Blumenstrauss für den Dirigenten

 

Vor langer, langer Zeit, fragte mich mal eine junge Radio- oder Fernsehjournalistin, was denn mein liebstes Musical sei. Sie erwartete sicher, dass ich Les Misérables oder Phantom of the Opera antworten würde. Aber ich sagte ihr die Wahrheit: La Fille de Madame Angot von Charles Lecocq (die nun gerade beim Palazzetto Bru Zane als üppig ausgestattete Buch-CD erschienen ist).

Ich habe das Stück von 1872 nie auf der Bühne gesehen. Und vermutlich würde keine Bühnenproduktion meiner Idealproduktion-im-Geiste mit Marie Desclauzas bzw. Emily Soldene als Lange entsprechen können. Trotzdem nimmt diese einzigartige opéra-comique einen sehr besonderen Platz in meinem Herzen ein.

Als ich vor vielen Jahren an meinem Buch Musical Theatre on Record arbeitete, schrieb ich: „La Fille de Madame Angot ist keines dieser Stücke, das einem nur zwei oder drei populäre Nummern zuwirft, während der Rest der Partitur lediglich ‚angenehm‘ ist. Nein, es ist ein genau durchstrukturiertes Werk mit Komödienelementen, Drama und verschiedensten Musikformen. Jede Szene hat dramaturgische Substanz und ist musikalisch bedeutsam – und entzückend – ausgestaltet.“ Ich schrieb damals auch über die zu jener Zeit verfügbaren Aufnahmen: „Die Vorzüge viele Einzelaufnahmen finden sich leider nicht in einer einzigen Einspielung vereint.“ Für mich waren die Highlights auf Pathé mit Solange Michel, Michel Dens und der wunderbaren Lina Dachary als Clairette die beste Option auf Schallplatte.

Bevor ich hier weitermache mit Nettigkeiten und Erinnerungen, sage ich geradeheraus: Die neue Aufnahme von Palazzetto Bru Zane ist ab sofort der neue Standard, an dem alles andere gemessen werden muss. Die Aufnahme ist nicht perfekt. Aber … es ist trotzdem die beste, die bislang auf den Markt kam.

Man jetzt jetzt sicher erwarten, dass ich gleich etwas zu den Sängern sage, oder? Normalerweise tue ich das auch. Aber der größte Blumenstrauß, den ich zu vergeben habe, geht an den Dirigenten Sébastien Rouland. Er interpretiert das Werk von der ersten Tönen der deliziösen Ouvertüre an bis zum krachenden Finale lebhaft und auf Tempo getrimmt. Sein Gefühl für Timing ist durchweg perfekt. Und das Orchestre de chambre de Paris ist ideal ‚unterbesetzt‘, also wie im Theater, kein opulentes Symphonieorchester. Und der Choeur du Concert Spirituel … nun ja, anfangs klingt er noch ein bisschen zu ‚schön‘ für diese Geschichte, aber er kriegt dann doch die Kurve und findet den nötigen Biss.

Ist das der Rahmen für ideale Rollenporträts? Jeder hat so seine Präferenzen, wenn es um Sänger geht und um vermeintlich ideale Rollenporträts. Von allen Namen auf der Besetzungsliste habe ich nur eine Sängerin je live gehört. (Dazu gleich mehr.) Insgesamt würde ich aber sagen: das Stück ist hier gut und fachkundig besetzt.

Zwei Solisten können locker mit berühmten historischen Vorgängern mithalten. Da ist zuallerst Artavazd Sargsyan als schlichtweg phänomenaler Pomponnet. Ein entzückender ‚französischer‘ tenorino, der genau die richtige Dosierung Charakter und Witz in der Stimme hat. Er ist definitiv der Charles Burles des 21. Jahrhunderts. Ich hoffe, wir werden von ihm mehr aus dem opéra-bouffe und opéra-comique Repertoire hören.

Der andere Trumpf auf der Besetzungsliste ist Anne-Catherine Gillet als Clairette. Auch sie ist rundum perfekt für die Rolle und deren Musik, vom süßlichen (aber nie kitschigen) „Je vous dois tout“ zum Funken sprühenden „Chanson Politique“ und „Vous aviez fait de la dépense“. Nicht zu vergessen der ultimative Showdown: das Streitduett zwischen ihr und die Titelfigur. Gillet trifft hier genau die Stimmung und ihre Stimme funkelt wirklich mit Furor.

Ange Pitou ist auf dieser Aufnahme ein Tenor. Okay, kann man machen. Sowohl ein Tenor als auch ein Bariton funktionieren. Bei einer Baritonbesetzung ist der Kontrast zu Pomponnet größer. Ein „Baritenor“ wäre wahrscheinlich der beste Kompromiss, auch wenn die Rolle ursprünglich von Mario Widmer gesungen wurde … einem Tenor. Trotzdem ist Mathias Vidal sehr effektvoll in dieser Partie, besonders im Zusammenspiel mit den anderen Charaktere. Speziell sein Duett mit Larivaudière (Matthieu Lécroart) hat mich beeindruckt. Beide sind gute Tenöre mit der seltenen Gabe, dass sie Komödie spielen können. In Frankreich gibt’s so etwas anscheinend noch! Man sollte an dieser Stelle auch erwähnen, dass alle Sänger auf dieser Aufnahme ihre Dialoge mit glasklarer Diktion abliefern.

Die vierte wichtige Solistin ist natürlich Véronique Gens als Mademoiselle Lange. Sie ist in den gesprochenen Schauspielszenen so gut, dass ich fast die unausgeglichen gesungenen Musiknummern vergessen konnte.  Am besten ist die Gens im Streitduett und in den lebhaften Charakterpassagen der Partitur (z.B. in „Raisonnons politique“, einem der Highlights der CD.) Ansonsten hat mich ihr Finale II hier nicht so vom Hocker gerissen, wie es das normalerweise tut. Sagen wir einfach diplomatisch: es gibt andere Lange-Interpretationen, die ich lieber höre.

Sämtliche Sänger hier sind à la hauteur, auch der sehr gute Matthieu Lécroart als Larivaudière in seinen durch und durch komischen Duetten mit Pitou und Pomponnet. Außerdem muss Flannan Obé in der Rolle des Trénitz  erwähnt werden, der traditionellen immer allen die Show stiehlt.

Alles in alle würde ich über die Neueinspielung sagen: nicht perfekt (für mich), aber ziemlich dicht dran! Jedenfalls werden ich diese Fille de Madame Angot jetzt in die vorderste Reihe meiner Plattensammlung stellen. Ich habe sie mir in zwei Tagen schon dreimal vollständig angehört. Es bleibt halt doch mein Lieblingsmusical! Kurt Gänzl (Übersetzung Kevin Clarke)