Forsches Zeitmass

 

Binnen kurzer Zeit legt der russische Dirigent Vladimir Jurowski nun bereits seine zweite Einspielung der Alpensinfonie von Richard Strauss vor. Erst 2016 erschien auf dem Eigenlabel des London Philharmonic Orchestra, dem Jurowski zwischen 2007 und 2021 als Chefdirigent vorstand, dieses Werk. Nun folgt also Pentatone mit einer hybriden SACD im Mehrkanalverfahren (PTC 5186 802). Wie schon in London, handelt es sich auch diesmal um eine Live-Aufnahme, nämlich mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), das Jurowski seit 2017 leitet.

Klanglich weiß die Neueinspielung, die in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur erscheint, labeltypisch zu überzeugen und brilliert auch bereits in der reinen CD-Stereo-Tonspur. Die Vorteile des unmittelbaren Konzerterlebnisses in Verbindung mit einer an eine Studioeinspielung herankommenden Perfektion dürfte den beiden Aufnahmetagen am 22. und 24. Februar 2019 im Konzerthaus Berlin geschuldet sein; es handelt sich also nicht um den unbearbeiteten Mitschnitt eines einziges Konzertes.

Obwohl sich Jurowski mit einer Spielzeit von 48:58 etwa vier Minuten mehr Zeit lässt als in seiner Londoner Vorgängeraufnahme, entsteht keinesfalls der Eindruck von zu gemäßigten Tempi. Im Gegenteil, stellenweise forciert der Dirigent ein beinahe zu forsches Zeitmaß an, so in der Passage nach dem Gewittersturm. Denselben hat man anderswo schon fulminanter vernommen, doch ist Jurowskis nicht ganz so infernale Lesart durchaus legitim.

Im direkten Vergleich mit älteren Referenzeinspielungen schlägt sich Jurowski wacker und erzielt mit dem RSB sehr atmosphärische Momente, so schon beim Sonnenaufgang, erreicht aber nicht ganz die Intensität von André Previn mit den Wiener Philharmonikern (Telarc) oder Giuseppe Sinopoli mit der Staatskapelle Dresden (DG). Dies wären auch meine persönlichen Hörempfehlungen bei dieser nicht immer von Längen freien gewaltigen Sinfonischen Dichtung. Überraschend gelungen auch Antoni Witt mit der Staatskapelle Weimar (Naxos) und Frank Shipway mit dem brasilianischen São Paulo Symphony Orchestra (BIS), das bei diesem Repertoire wohl niemand auf dem Schirm hatte.

Die Pentatone-Textbeilage ist angemessen, die Gesamtspielzeit der Disc mit nicht einmal 50 Minuten indes unzeitgemäß kurz, hätten sich doch leicht noch eine weitere Tondichtung von Richard Strauss wie etwa Don Juan oder etwa auch orchestrale Höhepunkte aus Salome beisteuern lassen. Alles in allem eine sehr gute, wenn auch keine herausragende Neuinterpretation des gefühlt hundertfach eingespielten Klassikers, bei der sich angesichts der Fülle an großartigen Alternativaufnahmen freilich die Frage stellt, ob man sie wirklich braucht. Daniel Hauser