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Offenbachs Science-Fiction-Spektakel Le Voyage dans la lune kam 1875 am Théâtre de la Gaîté in Paris heraus – als opulente Raumfahrtrevue in vier Akten und 23 Bildern. Es geht um den Lebemann-Prinz Caprice, der auf der Suche nach neuen Liebesabenteuern zum Mond fliegt (auf Erden hat er schon alle Jagdgebiete durchstreift). Aber auf dem Mond weiß man nicht, was „Liebe“ ist. Das ändert sich allerdings schnell, als Caprice den keuschen Mondbewohnern sein Reiseproviant in Form von Äpfeln anbietet. Und plötzlich erotisches Chaos in den Mondkratern ausbricht, sehr zum Ärger des Mondkönigs Cosmos, der nun seine lüsterne Ehefrau Königin Popotte und die jugendliche Prinzessin Fantasia bändigen muss. Und seine Bevölkerung im Liebestaumel irgendwie wieder unter Kontrolle kriegen muss.
Das Ganze hat weniger etwas mit der Jules-Verne-Vorlage zu tun, als mit der typischen „schlüpfrigen“ Form von Operette, für die Offenbach im 19. Jahrhundert berühmt (und berüchtigt) war. „Voyage“ nannten er und seine Librettisten Eugène Leterrier, Albert Vanloo sowie Arnold Mortier eine „opéra-féerie“, d. h. es gab eine Vielzahl von Balletten und Szenen-mit-Schauwert, in diesem Fall sind das u. a. ein Ballett der Schneeflocken oder ein Vulkanausbruch. Nicht zu vergessen: Der Raketenflug zum Mond am Ende des 1. Akts. (Die Weltraumreise schildert denn das Zwischenspielt zum 2. Akt, mit sphärischen Chören aus dem Off.)
Einzelne Musiktitel aus der Voyage werden viele kennen, besonders eine Melodie aus der Ouvertüre wurde als „Spiegelarie“ in Les Contes d’Hoffmann weltberühmt. Aber auch Teile der Ballettmusiken wurden vielfach eingespielt. So kann man beispielsweise das „Ballet des Flocons de neige“ auf Marc Minkowskis Album „Offenbach Romantique“ hören (11 Minuten insgesamt).
Von der „Reise zum Mond“ zirkulierten bislang nur gekürzte Ausgaben auf CD. Eine wird von Paul Burkhard dirigiert, der 1958 in Hamburg für den NDR eine Aufnahme in deutscher Sprache dirigierte. Immerhin mit Mathieu Ahlersmeyer als König V’lan, Vater von Prinz Caprice. Dieser wiederum wurde damals – anders als von Offenbach vorgesehen – mit einem Tenor besetzt (Gerard Clair), statt mit einem cross-dressed Mezzo. Bei der Uraufführung hat Offenbachs Geliebte Zulma Bouffar (und Mutter mehrerer seiner unehelichen Kinder) die Rolle kreiert.
Auch bei einer Aufnahme des französischen Rundfunks unter Jean-Paul Kreder von 1961 singt mit Joseph Peyron ein Tenor den Caprice. Offensichtlich schien nach dem Krieg die Besetzung von zwei Frauen als Caprice und Fantasia anstößig – oder zu „lesbisch“. Wobei man ja beim Rosenkavalier und dem Figaro damit auch keine Probleme hat. Aber das war halt Oper. (Den Orlofsky in der Fledermaus singt bei Karl Böhm auch Wolfgang Windgassen, weil das vermeintlich „realistischer“ ist.)
Von der Hamburger Einspielung gibt’s eine Doppel-CD beim Hamburger Archiv für Gesangskunst, es fehlen aber große Teile der Partitur, vor allem die Tanzmusiken und alles, was als Untermalung für die szenischen Showmomente gedacht ist. Die Pariser Ausnahme von 1961wiederum liegt mit 24 Einzelnummern beim Label Malibran vor.
Beide Aufnahmen lohnen das Kennenlernen, denn Jean-Paul Kreder und das RTF-Orchester lassen Offenbach sehr spritzig und teils sogar schräg klingen, was wunderbar zur Geschichte passt. Auch ist Lucien Lovano ein idealer König V’lan, und Claudine Collart produziert als Mondprinzessin-die-in-den-Apfel-der-Sünde-beißt hinreißende Soprantöne. Das gilt übrigens auch für Stina-Britta Melander beim NDR 1958. Das ist ein Soubrettenklang alter Schule. Und der deutsche Text macht es deutschen Hörern einfacher, der Handlung zu folgen. (In Paris 1961 gibt’s einen Erzähler, der sehr lebendig durchs Geschehen führt.)
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Nun hat Palazzetto Bru Zane eine Gesamtaufnahme auf Französisch vorgelegt, wo man endlich all die Musik hören kann, die vorher fehlte. Das ist wunderbar. Denn in allen drei Akten finden sich vor melodischer Einfallskraft nur so sprudelnde Szenen, die von Pierre Dumoussaud und dem Nationalorchester der Oper Montpellier Occitanie durchaus beschwingt gespielt werden. Die geschärfte Schrägheit von Kreder fehlt – wodurch auch ein bisschen der Biss verloren geht, den einige Passagen haben sollten. Im Gegensatz zu Burkhard ist hier alles (!) schneller.
Das bedeutete auch, dass Caprice mit einigen prestissimo genommenen Strophenliedern nicht hinterherkommt, etwa im Rondeau de l’Obus (Nr. 11), wo er das Erlebnis seines rasend schnellen Raketenflugs schildert. Immerhin – und glücklicherweise – ist Caprice hier endlich wieder ein Mezzo, nämlich Violette Polchi. Damit schlägt die Aufnahme die einschlägige Konkurrenz, was eine authentische Besetzung angeht.
Aber Polchi und vor allem Sheva Tehoval als Fantasia verbreiten in ihren Duetten nie den Liebreiz, den man auf den alten Aufnahmen hört. Tehoval wird in der Höhe schrill, während Polchi ein bisschen der herbe Reiz einer Brigitte Fassbaender oder Anne Sofie von Otter fehlt (die die Voyage-Musik leider nie aufgenommen haben).
Drumherum: Kompetente Kräfte wie Matthieu Lécroat als V’lan, Thilbaut Desplantes als Cosmos, Marie Lenormand als Königin Popotte sowie Raphaël Brémard als Astronom Microscope (der die Mondrakete baut). Bei der Wiener Erstaufführung sang diese Partie der große Komiker Alexander Girardi. Hier ist von der Komik der Rolle nur eingeschränkt etwas zu merken.
Das spürt man besonders in den Dialogszenen, wo wirklich niemand aus dem Montpellier-Ensemble Charakter beweist und hörbaren Spaß an der Geschichte verbreitet. So als würden sie sich alle nicht trauen, in die berühmten Äpfel-der-Operettensündhaftigkeit zu beißen. Man könnte auch sagen: Diese Aufnahme ist „keusch“. Was bei Offenbach einem Widerspruch in sich gleichkommt.
Die Weltraummusik, die Offenbach komponiert, ist immer hell und fröhlich, selbst wenn es laut Handlung knallt und explodiert, verdunkelt sich der Klang nicht. Damit muss man arbeiten – vielleicht mit akustischen Extras, die dem Hörer vermitteln, was gerade passiert, wenn’s stürmt (Schnee) oder braust (Vulkan), wenn Heerscharen von Soldaten (cross-dressed) aufmarschieren oder wenn Hofzeremonielle mit viel Pomp & Circumstance angehalten werden, als hohle Staatsakte.
Da bleibt die Palazzetto-Bru-Zane-Einspielung ein bisschen einfallslos in Bezug auf Klangregie. Aber das ändert nichts daran, dass es die erste Gelegenheit ist, Le Voyage dans la Lune komplett zu hören. Eine Aufführung in Montpellier fand auf der Bühne nur kurzzeitig statt, verschwand wegen Corona-Lockdown schnell wieder. Ob die Inszenierung nochmal hervorgeholt wird, muss man abwarten. Vermutlich wäre eine DVD-Veröffentlichung bei diesem Werk mehr als sinnvoll.
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Auf YouTube kann man eine deutschsprachige Aufführung aus der Komischen Oper zu DDR-Zeiten sehen, wo die politischen Witze – rund um die vertrottelten Könige von Erde und Mond – einen anderen parodistischen Peng entwickeln. Dirigent Robert Hanell sorgt seinerseits für grandiose Peng-Momente, die sehr genaue Akzente setzen (da hätte Pierre Dumoussaud mal reinhören sollen). Günter Neumann ist der Caprice, Rudolf Asmus sein Vater V’lan. Daneben glänzen Hanns Nocker und vor allem Klemens Slowioczek als Cosmos. Die Inszenierung von Jerome Savary wartet mit etlichen Sci-Fi-Soundeffekten auf, die in Montpellier komplett fehlen. Sie tun der Geschichte aber gut.
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Das Booklet der neuen Bru-Zane-Ausgabe ist reich bebildert und bietet französisch-englische Texte von Jérôme Collomb zum Thema „opéra-féerie“ und von Jean-Claude Yon zu Offenbachs Zusammenarbeit mit Jules Verne. Alexandre Dratwicki steuert eine Zusammenstellung der historischen Pressestimmen bei, die spannend zu lesen sind. Das Libretto – so wie hier eingespielt – ist auf Französisch und Englisch abgedruckt. Kevin Clarke / Operetta Research Center Amsterdam
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Das Farb-Foto oben zeigt eine sensationelle Bearbeitung eines handkolorierten Ausschnitts/ stills aus dem Film von Géorges Melliès 1902, der zu seiner Zeit ein riesiges Aufsehen erregte und ein Quantensprung in Sachen Filmgeschichte war.
In einem Artikel des amerikanischen Smithsonian Magazins schreibt Daniel Eagan 2021 dazu: A Trip to the Moon as You’ve Never Seen it Before. One of the landmark films in cinema can now be seen in color: It’s one of the most famous films in cinema, a special-effects, science-fiction extravaganza that became an international sensation when it was released in 1902. Almost instantly it was pirated, bootlegged, copied and released by competing studios under different names. And for decades it’s only been available in black-and-white copies.
Now, after a 12 year project that approached a half-million euros in cost, Lobster Films, The Technicolor Foundation for Cinema Heritage, and Fondation Groupama Gan pour le Cinéma are unveiling a new version of A Trip to the Moon, “resurrected,” in the words of preservationist Tom Burton, from an original, hand-colored nitrate print. For the first time in generations viewers will be able to see the color version of the film that stunned early 20th-century moviegoers.
Le voyage dans la lune, to use its French title, is one of over 500 movies made by Georges Méliès, perhaps the first filmmaker to fully grasp the potential of cinema. The son of a wealthy shoemaker, Méliès was born in 1861. Fascinated by magic and illusions, he left the family business in 1888. Buying the Robert-Houdin theater from his widow in Paris, he developed a successful act with illusions such as “The Vanishing Lady.” Méliès was in the audience when the Lumière brothers held their first public film screening on December 28, 1895, and within months was exhibiting movies at his theater.
Méliès made his first film in November, 1896, built his own studio in 1901 and formed the Star Film brand to market his work in France and internationally. He made movies about current events and fairy tales, replicated his stage illusions on screen and developed a highly advanced technical style that incorporated stop-motion animation: double-, triple-, and quadruple-exposures; cross-dissolves; and jump cuts. More than any of his contemporaries, Méliès made movies that were fun and exciting. They were filled with stunts, tricks, jokes, dancing girls, elaborate sets and hints of the macabre.
A Trip to the Moon had several antecedents, including the 1865 novel From the Earth to the Moon by Jules Verne and A Trip to the Moon, a four-act opera with music by Jacques Offenbach that debuted in 1877. Méliès may also have been aware of a theater show at the 1901 Pan-American Exhibition in Buffalo, New York, called A Trip to the Moon. Filming started in May, 1902. It was released on September 1 in Paris and a little over a month later in New York City.
At the time exhibitors and individuals could purchase films outright from the Star Films catalog. Color prints were available at an extra cost. Probably not too many color prints of A Trip to the Moon were ever in existence, but it came out right around that time color became a real fad. Within a couple of years, the hand-painting was replaced by tinting and stencil process, so color became more prevalent and less expensive. Several color Méliès films survive, but it was believed that the color Trip to the Moon had long been lost.
But in 1993, Serge Bromberg and Eric Lange of Lobster Films obtained an original nitrate print from the Filmoteca de Catalunya. The only problem: it had decomposed into the equivalent of a solid hockey puck. In 1999, Bromberg and Lange, two of the most indefatigable of all film historians, began to try to unspool the reel by placing it in the equivalent of a humidor, using a chemical compound that softened the nitrate enough to digitally document individual frames. (The process also ultimately destroyed the film.)
Years later, Bromberg had some 5,000 digital files, which he handed over to Tom Burton, the executive director of Technicolor Restoration Services in Hollywood. In a recent phone call, Burton described how his team approached this “bucket of digital shards.”
“What we got was a bunch of digital data that had no sequential relationship to each other because they had to photograph whatever frame or piece of a frame that they could,” Burton recalled. “We had to figure out the puzzle of where these chunks of frames, sometimes little corners of a frame or a half of a frame, where all these little pieces went. Over a period of about nine months we put all these pieces back together, building not only sections but rebuilding individual frames from shattered pieces.”
Burton estimated that they could salvage between 85 to 90 percent of the print. They filled in the missing frames by copying them from a private print held by the Méliès family and digitally coloring the frames to match the original hand colored source.
“It’s really more a visual effects project in a way than a restoration project,” Burton said. “A lot of the technology that we used to rebuild these frames is the technology you would use if you were making a first-run, major visual effects motion picture. You’d never have been able to pull this off 10 years ago, and certainly not at all with analog, photochemical technology.”
For Burton, A Trip to the Moon represents the beginnings of modern visual effects as we know them today. “Seeing it in color makes it a whole different film,” he said. “The technique involved teams of women painting individual frames with tiny brushes and aniline dyes. The color is surprisingly accurate but at times not very precise. It will wander in and out of an actor’s jacket, for example. But it’s very organic. It will never rival the way A Trip to the Moon first screened for audiences, but it’s still pretty amazing.” Daniel Eagan (02.09.21 Smithsonian Magazin)
Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.