Archiv für den Monat: Juni 2020

Offenbachs „Voyage dans la Lune“

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Offenbachs Science-Fiction-Spektakel Le Voyage dans la lune kam 1875 am Théâtre de la Gaîté in Paris heraus – als opulente Raumfahrtrevue in vier Akten und 23 Bildern. Es geht um den Lebemann-Prinz Caprice, der auf der Suche nach neuen Liebesabenteuern zum Mond fliegt (auf Erden hat er schon alle Jagdgebiete durchstreift). Aber auf dem Mond weiß man nicht, was „Liebe“ ist. Das ändert sich allerdings schnell, als Caprice den keuschen Mondbewohnern sein Reiseproviant in Form von Äpfeln anbietet. Und plötzlich erotisches Chaos in den Mondkratern ausbricht, sehr zum Ärger des Mondkönigs Cosmos, der nun seine lüsterne Ehefrau Königin Popotte und die jugendliche Prinzessin Fantasia bändigen muss. Und seine Bevölkerung im Liebestaumel irgendwie wieder unter Kontrolle kriegen muss.

Das Ganze hat weniger etwas mit der Jules-Verne-Vorlage zu tun, als mit der typischen „schlüpfrigen“ Form von Operette, für die Offenbach im 19. Jahrhundert berühmt (und berüchtigt) war. „Voyage“ nannten er und seine Librettisten Eugène Leterrier, Albert Vanloo sowie Arnold Mortier eine „opéra-féerie“, d. h. es gab eine Vielzahl von Balletten und Szenen-mit-Schauwert, in diesem Fall sind das u. a. ein Ballett der Schneeflocken oder ein Vulkanausbruch. Nicht zu vergessen: Der Raketenflug zum Mond am Ende des 1. Akts. (Die Weltraumreise schildert denn das Zwischenspielt zum 2. Akt, mit sphärischen Chören aus dem Off.)

Einzelne Musiktitel aus der Voyage werden viele kennen, besonders eine Melodie aus der Ouvertüre wurde als „Spiegelarie“ in Les Contes d’Hoffmann weltberühmt. Aber auch Teile der Ballettmusiken wurden vielfach eingespielt. So kann man beispielsweise das „Ballet des Flocons de neige“ auf Marc Minkowskis Album „Offenbach Romantique“ hören (11 Minuten insgesamt).

Von der „Reise zum Mond“ zirkulierten bislang nur gekürzte Ausgaben auf CD. Eine wird von Paul Burkhard dirigiert, der 1958 in Hamburg für den NDR eine Aufnahme in deutscher Sprache dirigierte. Immerhin mit Mathieu Ahlersmeyer als König V’lan, Vater von Prinz Caprice. Dieser wiederum wurde damals – anders als von Offenbach vorgesehen – mit einem Tenor besetzt (Gerard Clair), statt mit einem cross-dressed Mezzo. Bei der Uraufführung hat Offenbachs Geliebte Zulma Bouffar (und Mutter mehrerer seiner unehelichen Kinder) die Rolle kreiert.

Auch bei einer Aufnahme des französischen Rundfunks unter Jean-Paul Kreder von 1961 singt mit Joseph Peyron ein Tenor den Caprice. Offensichtlich schien nach dem Krieg die Besetzung von zwei Frauen als Caprice und Fantasia anstößig – oder zu „lesbisch“. Wobei man ja beim Rosenkavalier und dem Figaro damit auch keine Probleme hat. Aber das war halt Oper. (Den Orlofsky in der Fledermaus singt bei Karl Böhm auch Wolfgang Windgassen, weil das vermeintlich „realistischer“ ist.)

Von der Hamburger Einspielung gibt’s eine Doppel-CD beim Hamburger Archiv für Gesangskunst, es fehlen aber große Teile der Partitur, vor allem die Tanzmusiken und alles, was als Untermalung für die szenischen Showmomente gedacht ist. Die Pariser Ausnahme von 1961wiederum liegt mit 24 Einzelnummern beim Label Malibran vor.

Beide Aufnahmen lohnen das Kennenlernen, denn Jean-Paul Kreder und das RTF-Orchester lassen Offenbach sehr spritzig und teils sogar schräg klingen, was wunderbar zur Geschichte passt. Auch ist Lucien Lovano ein idealer König V’lan, und Claudine Collart produziert als Mondprinzessin-die-in-den-Apfel-der-Sünde-beißt hinreißende Soprantöne. Das gilt übrigens auch für Stina-Britta Melander beim NDR 1958. Das ist ein Soubrettenklang alter Schule. Und der deutsche Text macht es deutschen Hörern einfacher, der Handlung zu folgen. (In Paris 1961 gibt’s einen Erzähler, der sehr lebendig durchs Geschehen führt.)

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Offenbachs „Voyage dans la lune“ in Montpellier 2021/ Foto Marc Ginot; nun als Mitschnitt beim Palazetto Bru Zane herausgekommen 

Nun hat Palazzetto Bru Zane eine Gesamtaufnahme auf Französisch vorgelegt, wo man endlich all die Musik hören kann, die vorher fehlte. Das ist wunderbar. Denn in allen drei Akten finden sich vor melodischer Einfallskraft nur so sprudelnde Szenen, die von Pierre Dumoussaud und dem Nationalorchester der Oper Montpellier Occitanie durchaus beschwingt gespielt werden. Die geschärfte Schrägheit von Kreder fehlt – wodurch auch ein bisschen der Biss verloren geht, den einige Passagen haben sollten. Im Gegensatz zu Burkhard ist hier alles (!) schneller.

Das bedeutete auch, dass Caprice mit einigen prestissimo genommenen Strophenliedern nicht hinterherkommt, etwa im Rondeau de l’Obus (Nr. 11), wo er das Erlebnis seines rasend schnellen Raketenflugs schildert. Immerhin – und glücklicherweise – ist Caprice hier endlich wieder ein Mezzo, nämlich Violette Polchi. Damit schlägt die Aufnahme die einschlägige Konkurrenz, was eine authentische Besetzung angeht.

Aber Polchi und vor allem Sheva Tehoval als Fantasia verbreiten in ihren Duetten nie den Liebreiz, den man auf den alten Aufnahmen hört. Tehoval wird in der Höhe schrill, während Polchi ein bisschen der herbe Reiz einer Brigitte Fassbaender oder Anne Sofie von Otter fehlt (die die Voyage-Musik leider nie aufgenommen haben).

„Le Voyage dans la lune“: Szene aus der Pariser Uraufführung/ Wikipedia

Drumherum: Kompetente Kräfte wie Matthieu Lécroat als V’lan, Thilbaut Desplantes als Cosmos, Marie Lenormand als Königin Popotte sowie Raphaël Brémard als Astronom Microscope (der die Mondrakete baut). Bei der Wiener Erstaufführung sang diese Partie der große Komiker Alexander Girardi. Hier ist von der Komik der Rolle nur eingeschränkt etwas zu merken.

Das spürt man besonders in den Dialogszenen, wo wirklich niemand aus dem Montpellier-Ensemble Charakter beweist und hörbaren Spaß an der Geschichte verbreitet. So als würden sie sich alle nicht trauen, in die berühmten Äpfel-der-Operettensündhaftigkeit zu beißen. Man könnte auch sagen: Diese Aufnahme ist „keusch“. Was bei Offenbach einem Widerspruch in sich gleichkommt.

Die Weltraummusik, die Offenbach komponiert, ist immer hell und fröhlich, selbst wenn es laut Handlung knallt und explodiert, verdunkelt sich der Klang nicht. Damit muss man arbeiten – vielleicht mit akustischen Extras, die dem Hörer vermitteln, was gerade passiert, wenn’s stürmt (Schnee) oder braust (Vulkan), wenn Heerscharen von Soldaten (cross-dressed) aufmarschieren oder wenn Hofzeremonielle mit viel Pomp & Circumstance angehalten werden, als hohle Staatsakte.

Da bleibt die Palazzetto-Bru-Zane-Einspielung ein bisschen einfallslos in Bezug auf Klangregie.  Aber das ändert nichts daran, dass es die erste Gelegenheit ist, Le Voyage dans la Lune komplett zu hören. Eine Aufführung in Montpellier fand auf der Bühne nur kurzzeitig statt, verschwand wegen Corona-Lockdown schnell wieder. Ob die Inszenierung nochmal hervorgeholt wird, muss man abwarten. Vermutlich wäre eine DVD-Veröffentlichung bei diesem Werk mehr als sinnvoll.

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„Le Voyage dans la lune“: Anstoss erregten „les filles“ beim „Ballet de la neige“/zeitgenössische Illustration/BNF/ Wikipedia

Auf YouTube kann man eine deutschsprachige Aufführung aus der Komischen Oper zu DDR-Zeiten sehen, wo die politischen Witze – rund um die vertrottelten Könige von Erde und Mond – einen anderen parodistischen Peng entwickeln. Dirigent Robert Hanell sorgt seinerseits für grandiose Peng-Momente, die sehr genaue Akzente setzen (da hätte Pierre Dumoussaud mal reinhören sollen). Günter Neumann ist der Caprice, Rudolf Asmus sein Vater V’lan. Daneben glänzen Hanns Nocker und vor allem Klemens Slowioczek als Cosmos. Die Inszenierung von Jerome Savary wartet mit etlichen Sci-Fi-Soundeffekten auf, die in Montpellier komplett fehlen. Sie tun der Geschichte aber gut.

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Das Booklet der neuen Bru-Zane-Ausgabe ist reich bebildert und bietet französisch-englische Texte von Jérôme Collomb zum Thema „opéra-féerie“ und von Jean-Claude Yon zu Offenbachs Zusammenarbeit mit Jules Verne. Alexandre Dratwicki steuert eine Zusammenstellung der historischen Pressestimmen bei, die spannend zu lesen sind. Das Libretto – so wie hier eingespielt – ist auf Französisch und Englisch abgedruckt. Kevin Clarke / Operetta Research Center Amsterdam

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„Le Voyage dans la Lune“, 1902 Géorges Mèllies/ Wikipedia

Das Farb-Foto oben zeigt eine sensationelle Bearbeitung eines handkolorierten Ausschnitts/ stills aus dem Film von Géorges Melliès 1902, der zu seiner Zeit ein riesiges Aufsehen erregte und ein Quantensprung in Sachen Filmgeschichte war.

In einem Artikel des amerikanischen Smithsonian Magazins schreibt Daniel Eagan 2021 dazu: A Trip to the Moon as You’ve Never Seen it Before. One of the landmark films in cinema can now be seen in color: It’s one of the most famous films in cinema, a special-effects, science-fiction extravaganza that became an international sensation when it was released in 1902. Almost instantly it was pirated, bootlegged, copied and released by competing studios under different names. And for decades it’s only been available in black-and-white copies.

Now, after a 12 year project that approached a half-million euros in cost, Lobster FilmsThe Technicolor Foundation for Cinema Heritage, and Fondation Groupama Gan pour le Cinéma are unveiling a new version of A Trip to the Moon, “resurrected,” in the words of preservationist Tom Burton, from an original, hand-colored nitrate print. For the first time in generations viewers will be able to see the color version of the film that stunned early 20th-century moviegoers.

Le voyage dans la lune, to use its French title, is one of over 500 movies made by Georges Méliès, perhaps the first filmmaker to fully grasp the potential of cinema. The son of a wealthy shoemaker, Méliès was born in 1861. Fascinated by magic and illusions, he left the family business in 1888. Buying the Robert-Houdin theater from his widow in Paris, he developed a successful act with illusions such as “The Vanishing Lady.” Méliès was in the audience when the Lumière brothers held their first public film screening on December 28, 1895, and within months was exhibiting movies at his theater.

Film-Pionier Géorges Mèllies/ Wikipedia

Méliès made his first film in November, 1896, built his own studio in 1901 and formed the Star Film brand to market his work in France and internationally. He made movies about current events and fairy tales, replicated his stage illusions on screen and developed a highly advanced technical style that incorporated stop-motion animation: double-, triple-, and quadruple-exposures; cross-dissolves; and jump cuts. More than any of his contemporaries, Méliès made movies that were fun and exciting. They were filled with stunts, tricks, jokes, dancing girls, elaborate sets and hints of the macabre. 

A Trip to the Moon had several antecedents, including the 1865 novel From the Earth to the Moon by Jules Verne and A Trip to the Moon, a four-act opera with music by Jacques Offenbach that debuted in 1877. Méliès may also have been aware of a theater show at the 1901 Pan-American Exhibition in Buffalo, New York, called A Trip to the Moon. Filming started in May, 1902. It was released on September 1 in Paris and a little over a month later in New York City.

At the time exhibitors and individuals could purchase films outright from the Star Films catalog. Color prints were available at an extra cost. Probably not too many color prints of A Trip to the Moon were ever in existence, but it came out right around that time color became a real fad. Within a couple of years, the hand-painting was replaced by tinting and stencil process, so color became more prevalent and less expensive. Several color Méliès films survive, but it was believed that the color Trip to the Moon had long been lost.

„Le voyage dans la lune“/Filmszene 1902/ Wikipedia

But in 1993, Serge Bromberg and Eric Lange of Lobster Films obtained an original nitrate print from the Filmoteca de Catalunya. The only problem: it had decomposed into the equivalent of a solid hockey puck. In 1999, Bromberg and Lange, two of the most indefatigable of all film historians, began to try to unspool the reel by placing it in the equivalent of a humidor, using a chemical compound that softened the nitrate enough to digitally document individual frames. (The process also ultimately destroyed the film.)

Years later, Bromberg had some 5,000 digital files, which he handed over to Tom Burton, the executive director of Technicolor Restoration Services in Hollywood. In a recent phone call, Burton described how his team approached this “bucket of digital shards.”

“What we got was a bunch of digital data that had no sequential relationship to each other because they had to photograph whatever frame or piece of a frame that they could,” Burton recalled. “We had to figure out the puzzle of where these chunks of frames, sometimes little corners of a frame or a half of a frame, where all these little pieces went. Over a period of about nine months we put all these pieces back together, building not only sections but rebuilding individual frames from shattered pieces.”

Burton estimated that they could salvage between 85 to 90 percent of the print. They filled in the missing frames by copying them from a private print held by the Méliès family and digitally coloring the frames to match the original hand colored source.

Der Autor und Filmwissenschaftler Daniel Eagan/Smithsonian Magazine

“It’s really more a visual effects project in a way than a restoration project,” Burton said. “A lot of the technology that we used to rebuild these frames is the technology you would use if you were making a first-run, major visual effects motion picture. You’d never have been able to pull this off 10 years ago, and certainly not at all with analog, photochemical technology.”

For Burton, A Trip to the Moon represents the beginnings of modern visual effects as we know them today. “Seeing it in color makes it a whole different film,” he said. “The technique involved teams of women painting individual frames with tiny brushes and aniline dyes. The color is surprisingly accurate but at times not very precise. It will wander in and out of an actor’s jacket, for example. But it’s very organic. It will never rival the way A Trip to the Moon first screened for audiences, but it’s still pretty amazing.”  Daniel Eagan (02.09.21 Smithsonian Magazin)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Buch zur Ausstellung

 

Wenn sie hält, was das sie begleitende Buch verspricht, dann wird die vom 8. Juli 2020 bis zum 11. April 2021 in München im Deutschen Theatermuseum stattfindende Ausstellung mit dem Titel Regietheater eine hochinteressante werden. Claudia Blank hat das Buch verfasst, C. Bernd Sucher das ebenso informationsreiche Nachwort geschrieben.

Mit dem Begriff Regietheater verbindet der gestresste Opernbesucher eine Wurststullen schmierende Amneris, Aldi-Tüten schleppende Timur und Altoum, die von ihren Sprösslingen abgemurkst werden, und einen mit Chemikalien entsorgten Simone-Leichnam. Um Oper geht es in dem Buch nur sporadisch, fast ausschließlich um Sprechtheater, aber auch aus einem anderen Grund erfährt man Erfreulicheres, denn es beginnt bereits mit Otto Brahm und Max Reinhardt, also in einem Zeitalter, als Regie an sich überhaupt erst zum Thema wurde, sie zuvor kaum eine Rolle gespielt hatte.

Das Buch ist vielfach gegliedert, einerseits chronologisch, gleichzeitig aber auch thematisch, so dass die Namen Otto Brahm,  Max Reinhardt, Leopold Jessner, Fritz Kortner, Gustav Gründgens, Peter Zadek, Peter Stein und Claus Peymann immer wieder, aber stets in anderem Zusammenhang auftauchen, dazu noch viele weitere Regisseure aus jüngerer Zeit. Der Untertitel Eine deutsch-österreichische Geschichte weist darauf hin, dass besonders das Wiener Burgtheater eine große Rolle spielt neben vor allem Berliner, aber auch anderen deutschen Bühnen.

Die fünf Hauptkapitel, die ihrerseits wieder vielfältig untergliedert sind, nennen sich Intention und Ästhetik, Laufbahnen, Arbeitsstil und Probenarbeit, Inszenierungsstil und Repertoire.

Der Einleitung ist zu entnehmen, dass Regietheater in der Oper weit später als im Sprechtheater eine Rolle zu spielen begann, während in diesem sehr früh von einem „interpretierenden Dialog“, also einer Art Gleichwertigkeit von Dichter und Regisseur die Rede ist. Interessant ist, dass dem Feuilleton mit seiner „Sucht nach Neuem“ die „Schuld“ daran gegeben wird, dass Regisseure sich nicht mehr mit einer bescheiden dem Werk dienenden Rolle zufrieden geben mochten.

Das Buch zeichnet aus, dass eine Fülle von Primärquellen herangezogen wird und dass es mit Erfolg versucht, klar Tendenzen herauszuarbeiten, auch zu interessanten Feststellungen wie der zu kommen, dass es Generationenkonflikte waren, die die Entwicklung des Kultur, insbesondere des Theaterlebens, prägten. Einen solchen sieht die Verfasserin in der nie offen ausgetragenen Gegnerschaft zwischen Otto Brahm, der dem Naturalismus auf Berliner Bühnen zum Durchbruch verhalf, und Max Reinhardt, dem es um Schönheit und Überwältigung des Publikums mit seinen Inszenierungen ging. Generationenkonflikte spielten sich ebenso auch zwischen Kortner und Reinhardt, zwischen Stein und Kortner ab.

Interessant ist die enge Verbindung, die Regisseure zu zeitgenössischen Schriftstellern und Malern hatten, die sie sich, das auch konfliktträchtig für die Beziehung zwischen Brahm und Reinhardt, gegenseitig abzuwerben versuchten. Hofmannsthal Hauptmann, Schnitzler gehörten zu den Umworbenen. Dabei und auch in andren Fragen kommt Reinhardt längst nicht so gut weg, ist von seiner „gnadenlosen Konkurrenz“ die Rede und seinem nicht von jedem gern gesehenen „privaten Theater-Imperium“.

Für den Leser ist die bereits erwähnte Gliederung des Buches nicht immer einfach nachzuvollziehen, aber wohl dem Aufbau der Ausstellung geschuldet.

Die Gegnerschaft Kortners gegenüber Reinhardt beruht zum Teil auf dessen Erfahrungen bei der Einstudierung des Jedermann, aber auch die Gegenpole Theater als moralische Anstalt oder Tempel des Genusses und der Freude spielen mit hinein. Als Beispiele werden Brahms Weber-Produktion und Reinhardts Sommernachtstraum aufgeführt.

Der Leser kann quasi noch einmal miterleben, wie Aufführungen in der Theaterstadt Berlin Kritik und Publikum spalteten, so Leopold Jessners Wilhelm Tell, dessen Bühnenbild eine „Idee der Alpen“, nicht eine Illusion davon vermitteln soltel. Er trifft auf die Kritiker in vielen Zitaten, auf Namen, die ihm bereits in ebenfalls in letzter Zeit erschienenen Büchern über Lehar,  Kollo oder Furtwängler begegnet sind.

Mancher Leser wird sich noch um den erbitterten Streit zwischen Kortner und Gründgens erinnern, der in dem Düsseldorfer Manifest, das Kortner auf sich beziehen musste, seinen Höhepunkt fand. Davon ist allerdings erst später im Buch die Rede. Zunächst geht es um die unterschiedliche Auffassung vom Charakter König Philipps in Schillers Don Carlos, der Kortner zum bösen Begriff Leharisierung greifen ließ. Schüsse ins Publikum, die nicht Kortner, sondern eine mangelhafte Technik zu verantworten hatten, kosteten Kortner wohl die Intendanz des Schillertheaters.

Es wird auch weiterhin viel Aufregendes berichtet, so über Peymanns Aufarbeitung der Nazizeit, Peter Steins wundersame Wandlung, Peter Zadeks Einsicht, dass Beeinflussung durch das Theater reine Utopie sei.

Im Kapitel Laufbahnen werden diejenigen nachgezeichnet, die vom Schauspieler zum Regisseur führten oder über ein Studium oder in Verbindung mit einer Intendanz. Dabei tauchen die bereits bekannten Namen wieder auf. Ebenso ist es mit dem Vergleich der Arbeitsstile, seien sie das Vorspielen, Improvisieren, ein diktatorisches oder partnerschaftliches Verhalten gegenüber den Schauspielern. Auch Schauspieler kommen zu Wort, so wenn Curt Bois sich über den Probenstil Kortners, der sich für Stunden bei einem Satz aufhalten konnte, mokiert.

Natürlich kommt auch das Kapitel Werktreue oder vielmehr das Abweichen davon nicht zu kurz, und damit beginnen auch die schlimmen Fotos, so von einem Othello. Und verräterisch ist der Begriff „respektfrei“ anstelle von respektlos, der manchem gestressten Theaterbesucher zu positiv klingen mag, selbst wenn mit Goethe argumentiert wird:“ Und umzuschaffen das Geschaffene, damit sich’s nicht zum Starren waffne, wirkt ewiges, lebendiges Tun.“ Ob er damit seinen Faust in Castorfs Inszenierung an der Berliner Volksbühne mit eingeschlossen hätte, darf bezweifelt werden.

Schließlich werden noch die Allianzen von Regisseur und Bühnenbildner beschrieben, so die von Gründgens‘ und Theo Otto, Kortners und Caspar Nehers, Steins und Jürgen Roses oder Peymanns mit Achim Freyer. Auch neue Techniken, die Drehbühne, der Rundhorizont kommen zur Sprache. Bemerkenswert ist, dass nur Brahm und Zadek sich nicht mit Faust befassten, dass nicht nur die Altvorderen, sondern auch moderne Regisseure Kontakte zu Schriftstellern pflegten wie Peymann mit Thomas Bernhard, Stein mit Botho Strauß, Zadek mit Tankred Dorst.

Ein Nachwort in die Zukunft nennt C. Bernd Sucher seinen Beitrag und stellt fest, dass kein ästhetischer und ideologischer Konsens mehr unter den ganz jungen Regisseuren auszumachen sei. Er listet sie auf in den verliebten Spieler (Luc Bondy), den feinfühligen Choreographen (Andreas Kriegenburg), den radikalen Zertrümmerer (Frank Castorf), den gesellschaftskritischen Performer (Christoph Schlingensief), den intellektuellen Zweifler (Leander Haußmann), und nach so viel Sprechtheater kommt auch die Oper ins Spiel mit Schlingensiefs Parsifal und Davis Böschs Meistersingern.

Wer das Buch gelesen hat, wird die Ausstellung nicht verfehlen wollen. Und wer die Ausstellung gesehen hat, wird hoffentlich unbedingt das Buch lesen wollen. Das bietet im umfangreichen Anhang zudem Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Ergänzungen zum reichlichen Bildmaterial und ein Namensregister (425 Seiten, Henschelverlag 2020, ISBN 978 3 89487 815 3). Ingrid Wanja

 

Emphase bei Max Lorenz

 

Also doch! Seit langem kursierte in Sammlerkreisen das Gerücht, dass sich ein kompletter dritter Aufzug von Richard Wagners Tristan und Isolde unter der Leitung von Hans Knappertsbusch, mitgeschnitten 1947 in Zürich, erhalten habe. Einige Szenen, auch aus dem ersten Aufzug, waren immer mal wieder aufgetaucht. Sogar auf einer LP beim Label Anna. Nun die Gewissheit. Der Schlussakt ist bei Weitblick veröffentlicht worden (SSS0227-2). Klangtechnische Wunder sind nicht zu erwarten, dafür künstlerische. Dem Mitschnitt des Schweizer Rundfunks ist sein Alter anzuhören. Wenn es aber darauf ankommt, erhebt sich die Musik über schnödes Bandmaterial. Und am Ende habe ich mich gefragt, Stereo, was ist das eigentlich? Noch hat auch das fortschrittlichste Aufnahmeverfahren keinen Tristan wie Max Lorenz, der in dieser Aufnahme singt, hervorgebracht. Gut, es gibt viele solide bis ausgezeichnete Rollenvertreter, solche, die auch noch leben – und auftreten. Die genauer und immer auf den Noten singen. Und die auch völlig zu Recht gefeiert werden von ihren Fans.

Doch die Emphase, die Lorenz vorlegt, dieses sich aufzehren in der Figur, dieses eins werden, dieses Leiden mit und an Tristan – das ist verloren gegangen. Nicht nur das. Lorenz überzeugt auch deshalb noch immer, weil ihm der Text geradezu heilig ist. Während er einzelne Töne schon mal sehr frei in Angriff nimmt, hält er sich immer sklavisch ans Wort. Da rutsch ihm nichts durch. Er mutet seinem Publikum kein Textbuch – heute wäre es ein Laufband am oberen Bühnenrand – zu. Bei ihm versteht man jeden Buchstaben und jedes Wort. Man könnte locker mitschreiben. Wagner verwendet bekanntlich eine üppige Interpunktion in seinen selbst verfassten Textbüchern. Diese dient letztlich der genauen Aussprache und der Aktion. Gerade im Tristan wimmelt es nur so davon. Es vergeht kaum eine Zeile, in der sich kein Apostroph findet. Es gibt die mit Anführungs- und Abführungszeichen versehene wörtliche Rede. Auf einen Doppelpunkt kann auch schon mal ein Gedankenstrich folgen und so weiter. Ich habe mir dann doch ein Textbuch gegriffen, um festzustellen, dass Lorenz mit dieser höchst individuellen sprachlichen Zeichengebung souverän und penibel zugleich umgeht.

Es handelt sich bei diesem ungekürzten dritten Aufzug um den Mitschnitt aus einer Bühnenaufführung vom 5. Juni im Züricher Stadttheater im Rahmen von Festspielen, die nach wie vor in diesem Monat stattfinden. Daraus erklärt sich auch die luxuriöse Besetzung. Knappertsbusch sorgte für den großen, in seiner Spannung nie nachlassenden Zusammenhalt und blieb seiner Neigung treu, bestimmte Details atemberaubend und leicht selbstverliebt auszumalen. Die Isolde wurde von Kirsten Flagstad gesungen, die nach Kriegsende international an die großen Erfolge in den dreißiger und vierziger Jahren anschließen konnte. Ihre Stimme hatte nichts von der majestätischen Ausstrahlung eingebüßt. Für die aus der Schweiz stammende Mezzosopranistin Elsa Cavelti ist die Brangäne ein Heimspiel gewesen. Der stimmgewaltige Bulgare Lubomir Vischegonow gab den König Marke. Wie Andreas Boehm, der als Kurwenal besetzt war, gehörte er zum Opernensemble in Zürich, wechselte aber ein Jahr später an die Metropolitan Opera in New York. Rüdiger Winter

Willkommen und Abschied

 

Fremde Heimat hat der Bariton Rafael Fingerlos seine neue CD mit Liedern betitelt, die bei Oehms Classics herausgekommen ist (OC 1711). Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk produziert, was erfreulich ist. Erfreulich deshalb, weil der gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Rundfunk damit seinen Teil der Verantwortung für die Förderung junger Sänger übernimmt. Fingerlos hat in namhaften Häusern und auch bei Festivals erfolgreich auf sich aufmerksam gemacht, so als Papageno an der Wiener Staatsoper oder als Rossinis Figaro in Dresden. Für Ende 2020 ist Elias in Klagenfurt angekündigt. Die Hinwendung zum Liegesang versteht er neben Oper und Oratorium als feste Größe in seiner Karriereplanung. Und das ist auch gut so. Er bringt dafür solide Voraussetzungen mit.

Die neue CD wurde im Sommer 2019 produziert. Fingerlos hat sich ein unverwechselbares Timbre erarbeitet. Die Stimme kling kräftiger und voluminöser als es seine jungenhafte Erscheinung erwarten lässt. Atemtechnisch erprobt er interessante Lösungen, indem einzelnen Passagen auf eine Weise verbunden werden, dass sich daraus ganz bestimmte Aussagen ergeben. Musikalische Bögen sind für ihn kein Problem. Er beherrscht das Genre gut. Details könnten noch poetischer ausgefüllt werden. So ein Beispiel gibt es in Schuberts Willkommen und Abschied nach Goethe. Wenn es gegen Ende des Liedes heißt, „Doch ach, schon mit der Morgensonne verengt der Abschied mir das Herz“, dann wünschte man sie dieses „ach“ tiefer gefühlt und gesungen. Fingerlos hat auch die Angewohnheit nicht ganz abgelegt, gelegentlich bei Worten, die mit einem Konsonanten beginnen, zu aspirieren. Es bleibt sein Rätsel, warum er in Wandrers Nachtlied II die Wiederholung von „warte nur“ wie „w(h)arte nur“ klingt. So ein Detail stört umso mehr, als das Lied als Ganzes betörend schön vorgetragen und zu seinem Höhepunkt der CD wird.

 

Fremde Heimat also! Die Titel wurden passend ausgesucht, so dass sich der Säger in seinem einleitenden Text des Booklets weitere Erklärungen sparen kann, zumal auch alle Texte abgedruckt worden sind. Vielmehr gibt er anhand einiger Lieder freimütig Einblick in seine eigene Gefühls- und Erlebniswelt. Wie schon bei seiner ebenfalls bei Oehms erschienen CD Stille und Nacht (OC 1879) gibt es zwischen hinlänglich bekannten Liedern weitestgehend unbekannte Stücke zu entdecken. Wieder ist Robert Fürstenthal vertreten, diesmal mit seinem vorwärtsdrängenden Reiselied nach Hugo von Hofmannsthal. Dieser Komponist wurde 1920 in Wien geboren, musste vor den Nationalsozialisten fliehen und betätigte sich in den USA als Wirtschafsprüfer, wie die Wiener Zeitung berichtet: „Die Kompositionen entstanden nebenher, ausschließlich Kammermusik und Lieder. Er komponierte für seine Jugendliebe. Nach der Trennung von ihr schrieb er keine Note mehr, als er sie wiedertraf, kehrte seine Inspiration zurück.“ Fürstenthal starb 2016. Fingerlos hatte ihm bereits eine ganze CD gewidmet, die bei Toccata Classics herausgekommen ist. Sein Stil ist traditionell und erinnert am ehesten an Hugo Wolf und Richard Strauss, die beide aktuell auch vertreten sind – Wolf mit Auf einer Wanderung, Strauss gleich dreifach mit Nachtgang, Ach Lieb, ich muss nun scheiden und Zueignung. Schubert war genannt. Dazu kommen Brahms, Mendelssohn und Schumann. Der Engländer Peter Warlock und der US-Amerikaner Charles Ives erweitern den Radius des Angebots. Mit Die stille Stadt legt Alma Mahler einen Beweis für ihr Talent als Komponisten vor. Sie ist die einzige Komponistin auf dieser Neuerscheinung. Mit dem Volkslied „Deine Hand mecht i gspian“ scheint der aus Salzburg stammende Bariton am Ende seiner CD heimzukehren. Es wurde von ihm und seinem höchst sensibel begleitenden Pianisten Sascha El Mouissi, der ein sehr gefragter Begleiter ist, so bearbeitet, dass es sich auch einem Publikum mitteilt, dass den alpenländischen Dialekt nicht versteht. Rüdiger Winter

 

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Wer war Francesco Rasi?

 

Eine der schillerndsten Persönlichkeiten im Musikleben Italiens um das Jahr 1600 herum ist der aus Arezzo stammende Francesco Rasi, zugleich Dichter und Komponist sowie Sänger und dazu noch Mörder, der versuchte seine Stiefmutter umzubringen und deren Gutsverwalter tötete. Seiner gerechten Strafe entging er nur, weil die Herrscherfamilie, in deren Dienst er fast sein gesamtes , von 1574 bis 1621 dauerndes Leben verbrachte, ihm vor der Vollstreckung des Todesurteils zur Flucht verhalf. An der Seite von Vincenzo I. Gonzaga reiste er nicht nur durch ganz Italien, sondern auch durch halb Europa, verbrachte einige Zeit am polnischen Königshof, wo Sigismund III. residierte, in Prag am Hof Kaiser Matthias‘ und in Salzburg, wo er Erzbischof Markus Sittikus acht selbst komponierte Arien widmete. Er war der erste Orfeo in Monteverdis Oper, wirkte auch bei der Uraufführung von Peris Euridice und Caccinis Il rapimento di Cefalo mit. Vieles, was er schrieb und komponierte, ist im Verlauf der Jahrhunderte verloren gegangen, einige seiner vor allem für Tenor und damit für ihn selbst komponierte Werke blieben erhalten, befinden sich so wie Arien, die von anderen Komponisten geschrieben wurden, auf der CD, die der Tenor Emiliano Gonzalez Toro gemeinsam mit seinem aus Viola, Harfe und Laute bestehendem Ensemble I Gemelli eingespielt hat. Der Schweizer ist vor allem als Konzertsänger bekannt, hat auch bereits viel Bach neben italienischen Barockkantaten gesungen, dürfte es jedoch auf der Opernbühne wegen der Begrenztheit seiner stimmlichen Mittel, was die Qualität des Timbres und die Tragfähigkeit der Stimme angeht, eher schwer haben. Auf dem Cover der Soleil Noir betitelten CD schaut er so finster, ja dämonisch drein, als wolle er dem Hörer weniger den poeta, compositore, cantante näherbringen als den assassino.

Kläglich klingt das „Ohimè“ aus Rasis Indarno Febo, während ansonsten eher Beiläufigkeit das Bestreben des Sängers zu sein scheint. Fast ausschließlich die Mittellage wird nicht nur bei Rasi verlangt, die der Tenor mit dem eindeutigen Bestreben einsetzt, recht instrumental zu wirken. Es gibt auch feine Ausformungen der Melodie wie auf Del Biados „vieni su l’ale dei zefiretti“, jedoch dominiert Verhuschtes, scheint beinahe Gestaltungsprinzip zu sein und führt zum Verschlucken vorzugsweise von Konsonanten, aber auch ganzen Silben oder kurzen Wörtern. Schön ist das gleichberechtigte Wirken von Stimme und Laute in Gaglianos Lamento, sanfte Freude wird durch Rasis O che felice giorno verbreitet, ein schnelleres Tempo tut der Stimme in Caccinis Dalla Porta dell’Oriente gut und empfindungsreich wird D’Indias Amico, hai vinto gestaltet. Zudem erfreut Monteverdis „Quel‘ sguardo“ durch ungewohnte Munterkeit, die auch Falconieris  E vivere e morire zumindest teilweise zuteil wird. Das Rätsel aber, warum die CD sich Soleil noir nennt und warum der Sänger so finster schaut, bleibt bis zum Schluss ungelöst (Naȉve V5473). Ingrid Wanja

40 Jahre ORFEO

 

Der 19. Juni 2020 markierte den Auftakt zum offiziellen 40-jährigen Jubiläum des Labels ORFEO International in den nächsten Monaten. Das einzigartige und hochwertige Label ORFEO hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten bei Kritikern und Sammlern einen exzellenten Ruf als Referenz für erstklassige historische Live-Mitschnitte aus Bayreuth, München, Salzburg und Wien, als Referenz für romantische und spätromantische Liedkunst und – nicht zuletzt – als innovative Talentschmiede für kommende Weltstars erworben.

Mit der Veröffentlichung der ersten von vier geplanten 10-CD-Jubiläumsboxen (535007) erinnert ORFEO an herausragende Aufnahmen legendärer Dirigenten im Katalog: Sir John Barbirolli, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, Ferenc Fricsay, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, Otto Klemperer, Hans Knappersbusch, Dimitri Mitropoulos und Wolfgang Sawallisch dirigieren Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Prokofjew, Schubert, Strauss, Vaughan-Williams und Tschaikowsky. Das Doppelalbum „40 Ultimate Recordings“ (534826)  fasst 40 Highlights der Label-Geschichte zu einem musikalischen Kaleidoskop auf zwei CDs zusammen.

 

Daniel Hauser hat ein Ohr in die Box mit den legendären Dirigenten geworfen:  ORFEO wird vierzig. Ein Grund zum Feiern nicht nur für das Münchner Label, sondern auch für Klassikfreunde. Mehrere Boxen sind hierzu geplant. Die erste, 10 CDs umfassende Box ist mit Legendary Conductors betitelt (Orfeo C200011). Insgesamt elf legendäre Dirigentenpersönlichkeiten wurden darin bedacht, was bedeutet, dass neun der Dirigenten jeweils eine CD bekamen und sich zwei eine einzelne Silberscheibe teilen müssen. Die Dirigentenwahl ist nachvollziehbar, auch wenn dieser und jener einen seiner Lieblinge vermissen wird. Eine Auswahl muss schließlich getroffen werden. Berücksichtigt wurden Aufnahmen der Jahre zwischen 1951 und 1991, also wiederum ein Zeitraum von vierzig Jahren. Interessant ist, dass Zweidrittel der ausgewählten Aufnahmen nur in Mono vorliegen, also die 1950er und frühen 1960er Jahre einen breiten Raum einnehmen. Die Kollektion wendet sich weniger an den Klang-Enthusiasten denn an den Bewunderer historischer Interpretationskunst. Tatsächlich entstand die älteste der enthaltenen Aufnahmen unter der Stabführung von Wilhelm Furtwängler: Bruckners vierte Sinfonie, die Romantische, mit den Wiener Philharmonikern, mitgeschnitten im Kongresssaal des Deutschen Museums in München am 29. Oktober 1951. Eine wahrlich romantische Lesart, die einem Bruckner-Bild verhaftet ist, das heute als überholt erscheinen mag, gleichwohl nach wie vor seine Berechtigung in der Bruckner-Aufführungsgeschichte besitzt. Es ist keine so extreme Lesart wie die legendären Mitschnitte von Bruckners Fünfter und Neunter aus dem Kriege und doch so grundverschieden von dem, wie der Meister von Sankt Florian heutzutage dargeboten wird. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 30. Oktober 1952, dirigierte Sergiu Celibidache im Wiener Konzerthaus ein Konzert der Wiener Symphoniker mit Les Préludes von Franz Liszt und Brahms‘ erster Sinfonie, das glücklicherweise ebenfalls festgehalten wurde. Celibidache, der Furtwängler am Pult der Berliner Philharmoniker zwischen 1945 und 1952 interimistisch vertrat, lässt bereits in diesen frühen Jahren ansatzweise seinen später essentiell gewordenen Ansatz erkennen, der sich durch breite Tempi auszeichnete, dauert die Liszt’sche Tondichtung bei ihm doch beinahe achtzehn Minuten. Anders als die Brahms-Sinfonie, die er später noch häufig dirigieren sollte, scheint er Les Préludes danach nicht mehr aufgeführt zu haben, was angesichts der Qualität der Interpretation schade ist. Überhaupt beweist diese Programmauswahl, dass das von den Nazis propagandistisch so ausgeschlachtete Werk bereits in den frühen 50er Jahren durchaus wieder im Konzert gegeben werden konnte und nicht einmal ein rumänischer Dirigent zwangsläufig Berührungsängste verspürte.

Wieder zwei Jahre später, am 9. Juli 1954, leitete der aus Griechenland stammende Dimitri Mitropoulos das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz mit der fünften Sinfonie von Sergei Prokofjew; eine spektakuläre Darbietung, die einzig klanglich eingeschränkt ist. Dies gilt leider auch für den Rundfunkmitschnitt vom 25. Juni 1955 aus dem Wiener Musikverein, als Herbert von Karajan Beethovens Neunte am Pult der Wiener Symphoniker in höchst prominenter Besetzung leitete. Das Solistenquartett setzte sich aus Lisa Della Casa, Hildegard Rössel-Majdan, Waldemar Kmentt und Otto Edelmann zusammen. Es sang zudem der von Karajan stets geschätzte, allerdings nicht immer auf höchstem Niveau agierende Wiener Singverein. Diese Aufnahme bietet einen spannenden Vergleich zur fast zeitgleich entstandenen Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra für EMI in London. Wiederum mit den Wiener Symphonikern ist Otto Klemperer in einem Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 8. März 1956 berücksichtigt worden, in welchem die von ihm so geliebte dritte Sinfonie von Brahms sowie die siebente Sinfonie von Beethoven gespielt wurden. Es handelt sich um ein Tondokument, das noch vor Klemperers schwerem Brandunfall entstand und ihn auf der uneingeschränkten Höhe seiner dirigentischen Vitalität zeigt und insgesamt spritziger daherkommt als die viel berühmteren Studioeinspielungen. Mit Hans Knappertsbusch wurde eine weitere Dirigentenlegende in der Box aufgenommen, die bis heute eher als Opern- denn als Konzertdirigent in Erinnerung geblieben ist. Wie einseitig solch eine Betrachtungsweise ist, zeigt sich anhand der inkludierten Mitschnitte zweier Beethoven-Werke, der Coriolian-Ouvertüre (17. Jänner 1954) sowie der Eroica (17. Februar 1962), wiederum aus dem Musikverein in Wien. Dieser monumentale Beethoven-Stil, der das Pathos zu einer Tugend erhebt, gemahnt an das späte 19. Jahrhundert. Den Abschluss der Mono-Aufnahmen bildet sodann ein am 24. November 1960 im Herkulessaal entstandener Live-Mitschnitt der Symphonie Pathétique von Tschaikowski mit dem BR-Symphonieorchester unter der Leitung des allzu früh verstorbenen Ferenc Fricsay. Dieser feurige Mitschnitt übertrifft in seiner Unmittelbarkeit gar die offizielle Studioeinspielung bei der Deutschen Grammophon. Die Stereo-Ära beginnt sodann mit einem in München selten gesehenen Gastdirigenten, Sir John Barbirolli, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hier, gesundheitlich bereits schwer angeschlagen, am 10. April 1970 abermals in der Münchner Residenz leitet, keine vier Monate vor seinem Ableben. Neben der sechsten Sinfonie seines Landsmannes Vaughan Williams brilliert er insbesondere in seiner liebevollen Interpretation der zweiten Sinfonie von Brahms, die eine lohnende Ergänzung darstellt zu seinem späten Zyklus der vier Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern für EMI. Der akustisch so gerühmte Herkulessaal in München kommt in der Box ein letztes Mal im dirigentischen Beitrag von Karl Böhm zum Zuge, der dort am 29. September 1973, wiederum mit dem BR-Orchester, Ein Heldenleben von Richard Strauss sowie Schuberts zweite Sinfonie aufführte. Gerade für Schuberts Jugendwerk, wohl die bedeutendste unter dessen frühen Sinfonien, hatte Böhm eine Schwäche, wie man aufgrund einiger weiterer Konzertmitschnitte weiß. Die Darbietung gelingt sodann auch tadellos mit wahrlich wienerischem Charme. Fast ein Jahrzehnt später, am 3. Mai 1982, wurde ein Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Carlos Kleiber im Münchner Nationaltheater mitgeschnitten, aus welchem in diesem Zusammenhang Beethovens vierte Sinfonie beigefügt wurde. Der jüngere Kleiber, der sich durch sein winziges Repertoire und seine Eigenwilligkeit schon zu Lebzeiten den Ruf eines Exzentrikers par excellence erarbeitet hatte, liebte Beethovens häufig unterschätzte Vierte hörbar, auch wenn man nüchtern hinzufügen sollte, dass der Nimbus der absoluten, alles andere in den Schatten stellenden „Überinterpretation“ reichlich übertrieben erscheint. Den Abschluss bildet schließlich eine Coproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk, die am 28. und 29. September 1990 sowie zwischen dem 18. und 20. März 1991 eingespielt wurde und Bruckners gewaltige fünfte Sinfonie zum Thema hatte. Abermals spielt hier das Bayerische Staatsorchester, diesmal allerdings unter der musikalischen Leitung des langjährigen Bayerischen Generalmusikdirektors Wolfgang Sawallisch. Aus unerfindlichen Gründen wurde dieser nie so recht für seinen Bruckner berühmt, doch stellte jüngst der ob seiner apodiktischen Urteile zuweilen gefürchtete amerikanische Kritiker David Hurwitz genau diese Aufnahme an die Spitze der Diskographie. Das mag angesichts der hochkarätigen Konkurrenz sehr hinterfragbar sein, doch besitzt diese Aufnahme tatsächlich höchste Qualität sowohl in künstlerischer als auch in klanglicher Hinsicht und bildet damit eine gelungene Krönung der Jubiläumsedition. All diese hier versammelten Aufnahmen sind übrigens zuvor bereits einzeln erschienen, teils freilich in anderer Kombination. Orfeo ist die Gesamtauswahl insgesamt ausgezeichnet geglückt, auch wenn der Fokus sehr eindeutig auf München und Wien liegt. Die wertige Aufmachung und der kundige Einführungstext von Jens F. Laurson tun ihr Übriges, eine volle Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Claude Heater

 

Der amerikanische Tenor Claude Heater, der am 28.  Mai  2020 im Alter von 92 Jahren starb, gehörte während meines Opernerlebens zu den schönsten Männern auf der Bühne. Er toppte für mich (und viele andere) sogar noch Siegfried Jerusalem (als Lohengrin zum Beispiel) oder Peter Seiffert oder Jonas Kaufmann. Claude Heaters Tristan damals in Hannover  (und in der Rolle 1969 auch auf Melodram nachzuhören)  ist eine der unvergesslichen Erinnerungen für mich, später auch in Berlin als Siegmund. Als Tristan ist er in einem abendfüllenden Film neben Jacqueline van Quaille aus Brüssel dokumentiert (youtube hat Ausschnitte davon) und ebenfalls in (nur erhaltenen) Ausschnitten beim französischen Fernsehen neben Hannelore Kuhse konzertant (ORTF). Er bedient(e) das Auge in hocherotischer Weise, und das in einem Fach, das sich sonst nicht gerade durch die optische Attraktivität der Tenöre auszeichnet (de gustibus). Berlins DOB profitierten wie andere Häuser von der physischen Anziehungskraft dieses stupenden jungen Mannes, dessen Karriere leider nicht seinen optischen Qualitäten standhielt. Denn nach einem internationalen Strohfeuer verglomm sein Ruhm rasch. Die Stimme hielt nicht. Aus Tristan wurde Melot (so auf Böhms Bayreuther Tristan bei DG), aber ganz sicher stahl er auch in dieser kleinen Partie seinem berühmten Protagonisten die Schau. G. H.

 

 Dazu ein Auszug aus dem unersetzlichen Kutsch-Riemens Großem Sängerlexikon: Heater, Claude, Tenor, * 1930 Oakland (Kalifornien); nach seinem Militärdienst wurde er Platzanweiser in einem Theater in Los Angeles, ließ jedoch während dieser Zeit seine Stimme ausbilden. 1954 debütierte er in den USA als Bariton im Konzertsaal und trat bereits am New Yorker Broadway in Musicals, außerdem im amerikanischen Rundfunk wie im Fernsehen, auf. Mitte der fünfziger Jahre kam er nach Europa und sang als Bariton 1956-57 am Stadttheater von Basel, 1957-59 an der Städtischen Oper Berlin und 1959-61 an der Wiener Staatsoper. Nachdem er erkannt hatte, daß er eigentlich eine Tenorstimme besaß, studierte er nochmals bei zwei berühmten Tenören, in Mailand bei Mario del Monaco und in München bei Max Lorenz. 1964-68 war er dann als Heldentenor Mitglied der Staatsoper München. Er hatte dort ein sehr erfolgreiches Debüt in der zeitgenössischen Oper »König Hirsch« von H.W. Henze. Er kam dann vor allem als Wagner-Sänger zu großen Erfolgen. Er trat als Gast in Amsterdam und Brüssel, an den Staatsopern von Hamburg und Stuttgart, an der Deutschen Oper Berlin und an der Mailänder Scala auf. Er gastierte auch an der Staatsoper Dresden (1968), beim Festival von Spoleto (1968 als Tristan), am Teatro Liceo Barcelona (1968-69), an der Oper von Bordeaux (1969-70), am Grand Théâtre Genf (1969), an der Nationaloper  Budapest (1970) und am Teatro Fenice Venedig (1970). 1966 hörte man ihn bei den Festspielen von Bayreuth als Siegmund in der »Walküre« und als Melot im »Tristan«. Neben seinen Wagner-Heroen standen Partien wie der Othello von Verdi, der Samson in »Samson et Dalila« von Saint-Saëns, und der Florestan im »Fidelio« an erster Stelle in seinem Bühnenrepertoire. Aus seinem Bariton-Repertoire für die Bühne vom Anfang seiner Karriere sind noch Partien wie der Escamillo in »Carmen«, der Germont-père in »La Traviata«, der Sharpless in »Madame Butterfly« und der Silvio im »Bajazzo« anzumerken. Der Künstler lebte in München und ging von dort aus seiner Gastspiel- und Konzerttätigkeit nach, die ihm in Europa, in Nord- und Südamerika wie auch in Afrika anhaltende Erfolge eintrug.

Schallplatten: Frühe Aufnahmen als Bariton auf HMV (Conte Cornaro im »Zigeunerbaron«). Als Tenor singt er auf Melodram den Melot im »Tristan« (Bayreuth, 1966).

[Nachtrag] Heater, Claude; an der Oper von Frankfurt a.M. sang er u.a. 1961 den Enrico in »Lucia di Lammermoor« als Partner von Joan Sutherland. An der Deutschen Oper Berlin hörte man ihn 1957 als Melot im »Tristan«. Anscheinend war seine Karriere früh beendet, nach 1971 finden sich keine Auftritte. mehr an größeren Opernhäusern. – Schallplatten: DGG (»Mord in der Kathedrale« von I. Pizzetti). [Lexikon: Heater, Claude. Großes Sängerlexikon, S. 10408; (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 364-365) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto: Claude Heater/ www.claudeheater.com)

Zum 450. Geburtstag

 

Die große Geburtstagsfeier, falls eine solche vorgesehen war, dürfte ausgefallen sein, ein schönes Geburtstagsgeschenk zum 450. hat  die Staatskapelle Berlin nicht nur sich selbst, sondern auch ihren vielen Freunden gemacht mit einer CD-Kassette mit nicht weniger als 15 CDs, Aufnahmen von 1916, der ersten Aufzeichnung, bis zum heutigen Tage enthaltend. Einige von ihnen wurden bisher noch nie veröffentlicht. Aus dem Jahre 1570 stammt der erste Beleg für das Bestehen des Orchesters,  eine Kapellordung, die einige für das Ansehen des Orchesters wichtig erscheinende „Benimmregeln“ enthielt. Chronologisch geordnet, sind die Generalmusikdirektoren der Staatskapelle vertreten, beginnend mit Richard Strauss, gefolgt von Leo Blech, Otto Klemperer, Erich Kleiber, Herbert von Karajan, Wilhelm Furtwängler, Joseph Keilberth, Franz Konwitschny, Otmar Suitner und schließlich Daniel Barenboim. Dazu kommen dem Orchester besonders verbundene Dirigenten wie Sergiu Celibidache, Pierre Boulez, Michael Gielen, Zubin Mehta und auf der Bonus-CD vor allem Komponisten, die ihre Werke an der Staatsoper dirigierten, nämlich  Mascagni mit der Sinfonia zu Le Maschere und Pfitzner mit Palestrina, außerdem Max von Schillings, Karl Muck, Selmar Meyrowitz, Robert Heger, Johannes Schüler Paul van Kempen.

Obwohl die Staatskapelle das Orchester der Lindenoper ist, sind Opernaufnahmen eher wenig vertreten, ja eher die Ausnahme. Dazu gehören Auszüge aus dem Ring, dirigiert von Leo Blech mit Friedrich Schorr als Wotan. Kurt Weills Dreigroschenoper hingegen ist nur in Form einer Suite vertreten. Karajan dirigiert zwar Oper, aber nur die Ouvertüren zu Die  Zauberflöte und La Forza del Destino. Von Furtwängler ist der zweite Akt von Tristan auf CD Nr. 6 mit Erna Schlüter, Ludwig Suthaus, Gottlob Frick, Margarete Klose und Jaro Prohaska zu hören, kurz nach dem Entnazifizierungsprozess, durch Intrigen besonders nervenaufreibend gestaltet, entstanden. Man meint die lange zwangsweise aufgestaute Energie sich in dieser Aufnahme entladen zu hören. Leider noch auf Deutsch, aber doch nicht minder eindringlich gestaltet ist Verdis Macbeth unter Keilberth mit Martha Mödl und Josef Metternich. Mit Franz Konwitschny sind Auszüge aus den Meistersingern überliefert. Den ersten Akt singen Josef Herrmann , Theo Adam, Erich Witte, Gerhard Unger, Ruth Keplinger und Anneliese Müller.

Das umfangreiche und informationsreiche Booklet wurde vom Dramaturgen des Hauses, Detlef Giese, zweisprachig, in Deutsch und Englisch, gestaltet. In 450 Jahre Staatskapelle Berlin- Eine Chronik werden alle wichtigen und auch überlieferten Ereignisse, die das Orchester betreffen, berücksichtigt, beginnend mit 1570 und endend mit 2020, als noch nicht abzusehen war, dass die zu Ostern stattfindenden Festtage wegen der Corona-Krise nicht das vorgesehene und hier noch erwähnte Programm bieten konnten. Auch Daniel Barenboim konnte in seinem Grußwort noch nicht ahnen, dass einmal nicht ein Musiker, sondern eine Epidemie Staatskapellen-Geschichte schreiben sollte.

Ebenso wertvoll für den Leser ist der Aufsatz Die Staatskapelle Berlin und ihre großen Dirigenten, ebenfalls von Detlef Giese verfasst. Er verweist auf die Musiker, die in ihrer Eigenschaft als Dirigenten keine Zeugnisse ihres Schaffens hinterlassen konnten wie Gaspare Spontini, Felix Mendelssohn-Bartoldy, Giacomo Meyerbeer, Otto Nicolai, Joseph Sucher u.a., auf die mehrere Tausend Aufzeichnungen ab 1916 und widmet sich den auf den CDs vertretenen Aufnahmen. So erfährt man, dass der in Till Eulenspiegels lustige Streiche mitwirkende Enrico Mainardi Strauss‘ Lieblingscellist war,  Leo Blech mehr als 2500 Aufführungen bzw. Konzerte leitete, 700  Mal bei Carmen am Dirigentenpult stand. Die von ihm dirigierte Sinfonia zu Figaros Hochzeit stammt von 1916 und dürfte zu den ältesten Aufnahmen überhaupt für Schallplatte zählen. Eng mit der gegenüber dem Reichstag stehenden Krolloper, die nach dem Brand des Parlaments dieses ersetzen musste, ist die Karriere von Otto Klemperer verbunden, hier brachte er die Kleine Dreigroschenmusik zur Uraufführung. Erich Kleiber ist die Uraufführung von Bergs Wozzeck zu verdanken und eine aufrechte Haltung, die ihn auf den Posten des Generalmusikdirektors verzichten ließ, weil die wieder aufgebaute Staatsoper in der DDR nicht die Inschrift „Fridericus Rex Apollini et Musis“ tragen sollte. Von ihm sind Beethoven, Smetana und Dvorak zu hören. Das viel diskutierte „Wunder Karajan“ nahm seinen Anfang mit Tristan und Isolde, Beethoven und Bruckner sind nebst den beiden bereits erwähnten Ouvertüren zu hören. Von Furtwängler war bereits die Rede, Joseph Keilberth hat den Macbeth mit Mödl und Metternich zu verantworten, Franz Konwitschny, trotz oder vielleicht wegen Nazibelastung zum Einspringen für Kleiber bereit, ist der erste Akt der Meistersinger zu verdanken, Celibidache hat nur drei Konzerte mit der Staatskapelle bestritten, Dvorak, Hindemith und Brahms standen auf dem Programm, das aufgezeichnet wurde, mehr als ein Vierteljahrhundert lang stand Otmar Suitner im Orchestergraben, Dessau, Reger und Schubert beweisen, dass er nicht nur Operndirigent war.

Seit 1991 steht Daniel Barenboim der Staatskapelle vor, seit 2000 als Chefdirigent auf Lebenszeit. Aus dem Bruckner-Zyklus von 2010 stammt die Aufnahme der 5. Sinfonie.

Gerade in Corona-Zeiten, in denen der Genuss von Opernaufführungen und Konzerten in den großen Häusern unmöglich geworden ist, bietet dieses Geburtstagsgeschenk der Staatskapelle die Möglichkeit, in Erinnerungen zu schwelgen und Vorfreude auf zukünftige Musikfreuden aufflackern zu lassen (Deutsche Grammophon 15 CD   483 7887). Ingrid Wanja      

Verschachtelte Gefühle

 

Populär sind die alljährlich stattfindenden Aufführungen bekannter Opern auf der Seebühne von Bregenz, verdienstvoll die Wiederentdeckungen oder Uraufführungen an Land, im Jahre 2018 die der Kammeroper Das Jagdgewehr von Thomas Larcher nach einer Novelle des Japaners Yasushi Inoui. Es ist dies seine erste Opernkomposition und zugleich die erste Opernregie von Karl Markovics. So wie die Novelle eine Rahmenhandlung hat, so findet das Bühnengeschehen innerhalb eines weißen Rahmens statt, aus dem sich die Personen in Richtung Publikum und Orchester hinausbewegen oder in dem sie sich immer weiter in den Hintergrund hinein verlieren können (Bühnenbild und Kostüme Katharina Wöppermann). Ein breites weißes Band kann mal schneeverwehte Straße, mal Wasserfall oder Fluss darstellen. Den Video-Hintergrund kann abwechselnd Schneelandschaft, Meer oder in Bewegung befindliches Baumgeflecht sein.

Die Rahmenhandlung besteht darin, dass ein Schriftsteller, der ein Gedicht über einen Jäger und sein Jagdgewehr geschrieben und veröffentlicht hat, von einem solchen, der sich darin zu erkennen glaubte, drei Briefe empfängt, je einen von des Jägers Frau, seiner Geliebten und deren Tochter, die zugleich des Jägers  Nichte ist.  Der Dichter tritt zu Beginn in einem Prolog, zu Beginn des ersten Akts und zum Schluss auf, Robin Tritschler verleiht ihm mit guter Diktion und einem höhensicheren  Tenor viel Präsenz, seine Musik erinnert teilweise an romantisches Liedgut, das von den Schlagzeugern des kleinen Orchesters eher harsch konterkariert wird.

Nachdem der Dichter die drei Briefe von dem Jäger Josuke Misugi empfangen hat, beginnt die Handlung an ihrem eigentlichen Schluss, nachdem Misugis Geliebte Saiko Selbstmord nach einer langen, dreizehn Jahre gedauert habenden Beziehung mit ihm begangen hat, seltsamerweise, nachdem sie erfahren hat, dass ihr ehemaliger, geschiedener Mann sich wieder verheiratet hat. Davon erfahrt man allerdings erst im dritten Akt, der zeitlich vor dem ersten liegt, der zweite wiederum spielt sowohl vor dem ersten wie vor dem dritten Akt,  Jahre nachdem sich Saiko und Misugi angesichts eines brennenden Schiffes, auf der Bühne ein kleines gefaltetes Boot aus Papier, der Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe bewusst wurden, wohl bei einer Schlangenausstellung, treffen sich die Liebenden noch einmal, ordnen die verschiedenen Ausstellungsexemplare ihren Persönlichkeiten zu. Als dritte Frau spielt Misugis Frau Midori eine tragende Rolle. Sie schweigt zu dem Ehebruch ihres Mannes, teilt ihrer Nebenbuhlerin erst im dritten Akt ihr Wissen mit und verzeiht ihr gleichzeitig. Sowohl das Nichteinhalten einer Chronologie wie die seltsamen Motive für das Handeln der Personen machen es dem Zuschauer nicht leicht, Zugang zu dem Werk zu finden, obwohl die Musik trotz der übermäßig auch bei simplen Wendungen wie „eine Krawatte dazu“ angewandten Intervallsprünge und der Extremhöhen für die Soprane eine eingängige ist, was besonders auch der Verdoppelung der Solisten durch einen kleinen Chor, der klangschönen Schola Heidelberg unter Walter Nussbaum, zu verdanken ist. Für die Solisten wechseln Zeitlupenhaftes, Abgehacktes, Pausen zwischen den einzelnen Silben und damit Tönen einander ab. Das Werk ist eher ein Meditieren über Gefühle, als dass es eine Handlung sich vollziehen lässt. Ohne hilfreiches Booklet wäre der Zuschauer ziemlich ratlos.

Nicht beschweren kann sich der Bariton André Schuen über seine Partie, die des Jägers, die ihm einige Möglichkeiten gibt, das schöne, geschmeidige Material auszustellen. Ensemblemitglied der Staatsoper Berlin ist Sarah Aristidou, deren Sopran auch noch in erstaunlicher Höhe erstaunlich gut klingt und die den wohl höchsten Schmerzensschrei aller Opernzeiten auszustoßen hat. Das ihr auch dreizehn Jahre nach ihrem ersten Auftritt verordnete Kinder-Hängerkleidchen samt Netzstrümpfen übersieht man da gern. Ebenfalls sehr hoch notiert ist die Partie der Gattin namens Midori, der Giulia Peri auch viel szenische Präsenz verleiht, gerade wenn sie ihre Gefühle hinter einer Sonnenbrille zu verstecken scheint. Schöne Verzierungen mit einer höchst angenehmen Mezzostimme auch in der Höhe singt   Olivia Vermeulen als Geliebte Saiko. Michael Boder setzt seine reiche Erfahrung auch mit moderner Musik ein und macht aus den scheinbaren Gegensätzen von harmonisch Tonalem und scharf damit konkurrierenden Schlagzeugschlägen ein stimmiges Ganzes (C-Major 754208/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja 

 

 

auf dem Weg zum Melodramma romantico

 

Franz Hauk ist ein Pionier in der Pflege des musikalischen Erbes von Johann Simon Mayr. Immer wieder überrascht er mit Neuentdeckungen und Ausgrabungen aus der Feder des deutschen Komponisten, die dann von NAXOS als CD veröffentlicht werden. Jüngste Tat ist die Opera semiseria Le due duchesse ossia La caccia dei lupi, aufgenommen im September 2017 im bayerischen Neuburg an der Donau (8.660422-23, 2 CD). Das Libretto stammt von Felice Romani, dem berühmtesten Textdichter der Zeit, dessen Vorlagen von Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi und anderen renommierten Komponisten vertont wurden. Schon Mayrs vorangegangene Oper Medea in Corinto, die als sein Hauptwerk gilt, stammte aus Romanis Feder.

Die Handlung führt ins mittelalterliche England im 10. Jahrhundert in das Reich von König Edgar. Der Herrscher beauftragt Herzog Enrico, in seinem Auftrag um die Hand der Gräfin Malvina anzuhalten. Diese gefällt dem Herzog allerdings selbst so sehr, dass er sie heiratet und dem König weismacht, sie sei zu hässlich für ihn. Statt Malvina wird deren Kammerzofe Laura Edgar angedient, die ihrerseits mit dem Jägerhauptmann Berto verlobt ist. Seine Ehefrau hält Enrico zunächst geheim, was freilich nicht lange funktioniert, womit die tragikomischen Verwicklungen beginnen. Denn bei dem 1814 an der Mailänder Scala uraufgeführten Werk handelt es sich um eine semiseria – also eine Oper mit ernsten und heiteren Elementen. Dem entspricht Mayrs Musik mit ihren Arien und Ensembles, mit Ritterchören und Troubadour-Gesängen. Mit dem Concerto de Bassus, das sich aus Professoren und Absolventen der Hochschule für Musik und Theater München zusammensetzt und auf historischen Instrumenten musiziert, verhilft Hauk der Komposition zu sprühendem Leben, wird ihrem hybriden Charakter zwischen buffoneskem Duktus und lyrisch-ernster Stimmung jederzeit gerecht.

Der vom Dirigenten 2003 gegründete Simon Mayr Chorus kommt in mehreren Nummern als Donzelle, Cacciatori und Vassalli zum Einsatz, wirkt oft auch mit Gewinn bei den Arien der Protagonisten mit.

Die Besetzung wird angeführt von der südkoreanischen Sopranistin Eun-Hye Choi als Malvina mit klarer, obertonreicher Stimme. In der von Harfenklängen zauberisch umspielten Sortita vermag sie Malvinas melancholische Stimmung berührend wiederzugeben. Dagegen irritiert bei ihrem letzten Solo, „Deh! Per quel dolce oggetto“, der säuerliche Ton, der sich erst im emphatischen Schluss der Nummer verliert. Ihr erstes Duett hat Malvina mit Enrico, dem Markus Schäfer seinen nicht mehr ganz jugendlich klingenden Tenor leiht. Auch König Edgar ist ein Tenor, bei der Uraufführung immerhin vom Startenor Giovanni David kreiert. Young-Jun Ahn, gleichfalls aus Süd-Korea, wartet mit noblem Timbre fern jeder buffonesken Anmutung auf, klingt in der exponierten Lage allerdings angestrengt, wie es der Schlussteil seiner Arie hören lässt. Malvina hat auch ein Duett mit ihrem Vater Loredano („Morte!“), den der Bass Jaegyeong Jo souverän wahrnimmt. Sein Diener Guglielmo ist gleichfalls ein Bass (Niklas Mallmann).

Das zweite Paar bringt die munteren buffa-Elemente ein. Laura übt sich im ersten Auftritt („Passò quel tempo“) in ihrer neuen Rolle als Gattin des Königs in spe und weist ihren Verlobten Berto scheinbar zurück, was diesen verständlicherweise eifersüchtig macht. Die Sopranistin Tina Marie Herbert gefällt mit liebenswürdigem Ton und erweist sich auch als souverän in den virtuosen Verzierungen dieser Nummer. Samuel Hasselhorn mit seinem geschmeidigen und höhenstarken Spielbariton passt zu ihr ideal, wie man auch in beider Duett „Un marito cacciatore“, welches am Ende zu ausgelassenem Koloraturjubel führt, vernehmen kann. In heiterer Munterkeit endet das Werk, dessen lohnende Wiederentdeckung Franz Hauk und seinem Team zu danken ist. Und mehr als lesenswert ist der kluge Einführungstext von Thomas Lindner. Bernd Hoppe

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Sich um Nuancen und Farben bemühen

 

Die renommierte Sängerin Margarita Gritskova und ihre Pianistin Maria Prinz, die auch als Solistin auf sehr erfolgreiche Auftritte verweisen kann,  haben gerade ihr Naxos-Album „Songs and Romances“ mit Liedern von Sergej Prokofiew heraus gebracht – Anlass zu einem Doppel-Gespräch mit René Brinkmann.

 

Frau Gritskova und Frau Prinz: Sergej Prokofjew ist einer der bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Als Komponist von Liedern ist er aber zumindest in Mitteleuropa kaum bekannt. Ist denn auch in Russland eine Vernachlässigung der Prokofjew-Lieder feststellbar oder ist das vor allem ein außerrussisches Phänomen und dann vielleicht vor allem der Sprachbarriere geschuldet? Das Lied hat im Schaffen Prokofjews keine zentrale Rolle, obwohl gerade in diesem Genre manch fantastische Juwelen zu finden sind und Prokofjew durch die Arbeit an dieser Gattung an den lyrischen Qualitäten seiner Kompositionstechnik feilen konnte. Auch in Russland werden die Lieder nicht so oft aufgeführt, wie Klavier- oder Orchesterwerke von Prokofjew oder Lieder der russischen „Klassiker“ – Tschaikowski und Rachmaninow. Fast unbekannt sind diese Lieder außerhalb Russlands, sicher auch wegen der Sprachbarriere. Aber die Musik gibt so genau den Sinn der Poesie wieder, emotional und inhaltlich, dass man sehr wohl spürt und versteht, worum es sich dreht, wenn man sich offenen Herzens auf diese Lieder einlässt. Es hilft natürlich, dass Naxos dankenswerterweise die Texte in englischer und deutscher Übersetzung im Booklet und Online zur Verfügung stellt.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Frau Gritskova: Sie sind auch als Opernsängerin tätig. Haben Sie „Ihren“ von den Opern gewohnten Prokofjew in seinen Liedern gleich wiedererkannt oder mussten Sie sich erst einmal eingewöhnen? Und wie ist es auf Ihrer Seite überhaupt zu dem Plan gekommen, diese eher selten eingespielten Lieder für Naxos aufzunehmen? Die musikalische Sprache Prokofjews ist in allen seiner Werke unverwechselbar und sofort wiedererkennbar, aber bei den Liedern malt sein Pinsel noch feiner und genauer, und man muss sich als Interpret um die Nuance und Farbe jeder auch noch so kurzen Phrase bemühen.

Die Idee mit Naxos zusammenzuarbeiten, kam von der Pianistin Maria Prinz, die schon mit dem Flötisten Patrick Gallois und mit der wunderbaren Sängerin Krassimira Stoyanova für Naxos aufgenommen hatte und von der Arbeit mit diesem Label begeistert war. Unsere erste Produktion begann mit eher traditionellem Repertoire – Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und Rachmaninow (Russian Songs, Naxos 8.573908). Wir sind dem Label sehr dankbar, dass wir jetzt die Chance bekommen haben, selten gespieltes Repertoire, eben Prokofjew und als Nächstes Schostakowitsch (Veröffentlichung geplant für Oktober 2020) aufzunehmen. Dieses Repertoire liegt uns besonders am Herzen und eröffnet uns noch mehr die Möglichkeit, interpretatorisch eigene Wege zu gehen.

 

Frau Prinz, es fällt auf, dass Prokofjew viele der Lieder auf dem Album komponierte, nachdem er große, opulente Opernprojekte vollendet hatte. In diesem Zusammenhang verblüffte zumindest mich die anscheinend häufig auf das allerwesentlichste reduzierte Klavierbegleitung der ausgewählten Lieder, die aber gerade dadurch eine sehr eindringliche Wirkung entfalten. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für Sie als Pianistin? Die Klavierbegleitung ist zwar in vielen Fällen lakonisch, dafür aber harmonisch sehr kompliziert und, wie allgemein beim Klaviersatz bei Prokofjew grifftechnisch weit angelegt und alles andere als bequem. Der Komponist war selber ein fantastischer Pianist mit großen Händen.

Eine ganz wichtige Rolle spielt die Klavierbegleitung beim Kreieren der Atmosphäre und beim Kommentieren des Unausgesprochenen im Text. Wie immer beim Musizieren mit Sängern sehe ich meine Aufgabe auch darin, mich von der Klangfarbe der Stimme inspirieren zu lassen und dann mit eigenen Farben und Akzenten die erzählte Geschichte abzurunden, zu kommentieren, weiterzuerzählen oder sogar zu hinterfragen. Es kommt mir dabei zugute, dass ich Russisch spreche, weil ich den Text im Original wirklich in allen Nuancen verstehen kann.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Frau Prinz: Nun ist gerade der frühe Prokofjew insbesondere durch seine ersten drei Klavierkonzerte beim breiten Publikum als ein sehr brillanter, virtuoser Klavierkomponist bekannt. Nun lernt man ihn in diesen Liedern von einer ganz anderen Seite kennen. Ist dieser betont lyrische Blickwinkel denn repräsentativ für den Liedkomponisten Prokofjew oder gibt es auch im Liedfach den brillanten, virtuosen Prokofjew, den wir auf diesem Album wegen der gewählten Themenstellung nur nicht zu hören bekommen? Wie Frau Gritskova bereits erwähnt hat, und wie Wilhelm Sinkovicz in seinem Beitrag im Booklet betont, lernt man durch die Lieder den Melodiker Prokofjew kennen. Das ist durchaus für sein gesamtes Liedschaffen charakteristisch. Wobei immer wieder sehr virtuose Passagen (wie z.B im „Hässlichen Entlein“ oder in „Grüß Dich“, das vierte von den fünf Liedern nach Texten von Achmatova op.27, „Das graue Kleidchen“ op.23 oder „Denke an mich“ op.36 Nr.4) vorkommen und an die Brillanz und Urkraft seiner Klavierwerke denken lassen.

 

Als ich mir das Album angehört habe, hatte ich den Eindruck, dass Prokofjew schon sehr früh einen individuellen Lied-Stil verfolgt hat, der sich kaum in Reverenzen auf z.B. die sehr einflussreiche deutsche Liedtradition bemerkbar macht. Doch vermeint man bereits Anklänge an die französische Liedtradition zu vernehmen – Liegt darin etwa schon eine gedankliche Annäherung des Komponisten an das wenig später angetretene Exil in Paris? Einen französischen Einfluss kann man sehr wohl orten, z.B. im impressionistisch anmutenden Lied „Vertraue mir“ op.23 Nr.3, in manchen der Lieder nach Texten von Achmatova oder in „Denke an mich!“. Das mag nicht nur an der Tatsache liegen, dass es ihn nach Paris gezogen hat, sondern vielleicht auch im Charakter des Komponisten, dem Eleganz, Leichtigkeit und eine gewisse Distanziertheit immer wichtig waren.

 

Margarita Gritskova & Maria Prinz/ Foto Michael Poehn

Der späte Prokofjew wird auf dem Album mit Liedern für Kinder, Volkslied-Bearbeitungen und Liedversionen von Arien aus Oratorien gewürdigt. Das erscheint zum Teil etwas brav im Vergleich zu den emotional aufgeladenen frühen Liedern. Hat es das Liedfach mit seiner Verknüpfung von Text und Musik dem Komponisten zunehmend schwergemacht in einer Zeit, in der Stalins „Kulturpolitik“ eine ideelle Gleichschaltung im Sinn hatte? Genauso ist es! Wie wir wissen, ist Prokofjew freiwillig und vermutlich etwas blauäugig im Jahr 1936 in die Sowjetunion zurückgekehrt und starb am 5.3.1953, am selben Tag wie Stalin.

Einen Einschnitt im Verhältnis der Macht dem kompositorischen Schaffen, nicht nur von Prokofjew, sondern auch von Schostakowitsch gegenüber, bildet die Resolution des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom 10.2.1948 gegen „bürgerliche Dekadenz und Modernismus“, der jahrelange Angriffe gegen Formalisten, Reaktionäre (unter ihnen auch Anna Achmatova) vorausgegangen waren und die alles, was nicht volksnah, einfach gestrickt und ideologisch konform war, gebrandmarkt hat und die Komponisten zu „Volksfeinden“ ernannt hat. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Prokofjew, der sich übrigens nie durch Exponieren als Widersacher der Macht ausgezeichnet hat, sich diesem Trend – zumindest in einem Genre, das nicht zu den repräsentativsten seines Schaffens gehört – wohl gebeugt hat.

Trotzdem ist der Inhalt mancher Lieder durchaus scharf ironisierend zu verstehen, wie z.B. in „Anjutka“. Im Text heißt es, dass jede Putzfrau, wenn sie sich nur bildet und genug Bücher liest, auch das Land regieren könnte. Diese Ironie findet ihren Ausdruck auch in der Musik dieses Liedes.

 

Ihr beider nächstes Projekt wird ein Schostakowitsch-Liedalbum werden. Wenn Sie die Liedkompositionen der beiden vergleichen, Prokofjew und Schostakowitsch: Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Wie wir wissen sind Schostakowitsch und Prokofjew Zeitgenossen, obwohl Schostakowitsch Prokofjew um mehr als 20 Jahre überlebt hat und dadurch in seiner letzten Schaffensperiode einer ganz anderen Wirklichkeit gegenüberstand. Trotzdem könnten beide vom Wesen, von ihrer Einstellung zum Leben und zur Kunst her, nicht unterschiedlicher sein. Ohne Zweifel ist Schostakowitsch der „russischere“, der introvertiertere, der verletzlichere von beiden gewesen. Und das hat sich auch in seinem Liedschaffen manifestiert. Wie in allen Belangen, hat sich Schostakowitsch mit einer missionarischen Ernsthaftigkeit und Hingabe auch mit der Gattung Lied beschäftigt und sich ganz bewusst von verschiedenen Kulturkreisen inspirieren lassen. Davon zeugen seine Zyklen „Griechische Lieder“, „Spanische Lieder“ und „Jüdische Lieder“. Der Stil ist bei beiden Komponisten unverwechselbar individuell, originell und zeitgemäß auf unterschiedliche Art und Weise. Beide verbindet die Auswahl wertvoller avantgardistischer Poesie (bei Prokofjew z.B. von Anna Achmatova, bei Schostakowitsch von Marina Tswetajewa) und auch ein gewisser Hang zu Ironie und Satire, die sich aber bei beiden in verschiedener Gestalt offenbaren.

 

Abschließend noch ein Wort zur aktuellen Lage des Kulturbetriebs: Sie, Frau Gritskova, haben vor wenigen Wochen an der Operngala der deutschen AIDS-Stiftung teilgenommen, die aufgrund der Coronabeschränkungen zum digitalen Event umgeformt wurde und zu der die beteiligten Künstlerinnen und Künstler Beiträge in Form kleiner Heim-Konzerte sozusagen aus dem heimischen Wohnzimmer beigetragen haben. Wie haben Sie diese ungewöhnliche Situation erlebt? Es ist natürlich für mich genauso schwer und traurig, wie für alle Kolleginnen und Kollegen. Der Lockdown ist kurz vor der Wiederaufnahme von „Tri sestri“ von Peter Eötvös an der Wiener Staatsoper gekommen, auf die ich mich so gefreut hatte. Das Gala-Konzert des jungen Ensembles der Wiener Staatsoper zum Abschied der Ära von Dominique Meyer und auch mein Rollendebut als Preziosilla in „Macht des Schicksals“ beim Opernfestival in Klosterneuburg sind Corona zum Opfer gefallen.

Größere Veranstaltungen zur Präsentation unserer Prokofjew CD sind nun nicht möglich, umso mehr freuen wir uns, dass die österreichische Opernzeitschrift „Der neue Merker“ uns die Gelegenheit bietet, das Album im kleinen Rahmen der „Merker-Galerie“ mit wenigstens einem kleinen Live-Konzert vorzustellen.

Jetzt sind alle Hoffnungen auf den Herbst gerichtet und darauf, wie die Operntheater und die Konzertveranstalter mit kreativen Lösungen einen beinahe normalen Betrieb ermöglichen.

Wir brauchen die Bühne, wir brauchen unser Publikum und können es kaum erwarten unseren Beruf wieder ausüben zu dürfen und unsere Berufung im Dienst der Kunst auszuleben!  René Brinkmann

 

(Margarita Gritskova & Maria Prinz/ alle FotoS Michael Poehn. Weitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Opernparaphrasen

 

Die Herzogin benutzt Patou, genauer den 1929 von Jean Patou kreierten Duft „Joy“, mit dem der Pariser Modeschöpfer der durch den Börsencrash ausgelösten Depression ein Zeichen der Freude in Form einer Duftwolke entgegensetzen wollte. Der als teuerstes Parfum der Welt aus Blütenessenzen gemischte Duft war das Lieblingsparfum der Duchess of Argyll, deren skandalöser Lebenswandel die britische Boulevardpresse bis zu aufsehenerregenden Scheidungsprozess in den 1960er Jahren, nachdem sie die feine Gesellschaft verstoßen hatte, und ihrem Tod in Armut 1993 beschäftigte. Die 1995 uraufgeführte, bis heute mehrfach gespielte Kammeroper Powder Her Face über das Leben der Dirty Duchess machte den 24jährigen Komponisten, Dirigenten und Pianisten Thomas Adès auf einen Schlag berühmt. Den Erfolg wiederholte er in dem umjubelten The Tempest nach Shakespeare 2004 an Covent Garden und dem noch nicht ganz so vielgereisten Würgeengel (The Exterminating Angel nach Bunuel) 2016 in Salzburg. Zwei dieser Opern stehen auf dem Programm der im Juli 2018 in Tanglewood und im März 2019 in Boston eingespielten Werke für zwei Klaviere, Soloklavier und Orchester und Klavier (CD MYR027) mit dem Tanglewood Music Center Orchestra, Adès als Dirigent und Pianist und dem Pianisten Kirill Gerstein.

Mit den vier Sätzen der Concert Paraphrase on Powder Her Face kehrt Adès quasi zu seinen Anfängen zurück. Zusammen mit Gerstein spitzt er die grotesken, ironischen und skurrilen Szenen, laut Adès die Schilderung einer nicht mehr ganz taufrischen Herzogin am Ende des 20. Jahrhunderts und am Ende der Einflussnahe des britischen Adels zu virtuosen Momentaufnahmen zu, in deren Überhitztheit auch Momente der Verzweiflung aufscheinen und mit denen er die Kunst der Opernparaphrase vom 19. ins 21. Jahrhundert rettet. Zuerst kommt, so Adès, meine Ode an die Freude (Ode to Joy), womit das Parfum der Herzogin gemeint ist, Joy von Patou. Dann folgt die fünfte Szene: „Is Daddy Squiffy?“ Die dritte Szene ist die vierte Szene der Oper, die Arie „Fancy Being Rich!“. Die Paraphrase endet mit der achten und letzten Szene der Oper und der Arie „It Is Too Late“, in der der tote Herzog als Hotelmanager wiederkehrt, um die Herzogin aus dem Zimmer zu werfen, in dem sie lebt, und dem abschließenden Tango, mit dem das Zimmer für den nächsten Gast vorbereitet wird.

Ebenfalls als Weltersteinspielung spielt Gerstein die im engen Zusammenwirken mit Adès entstandene Berceuse aus The Exterminating Angel, mit der der gemeinsame Selbstmord und Liebestod des Liebespaars Eduardo und Beatriz beschrieben wird: leise, langsam und von unerbittlicher Kraft. Heller, strahlender, leichter und doch von profilierter Schärfe dann die drei Moderato, Prestissimo und Grave überschriebenen und von Gerstein mit kristalliner Witzigkeit gespielten Chopin-Reminiszenzen von 2010.

Das gewichtigste Stück ist das knapp halbstündige Werk für Klavier und Orchester In Seven Days, eine musikalische Schöpfungsgeschichte in Gestalt einer Klavier-Sinfonie. Adès erklärt seinen Schöpfungsbericht: Das Stück ist eine siebenteilige Entwicklung von Ideen, die wiederkehren und sich wandeln, die sich ausbreiten und explodieren, als würde der genetische Code des Universums in eine Musik ausbrechen, die sowohl organisch als auch geometrisch ist: von den Fugen, mit denen die Lebewesen auf der Erde beschrieben werden, zu dem kristallinen Bild des Chaos am Beginn der Zeiten, mit dem das Stück öffnet und schließt – als wäre das Universum ziemlich zufrieden mit seinem bescheidenen statischen Zustand, bevor ein Schöpfer auf den Plan tritt und alles für immer verändert – zu den langsamen, kaleidoskopischen Spiralen galaktischer Energie, die im Land-Gras-Erde-Satz erklingen. Auch ohne dem ständig wechselnden Perspektiven und den Atomen des Chaos als Hörer auf die Spur zu kommen, kann man sich von dieser gut gemachten, eminent wirkungsvollen Musik und dem Zusammenspiel des Orchesters mit dem kraftvollen, wiederum stupend virtuosen und von Gerstein mit filigraner sphärischer Schärfe und souveränem Klanggespür gespielten Klavierpart beeindrucken lassen. Rolf Fath

Gütiges Publikum in Parma

 

Es ist die allertraurigste unter Verdis Opern, des Komponisten, dem es erst am Lebensende gelang, eine Komödie mit Erfolg zu vertonen, denn selbst Otello darf zu Beginn der gleichnamigen Oper „Venere splende“ schmachten, Violetta erlebt glückliche Wochen mit Alfredo auf dem Lande und Gilda träumt vom „Caro Nome“ und erlebt so ein kurzes Glück. In I due Foscari hingegen herrscht Trübsinn von Anfang an, sind alle drei Personen in einer aussichtslosen Lage, der Intrige des herrsch- und rachsüchtigen Loredano hilflos ausgeliefert. Kein Wunder, dass Venedig nicht daran interessiert war, ein Werk uraufzuführen, das die Stadt in so düsterem Licht erscheinen ließ. So wurde Rom zur Geburtsstätte der Oper, die vielleicht auch wegen der traurigen, von keinem Hoffnungsschimmer erleuchteten Handlung nie so recht Fuß fassen konnte auf den Opernbühnen. Dabei hat sie drei ganz wunderbare, von Leitmotiven begleitete Partien für Sänger, und die drei großen Baritone der jüngsten Vergangenheit, Piero Cappuccilli, Renato Bruson und Leo Nucci wussten sich das zunutze zu machen, schufen eindringliche Rollenportraits vorzugsweise in der Inszenierung von Pier Luigi Pizzi.

Das Genueser Label Dynamic, das dem Opernfreund schon Zugang zu so mancher interessanten italienischen Aufführung verschafft hat, hat nun auch eine DVD von den Verdi-Festspielen 2019 in Parma, der Verdi-Stadt par excellence, auf den Markt gebracht, allerdings wird auch Parma nicht mehr seinem Ruf gerecht, sei es der des kritischsten und buh- und pfeiffreudigsten Publikums der Opernszene, sei es der der Erwartung, in dieser Stadt bekäme man noch italienische Sänger zu hören.

Regisseur Leo Muscato hat das Stück in der Verdizeit angesiedelt, was die Kostüme von Silvia Aymonino bezeugen und was nicht weiter stört, wenn man nicht weiß, dass es zu dieser Zeit längst keinen Dogen von Venedig mehr gab, der letzte bereits 1802 gestorben war. Andererseits stört die Gewandung des Chors in Gehrock und Zylinder auch nicht besonders, und der Rundhorizont mit Portraits verstorbener Dogen im ersten Akt, die Scheibe als Ort der Handlung, die von Bühnenbildner Andrea Belli entworfen wurden, sind so stimmungsträchtig wie zweckmäßig.

Am Pult der Filarmonica Arturo Toscanini, verstärkt durch das Orchestra Giovanile della Via Emilia steht Altmeister Paolo Arrivabeni, ein Kapellmeister im besten Sinn des Wortes, der die Kontraste in Tempi und Lautstärke auskostet, Straffheit und Brio gleichermaßen walten lässt. Der Coro del Teatro Regio di Parma, einstudiert von Martino Faggiani, weiß natürlich auch, wie man Verdi zu singen hat, und lässt den Zuhörer daran teilnehmen.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine italienischen Sänger für die drei Hauptpartien, nur der mit wenig Musik bedachte Jacopo Loredano wird von Giacomo Prestia mit machtvoller Röhre gesungen, lässt dessen unversöhnlichen Rachedurst in schwarzen Tönen hörbar werden. Vor allem in der Emilia Romagna und ihren Theatern, auch im Veneto ist Vladimir Stoyanov ein gern gesehener Gast. Der Kontrast zwischen körperlicher Hinfälligkeit, deren Darstellung extrem ausgekostet wird, und stimmlicher beachtlicher Potenz für den alten Dogen ist bemerkenswert, die Baritonstimme besticht durch ihre warme Farbe, und im „Questa è dunque“ des letzten Akts wächst der Sänger, was vokale und darstellerische Eindringlichkeit betrifft, über sich selbst hinaus. Ganz zum Schluss wünscht man sich mehr Verinnerlichung, als er aufzubringen im Stande oder willens ist. Für den Schmerzensmann Jacopo ist der Tenor Stefan Pop, den man sich gut in Donizetti-Rollen vorstellen kann, etwas zu hell, die Stimme klingt in der Höhe weinerlich, was bei dieser Partie penetrant wirken kann, die Phrasierung ist nicht die großzügigste. Die Cabaletta im ersten Akt liegt ihm besser als die Arie im ersten Akt, für „Perpetua notte“ opfert er einer erzwungen wirkenden Dramatik die musikalische Linie, verliert er die musikalische Contenance. Gefallen kann der Tenor in einem ausdrucksvollen „Da voi lontano la morte“. Die struppige Perücke wirkt optisch geradezu entstellend. Aus Mexiko stammt Maria Katzarava, einst Gewinnerin von Domingos Operalia, inzwischen zwischen den hübschen Chordamen durch enorme Körperfülle wie ein Fremdkörper wirkend. Vokal kann sie gefallen durch einen kristallklaren Sopran, gut gestützte Piani, schön ausgeformte Töne. Wird es allerdings dramatisch, dann entgleist die Stimme schon einmal, wird sie im Terzett scharf wie auch im letzten verzweifelten Ausbruch.

Auf die teilweise nicht höchsten Ansprüchen genügenden Sängerleistungen reagiert das Publikum für ein italienisches untypisch mit mattem Applaus für die Arien und stürmischem Beifall am Schluss (Dynamic 37865). Ingrid Wanja           

Mitreißend

 

Nicht gerade mit einem reichen Liedschaffen bringt man den Namen Sergey Prokofiev in Verbindung und doch hat jetzt die russische Mezzosopranistin Margarita Gritskova eine interessante CD mit Songs und Romanzen des Komponisten, der lange in Frankreich lebte, aber 1936 freiwillig in die Sowjetunion zurückkehrte, aufgenommen. Diese seine seltsame Entscheidung erklärt auch die bunte Vielfalt, die die 16 Tracks auszeichnet, die teilweise vom französischen Impressionismus, teilweise von den Anforderungen, die das stalinistische Russland an seine Künstler stellte, geprägt, in jeder Hinsicht jedoch hoch interessant sind.

Natürlich dürfte es eine solche CD auf dem westeuropäischen Markt nicht leicht haben, hätte Naxos nicht vorgesorgt und ein hilfreiches Booklet mit einer kompetenten Einführung in das Liedprogramm und mit Übersetzungen oder zumindest Inhaltsangaben der Musikstücke es dem Hörer ermöglicht, sich an der CD nicht nur zu erfreuen, sondern die einzelnen Lieder auch zu verstehen.

Es beginnt mit einem fast schon kleinen Operneinakter, dem ältesten, aus dem Jahr 1914 stammenden Stück, der Geschichte vom hässlichen Entlein, das sich zum  stolzen Schwan entwickelt, und es ist erstaunlich, dass der Hörer, obwohl der Text nicht übersetzt wurde, die Geschichte nachvollziehen kann, so deutlich kann die Sängerin Gefühlszustände, Handlungsabläufe nachvollziehbar machen, weiß sie Groteskes wie Gefühlvolles zu vermitteln mit einer angenehm timbrierten Stimme perfekt angebundener Höhe, die die Mezzofarbe zu bewahren weiß.

Es folgen drei der Five Poems aus dem Jahr 1915, dessen erstes, Das graue Kleidchen, eine klare Rollenverteilung zwischen dem Erzähler und der Titelfigur, der Verkörperung von Leid und Tod, hörbar macht, wobei fasziniert, wie die Stimme des Mädchens gerade, weil sie zart und verhalten bleibt, besonders geheimnisvoll klingt. Vertraue mir  ist ähnlich unheimlich, der in feinem Schwebezustand gehaltene Mezzo weiß die zu nichts Gutem führende Verführung, in der bereits das „Blätter fallen“ erahnbar ist, perfekt und damit nachvollziehbar zu verdeutlichen. Auch Der Zauberer, und hier verstärkt die wie tröpfelnd klingende Begleitung der einfühlsamen Maria Prinz diesen Eindruck, klingt die Stimme im „ so sang man es in alten Liedern“ wie sich verlierend an die unheimliche Atmosphäre.

Es folgen fünf Lieder auf Gedichte von Anna Akhmatova, und hier kann sich in Echte Zärtlichkeit das schöne Timbre voll entfalten, kann die Sängerin aber auch zugleich beweisen, wie farbig ein gut gestütztes Piano sein kann, während in  Erinnerung an die Sonne auch das Verlöschen sich in Schönheit vollziehen kann. Grüß dich  lässt erst in den letzten Worten  das Grässliche der Geistererscheinung hörbar werden, in Der grauäugige König lässt die Sängerin den Hörer darüber staunen, wie sie eigentlich eintönig Traurigem immer wieder neue vokale Nuancen abgewinnen kann.

In Denk an mich! Mit dem Text von Konstantin Balmont entwickelt die Stimme und mit ihr das Piano aus dem quasi akustischen Nichts Hochdramatisches bis hin zum Schrei „Denk an mich“, und auch Stöhnt ein graues Täubchen eignet sich nicht zum Ausstellen einer schönen Stimme, sondern verlangt nach der Fähigkeit zum Nuancieren, zur Charakterisierung, zum feinen sich Steigern im scheinbar Eintönigen, was Sängerin und Pianistin sich hörbar nicht nur vorgenommen, sondern auch verwirklicht haben.

Angeblich der Text eines russischen Volkslieds soll Anjutka sein, in dem dieselbe zu fleißigem Lernen aufgefordert wird, da ja im neuen Russland der Tüchtige sogar dank der Oktoberrevolution bis ins Präsidentenamt aufsteigen kann. Man vermeint in der Begleitung des Klaviers zu hören, dass sich der Komponist über sein eigenes Werk lustig macht, aber das ist vielleicht auch überinterpretiert. Das Plappermaul hingegen hält in virtuosem Temporeichtum, was es im Titel verspricht.

Plakativer als die anderen Tracks ist auch Das Totenfeld, für das die Sängerin die ihre den Charakter einer Naturstimme annehmen lässt.  In munterem Plauderton zart hingetupfte Töne hat sie für Im Morgenrot, einen verführerisch-herausfordernden Ton nimmt sie schließlich für Katarina an und führt nicht nur dieses Lied, sondern die gesamte CD zu einem mitreißenden Abschluss (Naxos 8.574030). Ingrid Wanja

 

Augen zu und hören

 

„Come in quest’ora bruna sorridon gli astri e il mare! Come s’unisce, o luna, all’onda il tuo chiaror!“ Mit diesen Worten beginnt die Arie der Amelia im ersten Akt von Verdis Simon Boccanegra nach einem geradezu impressionistisch anmutenden, zart-flirrenden, von Violinen dominierten Vorspiel. Und was fällt dem modernen Regisseur dazu ein, denn ein uninszeniertes Preludio darf nicht sein: Er lässt eine Horde so strengkostümierter wie –frisierter Damen, die in ihre Tabletts vertieft sind, auf- und wieder abmarschieren. Ihnen waren im Prolog, 25 Jahre zuvor, bereits wie irre mit ihren Handys hantierende, Mails empfangende oder absendende Herren in grauen Anzügen vorausgegangen, Plebejer, während die Patrizier einheitlich in Schwarz gewandet sind, Simon aus der Masse heraussticht, weil er einen braunen Anorak trägt und natürlich wegen so unkonventioneller Kleidung dem Zuschauer vermittelt, dass er ein guter Mensch ist. Ein Zeugnis der Armseligkeit ist die Regie von Alexander Kriegenburg für die Salzburger Festspiele von 2019, denn da gibt es nicht etwa eine neue Sicht mit neuen Erkenntnissen über dieses Schmerzenskind Verdis, das 1857 uraufgeführt wurde und erst 1881 seine endgültige Fassung erhielt. Die Regie pfropft dem historisch fest in der Zwietracht zwischen den beiden großen Handelsrepubliken Venedig und Genua verankerten Stück keine moderne Sicht, sondern nur ein modernes Outfit auf und nimmt ihm damit ein gut Teil seiner Wirkung. In der Personenführung bleibt die Produktion armselig, denn dass Paolo die Rose, die Gabriele seiner Amelia verehrt hat, zerpflücken wird, dass wusste der Zuschauer genauso sicher, wie er in Kupfers Fidelio voraussah, dass Pizarro das Geranientöpfchen Marzellines zertrampeln wird.

Die Szene von Harald B. Thor passt zwar wegen ihrer Monumentalität zu Genua, La Superba, ist aber mit ihrem Kalkweiß langweilig, mit den Videobotschaften wie lontano dal mare weit von der Wahrheit entfernt, bzw. nur auf die Produktion zutreffend, die das vielzitierte Meer fast gänzlich ausspart, nur im letzten Bild den Blick darauf in Ausschnitten freigibt und es im Kostüm (Tanja Hofmann) von Amelia sichtbar werden lässt. Alles in allem kann man die Optik nur für das loben, was sie nicht tut, nämlich sich der Solisten nicht anzunehmen, sie weitgehend in Ruhe zu lassen. Und das haben sie, tüchtig wie sie fast alle sind, zumindest verdient, wenn man sich natürlich auch wünscht und es ihnen gegönnt hätte, dass sie auf der Riesenbühne mehr Hilfestellung erhalten hätten.  Am Schluss wird sogar noch der zuvor viel mit Twittern beschäftigte Chor im Stich gelassen, denn als es mit Selbstmord (Paolos!), Hochzeit, Tod, Herrscherproklamierung endlich Wichtiges der Welt mitzuteilen gäbe, bleiben die Handys in den Hosentaschen.

Viel Freude bereiten die vier Herren des Solistenensembles. Da ist natürlich als Bassfels an erster Stelle René Pape als Fiesco zu nennen, dem im Prolog die Tochter sterbend in die Arme sinkt und der trotzdem ein unangefochtenes Il lacerato spirito mit wundervollem Fluss der gewaltigen Stimme singt, und das obwohl er sich optisch so zittrig-taprig geben muss, dass man ihm die mindestens 25 Jahre, die ihm noch vergönnt sind, nicht abnehmen kann. Balsamisch ist sein Anteil am Vicino a me, profund der am Duett mit Simone im letzten Akt nach einem durch Mark und Bein gehenden i morti ti salutano.

Angemessen raubeinig im Vergleich zu dem Simones hört sich der Bariton von André Heyboer in der Rolle des Paolo an, ein Brunnenvergifter, wie er giftiger nicht sein könnte. Dem Strick des Henkers entgeht er, indem er den Rest des für Simone bestimmten Gifts trinkt, das bei ihm sofort, bei Simone erst nach vielen Stunden so recht wirkt. Aber Oper ist halt im Reich des Unwahrscheinlichen angesiedelt, und wenn nicht, dann sorgt die Regie dafür.

Einen angenehmen, geschmeidigen und zugleich markanten Bariton hat Luca Salsi für den Dogen, seine gute Diktion ist lobenswert, mehr in seiner großen Ansprache als im Piangi ist er mit einem leider nur selten agogikreich geführten, eher dem Dauerforte verpflichteten, gesund klingenden Material eine Freude für den Hörer.

Einen feurigen Gabriele Adorno, den es nicht lange beim von der Regie verordneten Schampus und Pianoforte hält, gibt Charles Castronovo mit dunkel getöntem Tenor, der an Metall zugelegt hat, der leicht nasal, aber nobel klingt und der eine schöne mezza voce einzusetzen hat. Bereits im Rezitativ vor seiner großen Arie weiß er generös zu phrasieren, und das Piano im Segen im ersten Akt hat viel Substanz.

Eine optisch gefallen könnende Amelia ist Marina Rebeka, die schöne Töne für den Schluss hat, einen feinen Triller zum Ende des ersten Akts beisteuert, deren Mittellage aber schwach, deren Höhe oft zu schrill ist, so dass sie insgesamt gegenüber ihren männlichen Kollegen etwas abfällt.

Vorzüglich singt der Chor der Staatsoper Wien (Ernst Raffelsberger) mit gebändigter Allgewalt, tadellos und eher zurückhaltend zumindest bei dieser Aufnahme geben sich die Wiener Philharmoniker unter Valery Gergiev, der wohl gerade zuvor in Bayreuth mit dem Tannhäuser weniger glücklich agiert hatte. Wer sich durch eine ärgerliche Optik den Spaß an Oper nicht mehr verderben lässt, guckt und hört, alle anderen schalten nur den Ton an, und ein musikalischer Genuss ist ihnen gewiss (Unitel 802704). Ingrid Wanja