Archiv für den Monat: November 2021

Nicht wirklich aufregend

 

Spärlich ist die Diskographie für Vincenzo Bellinis Il Pirata, seine dritte Oper und damit noch ein Frühwerk nicht ohne Schwächen, einmal nicht mit einem Sopran, sondern mit einem Tenor als Titelpartie und zwar einer, die den Interpreten vor fast unüberwindliche Probleme stellt. Sie wurde wie einige andere seiner Rollen vom Komponisten für die Stimme von Giovanni Battista Rubini, der als erster Bruststimme und Falsett in der Extremhöhe miteinander verband, geschrieben. Sammler haben natürlich viele Live-Aufnahmen, von der De Cavalieri bis zu Radvanovsky kürzlich, aber offiziell findet man nur diskutable Aufnahmen mit Callas, Caballè und Aliberti mit entsprechenden Verdiensten um das Werk. Aber die  der Spanierin leidet unter dem Gatten als für den Hörer unzumutbaren Gualtiero, die der Griechin ist mit Pier Miranda Ferraro nicht besser bestückt, und die Italienerin, die das Werk in Berlin mit Marcello Viotti aufnahm, hat mit Stuart Neill einen zwar höhensicheren, aber eintönig klingenden Partner an der Seite. In den Achtzigern gab es in Martina Franca einen Pirata ebenfalls mit Aliberti, die den von Rodolfo Celletti und Alberto Zedda geförderten Tenor Giuseppe Morino zum Partner hatte, der frappierend höhensicher und dazu noch äußerst gestaltungsfreudig den Feinheiten der Partie nachspürend nachvollziehen ließ, wie die Partie bei der Uraufführung an der Scala geklungen haben könnte.

Für ihren durch eine eigene Firma namens Prima classics aufgenommenen Pirata hat die lettische Sopranistin Marina Rebeka sich den jungen Tenor Javier Camarena ausgesucht, der für die schwierige Partie das angemessene Belcanto-Timbre mitbringt, dazu eine klare Diktion der zwar nicht großen, aber durchdringenden Stimme, die auch in der Extremhöhe kaum an Präsenz verliert und bereits mit einem „A lei soltanto“ angenehm überrascht. Nur ganz leicht verhärtet sich die Stimme in den stratosphärischen Höhen von „Per te di vane lagrime“, die Verbindung von romantischer Melancholie und höhenverliebtem Virtuosentum gelingt, fast durchweg wird der Verlust von Farbe, die auch in der Mittellage  besticht, vermieden, schön schmerzlich klingt „Cedo al destin“, und nur im Terzett klingt die Höhe etwas gequält. In „Tu vedrai la sventurata“ besticht der freie Fluss der vielbeschworenen unendlichen Melodie, der Ton wird in der Kadenz schön modelliert, eine interessante Variation erfreut den Hörer im da capo.

Für eine fragile Bellini-Heldin wie die Imogene hat Marina Rebeka eine etwas  zu herb-derbe Stimme. Das zarte Nervenkostüm, das sie schließlich in den Wahnsinn führt, nimmt man ihr nicht so recht ab. Aus diesem Grund passen die beiden Stimmen auch nicht optimal zusammen. Aber die Sängerin zeigt sich als technisch sehr versiert, hochpräsent in den Rezitativen und farbig in der Mittellage. Im Terzett lässt die Rebeka ihren Sopran schön über den anderen Stimmen schweben, in „Col sorriso d’innocenza“ spinnt sie feine Tongirlanden, die Intervallsprünge nach unten wie bei „Oh! Sole,ti vela“ klingen recht gewaltsam, manches verwaschen wie „Taci, rimorsi“, und was will sie uns mit einem sehr zärtlichen „Ernesto“ sagen?

Dieser wird von Franco Vassallo mit viel Durchschlagskraft und guter Höhe gesungen, die Rezitative und „Tu m’apristsi in cor ferita“ klingen manchmal zu unkontrolliert grimmig, dem Belcanto scheint der Bariton fast schon entwachsen. Mehr als nur eine Stichwortgeberin ist die Adele von Sonia Fortunato mit geschmeidigem Mezzosopran, einen gestandenen Goffredo singt Antonio Di Matteo, unauffällig bleibt rollengemäß der Itulbo von Gustavo De Gennaro.

Der Chor der Bellini-Stadt Catania singt mit Enthusiasmus und viel Temperament, das Orchester des Teatro Massimo unter Fabrizio Maria Carminati ist natürlich in dieser Musik zuhause, erfreut gleich zu Beginn mit einer flüssigen Sinfonia, stellenweise nicht nur beschwingt, sondern geradezu fröhlich. Aber die endgültige Antwort auf die Frage: Welches ist „richtige“ Pirata-Aufnahme kann die hier vorliegende auch nicht geben (Prima Classic 010 3 CD, bei dieser Firma hat Marina Rebeka noch einige weitere Arienprogramme aufgenommen). Ingrid Wanja

Maria Croonen

 

Die Sängerin Maria Croonen hatte sich bis zum Ende ihres langen Lebens ewige Jugend bewahrt wie kaum eine andere. Wer ihre Aufnahmen hört – und ich höre sie immer wieder gern – wird keinen Alterungsprozess, wie er für einen lyrischen Sopran nur zu natürlich wäre, ausmachen können. Ihr leicht geführtes Organ leuchtet unangefochten. Die Gesangslinie ist perfekt. Man versteht jedes Wort. Hier und da würde ich mir etwas mehr Leidenschaft gewünscht haben. Offenbar lag ihr das nicht. Die Croonen – und das ist ihre unangefochtene Stärke – entwickelte Dramatik durch Intensität und Natürlichkeit des Tons. Wohl auch deshalb sind ihr nach meinem Eindruck die eher introvertierten Figuren auf der Opernbühne wie Dvoráks Rusalka, Tschaikowskis Tatjana oder Bizets Micaela so hervorragend gelungen und haben ihr das ungeteilte Lob der Kritik eingebracht.

So wie sie es machte, könnten diese Rollen heute noch gesungen werden. Maria Croonen, die 1953 nach kurzen Stationen in Meißen und Halberstadt ihr erstes Engagement am Opernhaus Leipzig antrat, ist in gewisser Weise zeitlos. Der Operndirigent Heinz Fricke, der sie sehr förderte, lobte ihre „hohe Intelligenz“ und vermerkte zu Recht, dass „niemals der äußere Effekt in den Vordergrund trat“. Von ihrem „künstlerischen Ernst“ zeigte sich Kurt Masur, mit dem sie viel zusammenarbeitete, beeindruckt. Und den Komponisten Rudolf Wagner-Regeny, in dessen Oper Die Bürger von Calais Maria Croonen aufgetreten ist, überzeugten vor allem die Tiefe und Wahrhaftigkeit ihre Gestaltung. Eine Rundfunkproduktion kam bei Myto heraus. In seinem Amt als Intendant des Leipziger Opernhauses beglückwünschte der Komponist Udo Zimmermann die Croonen zu ihrem 75. Geburtstag mit den Worten: „Alte Opernfreunde erinnern sich noch an den schimmernden Glanz einer begnadeten Stimme, deren heller Silberton den dunklen, satten Klang des Gewandhausorchesters überstrahlte. Wer, wenn nicht Sie, konnte sich damals wagen, einer Elfride Trötschel die Rusalka nachzusingen und daneben zu bestehen!“ Recht hatte er.

Das Wirken der am 20. Juli 1925 geborene Sängerin blieb im wesentlichen auf die sächsische Metropole beschränkt, wo sie 1966 ihre Bühnenlaufbahn beendete und fortan ausschließlich als Musikpädagogin in Erscheinung trat. Mit einem ihrer Schüler, dem Bariton Frank-Peter Späthe, war sie verheiratet. Der Semperoper in Dresden und der Staatsoper in Ostberlin, wo auch Kammersänger Späthe seine großen Erfolge hatte, war die gebürtige Rheinländerin durch Gastverträge verbunden, Gastspiele führten sie in viele Länder. Der Bau der Berliner Mauer 1961 und die daraus resultierende extrem verhärtete Kulturpolitik der DDR verhinderten den Ausbau der internationalen Karriere. Dem Ruf westdeutscher Bühnen durfte sie nicht Folge leisten. Trotz alledem ist sie im ganzen Land und weit darüber hinaus bekannt geworden – und bekannt geblieben. Wer beispielsweise im Internet nach Maria Croonen sucht, wird reichlich fündig. Gleich auf mehreren Seiten wird sie als Partnerin von Ernst Gruber herausgestellt. Mit dem Heldentenor singt sie in einer beim Label Ponto veröffentlichten Edition das Liebesduett aus dem ersten Akt von Verdis Othello und ist neben Gruber die Agathe im Finale von Webers Freischütz. Auf dem Markt ist zur Zeit auch die deutsch gesungene Leipziger Carmen (Berlin Classics) mit ihr als Micaela. Ungeahnte Schätze lagern hingegen im Rundfunkarchiv, darunter der komplette Freischütz. Nicht weniger als 31 komplette Opern beziehungsweise Operetten hat sie allein in Leipzig eingespielt. Hinzu kommen an die hundert Einzelaufnahmen.

Am 10. November 2021 ist Maria Croonen nach langer Krankheit gestorben, erfahren wir von Christiane Croonen, deren Patentante die Sängerin war.  Rüdiger Winter

Darf’s ein Lied mehr sein?

 

Carl Maria von Weber hat um die neunzig Lieder hinterlassen, darunter Duette und Kanons. Im Vergleich mit Schubert, Wolf, Schumann oder Loewe ist dies nicht sonderlich viel. Das Genre stand aber auch nicht im Mittelpunkt seines Schaffens. Es möge seltsam erscheinen, dass er, „der Schöpfer, der romantischen Oper, auf dem Gebiet des Klavierlieds keineswegs als Neuerer und Wegweiser einer Epoche aufgetreten ist“, heißt es in Reclams Lied-Führer (2008), dem Standartwerk für den privaten Gebrauch des Musikfreundes, der nicht zwingend vom Fach sein muss. Sein, Webers, „Liedschaffen ist reich an Melodie, Charakteristik, Esprit und Originalität, aber es steht noch unentschieden zwischen den Epochen, und es lässt bei allem freien und unbefangenen Individualismus der Form und der Empfindung die zwingende Unmittelbarkeit des Ausdrucks vermissen, die den wahren Lyriker kennzeichnet“. Lieder waren Nebenprodukte im Schaffen Webers. Sie lassen sind von den frühen bis in die späten Jahre seines kurzen Lebens nachweisen. Er war erst neununddreißig Jahre, als 1826 in London starb. Es gibt bis heute keine vollständige Einspielung der Lieder. Selbst der auf das deutsche Liedgut spezialisierte Pianist Michael Raucheisen schenkte ihnen nur mäßige Aufmerksamkeit. Unter den mehr als tausendeinhundert veröffentlichten Titeln seines Aufnahmekanons beim Reichsrundfunk Berlin sind nur neunzehn von Weber, zur Hälfte von Erna Berger gesungen. Wenn auch keine Sololiedersammlung sondern ein Chorzyklus, hat es Leyer und Schwerdt nach Gedichten des 1813 in den Freiheitskriegen gefallen Theodor Körner – einst eines der bekanntesten Werke des Komponisten – zu keiner Aufnahme gebracht. Nur einzelne Teile wie Lützows wilde Jagd wurden gelegentlich aufgeführt und eingespielt.

Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich auf deutschem Boden vornehmlich Peter Schreier in der DDR (Eterna 1978) und Dietrich Fischer-Dieskau (Claves 1991) sowie Hermann Prey (Electrola 1978) in der Bundesrepublik der Lieder von Weber angenommen und Platten produziert. In Frankreich sind Irène Joachim (diverse Labels, 1959 mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet), in England Margret Price (BBC 1970) und der Tenor Martyn Hill (Decca 1976) mit kompakten Einspielungen hervorgetreten. Einzelne Gruppen finden sich auch bei anderen Sängern, darunter Olaf Bär. In jüngster Zeit widmeten sich beispielsweise die Sopranistin Andrea Chudak (Antes 2013) und der Tenor Robin Tritschler (Signum 2019) verstärkt Weber. Sämtliche Lieder mit Gitarrenbegleitung veröffentlichten Patrizia Cigna und Adriano Sebastiani 2018 bei Brilliant Classics.

Kommt eine neue CD mit Liedern von Carl Maria von Weber auf den Mark, ist dies noch immer ein besonderes Ereignis für Musikfreunde, die sich mit diesem Genre beschäftigen. Der Bass-Bariton Hanno Müller-Brachmann hat sich bei Panclassics (PC 10428) frühen Liedern in Koproduktion mit dem SRF 2 Kultur aus der Schweiz zugewandt. Aufgenommen wurde im September 2020 in der Radiostation Zürich. Die CD ist also taufrisch. Insgesamt sind sechs Titel zu hören: Die Zeit (Josef Ludwig Stoll, 1778-1815), Meine Lieder, meine Sänge (Wilhelm von Löwenstein-Wertheim, 1789-1847), Liebe-Glühen (Friedrich Wilhelm Gubitz, 1786-1870), Was zieht zu deinem Zauberkreise und Klage (Karl Friedrich Müchler, 1763-1857), Sind es Schmerzen, sind es Freuden (Ludwig Tieck, 1773-1853). Die Biografien der Textdichter – allesamt Zeitgenossen von Weber – werden im Booklet von Autor Thomas Seedorf zumindest kurz angerissen. Sie sind ein Kapitel für sich. Bis auf Tieck verschwanden sie mehr oder weniger in der Versenkung. Kaum einer würde sich ihrer erinnern, hätte sich nicht Weber, der mit einigen von ihnen auch persönlich bekannt war, ihrer Verse angenommen. Sie haben keine Weltliteratur verfasst. Und doch hat Weber in den Werken offenbar auch ein Zeitgefühl ausgedrückt gefunden und durch seine Musik vertieft. Frühe Lieder gehören zu seinen bekanntesten. Im Booklet können die Texte nachgelesen werden, was zu empfehlen ist.

Müller-Brachmann hätte auf den Vortrag mehr Schlichtheit verwenden sollen. Damit wäre er Weber gerechter geworden. Sein Interpretationsansatz ist mir in den Details zu dramatisch – und oft zu unruhig. Im so genannten Schwanengesang von Franz Schubert, der den größten Teil der neuen CD beansprucht, ist der Sänger mehr in seinem Element und findet auch zu großer Ruhe. Den Doppelgänger, der sich zu einer unheimlichen Szene auswächst, dürfte ihm nicht so schnell jemand nachmachen. Darf es ein Lied mehr sein? Eine Besonderheit dieser Aufnahme des erst nachträglich durch Verlegerhand als Zyklus in die Musikgeschichte eingegangen Schwanengesangs ist die Erweiterung um das Rellstab-Lied Herbst, das Schubert, wie im Booklet mitgeteilt, „dem reisenden Violinvirtuosen Heinrich Panolka ins Stammbuch schrieb“ an Position 9. Am Klavier – einem Grand Piano von Carl Strobel Wien 1824/1825 – begleitet Jan Schultsz. Rüdiger Winter

Hocherfreulich

 

Warum immer mehr Sänger sich das Booklet zu ihrer Recital-CD selbst schreiben, kann man nur vermuten, warum so viele CDs in englischer Sprache betitelt werden, obwohl vorwiegend in Italienisch oder Deutsch gesungen wird, liegt eher auf der Hand: Man will ein möglichst großes Publikum damit ansprechen.

Die CD von Andreas Bauer Kanabas nennt sich Love and Despair, enthält keine einzige englische, aber immerhin Arien in sechs unterschiedlichen Sprachen, und es macht Sinn, dass der Bass einen Teil des Booklets selbst verfasst hat, denn darin erläutert er seine Sicht der Partien, die er auf der CD verkörpert. Außerdem erklärt er dem Leser, der ihn vielleicht bereits als Andreas Bauer kannte, warum er nun seinem Namen ein Kanabas hinzugefügt hat. Er will damit an seine Großeltern mütterlicherseits erinnern, die aus ihrer Heimat Böhmen am Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben wurden.  Dieser zweite Artikel des Booklets verwirrt insofern, als er zunächst, in der 3. Person  geschrieben, den Anschein erweckt, als würde- und das voller Lobpreisungen- über den Sänger berichtet, dann aber urplötzlich in die erste Person übergewechselt wird.

Wichtiger als das Booklet ist aber schließlich die CD, und über diese lässt sich fast nur Hocherfreuliches berichten. Bassrollengemäß ist mehr von Despair als von Love die Rede, und es beginnt mit der Arie des Silva aus Verdis Ernani, in der der Sänger bereits im Rezitativ, das sehr agogikreich interpretiert wird, eine tiefschwarze, auch in der mezza voce sehr farbig Stimme hören lässt. Die Phrasierung ist durchgehend auch in Arie und Cabaletta großzügig, das schöne Legato könnte noch konsonantenfreundlicher sein. Besonders bemerkenswert ist auch die Geschmeidigkeit der Stimme in der Cabaletta. Die Arie des Philippe aus Verdis Don Carlos singt der Bass auf Französisch , wohl um den Beweis anzutreten, dass auch Partien in dieser Sprache zu seinem Repertoire  gehören. Sie wird sehr facettenreich gestaltet, wie aus dumpfer Verträumtheit erwachend und sich zur bitteren Erkenntnis in schönen Crescendi steigernd, ein echter basso profondo, der über reiche Schattierungsmöglichkeiten verfügt.

Das deutsche Repertoire wird mit König Marke berücksichtigt, dem der Sänger ein gute Diktion angedeihen lässt, dessen langen Monolog er klug strukturiert und der zugleich Würde ausstrahlt und Anteilnahm erweckt. Weiter geht es mit Russischem, zum Glück einmal nicht Fürst Gremin, sondern Rachmaninows Aleko, sehr heldisch auftrumpfend und fern von allem Bassgegrummel.

Es geht zurück zu Verdi mit Banco, dessen Arie Bauer Kanabas durch Tempiwechsel viel Dramatik verleiht, mit Zaccaria, der majestätisch, dunkel bis in die Höhe hinauf und frei bis in die tiefste Tiefe hinunter überzeugt.

Der Wassermann aus Dvoraks Rusalka erfreut durch väterliche Weichheit und durch Geschmeidigkeit. Schillernder, zwielichtiger und im Duett mit der Judith von Tanja Ariane Baumgartner mit warmem, rundem Mezzosopran kommt schließlich, natürlich in Ungarisch, Herzog Blaubart von Bela Bartok zu Wort.

Mit dem Latvian Festival Orchestra Riga unter Karsten Januschke stand als Begleitung zwar kein „großer“ Name zur Verfügung, aber eine durchaus inspirierende und zuverlässige Begleitung (Oehms Classics OC 490/ dazu auch das Interview mit dem Sänger bei operalounge.de)Ingrid Wanja   

A Georgian Entertainment

 

Charles Dibdin ist ja Lesern von operalounge.de kein Unbekannter, ist hier vor nicht langer Zeit sein Shakespeare-Entertainment The Jubilee bei Restrospect Opera vorgestellt worden.  Nun gibt es von derselben Firma Didbins Sing-Spiel The Wags, ebenfalls aus dem heiteren Genre und musical-nah, und deshalb von unseren Kollegen vom Operetta Research Center hier besprochen, die sind die richten dafür. G. H.

 

Nun als Charles Didbin und seine Wags (was so viel wie Witzbolde heisst). Didbin wird häufig – sofern man bei ihm von häufig sprechen kann – als eine der Verbindungen zwischen den „Balladenopern“ von John Gay (The Beggar’s Opera, Polly usw.) und den „komischen Opern“ von Gilbert und Sullivan angesehen. Er war das achtzehnte Kind einer „energischen Dame“, die sich bei seiner Geburt im Jahre 1745, als sein ältester Bruder schon 29 war, bereits im 50. Lebensjahr befand. Zwischen 1756 und 1759 war er Chorsänger an der Winchester Cathedral und wurde dann von Covent Garden als singender Schauspieler engagiert, wo er begann, Verse sowie Musik für die Bühne zu schreiben: 1765 The Maid of the Mill mit Isaac Bickerstaff, 1768 gefolgt von Lionel und Clarissa, welches ich 1965 beim Eröffnungsfestival von Guildford’s mit Yvonne Arnaud Theatre mit Max Adrian, Rachel Kempson, Anne Rogers und Peter Pratt erlebte.

Charles Didbin & David Garrick: „The Jubilee“ bei Retrospect Opera

Ich erinnere mich, dass ich es total entzückend fand und mich fragte, warum Dibdin so selten aufgeführt wurde – abgesehen von Tom Bowling. Einige Jahre später inszenierte Guildford auch The Duenna (1788) mit der charismatischen Joyce Carey in der Titelrolle, wo Dibdin mit Sheridan zusammenarbeitete. The Shepherd’s Artifice von 1762 wird laut Wikipedia oft als „Operette“ bezeichnet!

Insgesamt hat Dibdin etwa 600 Lieder komponiert, von denen die meisten, wie uns die zahlreichen Beilagen von The Wags erzählen, im „galanten Stil“ seien, einer Reaktion auf den überladenen Barock von Händel und Bach, und „im Allgemeinen unkompliziert, oftmals zentriert um drei Akkordfolgen, welche Tonika und Dominante betonen. Dissonanz wird sparsam verwendet, ebenso wie Modulationen“ mit begrenztem Einsatz von Verzierungen.

Dibdin war der herausragende musikalische „Showman“ seiner Zeit und revolutionierte mit seinen vertrauten Ein-Mann-Auftritten die populäre Unterhaltung. The Wags von 1790 brachten ihm seinen größten Erfolg. Er nannte es ein „Table Entertainment“, das in drei Teile gegliedert war und Zeit für zwei Pausen ließ, wobei jeder Teil sechs oder sieben Lieder umfasste.

Charles Dibdin, as painted by Thomas Phillips in 1799. (Photo: National Portrait Gallery / Wiki Commons)

In The Wags stellt sich Dibdin eine Villa außerhalb Londons als „Vergnügungslager“ vor, in der sich eine Ansammlung britischer Exzentriker unter der Führung von Brigadegeneral Bumper regelmäßig trifft, um Geschichten zu erzählen, Witze auszutauschen und Lieder zu singen. Während Dibdins Bühnenwerke Arrangements von populären Liedern und Liedern anderer Komponisten sowie eigene Kompositionen umfassen, stammen alle Lieder in The Wags von Dibdin selbst, sowohl in Wort als auch in Musik. Angesichts der begrenzten Verwendung ungewöhnlicher Harmonien und Modulationen sind die Lieder sehr abwechslungsreich und werden von Simon Butteriss auf dieser Retrospect Opera-CD mit Schwung gesungen. Bemerkenswert sind Track 11, The Indian Death Song, und Track 22, The Soldier’s Adieu. Beides wird auf einem Hammerklavier aus dem Jahre 1801 von Steven Higgins begleitet, der so viel Abwechslung wie möglich aus diesem Instrument herausholt.
Der gesamte gesprochene Text von Dibdin ist enthalten. Es klingt sehr nach Ronnie Corbett, aber da die 82-minütige CD großzügig angelegt ist, besteht die Möglichkeit, das meiste davon bei wiederholtem Abspielen wegzulassen, so man dies wünscht.

Eine sehr empfehlenswerte Aufnahme einer der Nebenstraßen der englischen Musik und tatsächlich Vol. 3 von Dibdins Werk bei Retrospect. Es würde unser Wissen über den Komponisten bereichern, wenn die nächste Folge eines seiner Bühnenwerke beinhaltete. John Groves/ Operetta Research Center/ 31. Oktober 2021/ Übersetzung Daniel Hauser

 

Weber/Berlioz: „Le Freyschutz“

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Im Jahre der 200. Wiederkehr der Uraufführung des Weberschen Freischütz 1821 im Berliner Schaupielhaus hat man bislang kein Wort zur wichtigen Neufassung durch Hector Berlioz 1841 an der damaligen Academie royale de musique (Salle Le Peletier, 7. Juni 1841) gehört. Seit Jahrzehnten wird Webers Oper in Deutschland und international mehr oder weniger verhunzt durch die Theater geschleift, verstörend in Besetzungen und Fassungen, unbefriedigend auch auf CDs vertreten (die recht reife Elisabeth Grümmer nebst Hopf oder Schock/EMI & live stellt immer noch die vielleicht beste Wahl dar, sieht man von Kleiber fils´ rasanter Sicht aber mit Peter Schreiers grotesk besetztem Max und den Schaupieler-Dialogen aber doch sehr speziell/DG ab). Von Schrecklichkeiten wie der Aufnahme mit Birgit Nilsson möchte man gar nicht erst anfangen. Webers Freischütz hat wenig Glück auf den Theatern, weil niemand der Sprechfassung und dem Libretto traut, dieses ver-unbessert, kürzt oder weglässt. Auf CDs wie in den Häusern.

Hector Berlioz/ Photographie von Nadar/ Wiki

Denn auch Christoph Eschenbach hätte es besser wissen sollen, als er nun im Jubiläumsjahr 2021 einen kaum diskutablen und nur mäßig beachteten Freischütz konzertant am Ort des originalen Berliner Geschehens gab. Dabei war er es, der in seiner Pariser Zeit (live m. W. erstmals in moderner Zeit) einen ganz wunderbaren, konzertanten Freychütz francais 2002 mit der fabelhaften Michaela Kaune/Agathe (französisch ohne -e gesprochen) aufführte, auch in Paris erstmals seit Menschengedenken (was in Frankreich nicht viel heißt, denn was in Paris nicht stattfindet ist nicht gewesen…). Wenngleich jedoch der französische Dirigent Jean-Paul Penin eine französischsprachige CD der Berlioz-Version bereits 1999 veröffentlicht hatte (davon nachstehend mehr).

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Der überwältigende Eindruck dieses Eschenbach-Konzertes 2002 (die Kaune wie gesagt unerreicht und Annick Massis/Annette entzückend!)  führte mich eben zu Berlioz, der mit seinen eigens komponierten Rezitativen und dem sehr ordentlich übersetzten Libretto von Emilien Pacini so unerhört geeignet ist für eine internationale Präsentation der Oper, deren originale Singspiel-Sprechtexte wie beim Fidelio oder der Entführung die Sänger gerne verzweifeln lässt (man denke an Jessye Normans Leonore bei Philips, an Absurdität nicht zu überbieten). Die Handlung ist hier viel spannender, der Text kein Stolperstein und die flotten Rezitative treiben den Plot vorab, der aristotelisch in einem kurzen Zeit-. und Ortsrahmen spielt. Die französische Textfassung nebst den Rezitativen stammt wie gerade erwähnt von dem renommierten Pariser Librettisten Emilien Pacini (und nicht von Berlioz), der auch einen Robert Bruce nach der Musik aus der Donna del Lago von Rossini mit neuer Handlung hergestellt hatte.

Der Dichter und Librettist Emilien Pacini schrieb den französischen Text für Berlioz´´“Freyschutz“/ Wikipedia

Die damaligen Pariser Freyschutz-Aufführungen waren hochbesetzt mit Sängern wie Marie (Tenor), Massol, Bremond und den Damen Betty/ Dobré und Nau, letztere eine beliebte Koloratursopranistin jener Zeit. Auch die skandalumwitterte Sängerin Sarolta verlieh späteren Aufführungen Glamour. Ebenso zählt die kapriziöse Rosine Stoltz, Geliebte vieler, später zu den Agathen en francais.

Anders vielleicht als in der Originalversion hat man bei Berlioz weniger ein Werk der post-napoleonisch-deutschnationalen Bestrebungen vor sich (die ehemals besetzten Länder und Kleinstaaten fanden langsam zu sich, und man denkt an das Hambacher Fest, die Paulskirche und die Märzrevolution, aber eben auch an die Unterdrückung durch Metternichs Restauration mit Spitzeln und Verfolgungen).

Die Berlioz-Version ist nun (nur noch) ein in den Pariser Opernbetrieb integriertes Stück Entertainment, die Gorge du Loup (Wolfsschlucht) auch hier eine Herausforderung an die Bühnentechnik der Académie royale 1841 in der Folge von Aubers oder Meyerbeers cinematographischen Bühnen und durchaus in der Reihe mit den Troyens und deren Bühnenanforderungen.

Eine Wiederbelebung eben dieses wichtigen kulturellen deutsch-französischen Joint-Ventures durch Eschenbach wäre in Berlin 2021 erstrebenswert gewesen, denn die Berlioz-Fassung hat es laut Bärenreiter-Arcor-Verlag nur selten in Deutschland gegeben. Dortmund spielte den Freischütz  in der deutschen (Berlioz/Pacini-)Rezitativ-Version von Bernhard Helmich und Daniel Kleiner/Dirigent und in der Regie von Wolfram Mehring 1997Erfurt präsentierte den französischen Freyschutz in Deutsch 2015 beim Domstufenfestival (deutsche Rückübersetzung von Bernhard Helmich und Daniel Klajner, mit Beteiligung von Ian Humbold für die Rezitative), Trier war 2010 erster (dto.), Innsbruck 2020 (stark gekürzt dto. mit langer Sprechpassage Agathe-Eremit nach der Kindschen Erstfassung, wenngleich zu reichlich Sprechtext im Ganzen, was Berlioz ad absurdum führt), Bern 2013 in Französisch mit deutschen Rezitativen (chapeau), ebenso das tschechische Liberec 2014. London hörte 2011 die Berlioz-Fassung mit angeblich historischen Instrumenten (was nicht nur Dirigent Penin für fragwürdig hält, und bei den Sängern war von historischer Vibratoarmut keine Rede), Paris gab das Werk an der Comique 2011 (Rezitative Guiraud), Nizza 2013 (dto.), immerhin. C´est  pas beaucoup.

Der Dirigen und Muaikwissenschaftler Jean-Paul Penin, der bereits 1999 und erstmals eine Aufnahme der Berlioz-Fassung des Weberschenb „Freischütz“ einspielte, einm Pionier fürwahr/jeanpaulpenin.com

Warum also nicht an die wesentlich aufführbarere Fassung anknüpfen? Kennt die kein Dramaturg, kein Intendant? Was für eine Verarmung der theatralischen Opernlandschaft. Es gibt sogar zur Information, wie oben erwähnt, eine offizielle, wenngleich vergriffene, CD-Aufnahme (Agathe/Cécile Perrin ist scharf-stimmig und gewöhnungsbedürftig, die Herren Francois Soulet und Didier Henry ein Gewinn, Anne Constain als Nanette so la-la, aber es ist dem Dirigenten Jean-Paul Penin wieder einmal hoch anzurechnen, so etwas Seltenes überhaupt eingespielt zu haben), immerhin. Er selbst schrieb: „Für diese Aufnahme habe ich die originalen Rezitative in der Bibliothek der Pariser Oper kopiert und drucken lassen. Und Achtung: Manchmal wird jetzt Le Freischütz auf Französisch wieder gespielt, wie in Paris vor ein paar Jahren an der Opéra Comique, aber mit den Rezitativen von Ernest Guiraud von 1882. Sie klingen zwar opulenter, sind aber weit entfernt vom Berlioz‘ Genie – Guiraud hatte ja auch Carmen’s Rezitative verfasst und sogar Mendelssohns Lieder ohne Worte orchestriert)“.

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An weiteren Dokumenten haben Sammler natürlich den Pariser Mitschnitt unter Eschenbach von 2002 und den von den Londoner Proms von 2011 unter Gardiner, immerhin. Und zu meinen Schätzen gehört die „Wolke“ mit Germaine Lubin in Französisch ebenso wie die stilistisch unerreichte Version von Elisabeth Schwarzkopf, nun natürlich in Deutsch. „Legato, legato, Legato“, sagte meine Freundin, die unvergessene Sängerin und Stimmlehrerin Hanna Ludwig, stets. Recht hatte sie, beide Damen machen´s exemplarisch vor.

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Im Folgenden widmen wir uns mit drei Beträgen dem Freyschutz francais. Zum einen gibt es einen Artikel von Ian Rumbold bei den [t]akte des Bärenreiter·Alkor-Verlages zur Aufführung in Trier 2010, dann den des Erfurter Chefdramaturgen Arne Langer zu den Aufführungen der Domfestspiele 2015, und schließlich mehr auf Berlioz eingehend einen Auszug aus dem hochinformativen Beitrag der Hector-Berlioz-website: voila unsere Hommage zum 200. Geburtstag des Freyschütz. G. H.

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Bühnenbild zum „Robin les Bois“ von Castil-Blaze/ Gallica/BNF

Nun also Ian Rumbold: Berlioz beklagte sich häufig über Mitmusiker, die in musikalische Meisterwerke „eingriffen“ und die Anweisungen ihrer Komponisten nicht genau befolgten. Einer dieser Adressaten seines Zorns war Castil-Blaze, der 1824 am Théâtre de l’Odéon in Paris eine Langzeitproduktion von Webers Freischütz (unter dem Titel Robin des bois) inszenierte, die Berlioz als „grobe Travestie“ bezeichnete, „zerhackt und auf die mutwilligste Weise verstümmelt“. Dass Berlioz 1841 an einer authentischeren Inszenierung an der Opéra mit einer Neuübersetzung des Librettos von Émilien Pacini beteiligt werden wollte, ist verständlich. Aber warum schrieb er angesichts seiner Einstellung zur musikalischen Reinheit Rezitative, um die Passagen des gesprochenen Textes zu ersetzen, welche die Oper unterstreichen?
Die Erklärung findet sich in Berlioz’ Memoiren: „Im Freischütz“, schrieb er, „sind die musikalischen Nummern wie in unseren Opéras-comiques mit prosaischen Dialogen durchsetzt, während die Konventionen der Opéra fordern, dass jedes Wort der dort aufgeführten Dramen oder lyrischen Tragödien gesungen werden muss.“ Ohne Rezitative konnte es an der Opéra gar keine Produktion geben. Er stimmte daher zu, jedoch nur unter der Bedingung, dass „das Werk vollständig aufgeführt werde, ohne die Abänderung auch nur eines Wortes oder einer Note“. Neben den Rezitativen verlangte die Opéra ein Ballett als Entr’acte, für welches Berlioz Webers Aufforderung zum Tanz unter dem Titel L’invitation à la valse arrangierte und orchestrierte.

„Le Freyschutz“ de Berlioz: Francois Pierre Villaret war 1870 der Pariser Max/ Gallica/BNF

Die Inszenierung mit den Rezitativen von Berlioz, uraufgeführt am 7. Juni 1841 unter der Leitung von Pantaléon Battu (Hausdirigent Habeneck lag krank darnieder), war ein beachtlicher Erfolg und wurde bis zum 27. April 1846 noch sechzig Mal wiederholt. Eine weitere Abweichung von Webers Partitur hatte sich als notwendig erwiesen: Rosine Stoltz musste in der Rolle der Agathe ihre Arien im zweiten und dritten Akt um einen Ton bzw. eine kleine Terz nach unten transponieren. Das Hauptproblem war jedoch, dass die Rezitative selbst zu lang erschienen, insbesondere in der Szene zwischen Max und Gaspard am Ende des ersten Aktes. Auch Berlioz musste zustimmen, obwohl er den Sängern teilweise die Schuld daran gab, dass sie nicht die angemessene Leichtigkeit fanden.

Als die Inszenierung 1851 wiederaufgenommen wurde, hatte die Opéra die Geduld mit Berlioz’ Vorgabe zur Wahrung der Integrität der Oper verloren und sowohl in Webers Musik als auch in Berlioz’ Rezitativen wurden Kürzungen vorgenommen. Berlioz wurde gerufen, um letzteres zu genehmigen, und erkannte, dass es wenig Sinn hatte, sich zu beschweren. (Tatsächlich empfiehlt sich die kürzere Fassung der Rezitative – die in Anhang IV von Band 22b der Neuen Berlioz-Ausgabe enthalten ist – als praktische Option sehr.) Er war jedoch einigermaßen frustriert, als er weithin verantwortlich gemacht und 1853 sogar vor Gericht öffentlich der „Kürzungen, Unterdrückungen und Verstümmelungen“ – wie er sie nannte – beschuldigt wurde, denen die Oper dadurch ausgesetzt war, was soweit ging, dass ein angesehenes Mitglied des Publikums sogar versuchte, die Opéra wegen falscher Darstellung zu verklagen! (In der Folge schrieb 1882 dann Ernest Guiraud die Musik der Rezitative).

Julia Hisson war 1870 die Agathe in Paris, hier im Kostüm der Meyerbeerschen Selika/ BNF/ Gallica

Berlioz bereitete 1849/50 auch eine italienische Fassung der Rezitative für das Königstädtische Theater Berlin vor (wo eine italienische Truppe beschäftigt war; herausgegeben in NBE 22b, Anhang III). Er verkaufte die Rezitative 1850 an Covent Garden, London, wo eine andere italienische Übersetzung verwendet wurde und die Rezitative so stark verändert wurden, dass Berlioz bei einer Aufführung im Mai 1851 diese überhaupt nicht wiedererkennen konnte! Weitere Aufführungen mit Berlioz’ Rezitativen fanden in Valparaiso (1854), Mailand (1856), Boston (1860) und Buenos Aires (1864) statt. Ian Rumbold www.takte-online.de (Bärenreiter-Verlag / Alkor-Edition/ Übersetzung Daniel Hauser).

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Zur Verbreitung und Wirkung auch Arne Langer: Nach der Berliner Uraufführung eroberte der Freischütz in Windeseile die deutschsprachigen Bühnen, wenn auch gelegentlich stark bearbeitet. 1824 folgten die ersten englischen und französischen Übersetzungen. In London brachten gleich mehrere Buhnen eilig fabrizierte Bearbeitungen heraus. Die erste, sehr stark bearbeitete französische Fassung unter dem Titel Robin des bois von Thomas Sauvage (Text) und Francois Castil-Blaze (Musik) fur das Pariser Theatre de l‘Odeon war ausgesprochen erfolgreich. Sie wurde zudem in Brüssel und französischen Provinzstädten nachgespielt und später auch von Pariser Bühnen (1835 Opera-Comique, 1855 Theatre-Lyrique) übernommen. 1829 war dann dank des Gastspiels einer deutschen Operntruppe in der Opéra-Comique das Werk auch in der Originalsprache zu erleben. In der Großen Pariser Oper, der Academie royale de musique, wurde Le Freyschutz erstmals 1841 aufgeführt. Gemäß den Statuten dieses wichtigsten französischen Opernhauses war es dort nicht möglich, wie im Original und in den früheren französischen Aufführungen gesprochene Dialoge zu verwenden. Deshalb mussten die Dialogtexte für Gesang neu komponiert werden. Mit dieser Aufgabe wurde nicht etwa ein handwerklich geschickter aber minder renommierter Komponist, sondern einer der führenden und innovativsten seiner Zeit, Hector Berlioz. Zusätzlich zur Vertonung der Sprechszenen instrumentierte Berlioz noch ein Klavierstück Webers, die Aufforderung zum Tanz (1819), die die musikalische Grundlage der – ebenfalls an der Opéra obligatorischen – Balletteinlage bildete. (…)

Die erstklassig besetzte Einstudierung erwies sich als so erfolgreich, dass sie über 80 Jahre im Repertoire der Opera blieb. Parallel wurde der Freischütz immer wieder in neuen Bearbeitungen auch an anderen Pariser Theatern gezeigt, so am Theatre-Lyrique 1866, am Theatre du Chateau d‘eau 1891, am Theatre des Champs-Elysees 1913.

Gustave Pedro Gaillard war der Gaspard (Kaspar) in Paris von 1873 bis 1877)/ hier als Gounods Méphistophéles/parismuseescollections.paris.fr

Nachdem die Pariser Freischütz-Adaptionen des 19. Jahrhunderts lange in der deutschen Fachliteratur als ästhetisch minderwertig betrachtet wurden, betont die heutige Forschung den positiven Beitrag der frühen Pariser Produktionen des Freischütz. Die Hauptwerke der Grand Opera aus der Feder Giacomo Meyerbeers wie z. B. Robert le diable sind der Musik und Dramaturgie Webers in Vielem verpflichtet, und letztlich war es Berlioz‘ Bearbeitung, die den Freischütz außerhalb Deutschlands durchzusetzen verhalf. Schließlich hatte das Werk an allen italienisch geprägten Bühnen nur als große Oper mit Rezitativen eine Chance gespielt zu werden. Wo nicht wie in Mailand 1856, Brüssel 1863 und Buenos Aires 1864 die Berlioz-Version selbst (zumeist in italienischer Übersetzung) gespielt wurde, diente sie immerhin als Vorbild für andere Rezitativbearbeitungen des Werks, so in Florenz 1843, London 1850 und 1872 in Mailand als Il franco cacciatore in einer Übersetzung des Verdi-Librettisten und Komponisten Arrigo Boito (…) . Arne Langer

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Weiteres zu Weber und Berlioz findet sich auf der Hector Berlioz Website: Berlioz‘ erste Bekanntschaft mit der Musik von Weber datiert auf den Dezember 1824, als er Le Freyschutz  (ohne – ü -) im Odéon-Theater hörte. Der Freischütz war in Deutschland nach seiner Uraufführung 1821 auf Anhieb ein Erfolg geworden. Was Berlioz in Paris jedoch hörte, war nicht die Oper von Weber, sondern eine Travestie mit dem Titel Robin des bois. Diese wurde vom Komponisten und Kritiker Castil-Blaze zusammengestellt, der sich auf das „Arrangieren“ von Opernwerken anderer Komponisten spezialisiert hatte, um deren Erfolg sowie seinen eigenen Gewinn zu sichern (er unterzog Mozart derselben Behandlung). Das Werk beeindruckte Berlioz dennoch tief und er besuchte 1825 viele weitere Aufführungen. Sie offenbarten ihm eine Welt, die er bis dahin nicht geahnt hatte – seine einzigen Erfahrungen mit großer Musik waren bisher die Opern von Gluck und Spontini an der Pariser Opéra gewesen (Memoiren, Kapitel 16). (…)

„Le Freyschutz“ in Paris: Figurine zu Max/ Gallica/BNF

Berlioz verlor wahrscheinlich keine Zeit, die Partitur sowie alle anderen von Weber, die er in die Hände bekam, zu recherchieren und genau zu studieren. Ein Brief vom 1. November 1828 an seine Schwester Nanci (Correspondance générale Nr. 100, im Folgenden kurz CG) zeigt ihn und einen jungen deutschen Freund, Louis Schloesser, der Weber gekannt hatte, aus der Erinnerung heraus Stücke aus Freischütz, Oberon und Euryanthe seinem Lehrer Lesueur vorspielend und vorsingend. Im selben Brief schickt er seiner Schwester auch einen Walzer von Weber, den er ausführlich beschreibt. Es ist offensichtlich, dass Berlioz wie bei Beethoven sowohl auf Webers Instrumentalmusik als auch auf seine Opern aufmerksam wurde: Briefe von 1830 erwähnen, dass Camille Moke ihm häufig Klaviermusik von Weber und Beethoven vorspielte.

Webers „Freyschutz“ in der Berlioz-Version: Veröffentlichung der Besetzungen bis 1877 im Verlag Calman-Levy und Jonas, Paris/BNF/Gallica

Zuvor hatte Berlioz die flüchtige Gelegenheit gehabt, Weber persönlich zu treffen, der im Februar 1826 auf dem Weg nach London nach Paris kam, wo er die Aufführung seiner neuesten Oper Oberon leiten sollte. Doch zu Berlioz‘ anhaltendem Bedauern verpassten sich die beiden Männer nur knapp, und die Chance wiederholte sich nicht: Der seit langem angeschlagene Weber starb am 5. Juni desselben Jahres in London (Memoiren, Kapitel 16). Doch Webers Musik hatte den jungen Berlioz bereits stark geprägt, wie seine im Herbst 1826 komponierte Ouvertüre Les Francs-juges zeigt. Ab 1828, als er auch Beethoven entdeckte, wurden die beiden Komponisten gedanklich häufig miteinander verbunden. In einem Artikel mit dem Titel Aperçu sur la musique classique et la musique romantique, der in Le Correspondant vom 22. Oktober 1830 (Critique Musicale I, 63-68) veröffentlicht wurde, schreibt er sich zu, Weber und Beethoven in Frankreich eingeführt zu haben, was er das genre instrumental expressif nennt, das bis dato unbekannt gewesen war (…)

Berlioz war damit ab den späten 1820er Jahren der glühendste Verfechter Webers in Frankreich. Als die Opéra 1841 beschloss, eine französische Version des Freischütz zu inszenieren, verpflichtete sich Berlioz, Rezitative dafür zu schreiben (die Konventionen der Opéra verboten die Verwendung gesprochener Dialoge) und orchestrierte Webers Klavierstück Aufforderung zum Tanz, um die obligatorische Ballettmusik zu liefern (Memoiren, Kapitel 52; die Orchestrierung von Berlioz wird  an anderer Stelle auf der Website der Berlioz-Gesellschaft besprochen). Ein Artikel, den er im Journal des Débats vom 13. Juni 1841 über das Werk schrieb, wurde von ihm 1862 in À travers chants abermals aufgelegt, zusammen mit einem späteren Artikel über die Inszenierung des Oberon im Théatre Lyrique 1857, deren großer Erfolg Berlioz erfreute (Journal des débats, 6. März 1857). Es war ein grausames Schicksal, dass Berlioz Ende 1853 beschuldigt wurde, für die Verstümmelung von Webers Meisterwerk an der Opéra verantwortlich zu sein. Berlioz hatte keine Schwierigkeiten, diese absurde Anschuldigung zu widerlegen, aber es schmerzte ihn zutiefst.

Berlioz nahm oft Musik von Weber in seine Programme auf, wie zum Beispiel bei seinen Konzerten in London (1852) und Baden-Baden (1856, 1858 und 1860). Auch in seinen Konzertkritiken hatte er häufig Gelegenheit, Weber zu erwähnen. Er versuchte jedoch nicht, eine Biographie Webers zu erstellen, im Gegensatz zu seinen drei anderen Helden Beethoven (1829), Gluck (1834) und Spontini (1851, neu abgedruckt in den Soirées de l’orchestre 1852 und 1854). In seiner 1844 erstmals veröffentlichten Abhandlung über Instrumentation und Orchestrierung wird Weber immer wieder als einer der modernen Meister des Orchesters erwähnt, den Berlioz als Vorbild anerkennt, obwohl die Zahl der direkten Zitate aus Webers Musik begrenzt ist (die meistzitierten Beispiele sind die Ouvertüren zum Freischütz und zum Oberon). (…) Michael Austin/ The Berlioz Website/Übersetzung Daniel Hauser

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Wie stets bedanken wir uns für die großzügige Hilfe vieler Personen, voran Johannes Mundry von den [t]akte im Bärenreiter·Alkor Verlag für die Übernahme des Artikels von Ian Rumbold; sodann bei Arne Langer vom Theater Erfurt für seinen Text zu den Aufführungen bei den Erfurter Domfestspielen; und schließlich bei Michael Austin von der Hector-Berlioz-website, deren Text wir auszugsweise wiedergeben. Nicht vergessen möchte ich den Dirigenten und Musikwissenschaftler Jean-Paul Penin, der den Hinweis zu den 1882-Rezitativen von Guiraud gab und dessen Verdienst es wieder einmal ist, bereits 1999 eine wahre Pionier-Einspielung neben manchen anderen wie von Sacchini und Spontini auch dieser Oper gemacht zu haben. Ein Blick auf seine website zeigt die ganze Breite seiner Leistungen. Und schließlich bedanken wir uns beim Kollegen Daniel Hauser für seine wie stets fabelhafte Übersetzungen aus dem Englischen, was wären wir ohne ihn! (Das große Foto oben zeigt eine Szene aus der Erfurter Domstufen-Festival-Aufführung 2015/ Theater Erfurt/ Foto Lutz Edelhoff) G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Reizvolle Petitessen.

 

Einen wesentlichen Beitrag zum Liedschaffen des 20. Jahrhunderts hat Erich Wolfgang Korngold nicht geleistet, dazu war seine Beschäftigung mit diesem Genre zu marginal, doch als Ergänzungen oder Fußnoten zu seinen Opern und Filmmusiken sind diese Gelegenheitsarbeiten, die uns Naxos in einer zweiteiligen Edition präsentiert, die auch einige Ersteinspielungen enthält, sehr schätzenswert.

Die Texte für seine Lieder fand Korngold vornehmlich bei den Klassikern Eichendorff und Shakespeare, aber auch bei heute wenig bekannten Zeitgenossen wie der dichtenden Gräfin Eleonore van der Straaten oder dem früh verstorbenen Hans Kaltneker, dessen Roman Die Heilige auch Grundlage seiner Oper Das Wunder der Heliane war. Zu privaten Anlässen griff er gelegentlich selbst zur Feder, schrieb und vertonte etwa kleine Geburtstagsgedichte für seine Mutter.

Sein Vater, der berüchtigte Wiener Musikkritiker Julius Korngold, versuchte ein Wunderkind aus ihm zu machen. Und tatsächlich bewies E.W. schon im Knabenalter erstaunliche handwerkliche Reife bei einer natürlichen Veranlagung im Erfinden von Melodien. „So Gott und Papa will“ sind die Zwölf Lieder op. 5 untertitelt, die der 14jährige auf Gedichte Joseph von Eichendorffs komponierte. Da wird wie selbstverständlich die romantische Tradition des 19. Jahrhunderts fortgeführt, an Schubert, Schumann und Brahms angeknüpft.

Zur musikalischen Avantgarde Wiens hatte Korngold auch späterhin keinen Kontakt und keine Beziehung, auch wenn er in den 20er Jahren vereinzelte harmonische Experimente wagte, ohne dabei die Tonalität aufzugeben und seinen spätromantischen Background zu verleugnen. Die musikalisch anspruchsvollsten Titel sind die vier Lieder des Abschieds op. 14, die nach dem Erfolg der Oper Die tote Stadt entstanden, und die Drei Gesänge op. 18 auf Texte von Hans Kaltneker, die Korngold selbst als „Charakterstudien“ zu seiner folgenden Oper Das Wunder der Heliane bezeichnete, seinem ehrgeizigsten Bühnenwerk.

In den 30er Jahren, als seine amerikanische Filmkarriere beginnt, findet sein Stil zu größerer Einfachheit, schon in den Shakespeare-Gesängen op. 29 (Songs of the Clown, fünf Lieder aus Twelfth Night) und op. 31 (Four Songs aus Othello und As you like it) dominiert ein volksliedhafter Ton, der den Texten sehr gerecht wird. Der Hollywood-Komponist spiegelt sich in dem Filmsong The Constant Nymph op. 33 und den Five Songs op. 38, die anspruchsvolle Lyrik in englischer Übersetzung im Stile eines Broadway Musicals adaptieren.

Die Naxos-Edition (Naxos 8.572027/8.573083) die schon zwischen 2009 und 2012 entstand und deren zweiter Teil erst jetzt herauskommt, widmet sich unter der musikalischen Leitung des ausgewiesenen Korngold-Kenners Klaus Simon mit großem Engagement den reizvollen Petitessen. Die Sänger neigen gelegentlich dazu, sie mit mehr Expressivität aufzuladen als in ihnen steckt, aber das geschieht wohl in bester Absicht. Sowohl die Sopranistin Britta Stallmeister als auch die Mezzosopranistin Sibylle Fischer verfügen über sehr leuchtkräftige Stimmen, allerdings irritiert mich bei beiden die Tendenz, bei den crescendi „auf die Tube“ zu drücken. Einen wunderbar lockeren Ton findet Frau Stallmeister für die Shakespeare-Lieder. Der Bariton Uwe Schenker-Primus ist mit seinem emphatischen Vortrag der geeignete Interpret für die frühen Gesänge op. 5 und op. 9, zeigt aber auch in den anderen Liedern reiches Gestaltungspotential. Aus seinen Beiträgen spricht zugleich die schiere, naive Freude an der eigenen Stimme, und diese Freude ist berechtigt, denn sie verfügt nicht nur über eine satte baritonale Farbe und kann in der Mittellage breit ausschwingen, sondern auch über eine strahlend tenorale Höhe, die der Sänger oft mehr als nötig ausspielt.

Die Texte der gesungenen Lieder kann man sich, wie bei Naxos üblich, aus dem Internet herunterladen (wobei einige Titel aus Urheberrechtsgründen fehlen), die sehr sachkundigen Werkeinführungen von Cornelius Bauer sind im Booklet der ersten Folge merkwürdigerweise nur in der englischen Übersetzung abgedruckt. Informationen zu den vertonten Autoren fehlen völlig. Ekkehard Pluta

 

Barockes im Spiegel

 

Für Aufregung sorgte vor einiger Zeit die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, dass nicht etwa ein alter weißer Mann, sondern eine junge weiße Frau das Poem der afroamerikanischen Schriftstellerin Amanda Gorman, das diese bei der Amtseinführung von Präsident Biden vorgetragen hatte, übersetzen dürfe. Im Booklet zu ihrem Debütalbum Mirrors, das übrigens falsch geheftet wurde, will die aus Trinidad und Tobago stammende Sängerin Jeanine de Bique „komplementäre Aspekte meines  kulturellen Hintergrundes und der Barockmusik“ wahrgenommen haben, will „mit der ganzen Kraft meines kulturellen Hintergrundes die vielfältigen Erfahrungen der barocken Heldinnen“ reflektieren.  Zudem  sieht sie für sich „als Künstlerin“ „eine große Inspiration“ im „reichhaltige(n) und vielfältige(n) kulturelle(n) Erbe, in dem ich aufgewachsen  bin“. Groß ist der Anspruch, den die Interpretin an die Barockmusik stellt, helfe sie ihr doch, „Aspekte meiner selbst zu entdecken und neu zu erfinden.“ Da wird ein schönes Debütantinnen-Album überfrachtet mit tagesaktueller Ideologie und nimmt dem zunächst freudig gespannten Hörer erst einmal viel von der Lust, sich damit zu beschäftigen.

Das Konzept der CD ist interessant, wenn jeweils einer Händelarie die eines anderen Barockkomponisten für dieselbe historische oder der Sage entstammende Figur „wie in einem Spiegel“ gegenübergestellt wird. Allerdings entsprechen nur einmal die Situationen, in denen sich die Heldin jeweils zu Beginn der Arie befindet, einander und zwar die beiden Arien aus Händels Alcina und Broschis L’isola d’Alcina.  Dem Spiegelmotiv trägt auch das Foto auf der Rückseite Rechnung, wo sich die Sängerin in einem knappen Trikot wie in einem zerbrochenen Glas wiedergegeben sieht. Auch die anderen Fotos als Cover und innerhalb des Booklets sind ausgesprochen „sexy“ und tragen so eher einem veralteten Frauenbild, der Frau als Sexsymbol, Rechnung. Optik und Booklet erwecken den Eindruck, als wolle man mit allen, den alten verpönten wie den zeitgemäßen Mitteln, Werbung für die CD machen. Hilfreicher für den Hörer wären jedoch die Texte aus den Nicht-Händel-Opern  gewesen.

Es beginnt mit einer Arie der Cleopatra aus Grauns Cesare e Cleopatra, dem Werk, mit dem bekanntlich die Lindenoper im Jahre 1742 eingeweiht wurde, und der Hörer kann sich über eine ausgesprochen frisch klingende, leichte, aber in vielen Farben schillernde Stimme freuen. Die Emission erscheint als mühelos, die Geläufigkeit ist bemerkenswert, der Sopran hat Charakter, Unverwechselbarkeit.  Händels Cleopatra lässt nach einem anrührenden Rezitativ in der folgenden Arie eine schöne Melancholie hören, nie kann sich der Hörer über eine selbstverliebte Virtuosität beschweren, es besteht eine angenehme Ausgewogenheit zwischen Interpretationswillen und dem Respekt gegenüber den barocken Stilelementen. Es folgt die nicht eben sympathische Agrippina, die bei Händel ihre Biestigkeit im Zwiegesang mit dem Soloinstrument hören lässt und bei Telemann mit gelungenen Schwelltönen besticht. Die tapfer-treue Langobardenkönigin Rodelinda lässt Händel sich sanft äußern, und De Bique setzt das gekonnt um, während Graun viel Geläufigkeit fordert und damit dem Sopran die Gelegenheit bietet, seine Virtuosität auszustellen.

Die Achilles-Braut Deidamia spielt bei Händel in der Interpretation des Soprans reizvoll die Kontraste innerhalb ihrer Arie aus, bei Gennaro Manna, dessen Arie „Chi può dir che rea son io“ zum ersten Mal eingespielt wurde, vermisst man leider eine angemessene Textverständlichkeit. Alcina ist die letzte der Barock-Heldinnen auf der CD, und man versteht, warum die beiden Tracks die einzigen mit ein und demselben Text auf der CD bleiben mussten. „Mi restano le lagrime“ klingt bei Händel und Riccardo Broschi recht ähnlich, aber bei beiden Tracks kann man noch einmal das kostbare Timbre der Stimme bestaunen und sich daran erfreuen wie durchweg an der Begleitung und den beiden Orchesterstücken, die den Concerto Köln unter Luca Quintavalle als einfühlsame Verwalter barocker Musik ausweisen (Berlin Classics 0302017BC). Ingrid Wanja

Forsches Zeitmass

 

Binnen kurzer Zeit legt der russische Dirigent Vladimir Jurowski nun bereits seine zweite Einspielung der Alpensinfonie von Richard Strauss vor. Erst 2016 erschien auf dem Eigenlabel des London Philharmonic Orchestra, dem Jurowski zwischen 2007 und 2021 als Chefdirigent vorstand, dieses Werk. Nun folgt also Pentatone mit einer hybriden SACD im Mehrkanalverfahren (PTC 5186 802). Wie schon in London, handelt es sich auch diesmal um eine Live-Aufnahme, nämlich mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), das Jurowski seit 2017 leitet.

Klanglich weiß die Neueinspielung, die in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur erscheint, labeltypisch zu überzeugen und brilliert auch bereits in der reinen CD-Stereo-Tonspur. Die Vorteile des unmittelbaren Konzerterlebnisses in Verbindung mit einer an eine Studioeinspielung herankommenden Perfektion dürfte den beiden Aufnahmetagen am 22. und 24. Februar 2019 im Konzerthaus Berlin geschuldet sein; es handelt sich also nicht um den unbearbeiteten Mitschnitt eines einziges Konzertes.

Obwohl sich Jurowski mit einer Spielzeit von 48:58 etwa vier Minuten mehr Zeit lässt als in seiner Londoner Vorgängeraufnahme, entsteht keinesfalls der Eindruck von zu gemäßigten Tempi. Im Gegenteil, stellenweise forciert der Dirigent ein beinahe zu forsches Zeitmaß an, so in der Passage nach dem Gewittersturm. Denselben hat man anderswo schon fulminanter vernommen, doch ist Jurowskis nicht ganz so infernale Lesart durchaus legitim.

Im direkten Vergleich mit älteren Referenzeinspielungen schlägt sich Jurowski wacker und erzielt mit dem RSB sehr atmosphärische Momente, so schon beim Sonnenaufgang, erreicht aber nicht ganz die Intensität von André Previn mit den Wiener Philharmonikern (Telarc) oder Giuseppe Sinopoli mit der Staatskapelle Dresden (DG). Dies wären auch meine persönlichen Hörempfehlungen bei dieser nicht immer von Längen freien gewaltigen Sinfonischen Dichtung. Überraschend gelungen auch Antoni Witt mit der Staatskapelle Weimar (Naxos) und Frank Shipway mit dem brasilianischen São Paulo Symphony Orchestra (BIS), das bei diesem Repertoire wohl niemand auf dem Schirm hatte.

Die Pentatone-Textbeilage ist angemessen, die Gesamtspielzeit der Disc mit nicht einmal 50 Minuten indes unzeitgemäß kurz, hätten sich doch leicht noch eine weitere Tondichtung von Richard Strauss wie etwa Don Juan oder etwa auch orchestrale Höhepunkte aus Salome beisteuern lassen. Alles in allem eine sehr gute, wenn auch keine herausragende Neuinterpretation des gefühlt hundertfach eingespielten Klassikers, bei der sich angesichts der Fülle an großartigen Alternativaufnahmen freilich die Frage stellt, ob man sie wirklich braucht. Daniel Hauser

Klassizistisches aus dem Norden

 

Der „Schwedische Mozart“ wird Joseph Martin Kraus genannt. Der Komponist lebte von 1756 – 1792, wurde also nur ein Jahr älter als sein berühmter Zeitgenosse. Das Label evidence ehrt Kraus, der 1778 nach Stockholm auswanderte und dort Kapellmästare an der Königlichen Oper wurde, mit einer CD-Veröffentlichung (EVCD075). Sie entstand im Mai dieses Jahres in Poissy, trägt den Titel Voix des Lumières und wird gestaltet vom Ensemble Génération Mozart unter Leitung von Pejman Memarzadeh. Es ist die erste Platte des Orchesters, bei der auch die französische Sopranistin Marie Perbost mitwirkt.

Das Programm umfasst Szenen aus neun Werken und beginnt mit der Overture zur Oper Olympie, die nach Voltaires Tragödie entstand. Es ist eine leidenschaftliche Musik in der Manier des Sturm und Drang, welche das Erbe von Gluck und Haydn widerspiegelt. Das Orchester musiziert sie sehr Affekt betont. 1782 komponierte Kraus eine Kantate Zum Geburtstage des (schwedischen) Königs, deren lebhafte Overture (Allegro con brio) in deutlichem Kontrast steht zur nachfolgenden Aria „Töne leise“. In diesem ersten Vokalbeitrag lässt die Solistin eine innige Stimme von lyrischer Empfindsamkeit hören. Von Harfenklängen wird sie lieblich umspielt. Nach dieser Huldigung zum Geburtstag des Herrschers wurde das nächste Stück – Funeral canatata for Gustav III –  anlässlich des tödlichen Attentats 1792 auf den König komponiert. Daraus erklingen die Introduction  und die Aria „Pa thronens höjd“. Das Instrumentalstück erinnert in seinem eher opernhaften Charakter an die Leidenschaft des Königs für dieses Genre, während die Aria jene der Königin („Der Hölle Rache“) aus Mozarts Zauberflöte ins Gedächtnis bringt. Marie Perbost kann ihrem lyrischen Sopran die nötigen dramatischen Töne abringen. Aus dem Oster-Oratorium Der Tod Jesu sind die kurze Overture und die Aria „Er Starb“ zu hören, welche eindringlich den Schmerz über den Tod von Jesus Christus schildert. Die Solistin überzeugt mit Schlichtheit und Empfindung.

Von Gustav III. wurde Kraus 1780 beauftragt, die Oper Proserpin zu schaffen, deren Text der König selbst entworfen hatte. Wieder erklingen die Overtura und eine Aria („Ach hvad behag et hjerta njuter“). Diese ist eine an Koloraturen reiche Hymne an die Natur. Mit der Pantomime in D-Dur folgt ein reines Instrumentalstück in drei Sätzen, welches für die Feierlichkeiten zum Karneval in Mannheim entstand. Komponiert im italienischen Stil mit munterem Allegro, kantablem Adagio und stürmischem Presto, ist es auch für die musikantischen Qualitäten des Klangkörpers ein glänzendes Zeugnis. Ein Vokalbeitrag, die Ariette in G-Dur „Du temps qui détruit tout“, steht am Schluss und stellt noch einmal die Sopranistin in den Fokus, die mit ihrem fein gesponnenen Gesang bezaubert. Das kurze Rondo wurde wahrscheinlich in Paris komponiert und ist ein Loblied auf Gustav III. Bernd Hoppe

Blumenstrauss für den Dirigenten

 

Vor langer, langer Zeit, fragte mich mal eine junge Radio- oder Fernsehjournalistin, was denn mein liebstes Musical sei. Sie erwartete sicher, dass ich Les Misérables oder Phantom of the Opera antworten würde. Aber ich sagte ihr die Wahrheit: La Fille de Madame Angot von Charles Lecocq (die nun gerade beim Palazzetto Bru Zane als üppig ausgestattete Buch-CD erschienen ist).

Ich habe das Stück von 1872 nie auf der Bühne gesehen. Und vermutlich würde keine Bühnenproduktion meiner Idealproduktion-im-Geiste mit Marie Desclauzas bzw. Emily Soldene als Lange entsprechen können. Trotzdem nimmt diese einzigartige opéra-comique einen sehr besonderen Platz in meinem Herzen ein.

Als ich vor vielen Jahren an meinem Buch Musical Theatre on Record arbeitete, schrieb ich: „La Fille de Madame Angot ist keines dieser Stücke, das einem nur zwei oder drei populäre Nummern zuwirft, während der Rest der Partitur lediglich ‚angenehm‘ ist. Nein, es ist ein genau durchstrukturiertes Werk mit Komödienelementen, Drama und verschiedensten Musikformen. Jede Szene hat dramaturgische Substanz und ist musikalisch bedeutsam – und entzückend – ausgestaltet.“ Ich schrieb damals auch über die zu jener Zeit verfügbaren Aufnahmen: „Die Vorzüge viele Einzelaufnahmen finden sich leider nicht in einer einzigen Einspielung vereint.“ Für mich waren die Highlights auf Pathé mit Solange Michel, Michel Dens und der wunderbaren Lina Dachary als Clairette die beste Option auf Schallplatte.

Bevor ich hier weitermache mit Nettigkeiten und Erinnerungen, sage ich geradeheraus: Die neue Aufnahme von Palazzetto Bru Zane ist ab sofort der neue Standard, an dem alles andere gemessen werden muss. Die Aufnahme ist nicht perfekt. Aber … es ist trotzdem die beste, die bislang auf den Markt kam.

Man jetzt jetzt sicher erwarten, dass ich gleich etwas zu den Sängern sage, oder? Normalerweise tue ich das auch. Aber der größte Blumenstrauß, den ich zu vergeben habe, geht an den Dirigenten Sébastien Rouland. Er interpretiert das Werk von der ersten Tönen der deliziösen Ouvertüre an bis zum krachenden Finale lebhaft und auf Tempo getrimmt. Sein Gefühl für Timing ist durchweg perfekt. Und das Orchestre de chambre de Paris ist ideal ‚unterbesetzt‘, also wie im Theater, kein opulentes Symphonieorchester. Und der Choeur du Concert Spirituel … nun ja, anfangs klingt er noch ein bisschen zu ‚schön‘ für diese Geschichte, aber er kriegt dann doch die Kurve und findet den nötigen Biss.

Ist das der Rahmen für ideale Rollenporträts? Jeder hat so seine Präferenzen, wenn es um Sänger geht und um vermeintlich ideale Rollenporträts. Von allen Namen auf der Besetzungsliste habe ich nur eine Sängerin je live gehört. (Dazu gleich mehr.) Insgesamt würde ich aber sagen: das Stück ist hier gut und fachkundig besetzt.

Zwei Solisten können locker mit berühmten historischen Vorgängern mithalten. Da ist zuallerst Artavazd Sargsyan als schlichtweg phänomenaler Pomponnet. Ein entzückender ‚französischer‘ tenorino, der genau die richtige Dosierung Charakter und Witz in der Stimme hat. Er ist definitiv der Charles Burles des 21. Jahrhunderts. Ich hoffe, wir werden von ihm mehr aus dem opéra-bouffe und opéra-comique Repertoire hören.

Der andere Trumpf auf der Besetzungsliste ist Anne-Catherine Gillet als Clairette. Auch sie ist rundum perfekt für die Rolle und deren Musik, vom süßlichen (aber nie kitschigen) „Je vous dois tout“ zum Funken sprühenden „Chanson Politique“ und „Vous aviez fait de la dépense“. Nicht zu vergessen der ultimative Showdown: das Streitduett zwischen ihr und die Titelfigur. Gillet trifft hier genau die Stimmung und ihre Stimme funkelt wirklich mit Furor.

Ange Pitou ist auf dieser Aufnahme ein Tenor. Okay, kann man machen. Sowohl ein Tenor als auch ein Bariton funktionieren. Bei einer Baritonbesetzung ist der Kontrast zu Pomponnet größer. Ein „Baritenor“ wäre wahrscheinlich der beste Kompromiss, auch wenn die Rolle ursprünglich von Mario Widmer gesungen wurde … einem Tenor. Trotzdem ist Mathias Vidal sehr effektvoll in dieser Partie, besonders im Zusammenspiel mit den anderen Charaktere. Speziell sein Duett mit Larivaudière (Matthieu Lécroart) hat mich beeindruckt. Beide sind gute Tenöre mit der seltenen Gabe, dass sie Komödie spielen können. In Frankreich gibt’s so etwas anscheinend noch! Man sollte an dieser Stelle auch erwähnen, dass alle Sänger auf dieser Aufnahme ihre Dialoge mit glasklarer Diktion abliefern.

Die vierte wichtige Solistin ist natürlich Véronique Gens als Mademoiselle Lange. Sie ist in den gesprochenen Schauspielszenen so gut, dass ich fast die unausgeglichen gesungenen Musiknummern vergessen konnte.  Am besten ist die Gens im Streitduett und in den lebhaften Charakterpassagen der Partitur (z.B. in „Raisonnons politique“, einem der Highlights der CD.) Ansonsten hat mich ihr Finale II hier nicht so vom Hocker gerissen, wie es das normalerweise tut. Sagen wir einfach diplomatisch: es gibt andere Lange-Interpretationen, die ich lieber höre.

Sämtliche Sänger hier sind à la hauteur, auch der sehr gute Matthieu Lécroart als Larivaudière in seinen durch und durch komischen Duetten mit Pitou und Pomponnet. Außerdem muss Flannan Obé in der Rolle des Trénitz  erwähnt werden, der traditionellen immer allen die Show stiehlt.

Alles in alle würde ich über die Neueinspielung sagen: nicht perfekt (für mich), aber ziemlich dicht dran! Jedenfalls werden ich diese Fille de Madame Angot jetzt in die vorderste Reihe meiner Plattensammlung stellen. Ich habe sie mir in zwei Tagen schon dreimal vollständig angehört. Es bleibt halt doch mein Lieblingsmusical! Kurt Gänzl (Übersetzung Kevin Clarke)