Barockes im Spiegel

 

Für Aufregung sorgte vor einiger Zeit die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, dass nicht etwa ein alter weißer Mann, sondern eine junge weiße Frau das Poem der afroamerikanischen Schriftstellerin Amanda Gorman, das diese bei der Amtseinführung von Präsident Biden vorgetragen hatte, übersetzen dürfe. Im Booklet zu ihrem Debütalbum Mirrors, das übrigens falsch geheftet wurde, will die aus Trinidad und Tobago stammende Sängerin Jeanine de Bique „komplementäre Aspekte meines  kulturellen Hintergrundes und der Barockmusik“ wahrgenommen haben, will „mit der ganzen Kraft meines kulturellen Hintergrundes die vielfältigen Erfahrungen der barocken Heldinnen“ reflektieren.  Zudem  sieht sie für sich „als Künstlerin“ „eine große Inspiration“ im „reichhaltige(n) und vielfältige(n) kulturelle(n) Erbe, in dem ich aufgewachsen  bin“. Groß ist der Anspruch, den die Interpretin an die Barockmusik stellt, helfe sie ihr doch, „Aspekte meiner selbst zu entdecken und neu zu erfinden.“ Da wird ein schönes Debütantinnen-Album überfrachtet mit tagesaktueller Ideologie und nimmt dem zunächst freudig gespannten Hörer erst einmal viel von der Lust, sich damit zu beschäftigen.

Das Konzept der CD ist interessant, wenn jeweils einer Händelarie die eines anderen Barockkomponisten für dieselbe historische oder der Sage entstammende Figur „wie in einem Spiegel“ gegenübergestellt wird. Allerdings entsprechen nur einmal die Situationen, in denen sich die Heldin jeweils zu Beginn der Arie befindet, einander und zwar die beiden Arien aus Händels Alcina und Broschis L’isola d’Alcina.  Dem Spiegelmotiv trägt auch das Foto auf der Rückseite Rechnung, wo sich die Sängerin in einem knappen Trikot wie in einem zerbrochenen Glas wiedergegeben sieht. Auch die anderen Fotos als Cover und innerhalb des Booklets sind ausgesprochen „sexy“ und tragen so eher einem veralteten Frauenbild, der Frau als Sexsymbol, Rechnung. Optik und Booklet erwecken den Eindruck, als wolle man mit allen, den alten verpönten wie den zeitgemäßen Mitteln, Werbung für die CD machen. Hilfreicher für den Hörer wären jedoch die Texte aus den Nicht-Händel-Opern  gewesen.

Es beginnt mit einer Arie der Cleopatra aus Grauns Cesare e Cleopatra, dem Werk, mit dem bekanntlich die Lindenoper im Jahre 1742 eingeweiht wurde, und der Hörer kann sich über eine ausgesprochen frisch klingende, leichte, aber in vielen Farben schillernde Stimme freuen. Die Emission erscheint als mühelos, die Geläufigkeit ist bemerkenswert, der Sopran hat Charakter, Unverwechselbarkeit.  Händels Cleopatra lässt nach einem anrührenden Rezitativ in der folgenden Arie eine schöne Melancholie hören, nie kann sich der Hörer über eine selbstverliebte Virtuosität beschweren, es besteht eine angenehme Ausgewogenheit zwischen Interpretationswillen und dem Respekt gegenüber den barocken Stilelementen. Es folgt die nicht eben sympathische Agrippina, die bei Händel ihre Biestigkeit im Zwiegesang mit dem Soloinstrument hören lässt und bei Telemann mit gelungenen Schwelltönen besticht. Die tapfer-treue Langobardenkönigin Rodelinda lässt Händel sich sanft äußern, und De Bique setzt das gekonnt um, während Graun viel Geläufigkeit fordert und damit dem Sopran die Gelegenheit bietet, seine Virtuosität auszustellen.

Die Achilles-Braut Deidamia spielt bei Händel in der Interpretation des Soprans reizvoll die Kontraste innerhalb ihrer Arie aus, bei Gennaro Manna, dessen Arie „Chi può dir che rea son io“ zum ersten Mal eingespielt wurde, vermisst man leider eine angemessene Textverständlichkeit. Alcina ist die letzte der Barock-Heldinnen auf der CD, und man versteht, warum die beiden Tracks die einzigen mit ein und demselben Text auf der CD bleiben mussten. „Mi restano le lagrime“ klingt bei Händel und Riccardo Broschi recht ähnlich, aber bei beiden Tracks kann man noch einmal das kostbare Timbre der Stimme bestaunen und sich daran erfreuen wie durchweg an der Begleitung und den beiden Orchesterstücken, die den Concerto Köln unter Luca Quintavalle als einfühlsame Verwalter barocker Musik ausweisen (Berlin Classics 0302017BC). Ingrid Wanja