geradezu wollüstig ausstellt, auskostet, steigert und samten umkleidet. Kurz vor der Aufführung hatte der Pariser Erzbischof den Besuch der Aufführung verboten, da die Vermischung der Heiligenlegende mit dem erotischen Adoniskult und die Darstellung des Heiligen durch eine Frau als Beleidigung des „christlichen Bewusstseins“ angesehen wurden. Debussy versicherte, er habe die Musik so geschrieben, als sei sie ihm von einer Kirche aufgetragen worden.  Rolf Fath

 

Erstfassung Wien 1762

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Herzenswunsch eines jeden Countertenors von Rang ist es wohl, Glucks Orfeo zu singen – oder noch besser: die Partie in einer Tonaufnahme zu dokumentieren. Eine schier unüberschaubare Fülle findet sich auf dem Musikmarkt, darunter auch eine ERATO-Einspielung mit Philippe Jaroussky aus dem Jahre 2018. Nun hat die Firma ihrem Exklusivkünstler Jakub Jozef Orlinski seinen Wunsch erfüllt – mit ihm die Azione teatrale per musica im Januar 2023 in Warschau produziert und nun nochmal bei Erato auf einer CD veröffentlicht (5054197897535). Im Unterschied zu Jaroussky, der sich für  die Fassung von Neapel 1774 entschieden hatte, ist nun die Erstfassung Wien 1762 zu hören. Orlinski fungiert in der Neuproduktion als Interpret der männlichen Titelrolle, als Produzent, künstlerischer Leiter und Besetzungschef. Im Fall des Amore hatte er eine besonders glückliche Hand mit der Wahl der ägyptischen Sopranistin Fatma Said. Ihre Stimme besitzt hohen Farbreichtum, Sinnlichkeit und eine bedeutende lyrische Substanz, wie man sie gewöhnlich in dieser Partie nicht zu hören bekommt. Der Amore als Nebenrolle erhält dadurch einen höheren Stellenwert als in den meisten anderen Aufnahmen. Seine Begegnung mit Orfeo am Ende des 1. Aktes, „T´assiste Amore!“/„Gli sguardi trattieni“, wird zu einer Kernszene der Handlung dank des nachdrücklichen und phantasievollen Vortrags der Sängerin. Das rückt die Partie der Euridice fast in den Hintergrund – trotz ihres großen Duos mit Orfeo und der vehementen Arie „Che fiero momento!“ im 3. Akt. Der Sopran von Elsa Dreisig vermag sich aber nicht genügend von dem Fatma Saids abzusetzen. Die Stimme ist in ihrem Charakter lyrisch und ausgewogen, aber weit weniger persönlich als die der Ägypterin. Und in den Rezitativen klingt sie im Bemühen um dramatischen Ausdruck zuweilen schimpfend. Die dramatische Arie wird vom Orchester mit einem Wirbelsturm eingeleitet und gelingt ihr dann auch überzeugend, wenngleich die eingelegten staccati zwar virtuose Elemente der Verzierung sein mögen, aber kaum der existentiellen Situation der Figur entsprechen.

Orlinski stellt seinen Orfeo in einer ausgesprochen introvertierten Lesart vor, gipfelnd in der berühmten Arie „Che farò senza Euridice?“, die er in betont getragenem  Tempo und mit ganz nach innen gewandtem Ausdruck vorträgt. Orfeos erstes Solo, „Chiamo il mio ben così“, erklingt zunächst in schlichter Anmut, wechselt dann aber in weinerliche  Schmerzenslaute. Das Dacapo wird variiert, entbehrt aber gleichfalls nicht der Larmoyanz. In „Mille pene“ im 2. Akt hört man heulende Töne, gelungener ertönt „Che puro ciel“ in purer Innigkeit.

Bei aller Konkurrenz: Die Neuaufnahme kann durchaus mit den besten existierenden Tondokumenten konkurrieren. Das ist vor allem das Verdienst des Orchesters, denn Il Giardino d´Amore unter Stefan Plewniak musiziert mit einer solchen Vitalität, einer derartigen dynamischen Bandbreite und einer Fülle von überraschenden Akzenten, dass man beim Hören geradezu gebannt ist. Das beginnt mit der spannungsgeladenen Sinfonia, zu welcher der folgende, schleppende Gesang des Chores einen starken Kontrast bildet. In der Folge begeistern Chor und Orchester immer wieder mit ihren Nummern – dem furiosen Ballo di furie e spettri oder dem paradiesischen Ballo d`eroi ed eroine negli Elisi. Am Ende hat Il Giardino d`Amore im viersätzigen Ballo noch einmal Gelegenheit, mit graziösen, beschwingten und heiteren Klängen zu glänzen, bevor sich alle zum jubilierenden Schlussgesang „Trionfi Amore!“ vereinen. Bernd Hoppe

Erbangelegenheiten

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Willy Heinz Müller (1900–1974) gehört zu den Komponisten, deren Oeuvre bislang noch auf seine Entdeckung gewartet hat. In seinem Fall auf einem Stapel neben dem Klavier seiner Urenkelin, der Sopranistin Mélanie Adami. Während der Corona-Pandemie hat sie sich des Stapels angenommen und beschlossen, die Lieder ihres Urgroßvaters, so schreibt sie im Booklet, ›wieder zum Leben zu erwecken‹. Den Bariton Äneas Humm und die Pianistin Judit Polgar hat sie für ihre Mission gewinnen können und mit den beiden ein Album eingespielt. Vergessene Lieder, vergessene Lieb heißt es – übrigens kein Liedtitel von Willy Heinz Müller, sondern von Ernst von Dohnány. Neben den Kompositionen ihres Urgroßvaters hat sich Melanie Adami noch eine Reihe weiterer Lieder und Duette von Komponisten ausgesucht (neben Dohnány auch Béla Laszky, Franz Ries und Eugen Hildach und Carl Götze), die alle in verschiedenen Beziehungen zu ihm standen. Vor allem eint sie aber, dass sie, mit Ausnahme von Ernst von Dohnány vielleicht, eher selten gespielt werden – um es vorsichtig zu formulieren.

Die Kompositionen von Willy Heinz Müller erweisen sich durchaus als Entdeckung: farbenreiche, durch eine ausgefeilte Linearität bestechende Lieder, die unweigerlich an Bergs Jugendlieder, Lieder von Zemlinsky und Schreker erinnern. Typischer musikalischer Jugendstil gepaart mit überwiegend melancholischen Texten von Hugo Binder und Victor Heindl. Mélanie Adami, die unüberhörbar aus dem Opernfach kommt, singt die Lieder ihres Urgroßgroßer mit strahlender, vibrato- und obertonreicher Stimme. Aus den Liedern werden (schwer)gewichtige Arien. Vielleicht ist es der Wille, dem urgroßväterlichen Erbe gerecht zu werden, zu zeigen, dass er ein begnadeter Komponist war – nötig hätten die Kompositionen diesen Zeigefinger nicht gehabt. Schöner wäre es gewesen, wenn sie, so wie es der Pianistin Judit Polgar gelingt, den Farbenreichtum der Lieder in ihrer Interpretation mehr aufgegriffen hätte: mehr dynamische Varianzen, mehr Ausdruck und weniger Schwelgen in jedem Takt. Das von Mélanie Adami hin und wieder angebotene piano ist eher ein mezzopiano und offenbart stimmliche Schwächen, hörbar vor allem in einem verstärkten Anteil von Nebenluft und einer insgesamt raueren Stimme (ich möchte beinahe sagen, Mélanie Adami klingt leicht erkältet). Eine Ausnahme bildet das piano – dieses ist auch in meinen Ohren ein tatsächliches! – im Schluss des im Liedes Lass mich an deine Liebe glauben. Dieses piano dringt, ganz dem Text entsprechend, tief in die Seele ein und zeigt, dass sie durchaus fähig ist, erstklassig piano zu singen. Besonders in der Mittellage fehlt ihrer Stimme aber die Brillanz, die sie in der Höhe besitzt. Es gibt auch hier Nebenluft und die Vokale – die in allen Lagen eine Spur exakter sein dürften, besonders die o-Vokale – wirken flach.

Die Lieder der anderen Komponisten auf dem Album übernimmt beinahe ausschließlich Äneas Humm. Der als großes Nachwuchstalent gehandelte junge Schweizer Bariton ist bekannt dafür, in allen Genres zu Hause zu sein. Hier singt er Lied, häufig im besten Opern- und Operettenstil. Im Falle der Lieder des Komponisten Franz Ries, die ohnehin eine gewisse Nähe zur Operette besitzen, geht dieses Konzept gut auf. In Stücken wie dem titelgebenden Vergessene Lieder, vergessene Lieb von Ernst von Dohnány wirkt seine sehr dramatische Interpretation eine Spur zu pathetisch und damit leider auch weniger glaubwürdig, als man dies von ihm gewohnt ist. Es stellt sich, wie auch bei Mélanie Adami, selbst bei den gut gesungenen sechs Liedern von Franz Ries eine Übersättigung an großen Tönen ein. Wenn mit vollem Pathos vom ›Herzen‹ geschmettert wird, trifft es einen schon gar nicht mehr ins eigene – trotz seines unbestreitbar schönen und samtigen Timbres und seiner großen stimmlichen Möglichkeiten. Dass er sich eines größeren Ausdrucksrepertoires bedienen kann, versprechen kurze, innigere Passagen wie in Abschied von Franz Ries, die leider die Ausnahme bleiben. Im Duett der beiden Sänger verstärkt sich, was schon in den Sololiedern hörbar wird: Es wird nicht zu knapp geschwelgt und mit viel Vibrato und Legato dick aufgetragen. Die Interpretationen wirken insgesamt aus der Zeit gefallen, böse Stimmen würden ›altbacken‹ sagen (Prospero, PROSP0087). Henrike Leißner

Zuwachs im Counter-Regal

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Der holländische Countertenor Oscar Verhaar hat bei Challenge acht Arien aus Oratorien von Georg Friedrich Händel aufgenommen. Die CD entstand im April und Mai 2023 im holländischen Baarn und erschien unter dem Titel „Freedom“ (CC72973). Die „Freiheit“ sieht der Sänger als Leitmotiv in all diesen Kompositionen aus sieben Oratorien, welche von Gefangenschaft, Unterdrückung, Widerstand und eben Freiheit handeln und einen chronologischen Bogen spannen von Deborah (1733) bis zu Jephta (1751). Der Sänger wird inspirierend und engagiert begleitet vom Ensemble La Sfera Armoniosa unter Leitung von Mike Fentross, das in zwei orchestralen Beiträgen (Ouverture zu Susanna und der Symphony aus Joseph and his Brethren) auch seine musikantischen Qualitäten zeigen kann.

Als Konzertsänger ist Verhaar kein Unbekannter, doch ist diese Veröffentlichung seine Debüt-CD. Die Stimme klingt leicht und weich, sein Gesang ist kultiviert, doch mangelt es ihm an einem spezifischen Timbre und an Attacke für die heroischen Arien. Am Beginn steht Baraks lebhafte Arie „All Danger disdaining“ aus Deborah, in der die Stimme nicht genügend fokussiert klingt, gefolgt von Micahs Arie „Return, o God of Hosts“ aus Samson, einem von Händels erfolgreichsten Oratorien. In den schwebenden Tönen dieser getragenen Komposition kommt Verhaars Stimme vorteilhafter Wirkung. Die erste Gruppe beschließt die Arie des Titelhelden „Fury, with red-sparkling Eyes“  aus dem 3. Akt von Alexander Balus, eine fulminante Nummer, welche der Sänger erstaunlich bewältigt. Daniels Arie „O sacred Oracles of Truth“ aus dem Belshazzar markiert den Mittelteil des Programms. Auch diese entspricht in ihrer Empfindsamkeit genau dem Naturell des Interpreten.

Am Schluss stehen drei Arien aus bedeutenden späten Schöpfungen des Komponisten, beginnend mit der Arie des Titelhelden  „Be firm, my soul“ aus Joseph and his Brethren.  Nach einer langen, grüblerischen Einleitung erklingt Josephs klagende Stimme, wiederum wie geschaffen für das Organ des Sängers, wie auch die Arie des David „O Lord, whose Mercies numberless“ aus Saul in reiner Streicherbegleitung und dem sanften Melos. Die Arie des Hamor „Up the dreadful Steep ascending“ aus Jephta setzt den kontrastierenden Schlusspunkt, denn hier besingt der Soldat Hamor mit Jubeltönen die bevorstehende Hochzeit mit Jephtas Tochter Iphis. Bernd Hoppe