Archiv für den Monat: Juni 2022

Primärquelle aus erster Hand …

.

„Ich lebe, um zu singen“. So der Titel eines neuen Buch über Maria Cebotari. Erschienen ist es bei Frank & Timme, einem Verlag für wissenschaftliche Literatur in Berlin (ISBN 978-3-7329-0794-6). Die 270 reich bebilderten Seiten sind in drei Bereiche unterteilt, die sich mit der öffentlichen Wahrnehmung, den letzten Jahren und dem Nachruhm beschäftigen. Diverse Unterkapitel folgen den jeweiligen Lebensabschnitten der Sängerin und Schauspielerin, die nur 39 Jahre alt wurde.

Othmar Schoeck: „Das Schloss Dürande“/ Szene mir Maria cebotari und Willi Domgraf-Fassbaender/ Archiv Berliner Staatsoper

Gestorben ist Maria Cebotari am 9. Juni 1949 in Wien, wo sie auch begraben liegt. Das gemeinsame Grab mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schauspieler Gustav Diessl, der ein Jahr vor ihr starb, befindet sich auf dem Döblinger Friedhof. Die Autorin Rosemarie Killius geht davon aus, dass die Künstlerin „heute fast vergessen ist“ und verspricht zugleich „eine Überarbeitung des bisher falsch Überlieferten in Biografie und Umfeld der großen Künstlerin“. Somit könne die Erinnerung an Maria Cebotari „neu aufleben und für die Zukunft wachgehalten werden“. Um neue Erkenntnisse und aktuelle Forschungsergebnisse erkennen und würdigen zu können, müssten die bislang verbreiteten Unkorrektheiten aber auch benannt werden. Dies geschieht nicht in der gebotenen Eindeutigkeit. Vielmehr ist zu vermuten, dass die der Cebotari angelastete Nähe zum Nationalsozialismus erklärt und relativiert werden soll. So habe es nicht ausbleiben können, dass schließlich auch die Cebotari ab und zu, wie es bis zu Kriegsbeginn gang und gäbe gewesen sei, neben vielen anderen bekannten und beliebten Künstlern und Filmstars zu Teestunden und anderen Festlichkeiten bei Hitler, Goebbels und Göring „geladen“, genauer gesagt „befohlen“ wurde. „Die Verweigerung dieser Einladung, es sei denn aus künstlerischen Verpflichtungen oder Krankheit, hatte Abmahnungen oder Bestrafung zur Folge.“ Maria Cebotari, so die Autorin weiter, habe sich freundlich lächelnd gezeigt und „mit den Wölfen geheult“, weil sie ihr Leben leben und auf jeden Fall Opernsängerin sein wollte. Mit dieser Einstellung war sie im Dritten Reich nicht allein. Wer kann schon allen Ernstes einer jungen Sängerin, um die sich die Opernhäuser rissen, der das Publikum zu Füßen lag, fast fünfundsiebzig Jahre nach ihrem Tod vorwerfen, nicht in den Widerstand oder in die völlig ungewisse Emigration gegangen zu sein? Mit dem Wissen von heute lassen sich leicht Entscheidungen konstruieren, vor die sich diese Menschen damals nicht gestellt sahen. Sie wollten singen und auf Bühnen stehen.

Bereits in der vierten Zeile des Textes, der „statt eines Vorworts“ das Buch einleitet, fällt der Name Elfie N. Wer ist das? Eine Wiener Schauspielelevin, die der Cebotari sehr nahe rückte, im Schlepptau die Mutter – stets „Mutti“ genannt. Ihre Tagebücher hat Fritz, der jüngere  der beiden Cebotari-Söhne, 2018 der Autorin überlassen. Sie dienten ihr nach eigenem Bekunden als „Primärquelle aus erster Hand“. Mit dem Fortschreiten des Buches rückt die Vielzitierte faktisch zur Koautorin auf. Zitate werden länger und länger, füllen schließlich ganze Seiten. Kritik an ihrem Idol duldet Elfie nicht. 1949 kommt die Cebotari als Turandot in der seinerzeit sehr beliebten österreichischen Programmzeitschrift „Funk und Film“, die unmittelbar nach Kriegsende durch die britische Besatzungsmacht ins Leben gerufen wurde, nicht gut weg. Sie sei darstellerisch und stimmlich der Titelrolle kaum gewachsen gewesen, besonders wenn man in ihre Vorgängerinnen denke. Elfie wird böse und ausfällig. Sie bezichtigt den Redakteur „dieses Schmierblatts“, ein „persönlicher Freund von Ljuba Welitsch, die die Rolle unbedingt übernehmen wollte, zu sein“. Derlei Behauptungen werden keinem Faktencheck unterzogen, was notwendig gewesen wäre. Das Buch gerät mehr und mehr zur Fanpost. Und ob es im Sinne von Maria Cebotari ist, dass die entschlossene Verehrerin auch den Verlauf ihre letzten Tage im Krankenhaus in aller Ausführlichkeit ausbreiteten darf, sei dahin gestellt. Als Leser fühlte ich mich unangenehm berührt.

„Ihr musikalisches Erbe ist auf vielen Labels in umfassenden Editionen veröffentlicht, enthält jedoch nur Fragmente ihrer Partien aus populären Opern“, ist auf Seite 20 zu lesen. In die Einzelheiten wird nicht gegangen. Die Feststellung selbst bleibt missverständlich, weil die Autorin nicht erklärt, was sie eigentlich unter „populären Opern“ versteht und welche Werke gemeint sein sollen. Es finden sich kaum weitergehende Hinweise auf Tondokumente, von einer Diskographie ganz zu schweigen. Wenn aber – wie es die Autorin zu Recht anmahnt, die Erinnerung an die Sängerin „neu aufleben und für die Zukunft wachgehalten werden“ soll, dann dürfte das doch am ehesten durch die Tondokumente geschehen. Die haben sich in großer Zahl erhalten. In ihnen dürfte Maria Cebotari mehr fortleben als in ihren Filmen, die so gut wie nicht greifbar und meist in zweifelhafter Bildqualität überliefert sind. Da Rosemarie Killius auf dem Buchdeckel als „Expertin für Filmgeschichte der 1930er bis 1950er Jahre“ ausgewiesen wird, ist sie auch als Autorin erkennbar mehr an der Schauspielerin Cebotari mehr interessiert als an der Sängerin.

Den Schluss bilden eine Bibliographie, ein Personenregister, die Liste der Gesangsrollen und die Daten sämtlicher Opernauftritte in Wien. Dokumentiert werden zudem die Mitwirkung an Ur- und Erstaufführungen, die Filme mit Maria Cebotari, Gustav Diessl und ihrem ersten Mann Alexander Vyrubov, der ihr den Weg als Sängerin wies und dem sie bis ans Lebensende verbunden blieb.

Für Aufsehen hatte Orfeo/Naxos mit dem „Zaubertrank“ von Frank Martin als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1948 gesorgt.

Opernfreunde dürften durch das Buch angeregt worden sein, sich wieder den Aufnahmen von Maria Cebotari zuzuwenden. Es besteht wahrlich kein Mangel. Mit dem nötigen archäologischen Instinkt lassen sich auch Dokumente ausfindig machen, die im Handel derzeit nicht angeboten werden. Und es gibt immer wieder aufsehenerregende Ausgrabungen. Zuletzt war bei Orfeo Der Zaubertrank von Frank Martin als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen 1948 erschienen (C 890 142 A). Ein Aufschrei ging durch die große gut vernetzte Sammlergemeinde. Die Cebotari als Isolde, Isot, wie sie in dem Stück heißt. In Dokumentationen über das Festival sind vier Aufführungen im Landestheater vermerkt, die vorletzte am 24. August wurde im Rundfunk übertragen. Ein originales Band hat sich erhalten. Endlich wurde es aus dem Archiv geholt. Nur eine Szene aus dem (in Salzburg deutsch gesungenen) Zaubertrank war in gut sortierten privaten Archiven seit Jahren zu finden, wenngleich in ziemlich mieser Klangqualität. Sie ließ mehr ahnen, als dass sich daraus ein Gesamteindruck hätte rekonstruieren lassen. Sie handelt von der Begegnung zwischen Tristan (Julius Patzak) und Isot im ersten Teil. Für mich der eindrucksvollste Moment des ganzen Werkes. Isot antwortet auf die Tristans Frage, was es sei, dass sie quäle: „Die Liebe zu euch.“ Was in der wörtlichen Niederschrift lakonisch klingt, ist in der musikalischen Wiedergabe meilenweit davon entfern. Martin lässt seine Figuren aus dem Chor, der wie in der griechischen Tragödie agiert, immer wieder heraustreten, so auch in dieser Szene. In dieser Loslösung entsteht die überwältigende Wirkung. In der Diskographie von John Hunt (ISBN 9780952582731), die für die genaue Beschäftigung mit der Cebotari unerlässlich ist, heißt es auf Seite 199 über den Zaubertrank – im Original Le vin herbé „unpublished radio broadcast“. Inzwischen gilt das nicht mehr.

Nur noch antiquarisch: Antonio Mingottis Buch über Maria Cebotari im Salzburger Heilbrunn Verlag/ Foto Booklooker

Das Buch von Antonio Mingotti, „Maria Cebotari – Das Leben der Sängerin“ von 1950 im Salzburger Heilbrunn Verlag ist nur noch antiquarisch zu bekommen (Booklooker et al.) und enthielt viele schöne Fotos der Sängerin. Ebenso die Biographie von Rosemarie Kilius (Killius, Rosemarie (2021), Maria Cebotari: „Ich lebe, um zu singen“, Berlin, Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur). Von einer in blauen Samt eingebundenen rumänischen Hommage an die Cebotari (die ja eigentlich Cebutaru hiess und am 10. Februar 1910 greg. in Chișinău, Bessarabien als Teil des Russischen Zarenreiches geboren wurde) berichten ältere Fans mit verklärten Augen … Man verzweifelte an der Sprache, aber die schönen Bilder entlohnten die Mühe.

.

Ich bin mit der Cebotari aufgewachsen. Meine Mutter hatte ihre Filme gleich nach der Premiere gesehen und immer und immer wieder davon erzählt. Deshalb hielt ich sie zunächst für eine Schauspielerin, die sie nur episodenhaft gewesen ist. Ihre bessere Hälfte war und blieb der Gesang. Eine meiner ersten eigenen Schallplatten enthielt Musik aus La Bohéme und Madame Butterfly „Man nennt mich jetzt Mimì“, „Eines Tages sehn wir“ und das Duett „Mädchen, in deinen Augen liegt ein Zauber“ mit dem Tenor Walther Ludwig. Ich bräuchte die Aufnahmen von 1942 gar nicht mehr neu zu hören, obwohl sie längst als CDs im Regal stehen. So tief haben sie sich eingegraben, als sei das Gehirn selbst der Tonträger. Diese elementare Erfahrung habe ich mit kaum einer anderen Sängerin gemacht. Auf mich wirkt die Cebotari immer noch wie ein Naturereignis. Meine Liebe zur Oper ist ohne sie nicht denkbar. Das liegt nicht an mir, das liegt an ihr. Sie öffnet die Ohren. Als ich noch ein Junge war, gab es kaum Operngesamtaufnahmen. Arien und Querschnitte waren die Norm. Das Gros der Aufnahmen mit Maria Cebotari besteht aus solchen Szenen. Mir kam es immer so vor, als würde sie in einer einzigen Arie den Stoff der ganzen Oper verdichten wie der Meisterkoch die Kraft des Fleisches in einer Consumé.

Das Label Preiser hatte mehrere CDs mit Aufnahmen der Cebotari im Katalog – inzwischen vergriffen, aber youtube bietet einiges davon, und Amazon hat manches zu horrenden Sammler-Preisen ..

Sie singt höchst konzentriert. Bei ihr scheinen die Noten zusammenzurücken. Wohl deshalb ist mir die Arie der Susanne aus Figaros Hochzeit die allerliebste Aufnahme einer Arie geblieben. Sie lockt mit der Stimme, setzt somnambule Dunkelheit verführerisch, erotisch ein. „Endlich naht sich die Stunde…“ Da kann alles und mancher gemeint sein, nicht nur Figaro, auch der Graf, gar der Page. Es ist das Lied der Liebe, das durch die Nacht klingt. Eine Prise Chanson mischt sich bei. „Feuer und Fieber“, überschreibt Jürgen Kesting in seinem Standardwerk Die großen Sänger das Kapitel über die Sängerin und trifft damit ins Zentrum. Die Wirkung ist auch nach mehr als siebzig Jahren nicht verflogen. Kunst und Können verfallen eben nie. Mir scheint, sie stellt den Ausdruck immer über die Technik des Gesangs. Manchmal schleift sie Töne. Das aber gerät zur Gestaltung, wenn Ungenauigkeiten, gar Nachlässigkeiten in den Koloraturen bei Partien wie Konstanze oder Violetta noch wie Stärken wirken. Die Cebotari macht aus Individualität ein Markenzeichen. Sie ist unverwechselbar.

Maria Cebotari als Mimi auf einer Künstlerpostkarte/OBA

Jeder Vergleich mit ebenso berühmten Kolleginnen ist so mühsam wie sinnlos. Aber in einem Fall kann ich nicht widerstehen. Das ist die Salome. Es gibt zwei Dokumente, den berühmten Schlussgesang von 1943 und den Londoner Aufführungsmitschnitt des Gastspiels der Wiener Staatsoper von 1947. Konkurrenz in dieser Zeit ist übermächtig. Ljuba Welitsch und Christel Goltz sind die berühmtesten Namen, gelten bis heute als Inbegriff, gar als Nonplusultra. Daran ist nicht zu rütteln. Und doch hat die Cebotari etwas in der Stimme, was die anderen so ausgeprägt nicht haben – Jugend. Sie ist die Kindfrau. Dabei ist sie von den Dreien die Älteste. Als Daphne hätte sie lange vor Hilde Güden die Maßstäbe setzten können. 1943 wurde der Schussgesang eingespielt, der große Erwartungen ans Ganze weckt – zart, verhalten, tastend. Daphne ist selbst erstaunt, was da mit ihr passiert, nämlich das Wunder der Verwandlung. Das Finale aus Ariadne auf Naxos, 1947 mit dem trunkenen Karl Friedrich unter Thomas Beecham entstanden, markiert den Beginn einer neuen Ära in der Karriere der Schallplattensängerin Maria Cebotari.

Viel Zeit blieb ihr aber nicht, um nun unter wesentlich besseren technischen Bedingungen aufzunehmen. In London hatte sich ihr das berühmte Studio No. 1 in der in der Abbey Road aufgetan. Der allmächtige EMI-Produzent Walter Legge war auf sie aufmerksam geworden. Das versprach mehr Arbeit im Detail, größere Genauigkeit. Ein Exklusivvertrag war abgeschlossen. Legge betreute den Monolog der Ariadne „Es gibt ein Reich“, der ein Jahr später mit den Wiener Philharmonikern eingespielt wurde, nun schon unter Herbert von Karajan. Wie eine beglückende Zugabe bei diesen Aufnahmesitzungen wirkt Saffis Arie „So elend und so treu“ aus dem Zigeunerbaron von Strauß. Ihr Tod beendete diese verheißungsvolle Zusammenarbeit. Endlich ein modernerer Sound. Alles ist besser als Reichsrundfunk, wobei es zur Wahrheit gehört, dass in den 1930er Jahren bis Kriegsende bereits unter sehr soliden technischen Bedingungen produziert wurde. Viele Aufnahmen leiden mehr an späteren Bearbeitungen als an den eigenen Geburtswehen. Es scheinen sich ganz Heerscharen von Hobbyrestauratoren an den Dokumenten vergangen haben, so hohl, blechern und übersteuert klingt vieles.

Die Cebotari als Turandot: Die Aufnahme entstand 1938 beim Reichssender Stuttgart mit Joseph Keilberth am Pult – hier als CD-Ausgabe von Koch, inzwischen auch vergriffen, aber bei youtube anzuhören.

Großes Aufsehen wie der Zaubertrank erregte fünfzehn Jahre zuvor die Ausgrabung ihrer Turandot, die 1938 beim Reichssender Stuttgart mit Joseph Keilberth am Pult entstand. Aus einem Gerücht um dieses Dokument, an das niemand so recht glauben wollte, war Gewissheit geworden. Einige Fehlstellen am Schluss tun fast nichts zur Sache (Koch CD; inzwischen auch vergriffen, aber bei youtube finden). Der Gesamteindruck bleibt und wird zu einer Lehrstunde, wie eine lyrische Stimme durch Fokussierung ins Hochdramatische gelenkt werden kann, ohne im klassischen Sinne hochdramatisch zu sein. Nicht ohne Risiko gelingt das. Die Cebotari ist es eingegangen.

Für ihre Zeit hat sie ziemlich viele Gesamtaufnahmen hinterlassen. Ebenfalls in Stuttgart wurde ihre vollständige Susanne in Mozarts Figaros Hochzeit mit Karl Böhm am Pult verewigt. Verdis deutsch gesungene und von Karl Elmendorff betreute Luise Miller entstand 1944 in Dresden, die Gabriele in Schoecks Schloss Dürande (Cantus Line) entstammt einem Mitschnitt der Berliner Staatsoper von 1943. Aus Salzburg gibt es schließlich noch Dantons Tod. Die Cebotari ist die Lucile. Es war die Uraufführung der Oper Gottfried von Einems. Für den schwer erkrankten Otto Klemperer sprang der junge ungarische Dirigent Ferenc Fricsay ein und wurde über Nacht berühmt. Ein Dokument rührt mich immer wieder. Es ist der Mitschnitt der 2. Sinfonie von Gustav Mahler vom 16. September 1948 aus Wien (Sony). Am Pult der Philharmoniker stand Bruno Walter. Neun Monate vor ihrem Tod erhebt sich ihr leuchtender Sopran mit unglaublicher Intensität über den gigantischen Apparat, um die Auferstehung zu beschwören. „Sterben werd´ ich, um zu leben!“ (Foto oben: Maria Cebotari in Butterfly, UFA-Film 1939/ OBA.) Rüdiger Winter

Echos einer Legende

.

Einen außergewöhnlichen Schuber mit 22 CDs und einem üppigen, vielillustrierten Beiheft hat Warner Classics herausgebracht (0190296477157), der gleichermaßen Freunde des Tanzes wie der sinfonischen Musik begeistern dürfte. Die Anthologie mit dem Titel Diaghilev Ballets Russes dokumentiert die Ära jener legendären Balletttruppe, die von 1909 bis 1929 den Tanz in Paris und London revolutionierte und dominierte. Der 1872 nahe Nowgorod geborene Serge Diaghilev formierte ab 1890 in St. Petersburg einen Kreis von Künstlerpersönlichkeiten, darunter Musiker, Sänger, Choreografen, Maler und Startänzer. Sein Ziel war die Reformierung des zaristischen Balletts. 1908 führte er zunächst das St. Petersburger Opernensemble nach Paris (mit der Bass-Legende Feodor  Chaliapin)  – der immense Erfolg ließ ihn ein Jahr später auch das Ballettensemble des Marijnsky-Theaters nach Paris reisen lassen. Der 9. Mai 1909 war die Geburtsstunde der Ballets Russes de Serge Diaghilev, die zwanzig Jahre (bis zu Diaghilevs Tod 1929 in Venedig) triumphale Erfolge errangen und das Tanzgeschehen in den westlichen Metropolen bestimmten.

Noch heute werden die legendären Choreografien der Balletts Russes international aufgeführt, vor allem beim Hamburg Ballett, dessen Intendant John Neumeier eine besondere Affinität zu dieser Truppe und ihrem Star Vaslav Nijinsky hat. Alljährlich werden die traditionellen Ballett-Tage zum Ausklang der Spielzeit mit einer Nijinsky-Gala beendet, in der internationale Startänzer auftreten und für ein rauschendes Fest sorgen.

Gleich die erste CD der Sammlung mit Nikolai Tcherepnins Drame choréographique Le Pavillon d’Armide, welche sich auf das Debüt der Compagnie 1909 im Pariser Théatre du Chatelet bezieht, hat für uns einen Bezug zum Hamburg Ballett, denn dort wurde das verschollene Ballett 2009 als Hommage an das hundertjährige Jubiläum des Ensembles in den Ballettabend Nijinsky-Epilog integriert. Den legendären Pas de trois in der Choreografie von Michel Fokine mit Nijinsky, Tamara Karsawina und Baldina hat Neumeier gemeinsam mit der russischen Tänzerin Alexandra Danilova rekonstruiert und zur virtuosen Glanznummer des Stückes exponiert. Warner hat eine Einspielung von Naxos mit dem Moscow Symphony Orchestra unter Henry Shek übernommen. Am selben Abend des  9. 5. 2009 wurden in Paris noch Les Danses polovtsiennes aus Borodins Oper Prince Igor gezeigt, die hier in einer rasanten Einspielung des Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa erklingen.

Vaslav Nijinsky in „Le spectre de la rose“/ Wikipedia

Die Entwicklung der Compagnie ist gut zu verfolgen, denn die CDs sind in der Reihenfolge der jährlichen Auftritte von Les Ballets Russes geordnet und die Papphüllen mit seltenen und daher kostbaren historischen Fotos geschmückt. Im Booklet gibt es dazu weitere Foto-Dokumente mit Diaghilev und seinen Tänzerstars (Nijinsky, Anna Pavlova, Bronislava Nijinska, Tamara Karsavina) sowie Komponisten wie Stravinsky, Debussy, Milhaud und bildenden Künstlern wie Pablo Picasso, Henri Matisse und Léon Bakst.

In der Saison 1910 folgte – nun bereits in der Opéra de Paris – Nikolai Rimsky-Korsakovs Schéhérazade, in der Nijinsky mit seiner sinnlich  lasziven Aura triumphierte. Hier ist wieder das Chicago Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa mit einer rauschhaft schwelgerischen Interpretation zu hören. Mit Adolphe Adams Giselle gab es in diesem Jahr auch das erste Standardwerk des klassisch-romantischen Repertoires, in welchem Nijinsky als Albrecht Maßstäbe setzte. In die  Warner-Sammlung wurde eine recht unbekannte Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving aufgenommen, die gleichwohl nicht der romantischen Atmosphäre entbehrt. Dass die Saison 1910 besonders reich war, bezeugen zwei weitere Werke – Robert Schumanns Ballett-Pantomime Carnaval (wieder mit dem Philharmonia Orchestra unter Robert Irving) und das erste von Igor Stravinskys Balletten –  L’Oiseau de feu –, das sich sogleich als ein Hauptwerk erwies. Die Aufnahme des Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa ist ein Klassiker im Katalog und behauptet sich auch hier imponierend.

Impressario und Gründer der Ballets russes: Sergej_Diaghilev_(1872-1929)/ Gemälde von Alexander Serov/ Wiki Commons

Ein Jahr später, für die Saison 1911, komponierte Stravinsky seinen burlesken Petrouchka, der einen gänzlich neuen Stil auf der Ballettbühne einbrachte und auch die Pantomime in den Tanz einbezog. Mit der unglücklichen Jahrmarktspuppe, welche Unterdrückung und Ungerechtigkeit symbolisiert, gelangte Nijinsky zu einer einzigartigen und bis heute unerreichten Interpretation der Titelfigur. Bedeutend ist auch die der Musik durch das City of Birmingham Symphony Orchestra unter Simon Rattle. 1911 gastierte die Compagnie erstmals an der Opéra de Monte-Carlo, wo Nijinsky in zwei weiteren Rollen brillierte und Maßstäbe setzte, die bis heute unübertroffen sind. In dem Tableau choréographique Le Spectre de la rose (auf Webers Einladung zum Tanz in der Orchestrierung von Berlioz) tanzte er als Geist der Rose in der Choreographie von Fokine ein überirdisch ätherisches Wesen, wurde zur Inkarnation der romantischen Empfindsamkeit und faszinierte mit androgyner Aura. Dass Warner hier eine feinsinnige Einspielung mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ausgewählt hat ist nur zu begrüßen. Eine Woche später kam es in Monte-Carlo zur Premiere von Tcherepnins Ballett Narcisse et Ècho, das als Poème mythologique Narcisse gezeigt wurde. Hier wählte Warner eine Aufnahme von Chandos mit dem Residentie Orchestra unter Gennady Rozhdestvensky aus. Von Monte-Carlo reiste die Compagnie nach London, um am Royal Opera House Tchaikovskys Klassiker Schwanensee als Le Lac des cygnes aufzuführen. Bis heute ist dieses Ballett in der Beliebtheit des Publikums unübertroffen und wird immer wieder in neuen choreografischen Deutungen gezeigt. In der Anthologie findet sich die maßstäbliche Einspielung des London Symphony Orchestra unter André Previn.

Mit Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune bringt die Saison 1912 mit dem Titel L’Après-midi d’un faune ein Schlüsselwerk der Compagnie, das für Nijinsky einen weiteren Meilenstein seiner Karriere bedeutete. Er stellte sich mit diesem Stück auch als Choreograf vor und entfachte mit seiner erotischen Darstellung den ersten von noch weiteren folgenden Skandalen. Die gewählte Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle ist auch deshalb so willkommen, weil der renommierte Flötist Emmanuel Pahud mitwirkt. Nur eine Woche später gab es am selben Ort, dem Théatre du Chatelet, Ravels Komposition Daphnis et Chloé in der Choreographie von Fokine und der Ausstattung von Léon Bakst. Auch hier ist die flirrende Interpretation durch das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens die richtige Wahl.

Poster für die Pariser Premiere der Ballets russes 1909/ Wikipedia

Die Saison 1913 bringt wieder eine Mischung von Standardwerken und Unbekanntem. Zu ersten Kategorie zählt zweifellos Stravinskys dissonante Komposition Le Sacre du printemps, die in Nijinskys Choreographie bei der Premiere am 29. 5. im Pariser Théatre des Champs-Élysées zu einem der denkwürdigsten Skandale eskalierte. Dankenswerterweise wurde die legendäre Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch in die Anthologie aufgenommen. Debussys Poème dansé Jeux hatte nur zwei Wochen früher am selben Ort seine Uraufführung in Nijinskys Choreographie erlebt und mit dem reizenden Tennisspiel die Gemüter weit weniger erregt. Die Aufnahme mit dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter André Cluytens ist in ihrem Esprit genau die richtige Wahl. Eine absolute Rarität ist Florent Schmitts Ballet en deux parts La Tragédie de Salomé, heute fast vergessen, doch hier immerhin in einer Einspielung mit dem Orchestre National de l’O.R.T.F. unter Jean Martinon vertreten.

Von links nach rechts:  Igor Stravinsky, Natalia Gontcharova, Sergei Diaghilev, und Léon Bakst Courtesy, Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library for the Performing Arts

1914 gab es in der Opéra de Paris zwei Werke, die heute nur noch selten gezeigt werden. Strauss’ La Légende de Joseph (Josephslegende, hier in einer exemplarischen Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden unter Rudolf Kempe vertreten) choreographierte Fokine, in moderner Zeit erweckte es John Neumeier an der Wiener Staatsoper und in Hamburg zu neuem Leben. Stravinskys Opéra Le Rossignol, gleichfalls von Fokine umgesetzt, erregte besondere Aufmerksamkeit durch die Ausstattung der russischen Künstlerin Natalia Gontcharova, die in der Avantgarde-Szene eine führende Rolle einnahm. Warner hat die neueste Einspielung unter James Conlon mit dem Orchestre de l’Opéra National de Paris und einer prominenten Sängerbesetzung (Natalie Dessay, Violeta Urmana, Laurent Naouri, Marie McLaughlin u.a.) ausgewählt.

1915 pausierte die Compagnie und 1916 trat sie nicht in Paris auf – dafür im Teatro Eugenia Victoria in San Sebastian mit Las Meninas, einer Choreografie von Léonide Massine auf Gabriel Faurés Pavane in f-Moll, die vom Orchestre de chambre de Lausanne unter Armin Jordan gespielt wird. Danach reiste die Truppe nach New York, um Strauss’ Sinfonische Dichtung Till Eulenspiegel zu zeigen. Es ist die letzte Choreografie von Nijinsky, die nie außerhalb der Vereinigten Staaten zu sehen war. Zu hören ist die launische Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra unter Lorin Maazel.

Les Ballets russes: Mikhail Fokin und Vera Fokina in „Scheherazade“/ Glass plate negative/Musik- och Teaterbiblioteket Stockholm/ Wikipedia 

Nach einem Zwischenstopp im Teatro Costanzi in Rom im April 1917 kehrte die Compagnie im Mai dieses Jahres nach Paris zurück, um im Théatre du Chatelet die Sinfonischen Dichtungen „Kikimora“ und „Baba-Yaga“ von Anatoly Liadov in einem Programm mit dem Titel Contes russes zu zeigen. Die heute vergessenen Kompositionen erklingen in einer Einspielung mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Dmitrij Kitajenko. Ungleich bedeutender war die eine Woche später aufgeführte Parade auf Musik von Eric Satie. Das satirische Ballett wurde von Massine choreografiert und von Picasso ausgestattet. Eine idiomatische Aufnahme mit dem Orchestre du Capitole de Toulouse unter Michel Plasson bringt den ganzen Witz und Esprit der Musik zur Geltung.

Nach einer Pause 1917 gab es 1918 im Londoner Alhambra Theatre zwei von Massine choreografierte Stücke  – Ottorino Respighis La Boutique fantasque (hier zu hören mit dem Philharmonia Orchestra unter Alceo Galliera) und Le Tricorne auf Manuel de Fallas El sombrero de tres picos. Ausgewählt wurde die unerreichte Standardaufnahme des Werkes mit der Sopranistin Victoria de los Angeles und dem Philharmonia Orchestra unter Rafael Frühbeck de Burgos.

1920 kehrte die Truppe nach Paris zurück und zeigte in der Opéra zwei Choreographien von Massine:  Stravinskys Le Chant du rossignol und Pulcinella. Berühmte Interpreten sind hier zu hören – das Orchestre National de France unter Pierre Boulez und die Academy of Saint Martin in the Fields unter Neville Marriner. Spektakulär verlief die Saison 1921 im Londoner Alhambra Theatre, denn dort wurde eines der Wunderwerke der klassischen Ballettliteratur aufgeführt – The Sleeping Princess auf Tchaikovskys Dornröschen. Die Choreografie von Marius Petipa zählt bis heute zu den kunstvollsten und schwierigsten überhaupt, regt immer wieder Choreografen zu Neudeutungen an. Vor allem die Figur der Fee Carabosse steht im Blickpunkt des Interesses – nicht selten wird sie en travestie von einem männlichen Tänzer interpretiert. Eben kam beim Berliner Staatsballett die bekannte Deutung von Marcia Haydée aus Stuttgart heraus, in der gleichfalls ein Tänzer auftrat und für Furore sorgte. Warner hat die Einspielung mit dem London Symphony Orchestra unter André Previn ausgewählt, die in ihrer Eleganz und Delikatesse unvermindert besticht.

Les-Ballets-russes-Programmheft in der Gestaltung von Leon Bakst/ Wikipedia

1922/23 gab es in Paris zwei Stravinsky-Raritäten in den Choreografien von Bronislava Nijinska, der Schwester Vaslavs – das Ballet burlesque Le Renard und die Scènes choréographiques Les Noces. Beide dirigiert in der Anthologie Charles Dutoit. Gänzlich von unbekannten Werken war die Saison 1924 bestimmt. Sie brachte Francis Poulencs Ballet Les Biches, das Tableau choréografique La Nuit des sorcières auf Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, das Ballet Les Facheux auf Musik von Georges Auric und das Ballet Le Train Bleu mit der Musik von Darius Milhaud. Hier finden sich Einspielungen unter Mariss Jansons mit dem Oslo Philharmonic Orchestra und Igor Markevitch mit dem Orchestre National de l´Opéra de Monte-Carlo.

1926 und 1927 gab es in Paris wiederum Novitäten, die heute vergessen sind: Jack in the box auf Musik von Erik Satie und La Chatte nach dem Ballet von Henri Sauguet. Hier trat mit George Balanchine als Choreograf eine von Diaghilevs späten Entdeckungen auf den Plan, die bis zum Ende der Ballets Russes eine zentrale Rolle in deren künstlerischen Ausrichtung einnehmen sollte. Auch in den beiden Produktionen des Jahres 1928 in London und Paris war Balanchine für die Choreografie verantwortlich. The Gods go A’Begging ist eine Ballettsuite von Händel, die Thomas Beecham arrangierte. Sie erklingt hier in seiner Einspielung mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Dass zweite Stück ist ungleich bedeutender – Stravinskys Ballet Apollon musagète, hier von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle zu hören. 1929 gab es dann Diaghilevs letztes Projekt für die Ballets Russes – Prokofievs Le Fils prodigue – das wiederum Balanchine choreografierte, trotz einer ernsten Auseinandersetzung mit dem Komponisten, was dem genialen Wirken der Ballets Russes ein getrübtes Finale verlieh. Diaghilev starb nur wenige Monate nach dieser denkwürdigen Premiere und bleibt bis heute eine singuläre Figur in der Welt des Tanzes.

CD 22 bietet einen Bonus, der an Feodor Chaliapins legendäre Interpretation des Boris Godunov erinnert. Außerdem finden sich historische Einspielungen von Stravinskys Le Sacre du printemps mit dem Grand Orchestre Symphonique unter Pierre Monteux und Erik Saties Parade mit dem Philharmonia Orchestra unter Igor Markevitch (Abb. oben/ Leon Bakst für die Ballets russes/ Ausschnitt/ Wikipedia). Bernd Hoppe

Die „Romantische“ in ihrer Urfassung

.
Bei keinem anderen Sinfoniker spielt die Frage der jeweiligen Fassung eine so essentielle Rolle wie bei Bruckner. Im Zuge seiner großangelegten Gesamtaufnahme, dem Projekt BRUCKNER2024, legt der Bruckner-Spezialist Gerd Schaller mit seiner Philharmonie Festival nun die 1874er Urfassung der Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur, der Romantischen, vor (Profil Hänssler CD PH22010). Üblicherweise erklingt bis heute die Fassung von 1878/80, entweder in der Edition von Robert Haas oder in der Edition von Leopold Nowak. Beide dominieren die sehr breite Diskographie eindeutig. Dagegen spielen die Bearbeitung von Ferdinand Löwe (1888) und jene von Gustav Mahler (1895) – neu orchestriert – heutzutage praktisch keine Rolle mehr. Die Originalfassung von 1874, die hier nun vorgelegt wird, erfuhr erst 1982 eine erste Studioeinspielung unter Eliahu Inbal (Teldec). In den letzten vierzig Jahren kamen in etwa ein Dutzend Aufnahmen hinzu. Schallers Neueinspielung stellt tatsächlich die erste seit anderthalb Jahrzehnten dar (Jakub Hrůša entschied sich bei Accentus 2020 für eine revidierte Variante von 1876).

Die Unterschiede zur bekannten Spätfassung sind im Falle der Romantischen wirklich frappierend, schließlich hat Bruckner später zwei ganze Sätze und den halben Finalsatz neu komponiert. Im kenntnisreichen Einführungstext räumt Gerd Schaller mit einigen Klischees auf und betont des Komponisten eigenen Anspruch, eine ideale Sinfonie zu schaffen, als wichtigsten Grund für die zahlreichen Revisionen vieler seiner Werke. Schaller sieht in der Urfassung der Vierten jedenfalls „streckenweise […] ein komplett anderes Werk“ als die üblicherweise gespielte Version. Tatsächlich tut sich ein insgesamt spröderer, aber auch modernerer Gesamteindruck auf, den Bruckner später abmilderte. Die meisten Zeitgenossen waren jedenfalls vom Höreindruck des Originals einigermaßen überfordert. Die von Bruckner selbst postulierte Beethoven-Nähe ist hier indes viel stärker ausgeprägt und weit entfernt von einer etwaigen Programmmusik. Schaller nennt diese Erstfassung zuletzt gar seinen persönlichen Favoriten, was die Romantische anbelangt.

Der Höreindruck weiß vollauf zu überzeugen, was auch an der hervorragenden Akustik des Klosters Ebrach liegt, in welchem die Aufnahme in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk am 25. Juli 2021 eingespielt wurde. Die geübten Tontechniker haben mittlerweile ein besonderes Händchen für die Räumlichkeit der ehemaligen Zisterzienserabtei. Schaller betont in seiner Lesart das romantische Element und liefert ein flammendes Plädoyer für diese frühe Fassung, unterstützt durch seinen in diesem Repertoire mustergültig aufspielenden Klangkörper mit strahlenden Blechbläsern und grollenden Pauken. Zu besonderen Höhepunkten geraten jeweils die Codas der vier Sätze (20:31 – 18:58 – 14:19 – 19:31). Eine moderne Referenz und somit eine uneingeschränkte Empfehlung. Daniel Hauser

Russische Romanzen

.

Seit ihrer Salome bei den Salzburger Festspielen ist die litauische Sopranistin Asmik Grigorian ein Star auf den internationalen Opernbühnen. Das Label ALPHA CLASSICS hat eine längerfristige Zusammenarbeit mit der Künstlerin geplant, die mehrere Aufnahmeprojekte umfassen soll. Deren erstes widmet sich überraschend nicht der Oper, sondern bringt ein Recital mit 19 Romanzen von Sergei Rachmaninov, entstanden im April 2021 in Paris (ALPHA 796). Der Titel der Anthologie Dissonance wurde der gleichnamigen Komposition op. 34 Nr. 13 entnommen, welche das Programm eröffnet. Der russisch-litauische Pianist Lukas Geniusas begleitet die Sängerin am Flügel – eine Zusammenarbeit von absoluter Harmonie, die den Titel der Platte Lügen straft.

Die Stimme der Grigorian ist von starker Intensität, im Klang zuweilen gar bohrend, was das Hören nicht leicht macht. Man muss sich auf dieses Organ einstellen, sich ihm öffnen. Man kann diese Platte nicht nebenbei hören – sie verlangt absolute Konzentration und Hingabe.

„Dissonace“ leitet das Klavier energisch ein, dann erhebt sich der Sopran mit klagenden, sich grell steigernden Tönen, denn das Lied handelt von Abschiedsschmerz. Das folgende („Du bist wie eine Blume“) als Verherrlichung kindlicher Schönheit ist dazu ein starker Kontrast, auch durch den sanften, innigen Klang der Stimme. „Ich warte auf dich“ ist Ausdruck von Sehnsucht, „Trauere nicht um mich“ der Trost eines gestorbenen Menschen für den überlebenden. Hier färbt Grigorian ihre Stimme dunkel ein und verleiht ihr den Ausdruck von Entrücktheit. In „Dämmerung“ klingt sie fast mädchenhaft zart, in „Sie antworteten“ leidenschaftlich. Noch expressiver und sich in exponierte Höhen aufschwingend ist „Glaube mir nicht, mein Freund“. Zu den bekanntesten Kompositionen Rachmaninovs zählt „Singe nicht, meine Schöne“ auf einen Text von Puschkin mit ihrer melancholischen Stimmung, welche die Sängerin sehr schön einfängt. In der Popularität wird sie nur noch von den rauschenden „Frühlingsfluten“ übertroffen, die viele Sänger gern als Zugabe in ihren Liederabenden offerieren. Das Lied verlangt Aufschwünge in großer Steigerung, denen die Solistin hinsichtlich der Stimmschönheit Tribut zollen muss.

Danach gibt es in „Der Traum“ wieder zarte Nuancen und in „Welch Glück!“ gefühlsmäßigen Überschwang, bei dem die Spitzennoten  forciert werden und in schmerzender Intensität erklingen. Bei „In der Stille der Heiligen Nacht“ kann die Sopranistin die Töne dann wieder schweben lassen und im letzten Lied der Sammlung, „Lasst uns ruhen!“, einen Schlusspunkt von prophetischer Ruhe setzen (03. 06. 22). Bernd Hoppe

Vokales: Von Bruch bis Schönberg

.

Unter dem Titel Auf jenen Höh’n haben sich der Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann und der Pianist Hendrik Heilmann bei MDG mit Gustav Mahlers Kindertotenliedern, den Jedermann-Monologen von Frank Martin und den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms wahrlich schwere Kost vorgenommen. Denn die drei zyklisch angelegten Gesänge kreisen alle um das Thema Tod. Die Mahler-Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert leben vom Kontrast der tiefen Trauer zur tröstlichen Hoffnung auf ein Leben in der Ewigkeit, an der Rückert und Mahler unerschütterlich festhielten (Sie ruh’n als wie in der Mutter Haus,…von Gottes Hand bedecket.). Der erfahrene Liedsänger führt seine dunkel timbrierte Stimme technisch gekonnt abgerundet durch alle Lagen. Die genannten Kontraste zwischen dramatischem Aufbegehren und lyrischer Ergebung könnten allerdings von stärkerer emotionaler Ausdruckskraft sein. Dies mag zum Teil auch daran liegen, dass es dem versierten Pianisten natürlich nur unvollkommen gelingen kann, den reichen Mahlerschen Orchestersatz in all seinem Farbenreichtum zu ersetzen. Dies gilt in gewisser Weise auch für die Hofmannsthals Jedermann entnommenen Monologe, bei denen man die gewaltigen Klangballungen des Orchesters im Klaviersatz doch vermisst. Müller-Brachmann verfügt jedoch über ausgezeichnete Diktion; so erfahren die zwischen Deklamation und Gesang schwankenden Monologe von trotzigem Widerstand, bei dem mit dem Reichtum geprotzt wird, bis zur sich endlich zufrieden gebenden Ruhe in den beiden abschließenden Gebeten insgesamt eine sehr überzeugende Wiedergabe. In der Interpretation der Vier ernsten Gesänge erweist sich durch Intonationsreinheit und perfektes Legato abermals die auageprägte Gesangskunst des Bassbaritons. So gelingt mit seinem partnerschaftlich mitgestaltenden Pianisten eine tiefgehende Ausdeutung der bedeutenden Brahms-Lieder (MDG 908 2231-6).

.

Der 1908/09 entstandene Liedzyklus Das Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenbergnach Gedichten von Stefan George ist alles andere als leicht aufzunehmen und stellt als Schoenbergs erstes Werk in freier Atonalität sehr hohe Anforderungen an Stimme und  Interpretation. Deshalb ist es mehr als mutig, dass die Hongkong-Chinesinnen Jasmine Law (Sopran) und Nancy Loo (Klavier) das selten zu hörende, sperrige Werk im September 2018 in London aufgenommen haben, das BRILLIANT CLASSICS (96503) jetzt herausgebracht hat. Die Aufnahme, die zusätzlich die vier Lieder op.2 sowie je ein Lied aus op.12 und op.14 enthält, leidet darunter, dass man die deutschen Texte nicht versteht, wenn man nicht im Beiheft mitliest. Da werden Konsonanten geradezu verschluckt, und Vokale, vor allem bei den Endsilben, folgen nicht dem natürlichen Sprachduktus. Allerdings gibt sich die junge Sängerin alle Mühe, die komplizierten atonalen Tonfolgen inhaltlich zu gestalten und den Text auszudeuten; trotz manchen allzu braven Heruntersingens der Noten werden meist die jeweiligen Stimmungen deutlich. Weiter ist positiv zu vermerken, dass sie ihren Sopran sauber durch alle Lagen zu führen weiß und auch die schwierigsten Intervallsprünge sicher beherrscht. Dabei ist ihr die ausgezeichnete Pianistin eine zuverlässige Partnerin.

.

Etwas mühsam sind verschiedene romantische Werke unter dem Titel Rheingold zusammengefasst, gespielt vom niederländischen Streichorchester Ciconia Consort The Hague String Orchestra unter der Leitung seines Gründers Dick van Gasteren, der im Beiheft die Bezüge der Stücke zum Rhein herzustellen versucht. Da erklingt die Serenade für Streicher von Carl Reinecke (1824-1910), bei dem sich mit Die Ritter vom Rhein immerhin eins seiner 6 Lieder op.27 auf ein Gedicht von Emanuel von Geibel ein Bezug zum Rhein fand; weitere Hinweise sind nicht ersichtlich, auch nicht in seiner gefälligen Serenade. Dass Richard Wagners Ring des Nibelungen mit dem Rhein zu tun hat, kann man nicht bestreiten; aber die Wesendonck-Lieder haben bekanntlich einen Bezug zu Tristan und Isolde und nicht zum Rhein. Sei’s drum, die niederländische Mezzosopranistin Karin Strobos singt die schwelgerischen Lieder mit fließendem Legato und lässt ihre charaktervolle Stimme in den passenden Passagen schön aufblühen; die Streicher begleiten dezent in einer Fassung von  Gerhard Heydt. Bei dem in Köln geborenen und zeitweise in Bonn und Köln lebenden Max Bruch gibt es neben den biografischen Bezügen nur mit seiner Oper Die Loreley einen deutlichen Hinweis auf den Rhein. Sein letztes, posthum erschienenes Werk ist das dreisätzige Streichoktett B-Dur, das vom Ciconia Consort mit vorwärtsdrängender Dramatik gespielt wird, ohne die besinnlichen Momente im Adagio zu vernachlässigen. Schließlich enthält die CD Friedrich Silchers Loreley nach Heinrich Heines bekanntem Gedicht, das die Mezzosopranistin mit einer vom Orchester-Leiter arrangierten Streicher-Begleitung in schlichter Manier zum Klingen bringt  (BRILLIANT CLASSICS 96426).  Gerhard Eckels