Archiv des Autors: Geerd Heinsen

The Grisi-Double-Act

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Noch ein Ballet von Adolphe Adam. Jetzt geht es um Griseldis, neu bei Naxos unter Dario Salvi (8.574621-22). Erstaunlicher Weise ist das keine Meterware, sondern hier gibt es ein paar Überraschungen, die vom „normalen“ Ballett abweichen und in Richtung Oper gehen. Griseldis ist ja ein bekannter Topos in der Oper, von Scarlatti bis Massenet. Dies hier hat damit aber gar nichts zu tun, zu meiner eigenen Überraschung. Hier gibt es eine völlig andere Handlung und war eine Hommage war an die Tänzerin Carlotta Grisi(* 28. Juni 1819 in Visinada, als Caronna Adela Giuseppina Maria Grisi † 20. Mai 1899 in Saint-Jean, Genf, Schweiz). Sie war Tänzerin und sang zudem (die berühmten Opernsängerinnen Giusitta und Gulia Grisi waren ihre Cousinen). Man hat ihr schmeicheln wollen und namensgleich diesen Titel gewählt. Giselle war ja Adams Kassenschlager. Adam hat bekannter Maßen viele Ballette geschrieben, 13 oder 14 Ballette gibt es von ihm. Und zwei davon waren immer vergleichsweise sehr populär. Giselle und mit ein bisschen Abstand der Corsair. Die anderen werden eben jetzt allmählich wiederentdeckt. Besonders, weil sich das Label Naxos dahinter klemmt. Mit Griseldis erscheint bei denen bereits das fünfte Adam Ballett auf CD. Bisher gibt es so seltene Titel wie das Patenkind der Feen oder Orpha. Und ich finde das toll, dass das Label das macht. Adam ist schon ganz wichtig für die Geschichte des Balletts.

Er ist der erste bedeutende, überhaupt moderne Ballettkomponist. Derjenige, der das Handlungsballett zwar nicht gerade erfunden hat, aber es zur romantischen Großform erhoben hat. Ohne ihn ist dieser Wandel von der vergnüglichen Tanzeinlage, die es ja vor allem in Opern gab, zum programmatischen Abend à la Schwanensee gar nicht denkbar. Und er hat der Ballettform entscheidende Schübe in Richtung Moderne verpasst. Er hat zum Beispiel das Leitmotiv im Ballett eingeführt. Er hat große Spannungsbögen innerhalb der Akte eingebaut und vieles mehr.

Griseldis ist so ein innovatives Ballett. 1848 aufgeführt. Und das ist besonders spannend, weil hier Adam versucht, das Ballett auch um die Attraktionen der Oper zu erweitern. Zum Beispiel gibt es einen unsichtbaren Summchor, der im Vorspiel auftaucht. Das ist schon verrückt. Natürlich gibt es hier auch den ganzen pseudoromantischen Kram, der damals hochmodern.  Wieder ein Prinz und eine Prinzessin, die sich da finden wollen. In einem surrealen Moldawien, irgendwo im Böhmischen Wald. Und es gibt auch Beschwörungen, eine große Hypnoseszene, Mesmerismus. Also alles wie gehabt. Aber wenn man genauer hinsieht, dann staunt man doch über die aufklärerische Struktur in diesem Werk. Adam wollte mehr schreiben als nur ein Ballett von der Stange. Diese Bilder, diese Tableaus, sind den fünf Sinnen gewidmet. Eine schöne Idee. Sie sind überschrieben mit Sehen, Hören, Berühren, Riechen, Schmecken. Das letzte Bild ist dann nochmal eine Transzendenz. Das heißt dann Einsicht, wo man auf eine höhere Sphäre gelangt. Ganz schön philosophisch für so einen Entertainment-Komponisten.

Carlotta Grisi in der Titelrolle von „Giselle“ (1. Akt), 1842/Wikipedia

Adam hat sich bemüht, eine recht  komplexe Handlung zu vertonen und eben nicht so viel Dekoratives zu schreiben. Es gibt erstaunlich viele handelnde Elemente und nicht so viel Drumrum-Brimborium, wo nur auf- und abgetanzt wird. Vieles ist zum Teil sehr schön instrumentiert in fast Meyenbeerscher Manier, sehr melodiös. Der Clou ist, dass dieses Stück auf einen Megastar, Carlotta Grisi, zugeschnitten war.  Sie hatte sich damals rar gemacht, und man überlegte, was man der Prima Donna bieten musste, dass sie wieder auf die Bühne zurückkehrte. Und kam auf eine gemischte Offerte, eben tanzen und singen.  Und deswegen hat man ihr auch ein paar Takte zum Singen gegeben – ein Grisi-Doppel-Akt sozusagen.

Und das ist hier natürlich auch zu hören. Ich hätte mir ich eine andere Vokal-Besetzung gewünscht. Maria Jelic auf dieser neuen Aufnahme ist nicht gerade ein Superstar. Schade wirklich, weil sie eigentlich mit der Gesangseinlage der Höhepunkt des Werks ist und hier doch ziemlich schütter wirkt. Ich finde es aber dennoch total außergewöhnlich, dass in einem Ballett überhaupt gesungen wird. Der Dirigent Dario Salvi ist die Seele solcher Entdeckungen, nicht nur bei Naxos. Man muss das so deutlich sagen. Er buddelt in den Archiven, ediert das Material und klemmt sich mit enormer Leidenschaft hinter solche Projekte. Im Detail dirigiert er vielleicht nicht immer elegant, finde ich. Seine Art zu dirigieren ist mir in der letzten Zeit auch bei anderen Aufnahmen ein bisschen zu effekthascherisch. Die Tutti werden oft sehr harsch und sehr rasselnd mit Berserkerwut durchgeklappert. Was dann bei Adam manchmal auch  kurkapellig klingt. Schade. Die Sofia-Philharmonie kommt ihm da auch entgegen und entwickelt eine plakative Lust an rumsigen Effekten (Sofia Philharmonic Orchestra, Sofia Philharmonic Choir). Das macht zwar oberflächlich gesehen was her, aber auf die Dauer raubt es Adam die Eleganz. Salvi klang mit anderen Klangkörpern schon substanzieller und auch subtiler. Dazu kommt hier diese Aufnahmequalität. Die Philharmonie Sofia wirkt erstaunlich ungeeignet, topfig, , mit dumpfem Hall. Das stört auf die Dauer. Die Aufnahme wurde sogar als Weltpremiere angekündigt. Über diese erwähnten Mängel (namentlich die Sopranistin) muss man drüber weghören, und deswegen muss man auch zufrieden sein mit dem, was wir jetzt hier haben. Wie bei älteren Schwarzmarkt-Titeln und Radioaufnahmen muss man sich das ein bisschen schön-hören, anders werden wir´s nicht noch einmal bekommen. Und die Musik ist ja über weite Strecken solide gespielt. M. K./G. H.

Zum Hunderfünfzigsten

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Zum Bizet-Jubiläum (Georges Bizet gest. 1875) ist jetzt beim Label Erato auf 16 CDs eine Jubiläumsbox erschienen.  Bizet gilt ja den meisten „nur“ als Komponist der einen Oper: Warum ist sein Hauptwerk, die Carmen, so erfolgreich und verdrängt  sie die Kenntnisse seiner anderen Werke?  Das ist gar nicht einfach zu beantworten. Ich orientiere mich da immer an einen sehr klugen Satz von Tucholsky, wenn ich selber hilflos bin, der mal gesagt hat, im Zusammenhang mit einem berühmten Roman, bei ganz großen Erfolgen sollte man gar nicht so sehr aufs Werk gucken, sondern eher aufs Publikum, also auf den Rezipienten, und den analysieren, warum der das eigentlich gut findet. Und das passt ja eigentlich auch ganz gut. Wenn man genauer hinguckt: Die Hits stecken ja eher alle in der ersten Hälfte. Und dann wird es auch sehr düster in dem Schmugglerbild. Der Schluss ist ziemlich brutal und so. Es ist jetzt eigentlich gar nicht die typische Publikumsoper, aber vielleicht steckt ja auch was Atavistisches in dem Stück, das uns anspricht. Liebe, Eifersucht, Verbrechen und das alles aber auf einem hohen Niveau, auf sehr raffinierter Art und Weise, musikalisch, Schmuggel, Brutalität. Das sind ja auch Themen, die die Massenmedien bis heute beschäftigen. Seit 200 Jahren kann man sagen. Und das bewegt uns heute auch noch. (Ein Artikel zur „Ur-Carmen“, wie sie Bizet eigentlich wollte, folgt zeitnah in diesem Jahr).

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Die Erato-Edition ist ein ganz gewichtiger Würfel, auch schön gestaltet auch. Aber Warner/Erato bringen ja in diesen Editionen in der Regel nichts Neues, sondern Best-Offs der VergangenheitDa steht zwar Erato drauf, da ist aber Warner drin. Das heißt im Grunde ist das ein Archiv, das Warner gekauft hat von der EMI und allem, was an der EMI dranhing. Da gab es noch kleinere Labels, eben wie Erato und Virgin Classics. Warner hat 2012 dies Riesenarchiv gekauft.

Ich liebe diese Editionen, weil es ein fantastisches, großes Archiv ist, wo tolle Sachen drin sind. Und dann sind die aber auch, und das ist ja auch wichtig, immer gut oder fast immer gut kuratiert. Und auch haptisch immer sehr elegant gemacht mit schönen Covers, meistens auch aus der Zeit des Komponisten, wo man dann so Gemälde verwendet aus der Zeit. Es gibt auch, muss man ehrenhalber sagen, aufwendigeres und noch eleganteres auf dem Markt, aber dann wird es auch teurer. Und hier hat man immer so ein gutes Verhältnis von Preis und Leistung. Aber die Auswahl in dieser Box ist auch verwirrend, weil nicht immer nachvollziehbar.

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Es gibt sehr viele Aufnahmen der Oper Carmen.  Welche ist hier drin? Gleich zwei, zu Recht, denn es gibt ja zwei Versionen. Eine mit Dialogen und eine mit Rezitativen. Und hier hat man sich entschieden die Dialogfassung 1875 mit Simon Rattle am Pult und Magdalena Koszena sowie Jonas Kaufmann zu nehmen. Als Rezitativfassung hat man sich für eine populäre entschieden, nämlich die mit Callas und Gedda.  Das finde ich nicht so überwältigend. Die Callas ist längst jenseits ihrer guten Tage und Gedda wirkt recht trocken im Ton. Die alte mit Cluytens hat einfach mehr Schmiss, und auch sonst hatte der Emi-Verbund mehr zu bieten. Zumals die Callas-Aufnahme ja noch einzeln zu haben ist.

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Neben den beiden Carmen-Aufnahmen bleiben noch ein paar CDs übrig. Da gibt es, ganz spannend, ein rares Fragment, das nicht fertig geworden ist. Ivan V. hört man hier in einem recht antiken Querschnitt des französischen Rundfunks mit Jeannine Michau – immerhin. Und natürlich fehlt nicht die zweitbekannteste Oper, die Pêcheurs de Perles (Hendricks & Aler, da wäre die mit Vanzo & Cotrubas sehr viel netter gewesen, zumal weil damals nach der neues Edition dies eine Sensation war und sie seit langem  vergriffen ist)

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Und als drittes beigelegt, zu meiner großen Freude, ist eine Oper, La jolie Fille de Perthvon der es nur ganz wenige Gesamtaufnahmen gibt, wenn überhaupt. Und sie wird auch extrem selten gespielt.  Auch unter Prêtre, wie die Aufnahme der Callas, allerdings viel später in den 80ern aufgenommen, lange vergriffen, auch mit bekannten Sängern dabei wie (der recht trockene und wenig jugendliche) Alfredo Kraus, José van Dam und (leider die intonations-problematische) June Anderson. Toll, dass das Mädel aus Perth in dieser Box jetzt wieder da ist. Von der musikalischen Qualität her finde ich die Oper ziemlich nah an der Carmen. Sie ist viel dichter, lyrischer, geschlossener als zum Beispiel die Perlenfischer, die für mich immer so ein bisschen erratisch wirken und auch ihre anämischen Momente haben. La jolie Fille de Perth ist eine Liebesgeschichte nach Walter Scott. Hoch inspiriert, finde ich. Ein Einfall jagt den nächsten. Und es ist für mich immer ein Rätsel, warum wir diese Oper nie zu sehen bekommen oder zu hören. 

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Wie gut ist eigentlich das Gesamtwerk mit dieser Box dokumentiert?  Bekommt man einen guten Überblick über sein Schaffen? Eigentlich nicht. Das wird hier aber, glaube ich, gar nicht erst angestrebt. Es bleibt ein Griff in die Kiste des Emi-Verbundes. Die Frage ist vielleicht auch: Muss das unbedingt sein? Eine Würdigung seines Gesamtschaffens gehört, finde ich, eher in den akademischen Bereich. Nicht alles, was Bizet gemacht hat, ist auch auf ganz hohem Niveau. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Bizet ganz früh gestorben ist. Er ist  ja nur 36 Jahre alt geworden. Und vieles, was wir von ihm haben, sind eben auch tastende Versuche, Wettbewerbsbeiträge, Gelegenheitsarbeiten. Die findet man in einer größeren Edition vom Palazzetto Bru Zane, wo man viel Unbekanntes hört, was bis vor kurzem kaum bekannt gewesen.

Aber eben vieles von Bizet, was wirklich gut ist, bringt diese Box doch in einer passablen Bandbreite, eben auch Lieder, seine Kantate Clovis und Clotilde und natürlich auch die beliebten Suiten wie Jeux d´enfants oder die L´Arlésienne. Und es gibt auch Historisches? Das ist dankenswerter Weise so ein Standard bei diesen Komponistenporträts, bei diesen Boxen von Warner, geworden, dass sie da immer auch historische Schätze dazulegen. Zwei, drei CDs werden dafür dann immer reserviert. So auch hier wieder. Da finden sich zum Teil wirklich himmlische Sachen dabei, auch schrille, Aufnahmen aus den Jahren von 1903. auch aus 1943 (Brohly, Beyle, Calvé, de Lucia, Huguet, Minghini Cattaneo, Thill natürlich und Gigli). Und zu entdecken ist zum Beispiel ein Carmen Potpourri für die Schellack-Platten, extra dafür 1930 komponiert (Waxmann). Der wäre natürlich längst vergessen, würde hier nicht überraschenderweise ein ganz großer Dirigent am Pult stehen, nämlich John Barbirolli. Mit einem rätselhaften Instrument, fast wie ein Harmonium. Es könnte auch eine zittrige Oboe gewesen sein. Vielleicht nicht das beste Orchester, aber wirklich toll gemacht. Dazu interessante Arrangements von Guiraud, Kolpiloff, Rachmaninoff, Ducros und Tharaud.

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Es gibt jedoch ein paar Kompositionen Bizets, die mir in dieser Box fehlen.  Ein paar empfindliche Lücken hat das Ganze schon. Die klaffen aber auch deswegen, weil Warners Archiv nicht alles besitzt. Vielleicht hätte man von anderen Firmen einiges ausborgen können. So z.B. eine wunderbare Klaviertranskription des Don Giovanni. Die ist hier nicht dabei. Und was ich vermisse, sind die schönen Operneinakter, so den Docteur Miracle oder Djamilé.  Aber wer das haben will muss sie eben woanders suchen (Abbildungen: Ansicht auf Arles/Wikipedia;  „La joilie fille de Perth“/zeitgenössische Illustration/Palazzetto Bru Zane). M. K./G. H.

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Georges Bizet (1838-1875). Mit June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux und weiteren.

Orchesterwerke: Symphonie C-Dur; Ouvertüre A-Dur; Trauermarsch h-moll; La Jolie Fille de Perth-Suite; Orchestersuite Nr. 3 „Roma“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Les quatre Coins; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; L’Arlesienne-Bühnenmusik; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2; Carmen-Suiten Nr. 1 & 2

+Jeux d’enfants-Suite op. 22 für Klavier 4-händig

+Lieder & Chorwerke: Kantate „Clovis et Clotilde“; Pastorale; Ouvre ton coeur; Adieu de l’hotesse arabe; Feuilles d’album Nr. 3 & 5; La Chanson du fou; Agnus Dei nach dem Intermezzo aus L’Arlesienne-Suite Nr. 2

+Opern: Les Pecheurs de Perles; Ivan IV; La Jolie Fille de Perth; Carmen (in zwei Versionen)

+Bizet-Arrangements – Pablo de Sarasate: Carmen-Fantasie op. 25 für Violine & Orchester / Franz Waxman: Carmen-Fantasie für Trompete & Klavier / Habanera aus Carmen für Cello & Orchester / Carmen-Potpourri; Adagietto & Minuetto aus L’Arlesienne für Klavier

+Historische Aufnahmen 1903-1943 – Symphonie C-Dur; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Roma-Suite (Auszüge); La Jolie Fille de Perth-Suite; L’Arlesienne-Bühnenmusik; Carmen-Suite Nr. 1; Carmen (Auszüge); Les Pecheurs de Perles (Auszüge)

Künstler: June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux, Jose van Dam, Michel Beroff, Jean-Philippe Collard, Michel Dalberto, Alexandre Tharaud, Gautier Capucon, Itzhak Perlman, Berliner Philharmoniker, Liverpool Philharmonic Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Nouvel Orchestre Philharmonique, La Scala Orchestra, Orchestre de Chambre de Paris, Orchestre de l’Opera National de Lyon, Orchestre de Paris, Orchestre National du Capitole de Toulouse, Orchestre National de France, Orchestre National de la RTF, Orchestre National de Lille, Orchestre Symphonique de Paris, Orchestre de l’Opera Royal, Royal Philharmonic Orchestra, Daniel Barenboim, John Eliot Gardiner, Paavo Järvi, Seiji Ozawa, Michel Plasson, Georges Pretre, Simon Rattle, Georges Tzipine.

Erato 16 CDs.

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Aufnahmejahr ca. 1903-2012/ Erscheinungstermin:/ 23.5.2025/ Quelle cpo

Heimspiel

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Eine willkommene Überraschung ist es für jeden Venedigbesucher, vom Rialto kommend in eine enge Gasse einzubiegen und plötzlich auf einer Piazzetta und vor einem Opernhaus, dem Teatro Malibran, zu stehen. Wenn das Fenice, so nach der letzten Brandstiftung, nicht bespielbar ist, dient es als Ausweichquartier, und in den Neunzigern erlebte man hier mit Marcello Viotti schöne französische Opernabende, so mit Massenets Le Roi de Lahore oder Aubers Le Domino noir. Jetzt ist es als Ableger des großen Opernhauses eine Art Kammeroper, die 2024 eine Aufführung von  Antonio VIvaldis Pasticcio Il Bajazet erlebte.

Die Geschichte um den Macht- und Liebeskampf der orientalischen Herrscher Bajazet, Tamerlano und des Andronico, mehr noch um deren verzwickte Liebesabenteuer, enthält bereits in anderen Werken verwendete Arien, daneben viele neu komponierte und die anderer Komponisten, so auch des Deutschen Hasse.

Eigentlich ist alles klar, wer wen liebt und dementsprechend heiraten soll, doch die Laune des Tyrannen und die Eifersüchteleien der Damen Asteria, Tochter des Bajazet, und der Irene, promessa sposa von Tamerlano, bringt alles ins Wanken und ist Anlass für viele Liebes- und Eifersuchtsszenen, endet mit dem Gifttod der Titelfigur und einer Doppelhochzeit. Unvermählt und auch unvergiftet bleibt nur Idaspe, Vertrauter in Mannesgestalt mit Countersopranstimme, hier aber ein weiblicher Sopran als Vertraute.

Die optische Umsetzung müsste eigentlich Genuss für den konservativen Opernbesucher und ein Gräuel für den Modernisten sein und zugleich umgekehrt, denn Regisseur Fabio Ceresa spielt ungemein souverän auf der Klaviatur des ironischem Traditionalismus wie auf der des ins Absurde getriebenen Neuerungssucht, wenn einmal eine Arie in einem wunderschönen, in Kostbarkeit prunkendem Palast in Kostümen,. die im bis zur Karikatur gesteigerten Modebewusstseins vergangener Zeiten das Stilempfinden ausreizen, gesungen wird, mal in einer schäbigen Einbauküche der Fünfziger der Liebhaber in Unterhose und mit Sockenhaltern ohne jede erotische Ausstrahlung leidenschaftlich singen muss, in Gasherd, am Lampenkabel oder Küchenmesser vergeblich sein Dasein beenden möchte, wenn Dornröschen in sein Gegenteil mit schlafendem Prinzen und wachküssender Prinzessin verkehrt wird, Jack the Ripper im nebelsatten London sein Unwesen treibt oder der My-Fair-Lady-Film mit Audrey Hepburn in Ascot als eine der handelnden Personen verfremdet erscheint. Öffnet sich also der Vorhang immer wieder zu neuen, überraschenden Szenen, so sitzen die sechs gleich stark geforderten Solisten gemeinsam oder einzeln ganz in Schwarz auf der Vorderbühne, liefern von hier aus auch einige ihrer Arien ab- das Stück ist von auch für die damalige Zeit beachtlicher Länge und wird doch nie zu lang, geschweige denn langweilig. Dazu kommt, dass es trotz allen szenischen Übermuts  ernst genommen wird. Die Bühne stammt von Massimo Checchetto, die Kostüme entwarf Giuseppe Palella. Übersprudelnde Heiterkeit schwingt anstelle von verbissener Ideologieverbohrtheit das Zepter.

Ein großes Verdienst kommt dem Orchestra del Teatro La Fenice di Venezia zu, das unter der Leitung von Federico Maria Sardelli so frisch, so heiter, so prickelnd spielt, als wären alle vier Jahreszeiten gleichzeitig ausgebrochen, man meint den Musikern anzumerken, dass sie mit Begeisterung bei der Sache sind.

Für den Bajazet hatte Vivaldi einen Tenor oder Bariton vorgesehen, Renato Dolcini besitzt einen schlanken, dunklen, koloraturgewandten Bassbariton. Den in Asteria verliebten, aber Irene heiraten sollenden, dann aber doch Asteria bekommenden  Andronico singt Raffaele Pe mit  reizvollem Timbre, beherrscht irrsinnige Intervallsprünge und weiß mit „Spesso tra vaghe rose“ zu bezaubern. Sonia Prina hat für den wetterwendigen Tamerlano einen vollmundigen Alt und viel darstellerische Wandlungsfähigkeit. Asteria ist Loriana Castellano, sie singt  mit reichen Farben eines Mezzosoprans ihr „Qual furore, qual affano“. Lucia Cirillo ist Irene, die als sposa disprezzata Sopranglanz und ab und zu auch etwas Schärfe beisteuert. Über einen zauberhaften Fächertanz kann man sich beim Auftritt von Valeria La Grotta als Idaspe freuen und dazu über souveräne Koloraturen.

Die Stärke der Aufnahme liegt in den durchweg guten Solisten und in der liebevoll, augenzwinkernd und pfefferreich optisch wie akustisch souverän gestalteten Aufführung. Dazu handelt es sich um eine Weltpremiere auf Video (Dynamic 38056). Ingrid Wanja   

Neuer Stern

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Beloved Songs nennt der armenische Tenor Liparit Avetisyan sein auf CD erschienenes Recital von Arien in vier  Sprachen, und beliebter geht es wirklich nicht mehr, wenn sich Nemorino, Edgardo, Duca, Alfredo, Rodolfo, Faust, Des Grieux und Lenski miteinander vereinen, lediglich der Herr aus Iolanta und ein armenischer Liebender scheren da etwas aus der prominenten Reihe. Eng ans lyrische Fach hält sich der Sänger auf der CD, während er auf der Bühne sich bereits ins Spintofach vorgewagt hat, aber eindeutig hören lässt, dass der Tenor noch ein streng lyrischer, sogar dem tenore di grazia zugeneigter ist. Im beiliegenden Booklet verrät er wenig über sich, es gibt lediglich vier Absätze: Auftrittsorte (alle von Bedeutung), Rollen ( alle beliebten und bekannten seines Fachs), nochmal Auftrittsorte, besonders dabei Festivals (ganz, ganz viele) schließlich Dirigenten, Partnerinnen und Partner (umgekehrt wird es wohl nicht geschehen) und Preise (Was gibt es doch für viele, da ist für jeden etwas dabei!). Informationen über Herkunft, Ausbildung, Werdegang und Zukunftspläne wären sicherlich willkommener gewesen für den Opernfreund, der sich wirklich ein Bild von einem sogenannten neuen Stern am Opernhimmel machen will.

Es beginnt also mit Una furtiva Lagrima, für die der Sänger ein helles Timbre, ein gut tragendes Piano und weniger präsentes Pianissimo zur Verfügung hat, einen agogikreichen, manchmal übertrieben unruhigen Vortrag vernehmen lässt und auf dem Credo sich zu einem schönen Aufblühen  entscheiden kann. Edgardo beklagt sein und der teuren Avi Schicksal mit geeignetem Timbre, einem sehr schönen Diminuendo am Schluss und zwischendurch weniger Schattierungen, als man sie sich wünschen würde und dazu eine weniger offen gesungene Höhe.

Die Bollenti Spiriti Alfredos klingen jugendlich, besonders die Cabaletta besticht durch eine gute Phrasierung. Die findet sich auch bei des Duca Parmi veder le lacrime, der die herrschaftliche Attitude in der Stimme hat, mehr Rachgelüste als Mitleid vermittelt und den Schluss mit lyrischer Emphase gestaltet. Ein kraftvoller Spitzenton krönt La donna è mobile, der Kontrast zwischen Leidenschaft und Ironie wird gut herausgearbeitet.

Für die Gelida Manina wünscht man sich ein farbigeres Timbre, wie überhaupt für Puccini, dessen Rodolfo aber noch am ehesten zur hellen Tenorstimme passt.

Mit schöner voix mixte nähert sich Avetisyan dem Gounod-Faust und beweist so nicht nur mit dem strahlenden Spitzenton seine Eignung für das französische Repertoire. Der Massenet-DesGrieux beginnt hauchig, lässt sich später zu leicht zum Schreien verleiten und wirkt dadurch etwas unkontrolliert.

Tadellos gelingt der Lenski, schönes Ebenmaß verbindet sich mit hörbarer innerer Beteiligung, was auch für die Arie aus Iolanta gilt, die mit einem beeindruckenden Falssettone endet.

Dem Heimatland wird mit dem letzten Track stimmschön gehuldigt.

Der in einer Art Nachwort ausgesprochene Dank des Sängers gilt zu Recht dem Kaunas City Symphony Orchestra unter Constantine Orbelian (Outhere3615). Ingrid Wanja   

Riccis „Birraio di Preston“

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Il Bel Canto Ritrovato Festival im Teatro Sperimentale brachte in Pesaro 2023 Luigi Riccis komische Oper Il birraio di Preston (Der Bierbrauer von Preston). Die ist nun bei der verdienstvollen Firma Bongiovanni als CD_Mitschnitt herausgekommen (die Ausstattung bei Bongiovanni/ GB 2611/12 – 2  enthält wie stets ein schönes Booklet mit einem Artikel Claudio Toscani und das Libretto in Italienisch und Englisch, sowie ein Grußwort vom Intendanten des „Festival Il Bel Canto Ritrovato“, Rudolf Colm). Ingrid Wanjas Rezension der neuen Bongiovanni-CD macht den Anfang, gefolgt von einem Artikel von Charles Jernigan zum Werk und zum Komponisten …

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Iniziativa preziosa: Ab 2022 gibt es, damals mit einer Oper von Pietro Generali,   innerhalb der Regionen Romagna und  Marche, im Geburtsort des Schwans von Pesaro, Giacchino Rossini und des zu den compositori minori gehörenden Lauro Rossi, dessen Wiege in Macerata stand, wieder die neben dem Rossini-Festival stattfindenden Aufführungen von einem der gut sechzig Komponisten mit rund 1300 inzwischen vergessenen Opern, Aufführungen im Zeichen des Festival nazionale del Belcanto ritrovato (in operalounge wurde darüber berichtet). Bisher dahin wurden die Minori verdrängt von den jeweiligen Platzhirschen: neben Rossini noch Bellini aus Catania und Donizetti aus Bergamo.  Macerata ist bereits ausgelastet mit dem Opernfestival im Sferisterio, aber Fano, Urbino, Recanati, wo Beniamino Gigli begraben ist, beteiligen sich gern an dem Unternehmen, das nicht zuletzt die Tourismusströme aus der Toscana in die landschaftlich ebenso reizvollen Marche umleiten will.

2023 stand Luigi Riccis Semiseria Il Birraio di Preston auf dem Spielplan als erste Vorstellung des Werks in modernen Zeiten und natürlich auch erste Aufzeichnung, es spielte das Orchestra Sinfonica „G.Rossini“, die Gesangssolisten stammen aus der Accademia „Alberto Zedda“, dessen unermüdliches Wirken speziell für Rossini und speziell durch seine Edizioni critiche durch die Namensgebung zum Glück angemessen gewürdigt wird. Er hatte bereits für ein ähnliches Unternehmen wie das 2022 wieder aufgelebte gesorgt. Verdienstvoll ist auch die Bereitschaft des Musikverlags Bongiovanni, der immer wieder CDs mit in Vergessenheit geratenen Komponisten auf den Markt bringt, so auch den Bierbrauer aus Preston: da kein Winzer, ins ferne Inghilterra versetzt.

Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Den besten Opernstoff, aber eher den für eine opera seria, liefert das Leben des Komponisten Ricci, der etwas dreißig Opern komponierte, vier davon gemeinsam mit seinem Bruder Federico, und dessen Birraio 1847 im Teatro della Pergola nahe Florenz uraufgeführt wurde. Sein größter Erfolg war allerdings Un‘ avventura di Scaramuccio, und auch Crispino e le comare wurde bis Ende des Jahrhunderts immer wieder aufgeführt. Erst Verdis Falstaff machte ihm wirklich Konkurrenz. Ein totaler Misserfolg allerdings waren seine Nozze di Figaro, die 1838 in Mailand durchfielen. Sein Leben verlief turbulenter als das seiner Opernfiguren, er hatte mit den beiden älteren Schwestern von Teresa Stolz gleichzeitig ein Verhältnis und wurde durch beide derselben Vater. Eine Schwester heiratete er, die andere blieb seine Geliebte. Sein Dasein beendete er schließlich in einem Irrenhaus in Prag.

Im Birraio di Preston geht es um eineiige Zwillinge, deren einer Brauer, der andere Offizier seiner Majestät ist. Der Brauer will gerade heiraten, als ein Freund seines Bruders ihn dingend bittet, sich beim Vorgesetzten für den offensichtlich fahnenflüchtigen  Bruder, der außerdem noch die Schwester eines Kameraden verführt und verlassen hat, einzusetzen. Nach vielen Verwirrungen ist der nicht desertierte, sondern gefangen gehaltene Bruder auf dem Weg zurück, der Brauer hat inzwischen für ihn dank des schlauen, kampferprobten Reitpferds eine Schlacht gewonnen, zwei Paare können heiraten und glücklich werden.

Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Die flüssig und leichtgängig daher kommende Sinfonia wird vom Dirigenten Daniele Agiman ( auch direttore artistico des Festivals) angemessen dargeboten, das Orchester nimmt sich beschwingt und leichtfüßig der gefälligen Musik an. Das Finale des 2. Akts besticht durch eine mitreißende Steigerung der Intensität..  Auch der Coro del Teatro della Fortuna weiß seine Vergnügungssucht als Hochzeitsgesellschaft angemessen zu vermitteln. Als Bass ausgewiesen ist der Brauer Daniele, sein Sänger Gianni Giuga hört sich eher wie ein Bassbariton an, behauptet sich gut in den Prestissimi und wirkt urkomisch bei seinen Lektionen in Soldatentum. Des Bruders Freund Tobia hat mit der von Francesco Samuele Venuti eine Stimme wie aus einem Guss, ein schönes Legato und nimmt sich seiner Partie empfindsam an. Des Brauers Braut Effy wird von Inés Lorans mit feinem Soubrettenstimmchen geschmeidig die Töne hintupfend gesungen, besonders die Arie im dritten Akt ist voll niedlichen Jubels. Die verlassene Anna ist Aloisa Aisemberg klingt zunächst verwaschen, blüht aber in der Verzweiflung über das Verlassensein angenehm auf. Ihr Bruder Oliviero schlägt sich mit dem Tenor von Antonio Garés durch Geläufigkeit besser in der Cabaletta als in der sehr nach Charaktertenor klingenden Arie. Der strenge Lord Murgrace wird von Alessandro Abis mit vokaler Autorität ausgestattet. Man wünscht dem „Belcanto Ritrovato, Festival Nazionale“ noch viele Spielzeiten und erfolgreiche Ausgrabungen (GB 2611/12). Ingrid Wanja        

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Und nun Charles Jernigan zum Festival Il Bel Canto Ritrovato, zu Luigi Ricci und zum Werk: 1997 veröffentlichte Andrea Camilleri, der sizilianische Schriftsteller und Autor der äußerst beliebten Krimireihe um Inspektor Montalbano, einen Roman mit dem Titel Il birraio di Preston, in dessen Mittelpunkt ein Ereignis in Camilleris fiktivem Vigàta in den 1870er Jahren nach der Einigung Italiens steht. Die Bevölkerung ist verärgert, weil die neue nationale Regierung einen Präfekten, Eugenio Bortuzzi, einen Florentiner, in die Stadt entsandt hat. Bortuzzi hat ein neues Opernhaus errichten lassen und zur Einweihung eine Oper, Il birraio di Preston von Luigi Ricci, ausgewählt, die 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Die konservative Bevölkerung ist wütend darüber, dass ein „Ausländer“, ein Florentiner, den Sizilianern florentinische Musik aufzwingt, buht die Darsteller aus und brennt das Haus während der Aufführung nieder. Der Vorfall ereignete sich tatsächlich in der sizilianischen Stadt Caltanisetta und bildet den Dreh- und Angelpunkt von Camilleris faszinierendem, komisch-sardonischem Roman.

Dabei erfahren wir viel über die Oper im Italien der 1870er Jahre, einschließlich der Kontroverse zwischen Wagners Musik und der einheimischen italienischen Oper. Luigi Riccis Oper wird zum Symbol für alles, was die Sizilianer an der neuen nationalen Regierung, die sich ihren Traditionen aufzwingt, nicht mochten. Die Tatsache, dass der Roman Riccis Titel aufgreift, scheint Teil der Ironie zu sein, die in Camilleri allgegenwärtig ist, da es in dem Roman nicht wirklich um Il birraio di Preston geht, sondern um die sizilianische Haltung und den Unmut gegenüber einer fernen, zentralisierten Regierung. Es gibt keinen Grund, warum die Sizilianer Riccis Oper verschmähen sollten, auch wenn sie in Florenz uraufgeführt wurde, denn Luigi Ricci war wie sein Bruder Federico ein gebürtiger Neapolitaner, der aus demselben Königreich der beiden Sizilien stammte, das über den größten Teil Süditaliens, einschließlich Siziliens, geherrscht hatte, und Riccis Musik strotzt nur so vor neapolitanischen Melodien.

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Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Bis zum Sommer 2023 schien es, als ob wir Opernliebhaber nie erfahren würden, ob Luigi Riccis Oper so „mittelmäßig“ war, wie die Beschreibung auf dem Romanumschlag behauptet. Obwohl die Brüder Ricci einzeln und zusammen etwa sechzig Opern geschrieben haben und viele von ihnen einst sehr populär waren, ist es heute schwierig, eine Aufführung zu finden. Es war also ein echter Glücksfall, dass das neue nationale Festival Il Bel Canto Ritrovato beschloss, Il birraio di Preston bei seiner zweiten Auflage im August 2023 in Pesaro und Umgebung aufzuführen. War es „mittelmäßig“? Nun, die Handlung war ein wenig abgenutzt, aber die Oper strotzte nur so vor wunderbaren Melodien, lebhaften Rhythmen und geschickter Orchestrierung. Es handelt sich nicht um eine komplexe und „ernste“ Komödie wie Verdis Falstaff oder sogar Camilleris Roman, aber es war ein durch und durch vergnüglicher Abend mit viel Spaß und der Entdeckung wertvoller verlorener Werke, die das Festival verspricht.

Die Handlung von Il birraio di Preston (die Oper) dreht sich um eineiige Zwillinge und die Verwirrung, die entsteht, als sie miteinander verwechselt werden.  Das Libretto von Francesco Guidi, das auf der Oper Le brasseur de Preston von Adolphe Adam aus dem Jahr 1838 basiert, ist ziemlich vorhersehbar, aber unterhaltsam, mit cleveren Situationen für komische Duette, Trios und Ensembles – und sogar einigen Arien.

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Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci

Eine Verwechslungs-Komödie mit eineiigen Zwillingen muss für Luigi Ricci, der den größten Teil seiner zwanzig Jahre mit zwei Zwillingsschwestern zusammenlebte, besonders bedeutsam gewesen sein. Ricci lernte die siebzehnjährigen Stolz-Schwestern Franziska und Ludmilla kennen, als sie seine Gesangsschülerinnen waren. Sie lebten offen in Triest zusammen, bis ein Skandal Ricci dazu zwang, eine Stelle in Odessa anzunehmen, um dort die italienische Oper zu verwalten. Die Schwestern kamen mit, und Ricci schrieb eine Oper (La solitaria delle Asturie) für sie. Zurück in Triest heiratete Luigi Ludmila, trennte sich aber nicht von Franziska, die er Fanny nannte. Um einen Skandal zu vermeiden, zogen sie in ein Haus, das jede Schwester zur Hälfte bewohnte. Aber laut dem scharfsinnigen Chronisten der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Bellinis Freund Francisco Florimo, ließ Luigi hinter einem Schrank eine Geheimtür einbauen, die es ihnen – und ihm – ermöglichte, sich problemlos hin und her zu bewegen. Es funktionierte, bis eines Tages eine Primadonna mit ihrem Mann Luigi besuchte. Fanny, die eine unbekannte Frauenstimme hörte, brach in einem Anfall von Eifersucht durch den Schrank und schockierte damit alle. Ludmilla schenkte Luigi bald eine Tochter namens Adelaide, die Sängerin wurde, und ein Jahr später schenkte Fanny ihm einen Sohn, Luigino, der wie sein Vater Komponist wurde.

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Federico und Luigi Ricci /Wikipedia

Opernliebhaber wissen heute vielleicht nicht viel über die Brüder Ricci, aber sie kennen wahrscheinlich die berühmte Tarantella aus Luigis La festa di Piedigrotta, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einer Ricci-Oper stammt. Diese allgegenwärtige Melodie, die so sehr ein Synonym für italienische (und insbesondere neapolitanische) Musik ist, ist typisch für Luigis Fähigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter zu kreieren. Die Musik von Il birraio ist in diesem Sinne – unermüdlich melodisch, eine Kaskade italienischer Melodien. Im 1. Akt sticht Effys Eingangsarie „La vecchia Magge“ hervor. Die alte Maggie hat der hübschen jungen Effy beigebracht, wie man sich Männern nähert und einen Ehemann findet. Letzteres ist ihr nicht besonders gut gelungen, bis Daniele auftauchte, aber er ist reich, hat einen guten Job und ein gutes Herz, auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Die beste Musik gibt es im 2. Akt, mit einer eingängigen Cavatina für Oliviero, einen Tenor, komplett mit ausgelassener Cabaletta („Al furor d’un cor ardente“); Tobias ungewöhnliche Brindisi, „Era Tom un dragone valente“, über einen Soldaten, der „wisky“ für Bier aufgibt; das wunderbare Trio („Or conviene d’un soldato“) zwischen Daniele, Tobia und Effy, als sie beide Daniele „lehren“, wie man ein richtiger Soldat ist; und ein grandioses Finale mit einem wunderbaren, langen pezzo concertato, „Per secondar l’intrepido“, das zahlreiche melodische Themen durchläuft, eines besser als das andere. Ich für meinen Teil wollte nicht, dass es aufhört. Im 3. Akt gibt es auch einen „pezzo concertato“ und ein komisches Duett („La vederemo…la vedremo“), in dem Effy und Anna sich gegenseitig als potenzielle Bräute von Daniele/Giorgio einschätzen, die sie für ein und dieselbe Person halten. Effy hat am Ende eine große Arie in halb-ernster Manier („Deh! ch’ei non sia la vittima“), gefolgt von ihrer köstlichen Walzer-Final-Cabaletta.  Mit anderen Worten: Jede Nummer ist ein Genuss.

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Donizettis wohlwollender Geist schwebt über der Partitur von Ricci, insbesondere über dem Donizetti von La fille du règiment (1840) und vielleicht Betly (1836). La fille du règiment ist das Paradebeispiel für die in den Opern dieser Zeit vorherrschende Mode, dass eine Frau in einem Soldatenkostüm zu martialischer Musik herummarschiert. Effy, die mutiger ist als der schüchterne Daniele, zieht sich einen Soldatenmantel über ihr Kleid, und im zweiten Akt bringt Tobia ihr bei, wie man marschiert, ein Schwert hält und auch sonst „soldatisch“ auftritt – und sie bringt es Daniele bei, und das alles im köstlichen Trio „In un momento“, das mit „Rataplans“ gespickt ist, wie sie Marie in La fille du règiment singt. Verdi benutzte die Trope noch 1862 in La forza del destino, als Preziosilla zwei martialische Stücke mit ihren eigenen „rataplans“ hat.

Die komisch-martialische Atmosphäre der Geschichte verleiht der Trompete neben dem Schlagzeug eine herausragende Rolle in der Orchestrierung. Es gibt zwei Trompetenstimmen, und die Trompeter sind fast immer im Einsatz, um Melodien zu unterstreichen, einen kleinen Kontrapunkt zu setzen oder Trompetenrufe auszuführen. Im Gegensatz zu früheren Opern von Rossini und Donizetti gibt es keine klangvollen obligaten Stimmen für Flöte, Klarinette oder Oboe, die dem Sänger Gegenmelodien bieten. Nicht einmal ein Waldhorn. All dies verleiht der Orchestrierung eine bandartige Qualität und macht die Partitur zu einer Art Brücke zwischen komischer Oper und Operette. Der Sprung von Ricci zu von Suppé oder gar Johann Strauss ist nicht groß.

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Il belcanto ritrovato Pesaro: Intendant, Gründer und Organisator Rudolf Colm/ Foto IBR

Luigi und Federico Ricci setzten den von Donizetti begonnenen Trend fort, der Opera buffa wie Nemorinos „Una furtiva lagrima“ ein sentimentales Element zu verleihen. Wie Will Crutchfield feststellte, hielt der Walzer nach etwa 1845 als wichtiges Element Einzug in die italienische Oper, und die Brüder Ricci nutzten diesen neuen Tanz mit Sicherheit aus. Il birraio di Preston (1847) enthält mehrere Walzer, darunter die Schlussarie. Obwohl er in Wien als Tanz erfunden wurde, hielt der Walzer laut Crutchfield erstmals in italienischen Werken der Jahrhundertmitte Einzug in die Oper, bevor er die Alpen wieder überquerte und zum dominierenden Element der Wiener Operette wurde. (…) Charles Jernigan/ G. H.

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Jahrhundertstimme und -Aufnahme

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Am 16. April 1995 verstarb Gertrude Grob­-Prandl, 1917 in Wien  geboren und trotz der nicht immer erwiderten Gegenliebe der Wiener Institutionen eine erz-österreichische Person. Mit ihr ging ein Zeitalter zu Ende, in dem die voluminösen, kraftvollen und vor allem schönen Stimmen wesentlich häufiger waren als heute. Anders als die erbarmungslos-stählerne von Birgit Nilsson war ihre riesige Stimme menschlich, warm und leuchtend. Menschlich vor allem.

Gertrude Grob, in erster Ehe verheiratete Prandl, in zweiter Ehe dann -King, lebte die letzten Jahre ihres Lebens zurückgezogen  bei Wien – eine Frau von starkem Willen und liebenswert-starken Grundsätzen. Ihre nur im diskreten Gegenüber (Thomas Voigt) geäußerten Kommentare über Sänger trafen stets den Punkt und zeugten von ihren hohen Maßstäben ebenso wie von ihrem Witz. Und ihre lsolde, Turandot, Bethoven-Leonore und vor allem auch Brünnhilde gehören zu den Ausnahmedokumenten der Gesangsgeschichte ihres Jahrhunderts. Leuchtkraft, wortdeutlichste Deklamation und tief-menschliche Gestaltung zeichnen diese Figuren aus.

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Gertrude Grob-Prandl als Isolde mit Victor de Sabata in Mailand/ Foto Piccagliani/ Isoldes Liebestod

So unauffällig sie als Privatperson blieb, so verlief auch ihre Karriere, ohne Skandale und lange im Schatten anderer, namentlich der Konetzni-Schwestern in Wien, wo sie 1944 an der Staatsoper kurz vor der kriegsbedingten Schließung mit der Elsa debütiert hatte. Im März 1945 wurde das Haus zerstört. Es ist bezeichnend, dass sie zur Wiedereröffnung 1955 nicht die Fidelio-Leonore sang (das war Martha Mödl, aber ironischerweise sang die Grob die Partie kurz nach der Eröffnung der Berliner Staatsoper wenig später). Immer waren in Wien andere vor ihr.

Dennoch ging ihre Laufbahn steil bergan, von steter Qualität getragen, namentlich an der Volksoper, nachdem sie bei den legendären Lehrern Paier und Singer-Burian (einer Schülerin der Ponselle) studiert hatte. Die Marschallin, die 1944 der Elsa folgen  sollte, fiel zum Bedauern der Grob dem Bombenalarm zum Opfer – ein Jammer, wie sie stets betonte, denn vor dem Krieg waren diese Partien Domänen der Hochdramatischen. Auch die Rosalinde gehörte dazu, die sie gerne gesungen hätte. 1949 gab sie ihre erste Walküre unter Krauss, sie „überlebte“ Dirigentenwechsel und Intendanten, sang neben Senta und Ariadne die Walküre unter Böhm in Buenos Aires und kam überhaupt viel herum.

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Getrude Grob-Prandl und Max Lorenz in „Tristan und Isolde“ an der Scala am 13. Dezember 1951/Foto Piccagliani/Cetra

Sie wurde im Ausland wesentlich glanzvoller aufgenommen als zu Hause: in Italien als Turandot, Ballo-Amelia, bei der RAI mit einem fulminanten Konzert als Rezia u. a. (ihre Arie der Isabella/ Robert der Teufel gehört auf dem Recital in Deutsch zu meinen absoluten Immortellen gleich neben Anita Cerquettis Auszug aus Agnese di Hohenstaufen); vor allem aber an der Scala – nach  ihrem Einstand 1951 in Neapel – als lsolde unter Victor de Sabata mit Max Lorenz (soeben wieder bei Pan herausgekommen).

Wer die hohe Kunst der Grob-Prandl kennenlernen möchte, muss sich den Mitschnitt anhören, auf dem die Stimme gleichermaßen strömt wie auch mühelos die langen, leuchtenden Phrasen singt. Es gibt keine klangschönere, wortdeutlichere und präsentere lsolde auf Dokumenten für mich, weder Traubel noch Flagstad noch Nilsson.

Neben Reisen nach Nordamerika, nach Brüssel, Dortmund (!) und Berlin (!) kam es bemerkenswerterweise nicht zu Auftritten in Bayreuth, wo die Kolleginnen Varnay und Mödl fest installiert waren. Dafür sang sie die Turandot auf Englisch (!) 1951 unter John Barbirolli in London und die Ortrud in Italienisch in Reggio Emilia.

Gertrude Grob-Prandl mit Ludwig Suthaus in der „Götterdämmerung“  Mailand / Foto Piccagliani / Isoldes Liebestod

Die Beziehung zur Wiener Staatsoper war in den letzten Jahren stets gespannt gewesen. 1972 gab sie nach mehr als 28 Jahren Zugehörigkeit zum Haus ihren Vertrag zurück. Sie hatte genug von den Anfeindungen, der Claque, der Ungezogenheit der Presse, die sich auch gegen ihre voluminöse Körperfülle richtete. Dass man sie ein „Buffet auf Rädern“ nannte, war wohl auch gemeiner Weise in einer Wiener Tageszeitung zu lesen. Von Montserrat Caballé oder Jane Eaglen oder von vielen heutigen Amerikanerinnen in Hochramatischen Partien hat man das nie gesagt. Die Akzeptanz hat sich eben geändert. Es ist bezeichnend für ihren Charakter, dass sie nicht um ihre Rollen kämpfte – sie hatte einfach genug. Der Prophet gilt eben nichts im eigenen Land, wie sich an dieser wunderbaren, großen und leuchtenden Ausnahmestimme zeigt.

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Dokumente: Hoffentlich kommt irgendwann die von ihr selbst zurückgehaltene Elektra-Inhouse-Aufnahme 1963/4 aus Graz offiziell auf den Markt, die (ehemals von Thomas Voigt herausgegeben) nur bei Sammlern kursiertend!

Der Musikjournalist Thomas Voigt und Gertrude Grob-Prandl/Foto King/TV

Aber es gab Turandot (aus dem Fenice bei ehemals Remington und eine aus Wien live inoffziell) nebst Wiener Radio-Recital (bei Myto), den Wiener Ring (nur Siegfried und Götterdämmerung als Ersatz für Helena Braun/Myto u. a.), die Wiener Venus/Tannhäuser unter Karajan (RCA), den bizarren Idomeneo und Don Giovanni (Haydn-Society bzw. Vox/ MMS) sowie die Erste Dame/Zauberflöte (Music & Arts et. al.) kommerziell – heute aber weitgehend nicht mehr greifbar (Discogs eventuell). Das Myto-Portrait enthält Arien aus Oberon, Robert der Teufel, Die Jüdin, Der fliegende Holländer, Lohengrin sowie Schuberts Allmacht – absolut fabelhaft). Das von Cetra herausgegebene Doppelkonzert mit Ferruccio Tagliavini bot ihre Arien aus Fidelio, Oberon, Ballo in Maschera sowie Tristan – alles vom Dezember 1953.

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Gertrude Grob-Prandl als Brünnhilde, Wien 1953/privat

Sammler haben natürlich ihren Fidelio aus Genf 1963 (Fourie/ Klobucar), ihre Venus aus Wien 1871 (Rysanek, Beirer/ klobucar), ihre Isolde aus Wien 1956 (Lustig/ Cluytens) und Lausanne 1953 (nur 2. Akt mit Windgassen und Klose/Moralt), ihre Walküre aus Genf 1^951 (Ralf, Werth/Denzler) sowie Berlin 1956 (nur Szenen mit Treptow/ Konwitschny), dto. Szenen aus dem Colon 1950 (Suthaus, Klose/ Böhm) und Graz 1963 (nur Szenen), das Siegfried-Finale aus Paris 1966 (Hollreiser). Zudem kursieren Auszüge: so Fidelio Dortmund 1962 (mit Schmid und Gutstein/Jacob), das Finale Götterdämmerung Antwerpen 1968, und der Elektra-Monolog aus Paris 1985.  Und schließlich Beethovens „Ah perfido“ aus Antwerpen 1968 (Dank an Thomas Voigt!)

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Dazu kommen vielleicht noch weitere – man kann nicht alles wissen. Es wird Zeit – auch für Wien! – , diese bedeutende Sängerin offiziell mit einer Box ihrer Aufnahmen zu ehren und ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ud vielleicht remannt sich ja Pan, ihren Wiener Ring ebenfalls wieder herauszugeben. Bitte, bitte! Geerd Heinsen

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Am 13. Dezember 1951 erklang an der Mailänder Scala eine mittlerweile legendäre Aufführung von Wagners Tristan und Isolde, deren durchweg hervorragende Besetzung bis heute begeistert. So galt Max Lorenz seinerzeit als Inbegriff des Wagner-Tenors, während Gertrude Grob-Prandls Stimme einem Naturereignis gleicht und Victor De Sabata seinen Ruf als einen der besten Wagner Dirigenten überhaupt bestätigt. Die ursprünglich sehr schlechte Tonqualität wurde 2009 vom Label Myto sorgfältig remastered. Mit dieser Pan-Classics-Edition wird die bislang vergriffene Aufnahme bei Pan wieder auf CD erhältlich. Interpreten: Gertrude Grob-Prandl; Max Lorenz; Sven Nilsson; Sigurd Björling; Elsa Cavelti; Victor de Sabata; Chor und Orchester der Mailänder Scala et al. (Pan Classics)

Verdis „Simon Boccanegra“ 1857

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Wie das Label Palazetto Bru Zane sieht auch die englische Opera Rara von Zeit zu Zeit die Notwendigkeit im Katalog oder andernorts bereits vorhandene Opernaufnahmen zu duplizieren, so auch nun bei Verdis Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1857. Zu der Neuaufnahme eine Würdigung und danach einen Artikel von Roger Parker, dem Repertoireberater von Opera Rara und führendem Musikwissenschaftler auf dem Gebiet des italienischen Novecento, zum Werk selbst. G. H.

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Giuseppe Verdis Simon Boccanegra von 1857 bei Opera Rara: Fast alle späten Opern Giuseppe Verdis sind Klassiker auf den Bühnen der Welt. Manche gibt es in mehreren Versionen. Gespielt wird meistens natürlich die letzte, weil sie immer auch als das letzte Wort des Meisters gilt. Jetzt hat das Label Opera Rara eine Besonderheit auf den Markt gebracht: Simon Boccanegra in der Erstfassung von 1875. Verdi hat vor allem dann Neufassungen seiner Opern gemacht, wenn es darum ging, ein Werk in einem anderen Land neu vorzustellen. Dazu machte er meist umfangreiche Änderungen. So war Don Carlos ursprünglich für Paris gedacht, für Italien gab es später sehr umfangreiche Änderungen vorgenommen. Macbeth dagegen war eine original italienische Oper und wurde dann für Paris angepasst. Aber wir haben es ganz selten bei ihm, dass er mit einer Opern-Erstkomposition generell so unzufrieden war, dass er sie dann nochmal komplett umgekrempelte. Das gibt es nur dreimal bei ihm: Beim heute völlig vergessenen Aroldo/Stiffelio, bei der Forza del Destino (Lombardi/Jerusalém war eine Bearbeitung durch Verdi nur auf Wunsch der Pariser Opéra und nicht seine Herzensangelegenheit) und bei Simon Boccanegra.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: der junge Verdi/Wikipedia

Verdis Simon Boccanegra stammt von 1857, bis zur zweiten Fassung liegt ein Vierteljahrhundert. 1857 kam die Oper nicht so gut an, weil Verdi eben schon seiner Zeit sehr voraus war, seine Zuhörer mit seinen kompositorischen Neuheiten auch überforderte. Also hat er dann ein Vierteljahrhundert später in den 1880er Jahren das Werk nochmal aufgegriffen und es dann komplett seinem Spätstil angepasst. Otello ist gar nicht so weit weg, und diese neue Fassung gehört natürlich jetzt zum allgemeinen Opern-Kanon. Die erste von 1857 spielt so gut wie niemand.

Warum nun also eine Neuaufnahme?  Einer der wichtigsten Gründe dafür ist vielleicht, dass man hier einen ganz unschätzbaren Einblick in die Werkstatt von Verdi bekommt. Wir lernen wie sich Verdis Denken mit den Jahrzehnten wandelt, was ihm dann später nicht mehr gefällt und was er eben auch noch mag. Es gibt im Boccanegra Passagen, die er überhaupt nicht veränderte. Es ist total faszinierend, dieses vertraute Werk „anders“ zu hören. Verdi hat nicht nur ein paar Stellen verändert, sondern selbst da, wo er ein thematisches Grundgerüst stehen lässt, gibt es oft rhythmische Veränderungen, gelegentlich andere Tonarten und auch andere Instrumentierung. Im Endergebnis klingt dieser „alte“ Boccanegra oft jugendlicher, heller, weniger harsch als der neue und damit natürlich auch für uns eingängiger.

Der Plot ist zwar leicht überarbeitet, aber die Geschichte selbst ändert sich nicht. In beiden Fassungen geht es um die Biografie des Dogen Simone Boccanegra. Die Oper erzählt von seinem Aufstieg, seinem sehr kurzen Glück mit seiner wiedergefundenen Tochter und eben auch seinem traurigen Ende durch Intriganten. Er stirbt dann natürlich, wie so oft bei Verdi. Da wird ja viel gestorben. Es ist vielleicht nicht der beste Plot, aber es gibt richtig große, emotionale und dramatisch packende Momente.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Mark Elder dirigiert die Oper nun zum dritten Male/Foto OR Duncan

Was mich jetzt besonders interessiert, ist, dass es in diesem frühen Boccanegra auch Musik gibt, die wir eigentlich so gar nicht kennen, die also komplett anders klingt als in der gängigen Fassung. Da ist ein ganz anderes erstes Finale. Später hat er sich entschieden, dies völlig neu zu komponieren. Außerdem wird man in der Erstfassung auch Passagen entdecken, die er später gestrichen hat. Es gibt eine sehr schöne Cabaletta für Amelia, die weibliche Hauptfigur. Und man hört hier eben auch schon deutlich den mittleren Verdi, der Spaß an großen Chören hatte, also den Verdi des Trovatore, der große Tableaus auffahren lässt. Es ist schade, dass Verdi so etwas später mied.

Simon Boccanegra von 1857 ist vielleicht die ungewöhnlichste Alternativfassung einer Verdi-Oper überhaupt, was verwunderlich ist, weil sie auch die Fassung mit den meisten Abweichungen vom Original darstellt.

Und gerade weil diese Fassung weniger düster daherkommt, mit sehr großen, ausschwingenden Melodien, stärker noch im Belcanto verhaftet, hat das Ganze einen besonderen schwärmerischen Appeal, den die späte Fassung dann nicht mehr besitzt. Dieser Appeal geht bei dem grimmigen alten Verdi verloren. Und ich finde auch manche Lösungen wirklich überraschend, in der Urfassung interessanter als in der späten. Also zum Beispiel ist mir das absolut wunderbare Vorspiel aufgefallen, das Verdi später gestrichen hat. Und es gibt auch noch eine richtige Leitmotivik. Ich kann mir vorstellen, dass Verdi sowas später nicht mehr gemocht hat, weil dann ja die Wagnerianer kamen und er sich dem Vorwurf, dazu zu gehören, nicht aussetzen wollte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: auf dem Roman von Antonio GGarcia Gutierrez beruhte die Handlung/Madrid Museo Arqueologico

Übrigens gibt es die Erstversion ebenfalls bei Opera Rara: eine BBC-Übernahme unter dem Dirigenten John Matheson (Bruscantini, Ligi). Aber diese neue ist die erste unter den Voraussetzungen der kritischen Verdi-Ricordi-Ausgabe eingespielte. Der Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus und das Hallé-Orchester unter Mark Elder bestreiten diese Neuaufnahme der Erstfassung.  Sicher sind Besetzungen mit Kiri Te Kanawa oder Mirella Freni eleganter, Eri Nakamuras Maria ist da im Vergleich in den Höhen vielleicht etwas grell, in den Einsätzen nicht immer ganz sicher. Aber insgesamt ist diese Aufnahme frappierend gut besetzt. Frappiert auch deshalb, weil Opera Rara sonst zwar oft hochinteressante Projekte macht, aber eben oft zweitrangige Besetzung bietet, gelegentlich recht enttäuschend. Deswegen muss man zu ihrer Verteidigung sagen, dass nicht so viele Weltstars bei OR singen, weil das englische Label sich von Spendengelder und den Verkauf finanziert und nicht durchweg große Namen auffahren kann. Und manchmal klingt das auch recht insular…

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Leone Giraldoni war der erste Titelsänger/Ipernity

Aber hier hat man eben sehr frische Stimmen, unbekannte, relativ unbekannte Sänger versammelt. Und man erlebt, was ein begeistertes Team leisten kann, das sich exzellent in Verdis frühen Stil eingearbeitet hat. Das zeigt diese Aufnahme. Germán Enrique Alcántarain in der Titelrolle hat mir super gefallen. Dies ist wirklich ein Boccanegra, der auch in der späteren Fassung Ehre einlegen würde, umso mehr in dieser raren Urfassung. Und eine große Überraschung war für mich Iván Ayón-Rivas, der Tenorheld, der schon vorher bei der Firma mitgesungen hat und der sich hier sich so richtig entfaltet. Hier hört man absolut großen Verdi. Dazu kommen William Thomas (ein sonorer Jacopo Fiesco), Sergio Vitale (ein etwas blasser Paolo Albiani) und  David Shipley (Pietro).  M. K./G. H.

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Verfügbares: Wie so oft gilt auch hier, dass man selten etwas zum ersten male hört. Die im eigenen Katalog geführte ältere BBC-Aufnahme des originalen Simon Boccanegra ist ein Mitschnitt des Konzertes in der Londoner Golder´s Green Hall von 1975 mit dem sehr packenden Sesto Bruscantini und Josella Ligi unter John Mathesons wie stets genialer Leitung. André Turp bleibt als Gabriele Adorno etwas blass (ehemals UORC, Ponto und andere; recording of a BBC concert performance of the 1857 version before an invited audience in the Golders Green Hippodrome on 2 August 1975 and broadcast on 1 January 1976).

1989 spielte man erstmals auf dem europäischen Festland im italienischen Martina Franca (wirklich eine Pionier-Location) die Fassung unter Renato Palumbo mit Warren Mok als Gabriele (trocken)und Vittorio Vitelli als Doge (sehr ordentlich), dazu kamen Francesco Ellero D´Artegna als Fiesco (stets sonor) und Annalisa Raspagliosi (Maria) – sehr verdienstvoll, nicht unrecht, aber wirklich nicht aufregend und einem frühen Verdi nicht gerecht bei stumpfer Open-air-Akustik aus dem Innenhof des Palazzo Ducale, damals (fälschlicherweise) als moderne Erstaufnahme bei Dynamic etikettiert (den BBC-Mitschnitt gab es nur auf grauen Platten und erst recht spät bei Opera Rara im Zuge der Matheson-Erstversionen wie Don Carlos oder Forza del Destino).

Aber in neuerer Zeit gab´s den originalen Boccanegra doch einige Male, so zuletzt beim tapferen Verdi-Festival in Parma 2002 mit Vladimir Stoyanov, Riccardo Zanellato, Piero Pretti und Roberta Mantegna unter Riccardo Frizzas sehr schwerer Hand bei der RAI. Auch hier akustisch nicht wirklich aufregend und im Ganzen eher solide Mittelklasse.

Im Konzert machte Covent Garden den frühen Boccanegra 1995 mit Jose Cura als Adorno, Anthony Michaels Moore in der Titelrolle sowie mit Alistair Miles und Amanda Roocroft unter Mark Elder, radioübertragen.

Ebenfalls radio-dokumentiert hörte man am selben Haus 1997 hochbesetzt Placido Domingo (Adorno, später erschreckte er mit der Titelrolle selbst), Sergei Leiferkus (Simon Boccanegra), Jaako Ryhanen (Fiesco), Kallen Esperian (Maria), am Pult erneut Mark Elder, auch hier sehr kompakt und wenig Trovatore nah. Das gilt für mich für alle seine Boccanegra-Dokumente (auch auf der neuen Aufnahme bei Opera Rara), und ich finde, dass für den früheren Verdi nicht transparent genug, nicht federnd genug, nicht kongenial  dirigiert. Da braucht es andere, jüngere vielleicht auch.

Opera Rara torpediert gerade den eigenen Verkauf etwas, indem sie die Neuaufnahme bei youtube im eigenen Kanal ins netz stellt. Youtube hat zudem einiges an Ausschnitten aus der Erstfassung, so Elizabeth Woods im Konzert mit Amelias Arie 2009 () sowie das Vorspiel zum 1. Akt unter Chailly von seiner Decca-CD. G. H.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Nun also Roger Parker: Mit neuen Ohren hören – der „neue“ Simon Boccanegra. Versuchen wir einmal ein Gedankenexperiment. Was würden wir heute von Verdis ursprünglichem Simon Boccanegra halten, der 1857 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde, hätte er sich nicht entschlossen, die Oper mehr als 20 Jahre später zu überarbeiten? Die ursprüngliche Fassung war das Herzstück eines Trios von außerordentlich vielfältigen Werken aus den späten 1850er Jahren. Zuerst entstand Les Vêpres siciliennes („Die sizilianische Vesper“, 1855), geschrieben für Paris als expliziter Versuch, die von Meyerbeer berühmt gemachte Operngroßartigkeit nachzuahmen und diese zu übertreffen. Dann folgte Boccanegra, der zur italienischen Tradition zurückkehrt, aber nur wenige offensichtliche Vorbilder bei Verdi oder anderen hat und am besten als strenger Versuch beschrieben werden kann , eine schlanke, italienisch anmutende Avantgarde zu schaffen. Und schließlich kam Un ballo in maschera („Ein Maskenball“, 1859), das den radikalen neuen italienischen Stil von Boccanegra weitgehend aufgibt und auch eine Rückkehr zu französischen Vorbildern zeigt, diesmal jedoch eher zur Sprache der opéra comique als zu der Meyerbeerschen. Von diesen drei Werken hatte nur Un ballo in maschera eine gewisse Dauerhaftigkeit im damals entstehenden internationalen Repertoire. Insbesondere Boccanegra verschwand bald aus dem Blickfeld und wäre ohne Verdis Überarbeitung von 1881 (die heute meist zu hörende Fassung) sicherlich für viele Jahrzehnte unaufgeführt geblieben.

Allerdings wäre Boccanegra in seiner ursprünglichen Fassung von 1857 dann sicherlich wiederaufgenommen im 20. Jahrhundert worden – wie so viele vergessene Opern Verdis, da seine düstere Intensität zweifellos starken Widerhall in den sich wandelnden Zeiten dieses Jahrhunderts gefunden hätte. Doch diese Rehabilitierung blieb aus: Die Präsenz von Verdis Überarbeitung von 1881 hat dies wirksam verhindert.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

So überwältigend war unser Glaube an die Idee des Fortschritts in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – eben an die Idee, dass das Genre, insbesondere in Verdis Händen, im Laufe des Jahrhunderts dramatisch gereift, ernster und respektabler geworden sei –, dass die ursprüngliche Boccanegra fast vollständig zugunsten seines  späteren, moderneren Bruders ignoriert wurde. Es gab zwar gelegentliche Wiederaufführungen, aber sie konnten sich nie ganz aus dem Schatten der späteren Gedanken des Komponisten befreien. Schließlich hat Verdi, so heißt es, die Partitur überarbeitet, weil er mit dem Original unzufrieden war; welches Recht haben wir, eine so ehrwürdige und maßgebliche Entscheidung in Frage zu stellen? Schon ein kurzer Blick auf den Kontext der Überarbeitung, ja sogar auf Verdis Überarbeitungen im Allgemeinen, lässt vermuten, dass die Sache nicht ganz so einfach ist.

Zum einen wurden alle größeren Überarbeitungen von Verdis italienischsprachigen Opern (Macbeth, Stiffelio und Simon Boccanegra) in erster Linie aus praktischen Gründen vorgenommen. Jede der fraglichen Opern war aus dem Repertoire gefallen, und Verdi, ermutigt durch seinen Verleger Ricordi, nutzte die Überarbeitung als Gelegenheit, sie zu aktualisieren, wobei er teilweise radikale Anpassungen an ihrer musikalischen Sprache vornahm, um sie einem Publikum mit unvermeidlich veränderten Erwartungen neu zu präsentieren.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Eine solche Haltung ist aus seiner Sicht verständlich. Er arbeitete in einer Welt, in der die Idee der „Repertoireoper“ noch in den Kinderschuhen steckte und neue Werke nach wie vor das prestigeträchtigste Element der Opernszene waren. In einem solchen kulturellen Umfeld bedeutete die Einstufung als veraltet, (oft) als erfolglos. Was war also wahrscheinlicher, als dass Verdis Aufgabe bei seinen Überarbeitungen darin bestand, die rückständigsten eines Werkes gewaltsam auf den neuesten Stand zu bringen? Vor allem aus diesem Grund schien es ihm bei seinen Überarbeitungen wenig wichtig zu sein, stilistische Unstimmigkeiten zu vermeiden, und er blieb weitgehend gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass seine Überarbeitungen oft seltsame anachronistische Dissonanzen hervorbrachten.

Es gibt berühmte Beispiele aus verschiedenen Phasen seiner Karriere, eines der offensichtlichsten ist Lady Macbeths Arie „La luce langue“, die 1865 für die Pariser Überarbeitung von Macbeth hinzugefügt wurde, fast 20 Jahre nach der Uraufführung des Werks in Florenz. „La luce“ versucht nicht, sich an die musikalische Atmosphäre der späten 1840er Jahre anzupassen, sondern ist vielmehr eines der radikalsten Stücke – orchestral und harmonisch –, die Verdi selbst Mitte der 1860er Jahre geschrieben hatte.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Figurine/Ricordi archivio storico

Das Gleiche gilt für die Überarbeitungen von Boccanegra aus dem Jahr 1881, in denen praktisch alle neuen Ergänzungen stilistisch eher auf die letzten Opern, Otello und Falstaff, als auf die Welt der damals fernen 1850er Jahre verweisen. Beispiele dafür finden sich in fast jeder Nummer der Oper, insbesondere im Prolog und im ersten Akt. In die karge, schlanke Orchestrierung und die strenge Deklamation der Fassung von 1857, die oft an Il trovatore in seiner strengsten Form erinnert, fügte Verdi 1881 Passagen mit überraschenden Instrumentalfarben und flüchtigen lyrischen Ausbrüchen ein, die sehr stark in die Richtung gingen, die einige Jahre später mit Otello zum Markenzeichen seines Spätstils werden sollte.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Boccanegras, im Finale des ersten Aktes, ist die klassische Illustration. Aus der Perspektive der frühen 1880er Jahre erklärte Verdi in Briefen, dass sein Finale von 1857 „Erleichterung, Abwechslung und mehr Leben“ brauche; und er ersetzte es durch die berühmte Ratsszenen mit ihren leidenschaftlichen Appellen an die Einheit Italiens. Natürlich ist sein Finale von 1881 großartig.

Aber es sei daran erinnert, dass es nicht nur eine durchweg „späte“ Musiksprache aufweist, sondern auch auf akut zeitgenössische Themen, insbesondere auf die zerrissene Politik und die extravaganten Ambitionen des neu gegründeten italienischen Staates hindeutet. In seinem musikalischen Stil und seiner politischen Resonanz ist es mit anderen Worten sehr stark von seiner Zeit geprägt.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Karikatur von Francesco Maria Piave/Ricordi archivio storico

In diesem Zusammenhang könnte man dem Finale von 1857 eine ganz andere Stimmung unterstellen: Es handelt sich nicht um einen minderwertigen ersten Entwurf, sondern um einen höchst originellen Versuch, das zentrale italienische Finale der frühen 1850er Jahre neu zu konzipieren, in dem die Vielfalt der Ausdrucksformen vergleichsweise wenig Platz hat und in dem die Ökonomie der Komposition und die Düsternis des Tons extrem ausgeprägt sind. Und auch diese Stimmung könnte man als zeitgemäß betrachten, in diesem Fall als passend zur düsteren, konterrevolutionären Atmosphäre der späten 1850er Jahre, in der die Hoffnung auf ein neues Italien auf einem Tiefpunkt stand.

Mit anderen Worten: Es ist leicht zu verstehen, warum Verdi – der mit zunehmendem Alter und zunehmendem Ruhm sich der politischen Resonanz seiner Opern immer bewusster wurde – das Bedürfnis verspürte, 1881 eine so radikale Änderung vorzunehmen. Aber aus unserer Sicht, anderthalb Jahrhunderte später, wo beide Stimmungen nur noch historische Spuren sind, kann man eine automatische Präferenz für eine Version gegenüber der anderen nur dadurch ermöglich, dass man sowohl die musikalische als auch die historische Entwicklung Verdis ignoriert.

Solche Argumente lassen sich auch für die anderen wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Fassungen von Boccanegra anführen, in denen die Version von 1857 stets zu kräftigeren Farben, einer größeren Ökonomie der Ausdrucksweise und vor allem zu einer größeren Zielstrebigkeit neigt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ist Verdi 20 Jahre später immer und zwangsläufig besser? Ist Aida besser als Il trovatore? Ist Otello besser als Don Carlos?

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ratssaal im Palazzo degIi Abati, 1. Akt, 2. Szene, Bühnenbild von Girolamo Magnani/Ricordi archvio storico

Solange wir nicht weiterhin passiv die alte Vorstellung von der allmählichen Reifung der italienischen Oper unterstützen, kann es keine eindeutigen Antworten geben. Die meisten Liebhaber des Komponisten würden sicherlich argumentieren, dass solche Wertfragen zumindest stark von der Qualität der Aufführung und vielleicht ebenso sehr von der Beschaffenheit des Publikums abhängt – davon, wer es ist, wo es sich befindet und von der (politischen oder allgemein kulturellen) Stimmung, die es umgibt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Fassung von Boccanegra mit Engagement und einem Bewusstsein für ihre stilistischen Besonderheiten aufgeführt wird, kann uns die Aufführung vor wichtige Fragen stellen, die sich sogar auf den gesamten Komplex ausweiten könnten, ob Verdis Überarbeitungen nicht nur Neukonzeptionen, sondern sogar Verbesserungen sind. Verdi  selbst sah sie zwar nur als solche, aber die Zeiten ändern sich, und mit ihnen ändern sich auch die Bedeutungen, die wir Kunstwerken entnehmen können. In diesem Zusammenhang könnte der „alte“ Boccanegra ganz plötzlich frisch und „neu“ werden, genauso dringend an unsere Zeit angepasst wie sein Nachfolger.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Ankündigung der Uraufführung/Ricordi archvio satorico

Hintergrund: Dies ist nicht der Ort für eine detaillierte Darstellung der Entstehungsgeschichte von Simon Boccanegra. Kurz gesagt beschloss Verdi, eine Oper für die Karnevalssaison 1856/57 zu schreiben, zögerte jedoch, sich auf ein Theater oder ein bestimmtes Thema festzulegen, wahrscheinlich weil er noch über die Möglichkeit, eine Version von König Lear zu schaffen. Schließlich entschied er sich jedoch, zu dem Autor zurückzukehren, der ihn zu Il trovatore inspiriert hatte, dem spanischen Dramatiker Antonio García Gutiérrez, und vertonte dessen Drama Simón Bocanegra von 1843. Sein Librettist war wie üblich der langmütige Francesco Maria Piave (Librettist von Macbeth, Rigoletto, La traviata und einem halben Dutzend weiterer Verdi-Opern), wenn auch mit etwas Unterstützung in letzter Minute von Giuseppe Montanelli, einem toskanischen Dichter und politischen Exilanten. Die Uraufführung fand am 12. März 1857 im Teatro La Fenice in Venedig statt, mit einer Besetzung mit Leone Giraldoni (Boccanegra), Giuseppe Echeverria (Fiesco), Luigia Bendazzi (Amelia) und Carlo Negrini (Gabriele). Die Oper war bekanntlich kein Erfolg. Verdi berichtete mehreren Korrespondenten sofort in etwa mit den gleichen Worten.  Ein Brief an den Impresario Vincenzo Torelli in Neapel hat mehr als nur einen Hauch von theatralischer Übertreibung: „Der Karneval in Venedig war schön, die Theatersaison bisher gut, aber gestern Abend begannen die Schwierigkeiten: Es war die Premiere von Boccanegra, und es war ein Fiasko, fast so groß wie das von La traviata. Ich dachte, ich hätte etwas Passables geschaffen, aber anscheinend habe ich mich getäuscht.§

Wie üblich zeigten die Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften ein sehr breites Spektrum an Meinungen. Was jedoch kaum Zweifel hinterlässt, ist, dass die Hauptsänger applaudiert wurden und dass die „stumpfe Reaktion“ des Publikums vor allem durch die insgesamt düstere Farbgebung des Dramas und durch seine unkonventionelle Gesangsführung hervorgerufen wurde, wobei ein Großteil der Partitur die Traditionen des Belcanto ablehnte und stattdessen eine deklamatorische Vortragsweise einsetzte, nicht zuletzt in der Komposition für den Protagonisten der Oper.

Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Coronation of the Doge on the Scala dei Giganti Giambattista Brustolo/V&A Museum

Vielleicht auch wegen dieser gleichgültigen Aufnahme überwachte Verdi persönlich eine frühe Wiederaufnahme der Oper bei der Einweihung des Teatro Municipale in Reggio Emilia am 10. Juni 1857, nur drei Monate nach der Premiere in Venedig. Er nahm sich die Mühe, an den Proben teilzunehmen, verbrachte den größten Teil eines Monats vor Ort und nahm dabei einige Änderungen an seiner Partitur vor, sowohl musikalische als auch szenische. Bis Anfang der 1870er Jahre fanden noch eine Reihe weiterer Wiederaufnahmen statt, insgesamt vielleicht 40. Obwohl es gelegentliche Erfolge gab, nicht zuletzt in Reggio Emilia, war die Resonanz an vielen bedeutenden Orten (insbesondere an der Mailänder Scala im Januar 1859) bestenfalls lauwarm.

Nach dem Debakel an der Scala schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi in einer für ihn typische Mischung aus Trotz und Pessimismus: „Ungeachtet dessen, was Freunde und Feinde sagen, steht Boccanegra vielen meiner anderen Opern, die mehr Glück hatten, nicht nach, und das liegt daran, dass das Werk vielleicht eine raffiniertere Aufführung und ein Publikum braucht, das zuhören will; was für eine traurige Sache ist das Theater doch!“

Aber „das Publikum“ blieb unfähig oder zumindest unwillig, die ungewöhnlichen Qualitäten der Oper zu würdigen; im Allgemeinen wurde Boccanegra als „Problemstück“ bekannt und wurde in den renommiertesten Theatern gemieden. Schon bald beschränkten sich die Wiederaufführungen meist auf kleinere Spielstätten, und selbst diese versiegten Anfang der 1870er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt schmiedete die Firma Ricordi, die die Oper unbedingt weiter fördern wollte, Pläne für eine gründlichere Überarbeitung, die schließlich 1881 das Licht der Welt erblickte.

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Zu Verdis „Simon Boccanegra“ 1857: Parma 2022/Szene/Foto Roberto Ricci

Die neue Edition:  Unsere Ausgabe von Simon Boccanegra von 1857, die Ricordi (der noch immer existiert und sich für die Opern des Komponisten einsetzt) beim Verfasser dieses Artikels in Auftrag gegeben hat, ist die erste, die auf Verdis autographischer Partitur dieser Fassung basiert und die erst vor wenigen Jahren für Wissenschaftler zugänglich wurde. Alle früheren Fassungen mussten sich auf die fast zeitgenössische Ricordi-Vokalpartitur und verschiedene Manuskript-Kopien stützen. Diese Quellen sind größtenteils zuverlässig in der Wiedergabe der von Verdi geschriebenen Noten, aber in Bezug auf Dynamik, Phrasierung und andere Aspekte der Artikulation sind selbst die besten von ihnen nur annähernd und lassen häufig wesentliche Details vermissen. Die autographen Materialien stellen somit eine reichhaltige neue Quelle dar, die zeitgenössischen Interpreten erstmals die Möglichkeit bietet, viele von Verdis detailreichen musikalischen Anweisungen zu befolgen. © 2025 Roger Parker/G. H.

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VERDI: SIMON BOCCANEGRA 1857 VERSION (ORC65): The Hallé | Sir Mark Elder, conductor; Germán Enrique Alcántara (Simon Boccanegra); Eri Nakamura (Amelia); William Thomas (Jacopo Fiesco)Iván Ayón-Rivas (Gabriele Adorno); Sergio Vitale (Paolo Albiani); David Shipley (Pietro); Amelia’s Maid (Beth Moxon); Chorus of Opera North and Royal Northern College of Music Opera Chorus

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Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Dank an Roger Parker, uns seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme bei Opera Rara zu überlassen! Roger Parker ist Repertoireberater bei Opera Rara. Er ist emeritierter Professor für Musik am King’s College London und lehrte zuvor in Cornell, Oxford und Cambridge. Er ist (zusammen mit Gabriele Dotto) Herausgeber der kritischen Ausgabe von Donizetti, die bei Ricordi erschienen ist. Seine jüngsten Bücher sind „Remaking the Song: Operatic Visions and Revisions from Handel to Berio“ (University of California Press, 2006) und A History of Opera: The Last Four Hundred Years (Penguin, UK/Norton, US, 2012), das er gemeinsam mit Carolyn Abbate verfasst hat. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Musik in London in den 1830er Jahren und an einer kritischen Ausgabe von Donizettis Solo-Liedern. Von 2013 bis 2018 war er Direktor des vom ERC geförderten Projekts „Music in London, 1800–1851“ am King’s College. (Abbildung oben: Venedigs Doge Leonardo Loredano von Giovanni Bellini/Wikipedia)

Triumph der Gerechtigkeit

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Der Musikfreund kennt Händels Oratorium Athalia (1733), aber wohl kaum das gleichnamige Werk des in Lucca geborenen Komponisten Francesco Gasparini, das 1692 in Rom uraufgeführt wurde. Die Libretti beider Werke fußen auf Racines Tragédie von 1691 Athalie. Während für Händel Samuel Humphreys den Text erstellte, ist der Verfasser bei Gasparini unbekannt.

Erzählt wird die Geschichte der machtbesessenen Königin Atalia, die ihre eigene Familie, darunter den Sohn Ochozia, König von Judäa, töten ließ, um die uneingeschränkte Herrschaft über Jerusalem zu erlangen. Sieben Jahre später verbindet sich der Sacerdote mit General Ormano und der alten Nutrice, um den kleinen Joas, der das Massaker als Einziger überlebt hatte, auf den Thron zu bringen.

In jüngster Vergangenheit haben einige Sopranistinnen und Countertenöre Arien aus Gasparinis etwa 60 Opern in die Programme ihrer Recitals aufgenommen. Als komplette Einspielung liegt aber nur Il Bajazet vor.

Mit der Veröffentlichung der Atalia sorgt das Label CVS erneut für eine Novität auf dem Musikmarkt. Die Aufnahme entstand im Januar 2024 in Versailles und liegt auf einer CD mit reich ausgestattetem Booklet vor (CVS147). Das Ensemble Hemiolia und sein Leiter, der Geiger Emmanuel Resche-Caserta, sorgen für eine packende Wiedergabe der Musik, die ihren Reiz aus virtuosen Arien und affektreichen Instrumentalstücken bezieht. Als Sinfonia dient Arcangelo Corellis Concerto grosso Nr. 5 op. VI – ein stimmungsvoller, kontrastreicher Einstieg mit Musik eines Zeitgenossen Gasparinis.

Die französische Sopranistin Camille Poul formt die Titelpartie höchst eindrucksvoll. Sie hat zu Beginn des ersten Teils gleich drei Soli zu absolvieren, in denen ihre strenge, aber klangreiche Stimme sich prominent präsentieren kann. Vor allem „Destatevi à l´armi“ zeigt ihre energische Entschlossenheit, die Macht zu besitzen und nicht teilen zu wollen. In „Ah nemico del mio ben traditor“ wird sie geradezu zur rasenden Furie. Höhepunkt ihrer Interpretation ist der Monolog zu Beginn des 2. Teils, „Ombre, cure, sospetti“, in welchem sie die Zustände von Angst und Schmerz eindringlich formuliert. Auch „Oh che fierezza!“ am Ende, wenn Atalia von Schreckensvisionen heimgesucht wird und auf Geheiß des Oberpriesters ihr Leben lässt, ist ein packender Moment. Der Szene folgt ein majestätischer Choeur, „O mirabil Providenza!“, von monteverdischem Zuschnitt.

Bastien Rimondi ist ein recht junger Interpret für den Ormano. Der weiche lyrische Tenor lässt schmeichelnden Wohllaut hören, verleiht der Figur edlen Zuschnitt. Seine Soli „Vado, man ben t´inganni“ und „Lascia di paventar“ sind von purer Schönheit. Ein Star im Ensemble ist der italienische Bariton Furio Zanasi als Sacerdote den er mit resonanter Stimme plastisch porträtiert. Mit der Kontraaltistin Mélodie Ruvio als kultivierter Nutrice wird die Besetzung eindrucksvoll komplettiert. Allen Barockfreunden sei diese Neuaufnahme dringend empfohlen (06.06.25) Bernd Hoppe

 

 

Weder klassisch noch modern

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Keine Sorge, die gleich dreifach als Cover für Blu-ray-Kassette, Booklet und auf der Silberscheibe  abgebildete, für den Sopran recht unvorteilhafte Szene kommt während der im Jahre 2014 stattgefunden habenden Aufführungen im Liceu von Barcelona gar nicht vor, und auch sonst scheint Unentschlossenheit das Wirken des Regisseurs Vincent Boussard bestimmt zu haben. Die schlägt sich einmal schon in den Kostümen von Christian Lacroix nieder, der sich nicht zwischen Moderne, Rokokoperücken und Mühlsteinkragen aus dem späten Mittelalter entscheiden konnte, während die Szene ( Vincent Lemaire) eine extrem dürftige ist mit ab und zu einer Bank oder einem Tisch und im Vordergrund einem Thronsesselchen, keinem Choreographen für den letzten Akt, und im Hintergrund senkt und hebt sich immer mal wieder eine Wand, lässt oft nur Beine oder Körper ohne Kopf sehen, was gegenüber dem Sopran gegenüber äußerst uncharmant ist, weil es ihn nicht gerade optimal erscheinen lässt. Zur Ulrica begibt man sich, wohl weil es schon spät ist, in Schlafanzügen, und warum eine Glühbirne zum Mond mutiert, bleibt das Geheimnis des Regisseurs, der zwischen der Scylla der modernen und der Charybdis der klassischen Regie hilflos umhersegelt und die Sänger allzu oft völlig im Stich lässt. Dafür haben sie alle Möglichkeiten, sich für ihre Arien in Positur zu stellen, was sicher nicht nur sie selbst, sondern auch der Hörer zu schätzen weiß. Bevor man zu ihnen kommt, muss man noch zur Kenntnis nehmen, dass der Video Direktor Fabrice Castanier keine gute Arbeit geleistet hat, Großaufnahmen von Nasenlöchern oder verwackelte Aufnahmen vom Publikum lassen einmal mehr einen in Rente gegangenen, früher allgegenwärtigen Könner dieses Metiers vermissen.

Trösten kann man sich mit den Sängerleistungen, in erster Linie mit der von Piotr Beczala als Riccardo, der mit makellos strahlenden Höhen, großzügiger Phrasierung im Liebesduett, einem sehr schön-schmerzlichen „Invan tu celi, Amelia“ besticht, beim Intervallsprung nach unten allerdings im Fahlen landet und recht herbe „dolci canzoni“ vernehmen lässt. Wenn auch ein letztes Bisschen von melancholischem Schimmer in der Stimme fehlt, so ist seine Leistung doch eine überaus achtbare. Ein bewährter Verdisänger ist seit langem Carlos Álvarez, dessen Bariton großzügige Bogen spannen kann, der über eine vorzügliche Diktion verfügt, machtvoll den Ruf nach Vendetta anführt und fermatenreich sein „Eri tu“ bewältigt. Viel attraktiver, als das unselige Cover vermuten lässt, ist die Amelia von Keri Alkema, mit eine reichen, üppigen Sopranstimme begabt, die weich und melancholisch ihr „Morrò, ma prima in grazia“ singt, ihr Vibrato zu bändigen weiß und sogar das rote Spielzeugauto der Lächerlichkeit entreißt. Imponierender in der Tiefe als in der Höhe ist Dolora Zajick als Ulrica und orgelt eindrucksvoll damit, keinen bubenhaften, sondern sehr mädchenhaften Sopran besitzt Katerina Tretyakova für den Oscar, und Damián Del Castillo ist vehement bis ungehobelt der Silvano. Angemessen düster äußern sich Antonio Di Matteo und Roman Ialcic als Verschwörer. Der Chor kann sich wegen mangelnder oder fehlgeleiteter Regie weitgehend aufs allerdings sehr erfreuliche Singen konzentrieren (Conxita Garcia), Renato Palumbo weiß seine große Erfahrung im italienischen Fach (Wir sind ja nicht beim Freischütz in Berlin.) gewinnbringend einzusetzen und das Symphony Orchestra of  the Gran Teatre del Liceu (wie es im Booklet genannt wird) zum sicheren Sängerbegleiter zu machen (C-Major766804). Ingrid Wanja      

Prachtvoll

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 Die Serie seiner Einspielungen von Werken Jean-Baptiste Lullys setzt das Label Château de VERSAILLES mit der 1674 in Paris uraufgeführten Tragédie lyrique Alceste fort. Die Produktion erfolgte im Januar 2024 in Versailles im Zusammenhang mit einer konzertanten Aufführung des Werkes und liegt nun in einer luxuriösen Präsentation auf drei CDs vor (CVS 149). Sie folgt der letzten Aufnahme der Oper, die Christophe Rousset 2017 verantwortete.

Da war Stéphane Fuget noch als Cembalist im Team, der nun mit seinem Ensemble Les Épopées, das er 2018 gegründet hatte, als Mentor der Neuproduktion fungiert. Er sorgt für ein Klangbild von majestätischer Pracht. Das beginnt mit der gravitätischen Ouverture, setzt sich fort in den pastoralen Tänzen mit Rondeaus, Airs, Gavotten sowie Menuetten und bringt auch immer wieder einen heroischen Ton oder unerwartet harschen Akzent ein. Mit fahlen und düsteren ombre-Klängen wartet er im Pompe funèbre auf.

Eine exzellente Besetzung wird angeführt von Véronique Gens in der Titelrolle, die ihre stilistische Kompetenz für das französische Barockrepertoire einmal mehr unter Beweis stellt. Sie profiliert die Königin, die ihr Leben opfern will, um das ihres Gatten Admète zu retten, mit eindringlichen Tönen und flehentlichem Ausdruck. Der französische Tenor Cyril Auvity singt den König mit schmiegsamer Stimme anrührend und verletzlich. Alcide (Herkules), der die Königin liebt, bringt sie aus der Unterwelt zurück und gibt sie generös seinem Rivalen Admète zurück. Damit triumphiert Alcide über sich selbst, woraus sich der Untertitel des Werkes Le triomphe d´Alcide erklärt. Nathan Berg singt ihn mit reifem, expressivem Bassbariton.

Unter den zahlreichen Nebenrollen (Alcestes Vertraute Céphise, Admètes Vater Phérès, Diane, Apollon, la Gloire  sowie mehrere Nymphen) bewähren sich Camille Poul, Léo Vermot-Desroches, Claire Lafilliâtre, Juliette Mey und Cécile Achille. Der Choeur de l´Opéra Royal bietet als Najaden, Thessaliens, Bergers, Soldats assiégeants und Muses puren Wohlklang (06.06.25). Bernd Hoppe

Salieris „Cublai, gran kan de’ Tartari“

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Vor kurzem jährte sich der 200. Todestag Antonio Salieris (* 7. Mai 1825). Der Opernkomponist galt vielen lange als mittelmäßiger, von den Zeitgenossen überschätzter Mozart-Rivale. Jetzt erscheint pünktlich zum Jubiläum seine große Oper Cublai, gran kan de’ Tartari beim Label Aparté, am Pult steht Christophe Rousset. Eine  Gesellschafts- und Politsatire direkt aus der mittelbaren Mozart-Zeit: Geschrieben für Wien zwischen Don Giovanni und Cosi fan tutte. (M. K.)

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„Uraufführung der italienischen Originalfassung“: Cublai Kan, der Herrscher der Tartaren, hat eine ganze Menge Probleme am Hals: Seine Hofbeamten schmieden Komplotte gegen ihn, sein eigener Sohn ist so dümmlich, dass sich die Prinzessin des Nachbarlandes weigert, ihn zu heiraten, und zu allem Überfluss mischt auch noch ein italienisches Abenteurerpaar die Traditionen seines Landes auf. Antonio Salieris komische Oper Cublai, gran Kan de’ tartari, deren Libretto von Giambattista Casti stammt, spielt zwar scheinbar in Catai, doch sie schildert letztlich die Verhältnisse an den damaligen europäischen Fürstenhöfen, insbesondere am russischen Zarenhofe.

Mozart & Salieri/officialantoniosalieri/Instagram

Die zentrale Frage, die die Urheber der Oper im wahren Geiste der europäischen Aufklärung aufwerfen, ist der Umgang von Machthabern mit der Verantwortung, die diese für ihr Land tragen. Doch weil Russland Bündnispartner des römisch-deutschen Kaisers Joseph II. war, sagte der Monarch die Uraufführung mit Beginn der sog. Türkenkriege 1787 ab.

Damit geriet eine der ungewöhnlichsten Opern des 18. Jahrhunderts, die sich auf die Komödie der Commedia dell’arte beruft und in ihrer beißenden Satire Jacques Offenbachs Werken kaum nachsteht, für mehr als zweihundert Jahre in Vergessenheit.

Der Dirigent Christophe Rousset, der sich seit vielenJahren für das Musikschaffen Antonio Salieris einsetzt, zeichnet nun für die späte Uraufführung der italienischen Originalfassung von Cublai, gran Kan de’ Tartari verantwortlich. (Aparté)

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„Uraufführung der italienischen Originalfassung“ steht zu Recht im Booklet der neuen Ausgabe bei Aparté, denn „unerhört“ ist die Oper nicht. Bereits 1998 gab das mutige MainFranken-Theater Würzburg die Oper (als Kublai großer Khan der Trataren) in eigener deutscher Übersetzung von Cornelia Boese und in der Inszenierung von Ulrich Peters . Udo Wessiepe hatte sie mit Johan van Slageren ausgegraben. Letzterer  dirigierte auch den Abend. In der farbenfrohen Produktion sang immerhin Diana Damrau in ihrem ersten Engagement die Alzima.

Das Theater an der Wien brachte zudem das Werk in nicht immer kongenialer Veränderung – als „Uraufführung“ betitelt – im April 2024, Radio- und TV- übertragen (Carlo Lepore, Lauranne Oliva, Alaistar Kent, Dirigent Christophe Rousset; Inszenierung Martin Berger). 

Im Folgenden à propos der Neuaufnahme eine Rezension von Paul Korenhof, ein Blick auf Salieri von  Christophe Rousset (der ja bereits einige seiner Opern aufgenommen hat und der mit seiner kurzen Salieri-Würdigung hier zu Worte kommt) und den hochinformativen Artikel des Salieri-Spezialisten und -Biographen Tanu Jouko Herrmann aus dem luxiriösen Beiheft (das sogar – oh Wunder – Beiträge in Deutsch enthält, Dank an die französische Firma!). Nicht genug damit: Als eine Art Richtigstellung der geschichtlichen Wahrheit bringen wir schließlich ein Gespräch mit den Stretta-Geschäftsführern und Herausgebern von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe, die 1998 diese Oper für Würzburg ausgegraben und aufgeführt hatten.  G. H.

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Nun also Paul Korenhof: Im April 2024 fand im Theater an der Wien die Premiere von Cublai, gran can de‘ Tartari von Antonio Salieri nach einem Libretto von Giovanni Battista Casti statt. Eigentlich hätte diese Premiere bereits 1788 stattfinden sollen, ebenfalls in Wien, wo Salieri von 1774 bis 1792 als Intendant der Hofoper eine zentrale Rolle im Musikleben spielte. Das hinderte jedoch nicht den Kaiserhof daran, die Uraufführung zu verhindern, als Österreich 1787 in einen russisch-türkischen Krieg verwickelt wurde.

Ausschlaggebend für die politischen Überlegungen war vor allem der Charakter dieser „Opera eroicomico in due atti“, in der Castis Libretto die europäische monarchische Kultur auf wenig verhüllende Weise parodierte. Dass dabei vor allem die russischen Zaren verspottet wurden, dürfte dabei eine große Rolle gespielt haben. Für uns ist das heute schwer zu beurteilen, aber im Titelhelden, dem legendären Tatarenfürsten Kublai Khan, scheint man sogar eine Parodie auf den 1725 verstorbenen Peter den Großen erkannt zu haben.

Es ist klar, dass Salieris „Cublai“ in Text und Musik weit von der Oper seria des 18. Jahrhunderts entfernt ist, aber auch ein Vergleich mit den im gleichen Zeitraum entstandenen Komödien von Mozart und Da Ponte hinkt. Als Komponist fehlt für mich Salieri die Tiefe und Präzision, die sein jüngerer Kollege in seiner Musik zu erreichen wusste, während der Text von Casti durch die stärkere Betonung der Situationen gegenüber den Figuren vor allem mit italienischen Komödien unter dem Einfluss der Commedia dell’arte verwandt ist.

Salieris „Cublai-Kan“ in Wien 2024/ Foto Theater an der Wien/Herwig-Pramme

(…)  Als Christophe Rousset, der sich bereits zuvor als Fürsprecher Salieris profiliert hatte, dessen Cublai, gran Kan de‘ Tartari eine verspätete (italienische) Uraufführung bescherte, geschah dies in einer stark aktualisierten Inszenierung, in der auch der Komponist eine (Sprech-)Rolle erhielt. Die später auf CD erschienene Fassung ist jedoch originalgetreu, wobei die Rollen des Cublai, Timur und Posega mit anderen Solisten besetzt wurden. Anstelle des Arnold-Schoenberg-Chors wurde außerdem der Kammerchor von Namur engagiert.

Auf eine kurze Sinfonia mit leicht „türkischen“ Einflüssen folgt eine spritzige Abfolge von Chören, Rezitativen und relativ kurzen Arien und Ensembles, die manchmal auch ineinander übergehen. Dabei scheuen Casti und Salieri sich nicht, einen Sänger sich selbst unterbrechen zu lassen oder einer Arie eine zweite Stimme hinzuzufügen.

Komische Züge fehlen dabei nicht, aber auffällig ist, dass ich mehrfach Assoziationen zu Musik hatte, die Salieri unmöglich gekannt haben kann. So erinnert der Eröffnungschor an Rossinis L’Italiana in Algeri, die gesamte Atmosphäre der ersten Szene an den Anfang von Chabriers L’Étoile, und ein Terzett im zweiten Akt könnte sogar mit dem „trio patriotique“ aus Offenbachs La Belle Hélène verwandt sein (das wiederum eine Parodie auf ein Terzett aus Rossinis Guillaume Tell ist). Das mag alles Zufall sein, aber es ist bezeichnend für die Atmosphäre dieser „heroisch-komischen Oper“, die viel von einem „Offenbach avant la lettre“ hat.

Salieris „Cublai-Kan“ in Wien 2024/Foto Theater an der Wien/Herwig-Pramme

Das Ganze ist Christophe Rousset, dem Verfechter der Musik Salieris, der bereits durch seine feinsinnige Herangehensweise an heitere und komische Momente in der Musik des 18. Jahrhunderts aufgefallen ist, auf den Leib geschneidert. Unterstützt wird er dabei vom spritzigen Spiel von Les Talens Lyriques und einem Ensemble überwiegend junger Sänger mit hervorragenden Stimmen, Persönlichkeit, großem Sinn für theatralischen Humor und einer klaren Textbehandlung. Musikalische Komödie in Bestform!

Ohne einen Qualitätsunterschied suggerieren zu wollen, möchte ich zunächst zwei Solisten erwähnen. Da ist zunächst der Bass Mirco Palazzi als sonorer, niemals übertriebener Kublai Khan, der der Rolle trotz aller naiven Dummheit sogar etwas Sympathisches verleiht. An zweiter Stelle steht der ebenfalls nicht übertriebene Bariton Giorgio Caoduro, der sowohl in seinem Gesang als auch in seiner humorvollen Phrasierung an Renato Capecchi in der ersten Phase seiner Karriere erinnert.

Wie in einer Komödie über Eheprobleme zu erwarten, sind die Frauenrollen Musterbeispiele des Feminismus, allen voran Memma, die Italienerin, die mit ihrem frechen und entschlossenen Auftreten zur „serva padrona“ des gesamten Hofes von Kublai Khan wird. Die etwas weniger entschlossene Alzima von Marie Lys steht ihr in nichts nach und schmeichelt dabei dem Ohr mit schön ausgearbeiteten und fließend in den Gesang integrierten Koloraturen.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Ein Kapitel für sich ist die Travestierolle des Prinzen Lipi, den Lauranne Oliva mit einer schlanken, sehr jugendlich klingenden Sopranstimme als entzückenden Vorläufer von Oreste in (wieder einmal) La Belle Hélène darstellt. Eine ideale Sopranistin für Offenbach und die französische Operette, aber auch für Siebel in Faust und Cherubino in Le nozze di Figaro! Außerdem hören wir einen wohlklingenden, technisch hervorragenden Timur vom Tenor Anicio Zorzi Giustiniani und einen herrlich aufgeblasenen Posega vom Bariton Äneas Humm. Eine dankbare „Nebenrolle“ (die aber eigentlich mehr ist) hat der Bariton Fabio Capitanucci als Zeremonienmeister Orcano, der unter dem Einfluss zweier von ihm nicht besonders geschätzter Damen seine Macht immer mehr schwinden sieht.

Die Timbre von Memma und Alzima liegen für mich bei ihrer Konfrontation im zweiten Akt für die CD etwas zu nahe beieinander, aber die tieferen Männerstimmen sind immer mühelos voneinander zu unterscheiden. Das ist gerade bei diesem Werk wichtig, da Salieri recht spielerisch mit den Texten umgeht und Rezitative und Gesangsstücke nicht nur ineinander übergehen lässt, sondern manchmal sogar vermischt. Bei perfekter Balance suggeriert die Aufnahme zudem eine wohltuende Verbindung von Intimität und theatralischer Weite. Vielleicht mit etwas Hilfe von Rousset ist es Aparté gelungen, die Oper auf zwei CDs (77 und 84 Minuten) zu veröffentlichen, die in einem soliden, schlichten und ästhetisch ansprechenden Booklet verpackt sind.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Der Charakter einer Komödie mit Liedern, die das Tempo vorgeben (nur ein Duett von Alzima und Timur und die Finales dauern länger als dreieinhalb Minuten), und langen, aber flüssig vorgetragenen Rezitativdialogen ergab ein umfangreiches CD-Booklet mit über zweihundert Seiten Libretto in vier Sprachen, einer kurzen Einführung, eine nicht ganz korrekte Zusammenfassung und eine längere Erläuterung, alles dreisprachig. Die „Biografien“ beschränken sich auf den Dirigenten, das Orchester und den Chor, aber wer etwas über einen Sänger oder eine Sängerin wissen möchte, kann das heutzutage auch im Internet nachlesen. Kurz gesagt, ein Musikdrama auf dem Niveau von Mozart ist Cublai, gran Kan de‘ Tartari vielleicht nicht, aber mit den Komödien von Cimarosa und Pergolesi kann es sich durchaus messen. Auf jeden Fall habe ich mich schon lange nicht mehr so gut bei einer Oper amüsiert! Paul Korenhof/opusklassiek

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Dazu Christophe Rousset: Es ist immer schwer, ein Werk von Salieri aufzuführen. Diese Idee, dass er ein Komponist zweiten Ranges sei, ist in den Köpfen verankert – obwohl das völlig falsch ist. Die Beziehung zwischen Mozart und Salieri war eigentlich gut und von gegenseitigem Respekt geprägt. Die Vorstellung eines Konflikts zwischen den beiden ist falsch. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert – aus einer Zeit, als auch die Legende zunehmende Verbreitung fand, Salieri hätte Mozart aus Eifersucht auf dessen Genie vergiftet. Ich habe viel von Salieri dirigiert, auf Französisch, auf Italienisch, sowohl komische Opern als auch solche aus dem Genre der Opera seria.

Dirigent Christophe Rousset/©-Nathanael Mergui/Aparté

Er ist jemand, der als Komponist einen starken Charakter besitzt und immer versucht, etwas Neues zu liefern. In klanglicher und dramatischer Hinsicht war er äußerst erfindungsreich, die Formen werden in seinen Opern geschmeidig: In Cublai Kan kann eine Arie zum Beispiel mit einem Accompagnato-Rezitativ enden, eine dritte Person plötzlich in ein Duett hineinplatzen. In dieser Oper sind die Arien außerdem sehr kurz. Seine Musik spricht die gleiche Sprache wie jene von Mozart.

Vielleicht liegt ein Teil der Antwort nach der Frage (von Salieris geringerem Bekanntheitsgrad heute) darin, dass Mozart viel Kammermusik geschrieben hat, Salieri kaum. Wenn man damals ein Amateurmusiker war, konnte man daheim die Klaviermusik von Mozart spielen, seine Sonaten interpretieren und Lieder singen. Salieri hat dagegen fast nur große Werke geschrieben: Messen, Oratorien, Opern, aber kaum Musik für den Hausgebrauch. Vielleicht war dadurch die Wahrscheinlichkeit für Salieri höher, in Vergessenheit zu geraten.

Seine Werke besitzen Bedeutung. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen. Er hat damals auch regelmäßig mit Lorenzo Da Ponte gearbeitet, den man heute vor allem als Librettisten von Mozart kennt. Eigentlich hatte Da Ponte „Cosi fan tutte“ für Salieri geschrieben, nur fand der das Libretto zu schwach. Tja. (Lächelt.)/Stretta

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Der Komponist Antonio Salieri/OBA

Nun also Timo Jouko Herrmann: Der Zeit voraus – die Politsatire Cublai, gran kann de’ Tartari von Casti und Salieri. Die 1780er-Jahre waren für den kaiserlichen Kapellmeister Antonio Salieri eine Zeit künstlerischer Neuausrichtung. Im Anschluss an seine äußerst erfolgreiche Italienreise beschäftigte er sich mit deutschem Singspiel (Der Rauchfangkehrer, 1781), klassischer italienischer Opera seria (Semiramide, 1782) und französischer Tragédie lyrique (Les Danaïdes, 1784). Nach der Auflösung des „Deutschen National-Singspiels“ bot die Wiedereinrichtung der italienischen Oper Salieri die Möglichkeit, seine Tätigkeit in Wien wieder auszubauen. Die von ihm befürwortete Anstellung Lorenzo Da Pontes als Theaterdichter und das Engagement eines hervorragenden Sängerensembles sollte der italienischen Oper neuen Schwung verleihen.

Da Pontes erstes Libretto Il ricco d’un giorno war denn auch für Salieri bestimmt. Die Zusammenarbeit geriet jedoch zu einem Fiasko. Das Werk fiel beim Publikum durch, und jeder suchte die Schuld beim anderen. Angesichts des unerwarteten Misserfolgs lag es für Salieri nahe, sich Da Pontes Konkurrenten Giovanni Battista Casti zuzuwenden. Dieser hatte gerade für Paisiello das Libretto zu Il re Teodoro in Venezia geliefert und damit in Wien für Furore gesorgt. Die erste Begegnung von Casti und Salieri lag jedoch bereits länger zurück: Der Dichter war 1774 Teil des Autorenteams gewesen, das Goldonis Libretto zu La calamita de’ cuori für eine Vertonung durch Salieri revidierte. Gleich die erste große Zusammenarbeit Salieris mit Casti, La grotta di Trofonio, wurde zu einem immensen Erfolg. Das Werk erfuhr nach der Uraufführung am 12. Oktober 1785 zahlreiche Neuinszenierungen auf Bühnen in ganz Europa. Auf Wunsch Josephs II. entstand schon bald darauf der Einakter Prima la musica e poi le parole. Dieses Gelegenheitswerk wurde am 1. Februar 1786 in der Orangerie von Schloss Schönbrunn beim kaiserlichen „Frühlingsfest an einem Wintertage“ zusammen mit Mozarts Der Schauspieldirektor uraufgeführt.

Die positive Rezeption der auf Ereignisse des Wiener Theaterlebens anspielenden Satire, in der auch Da Ponte karikiert wurde, bestärkten Salieris in seinem Entschluss, an Casti als Textdichter festzuhalten. Er konnte nicht ahnen, dass keinesder folgenden gemeinsamen Projekte jemals auf die Bühne kommen sollte.

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Poster for a 1890 edition of Gli Animali parlanti by Italian poet Giovanni Battista Casti (1724-1803) with a portrait of the author/Wikipedia

Castis Libretto zu Cublai, gran kan de’ Tartari. Während seiner Reisen nach St. Petersburg in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre hatte Casti den Hof der Zarin Katharina II. kennengelernt und seinen Poema tartaro konzipiert. Diese beißende Satire auf die skandalösen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland wurde von ihm um das Jahr 1783 fertig ausgearbeitet.

Nicht nur die Zarin, auch andere gekrönte Häupter und geistliche Würdenträger werden in diesem Versepos kritisiert. Als aufgeklärter Geist wurde Casti hellhörig, wenn die absolute Monarchie mit Hilfe der Kirche alle Macht im Staat auf den Souverän konzentrierte. Er fürchtete die Gefahren einer aufkommenden Autokratie, nicht zuletzt deswegen sympathisierte er später mit den Idealen der Französischen Revolution. Nach weiteren Reisen durch Europa kehrte Casti im Oktober 1783 nach Wien zurück. Er machte sich Hoffnungen auf den Posten des kaiserlichen Hofpoeten, der nach dem Tod Metastasios vakant geblieben war.

Die Chancen standen nicht schlecht, war Kaiser Joseph II. dem scharfzüngigen Dichter doch durchaus wohlgesonnen. Bereits 1769 hatte er ihn in Florenz kennen- und schätzen gelernt und nach Wien eingeladen. Der Erfolg der bereits erwähnten Opern Il re Teodoro in Venezia und La grotta di Trofonio hatte Castis Qualitäten als Librettist offenbart und seine Position gegenüber Da Ponte gefestigt. Im Frühjahr 1786 fasste er Mut und präsentierte dem Kaiser den Poema tartaro. Joseph II. erkannte schnell die politische Sprengkraft des Gedichts und verfügte, dass Casti das Werk nicht in fremde Hände geben dürfe. Die eben noch fast greifbare Stelle des „Poeta cesareo“ war in weite Ferne gerückt, und Casti entschied sich, Wien zu verlassen und nach Italien zu reisen.

Etwa um diese Zeit herum war er wohl an Salieri mit der Frage herangetreten, ob dieser Interesse habe, das gerade im Entstehen begriffene Libretto Cublai, gran kan de’ Tartari zu vertonen. Bisweilen ist zu lesen, bei diesem Textbuch handele es sich um ein bloßes Derivat des Canto XI. aus dem Poema tartaro. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Casti nur die Namen mancher Personen und einige allgemeine Ideen daraus übernommen hat. Cublai erweist sich vielmehr als eigenständige Satire auf Peter den Großen und seinen Hofstaat, die nebenbei mit ganz allgemeiner Kritik an Adel und Klerus gespickt ist.

Ließ den Librettisten Casti nach anfänglicher Gunst ausweisen: Joseph II. um 1775 (Gemälde von Anton von Maron)/Wikipedia

Castis Sprache hat nichts mit den elegant abgezirkelten, bildreichen Versen eines Metastasio gemein. Sein Cublai lebt von einer schonungslosen Direktheit, von schnellen Dialogen und filmartig-abrupten Szenenwechseln. Ähnlich wie in Beumarchais’ Tarare fungiert die exotische Szenerie des Stücks nur als Deckmantel für den satirisch-kritischen Inhalt, orientalisierendes Kolorit wird man in Cublai vergeblich suchen.

Castis Figurenkonstellation unterscheiden sich fundamental vom damals üblichen Standard einer komischen Oper: Die Titelfigur ist alles andere als das Idealbild eines aufgeklärten Monarchen. Cublai wird als rücksichtsloser Autokrat gezeichnet, als despotischer und kriegslüsterner Willkürherrscher.

Der „Imperador de’ Mongolli“ lässt alle guten Manieren vermissen, er raucht und trinkt, schlägt um sich, stößt fortwährend Beleidigungen und Flüche aus. Eine Läuterung oder gar Bestrafung des Wüstlings bleibt aus, so dass die moralische Befriedigung des Publikums zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss.

In der Figur des pflichtbewusst-pedantischen Zeremonienmeisters Orcano manifestiert sich Castis Kritik am steifen Hofzeremoniell. Orcano ist den Launen und Wutausbrüchen seines Herrschers schutzlos ausgeliefert. Verzweifelt versucht er, das Chaos am Hof einzudämmen und lanciert beschönigende Berichte, um die wahren Zustände vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Der Europäerin Memma ist Cublai hoffnungslos verfallen. Gemeinsam mit ihrem hintersinnigphilosophisch veranlagten Partner Bozzone macht sie den Herrscher zum willfährigen Spielball ihrer Capricen. Die Figuren von Bozzone und Memma lassen sich zweifelsohne auf historische Vorbilder zurückführen, nämlich auf Franz Lefort, der innerhalb kurzer Zeit zum engen Vertrauen des Zaren geworden war, und auf Leforts Geliebte Anna Mons, die alsbald die Mätresse des Herrschers wurde. Aus einer Laune heraus bringt Memma Cublai dazu, allen Männern in seinem Reich die Gesichtsrasur zu befehlen – eine Anspielung auf die unter Peter I. eingeführte Bartsteuer. Die von Memma initiierte „gala di corte Europea“ am Ende des 1. Aktes prangert wie die „fête Européenne“ in Tarare den bei höfischen Divertissements zur Schau gestellten Luxus an, die sinnlose Verschwendungssucht solcher Festlichkeiten wird ad absurdum geführt.

Salieris „Kublai Khan“ Würzburg 1998/ Diana Damrau und Christian Baumgärtel/Foto Petra Winkelhardt (Dank an Ulrich Peters) 

Seinen Sohn Lipi hat Cublai dem intriganten Kleriker Posega zur Erziehung anvertraut, der den einfältigen Jungen zum Spielball seiner Interessen gemacht hat. Aus Expansionsgründen soll der geistig zurückgebliebene Lipi mit der bengalischen Prinzessin Alzima verheiratet werden – eine kaum verschleierte Anspielung auf die oft fragwürdige Heiratspolitik europäischer Herrscherhäuser. verliebten Neffen Timur als Erben einzusetzen und Lipi zusammen mit Posega in ein buddhistisches Kloster zu verbannen. In Lipis Schicksal reflektiert Casti den historischen Konflikt Zar Peters I. mit seinem Sohn Alexei.

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Salieris Musik zu Cublai: „sempre bizzarro“ und „strovagante“. Wie Salieri auf der ersten Seite der Partitur vermerkte, begann er mit der Komposition des Cublai im Sommer 1786 in Paris. Dort hielt er sich auf, um die Premiere von Les Horaces vorzubereiten und in enger Abstimmung mit Beaumarchais an der Vertonung von dessen Tarare zu arbeiten. Von der französischen Hauptstadt aus hatte sich Salieri mit Casti zwar bereits über einige Änderungen am Libretto zu Cublai verständigt, doch scheint die Arbeit an der Partitur bald ins Stocken geraten zu sein. In einem Schreiben an Salieri vom 19. Mai 1787 beklagte sich Casti über die Funkstille von Seiten des Komponisten, volle vier Monate habe er nichts von Salieri gehört, alle Briefe seien unbeantwortet geblieben. Casti konnte freilich nicht wissen, dass der Komponist völlig von der Arbeit an Tarare und den Vorbereitungen für die Uraufführung absorbiert war. Bald nach der erfolgreichen Premiere am 8. Juni 1787 kehrte Salieri nach Wien zurück, spätestens dann dürfte er die Komposition des Cublai wieder aufgenommen haben. Die Partitur wurde vermutlich im Laufe des Jahres 1788 vollendet. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können: Im August 1787hatte das Osmanische Reich Russland den Krieg erklärt. Ein geheim gehaltenes Defensivbündnis aus dem Jahr 1781 zwang Joseph II., der Zarin Katharina II. im Februar 1788 beizuspringen. An eine Aufführung des Cublai auf der kaiserlichen Bühne war angesichts der neuen politischen Lage nicht zu denken.

Wie man aus seinen Notizen zur Oper schließen kann, stand Salieri der sorgfältig gearbeiteten Partitur und den darin enthaltenen Bizarrerien im fortgeschrittenen Alter eher kritisch gegenüber. Er befürchtete, dass manche Szenen als überzogen oder unanständig empfunden werden könnten – daher wünschte er sich im Falle einer Aufführung „delicatezza“ und „molto intelligenza“ bei der Umsetzung des Stoffes. Auch der Salieri-Biograph Ignaz von Mosel fand an dieser Oper „wegen ihres schon an sich bedenklichen, überdieß aber auch noch mehr mit beißender Satyre, als mit heiterm Witze, behandelten Stoffes“ einiges zu beanstanden.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/ Damrau und Tero Hannula/Foto Petra Winkelhardt (Dank an Ulrich Peters) 

Die Musik habe Mosel zufolge „ohne in die erste Reihe von Salieri’s Werken zu gehören, im Einzelnen viel Verdienstliches.“ Aus diesen Betrachtungen spricht der reaktionäre Geist der Restaurationszeit, aus der beide Quellen stammen. Aus heutiger Sicht muss man Salieris Cublai zu den besten und unkonventionellsten Schöpfungen im heroisch-komischen Genre zählen. Die Komposition des Werks fiel in eine äußerst innovative Phase von Salieris Schaffen; es ist im Nimbus der anderen „politischen“ Bühnenwerke Tarare (1787) bzw. Axur, re d’Ormus (1788), Le Couronnement de Tarare (1790) und Catilina (1790-92) zu sehen.

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Besonders hinsichtlich der verfeinerten musikalischen Charakterisierung der Figuren schlugen sich im Cublai die von Salieri in Paris gemachten Erfahrungen nieder: Cublais ungehobelter Charakter zeigt sich in größeren Intervallsprüngen und exaltierten Spitzentönen, mit denen Salieri die cholerischen Ausbrüche des Herrschers musikalisch nachzeichnet. Er und seine Entourage – Bozzone, Memma und der übereifrige Zeremonienmeister Orcano – werden vornehmlich mit Buffa-Motivik charakterisiert. Rasante Wortkaskaden und singspielartig-liedhafte Einsprengsel kennzeichnen diese Personen gleichermaßen.

Der von allen drangsalierte Orcano entwickelt sich im Verlauf der Oper zur tragikomischen Figur; seine letzte Arie „M’inganno se vedo“ gewährt einen Blick hinter die mühsam aufrechterhaltene Fassade des Hofbeamten. Melancholisch erinnert er sich an die Zeit, bevor er zum Erfüllungsgehilfen des machtbesessenen Potentaten geworden war – glückliche Tage, in denen Freundschaft, Friede und Freiheit herrschten.

Salieris „Amadeaus“: F. Murray Abraham war der fiese Salieri in Milos Formans den Komponisten diskriminierenden Film von 1984/Wikipedia

Alzima und Timur werden von Salieri mit den stilistischen Mitteln der Opera seria charakterisiert, er selbst hat die beiden Figuren in seinem Kommentar zu Cublai als „i due personaggi serj dell’Opera“ bezeichnet. Es sind die einzigen Partien, in denen sich häufiger Koloraturen finden. Ihre Sologesänge werden bisweilen mit obligaten Holzbläsern angereichert, so etwa solistisch geführte Klarinetten in Timurs Arie „Quando a lei che adoro“ und eine Solo-Oboe im langsamen Teil von Alzimas Arie „D’un insultante orgoglio“.

Der Kleriker Posega – laut Salieri eine Figur voller „gravità ipocrita“ – wird durch einen ironisierendpathetischem Tonfall charakterisiert. Die unstete, häufig Moll-geschwängerte Harmonik charakterisiert ihn als janusköpfigen Finsterling, der stets darum bemüht ist, sein wahres Gesicht zu verbergen.

Die Partie des einfältigen Thronfolgers Lipi hat Salieri als Hosenrolle konzipiert, ein leicht zu verstehender Hinweis auf die jugendliche Unreife der Figur – man denke nur an Cherubino in Mozarts zur gleichen Zeit entstandenem Figaro! Lipis Charakter wurde vom Komponisten mit einer kindlich-schlichten Musik bedacht, die bisweilen wie ein Erinnerungsmotiv eingesetzt wird; so kehrt etwa dessen Auftrittsmusik leicht modifiziert, jedoch klar erkennbar im Finale des 1. Aktes wieder. muss man Salieris Cublai zu den besten und unkonventionellsten Schöpfungen im heroischkomischen Genre zählen.

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Nicht nur die bezwingende musikalische Charakterisierung der Figuren, auch die formale Vielfalt der Cublai-Partitur lässt aufhorchen. Um Castis schnellem Wortwitz musikalisch entsprechen zu können, setzte Salieri bei den Sologesängen überwiegend auf kleinere, flexible Formen, so dass er die geschlossenen Nummern organisch aus den Secco-Rezitativen heraus entwickeln konnte. Oft werden Arien und Ensembles durch rezitativische Einschübe unterbrochen oder reißen unvermittelt ab, wodurch ein schillerndes Mosaik aus ariosen und deklamatorischen Bestandteilen entsteht.

Auffällig ist die Anzahl der größer besetzten Ensemblenummern, die Salieri zufolge oft nach einer Musik „tutto di scena“ verlangten und das erste Finale gar zu einem „caos […] d’azione e di musica“ mutieren ließen. Immer wieder spielt er in der Partitur zu Cublai auch mit den musiktheatralischen Konventionen seiner Zeit. Auf Alzimas großes Accompagnato im 2. Akt folgt nicht wie erwartet eine große Abgangsarie im Stil der Opera seria; stattdessen wird die Prinzessin von Orcano unterbrochen, die aufgebaute Spannung löst sich geradezu belanglos in einem dialogischen Secco- Rezitativ auf. Auch mit der grotesken Konfrontation verschiedener Stile antwortete Salieri auf die ungewöhnliche Textvorlage: So folgt auf Alzimas große, koloraturreiche Arie „Fra i barbari sospetti“ im 2. Akt eine humoristische Szene, in der Lipi in kindlicher Weise ein militärisches Manöver mit Puppen nachstellt. Am Ende dieser Szene bedient sich Salieri zudem einer ungewöhnlich modernen Montagetechnik, die er bereits im Schlussquartett von Prima la musica e poi le parole erprobt hatte. Dort werden je eine zuvor einzeln vorgestellte Buffa- und Seria-Arie miteinander verbunden und gleichzeitig abgesungen. Hier wird Lipis infantiler Marsch vom Beginn des Auftritts mit Posegas pathetischem Racheschwur am Ende des folgenden Duetts kombiniert, wodurch eine ironische Brechung der gesamten Szene entsteht.

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Antonio Salieri zwischen Paris und Wien/MAGZTER/BBC Magazine

Das außergewöhnliche Musiktheaterprojekt von Casti und Salieri blieb nicht nur aufgrund der veränderten politischen Lage weiter unter Verschluss. Auch von Seiten der Wiener Theaterzensur gab es Bedenken hinsichtlich des Stoffes. Wie der damalige Zensor Franz Carl Hägelin in der Abhandlung Hochlöbliches Directorium in politicis et cameralibus schrieb, sollten in einem „monarchischen Staate keine Stücke aufgeführt werden, deren Inhalt auf die Abwürdigung der monarchischen Regierungsform abzielte“, „Stoffe und Karacktere, wodurch ganze Nationen, besonders die freundschaftlichen, gemißhandelt oder als lasterhaft dargestellt werden, können nicht passirt werden. Nie muss der Tadel auf ganze Nationen, auf ganze Stände, besonders auf die vornehmeren und den obrigkeitlichen Stand überhaupt fallen“.

Alle diese Kritikpunkte trafen auf das Cublai-Libretto zu. In einem langen Brief an seinen Souverän bemühte sich Casti, die beanstandeten Stellen als unproblematisch abzutun. Die Interpretation des Textes als Satire auf reale Personen und aktuelles Zeitgeschehen führte er auf böswillige Gegner zurück. Gleichwohl zeigte er Bereitschaft, der Zensur entgegenzukommen und Änderungen vorzunehmen. 1794 veröffentlichte der mittlerweile von Franz II. endlich zum „Poeta cesareo“ aufgestiegene Dichter ein ausführliches Argomento, mit dem er noch einmal zu verschleiern versuchte, dass es sich bei seinem Libretto um eine politische Satire handelte. Es half alles nichts, Cublai gelangte wie auch das Folgeprojekt Catilina zu Lebzeiten des Autorenduos nicht auf die Bühne.

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Der Autor: Timo Jouko Herrmann ist Komponist, Musikwissenschaftler, Geiger und Dirigent. Seit vielen Jahren setzt er sich mit Werk und Person von Antonio Salieri auseinander/Facebook

Die letzte gemeinsame Arbeit, eine Adaption von Ariosts Orlando furioso, kam über das Entwurfsstadium nicht hinaus. Ende 1796 verließ Casti Wien, da man ihn als Jakobiner denunziert hatte. Kurz darauf sprach der Kaiser ein formelles Aufenthaltsverbot für den Dichter aus, ihm sei „der hiesige Aufenthalt nicht mehr zu gestatten.“ Casti ließ sich in Paris nieder, wo er sein 1794 begonnenes Epos Gli animali parlanti vollendete und 1803 starb.

Offensichtlich war die Zeit der Wiener Klassik noch nicht reif für eine so ungewöhnliche Satire wie Cublai. Die Originalpartitur der Oper hielt Salieri – wie auch jene zu Catilina – zeitlebens unter Verschluss. Immerhin wurden die Libretti zu beiden Werken im frühen 19. Jahrhundert literarisch rezipiert. Die bissig-lakonischen Verse Castis wurden unter anderem von Lord Byron und Stendhal geschätzt. Letzterer bezeichnete Cublai als „plaisanterie pleine de feu“ und bewertete den Text im Vergleich zu Catilina als „peut-être encore plus gai“. Auf der Musiktheaterbühne gelang eine nachhaltige Etablierung der Gesellschafts- und Politsatire erst viele Jahre später durch Jacques Offenbach mit Werken wie Ba-ta-clan (1855), Barkouf (1860) oder Le Roi Carotte (1872). Timo Jouko Herrmann

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„Es hat Mozartianische Qualitäten“: Herausgeber Johan van Slageren und Udo Wessiepe über Salieris Oper „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“. Mehr als 200 Jahre ist es her, dass Salieris Oper „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“ auf Eis gelegt wurde: Das Stück hätte den Bündnispartner Russland brüskieren können und verschwand darum noch vor der Premiere in der Schublade. Erst 1998 kam die Zarenhof-Satire am MainFranken Theater in Würzburg 1998 zur Premiere; Johan van Slageren und Udo Wessiepe hatten sie für die Opernwelt entdeckt. Ein Gespräch mit den beiden Musikern und Chefs von Stretta Music über Salieri-Klischees, die unvermuteten Qualitäten des Italieners (…).

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Die Stretta-Geschäftsführer und Herausgeber von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe/Stretta

Wenn eine Oper wiederbelebt wird, heißt es im Vorfeld stets, sie sei „zu Unrecht vergessen“ worden. Warum denken Sie, ist das bei Salieris „Cublai“ wirklich der Fall? Johan van Slageren: „Cublai, gran Kan de‘ Tartari“ ist 1788 nicht aus Qualitätsgründen in der Schublade verschwunden, sondern aus politischen. Das Stück kam deshalb nicht einmal zur Uraufführung. Das Libretto von Giambattista Casti hatte sich nur scheinbar über die Tartaren lustig gemacht – tatsächlich war dies ein Deckmantel, um den Zarenhof von Alexander dem Großen zu karikieren. Casti verspottete Russland allerdings zur Unzeit: Kaiser Joseph II. und Zarin Katharina II. hatten einige Jahre davor ein Defensivbündnis geschmiedet.

Wie kam es dazu, dass die Partitur mehr als 200 Jahre später von Ihnen beiden ausgegraben wurde? J. v. S.: Wir waren damals im Theater Würzburg angestellt, Udo Wessiepe als Studienleiter, ich als Erster Kapellmeister. Das Mozartfest der Stadt plante für 1998 eine Gegenüberstellung seines Namenspatrons mit dem Zeitgenossen Salieri und wollte ein großes Werk des Italieners ansetzen. Wir sind dann auf die Suche gegangen und haben uns schon bald auf die Spur von „Cublai“ geheftet. Erst fanden wir in Volkmar Braunbehrens‘ Biografie „Salieri – ein Musiker im Schatten Mozarts“ einen Hinweis auf das Werk, nach einem Telefonat mit dem Buchautor wussten wir dann, dass das Manuskript in der Österreichischen Nationalbibliothek liegt. Im Sommer 1997 bin ich nach Wien gefahren und habe mit Handschuhen in den 621 handschriftlichen Manuskriptseiten geblättert. Sie waren damals noch nicht auf Mikrofilm abgelichtet worden. Die Partitur war zu meiner Überraschung komplett.

Wie wurden daraus in weiterer Folge gedruckte Noten? J. v. S.: Wir klopften bei verschiedenen Verlagshäusern mit der Bitte an, das Material möglichst rasch zu veröffentlichen. Für uns tickte die Uhr – wir brauchten die Noten bis zum Folgejahr. Doch die Häuser winkten ab: Ein solcher Prozess dauere drei bis vier Jahre. Darum haben wir die Arbeit selbst übernommen und uns mit dem Notensatzprogramm Finale, das damals noch ziemlich neu war, daheim hinter den Computer geklemmt. Nach drei intensiven Monaten waren wir fertig. Aus dieser Zusammenarbeit ist später auch unser gemeinsamer Notenverlag Stretta Music hervorgegangen, der später um den Notenversand ergänzt wurde: Seit 2001 sind wir als Firmenleiter tätig.

Zurück zu „Cublai“: Sie haben ihn 1998 in einer deutschen Übersetzung von Cornelia Boese aufgeführt. Wie war die Publikumsreaktion? J. v. S.: Es war wirklich ein Erfolg, die Pointen sind gut angekommen. Acht Vorstellungen hatten wir angesetzt, alle waren ausverkauft, die Leute saßen teilweise auf den Treppen. Eine Wiederaufnahme gab es wegen eines Intendantenwechsels aber leider nicht.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Jetzt, 26 Jahre später, kommt das Stück zum zweiten Mal auf eine Bühne: Das Theater an der Wien zeigt die Uraufführung der originalen, italienischsprachigen Fassung. Wieso ist dazwischen so viel Zeit vergangen? Und wie kam es zur Neuproduktion in Wien? Udo Wessiepe: Die Hintergründe der Wien-Premiere sind uns nicht bekannt. Wir haben das Notenmaterial verlegt, sind aber nicht für seine Vermarktung zuständig. Diese Aufgabe nimmt die Alkor-Edition vom Bärenreiter-Verlag für uns wahr. Sie hat damit nach der Uraufführung von „Cublai“ begonnen und bietet das Werk seither internationalen Häusern an. [Anm.: Dort sind auch die Stimmen auf Anfrage als Leihmaterial unter AE 341 erhältlich.] Tatsächlich gab es in der Zwischenzeit kleinere Erfolge: Einzelne Arien sind hier und da gespielt worden. Bis zu einer Neuproduktion des ganzen Stücks hat es aber lange gedauert. J. v. S.: Ich vermute, dass dies auch mit einem negativen Salieri-Bild zu tun hat. Auch in der Klassikwelt haftet es an dem Italiener.

Sie meinen, dass er ein hölzerner, geistloser Komponist gewesen sei – ein Bild, das vor allem Milos Formans Erfolgsfilm „Amadeus“ (1984) in der Welt verbreitet hat? U. W.: Ja, „Amadeus“ hat auf die Leute gewirkt – auch wenn es natürlich Unsinn war, dass Salieri ein schlechter Komponist war oder er Mozart gar vergiftet hätte. Salieri hatte gar keinen Grund zum Neid: Er war Hofkapellmeister – ein Posten, den Mozart gerne gehabt hätte – und führender Musiker der Stadt.

Salieris „Kublai Khan“ in Würzburg 1998/Foto Ulrich Peters

Salieri ist von Joseph II. mit Aufträgen und Titeln reichlich bedacht worden. Heute ist er ein marginalisierter Komponist: Seine Werke sind wenn, dann eher bei Originalklangfestivals zu hören. Im gängigen Konzert- und Opernrepertoire taucht Salieri aber kaum auf. Hoffen Sie, dass sich das mit der Neuproduktion in Wien ändert? U. W.: Mozarts Musik funktioniert auch, wenn sie ein Schulorchester spielt. Das ist bei Salieri nicht der Fall. Es braucht sehr gute Leute, um diese Musik zum Leben zu erwecken, Leute mit Fachkompetenz: Man muss wissen, wie diese Musik artikuliert und phrasiert wird. Sie wird, so denke ich, immer etwas für Spezialisten und Originalklangensembles bleiben. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass auch große Häuser mit den entsprechenden Ressourcen Salieris Opern spielen könnten. J.v. S.: Man muss schon mit Salieris Continuo-Parts anders umgehen. Sie sind eher barock orientiert zu besetzen. U. W.: Der ganze Orchestersatz von „Cublai“ ist dem Barock stärker verbunden als Mozarts Musik. Man merkt es etwa an den Bläsern: Es gibt zwar einige Stellen, in denen sie solistisch eingesetzt werden, aber über weite Strecken verwendet sie Salieri als Harmoniestimmen. J. v. S.: Er ist konservativer, würde ich sagen. U. W.: Dem galanten Stil näher als Mozart.

Salieri hatte blendende Kontakte zum Hochadel; man darf wohl anzunehmen, dass er politisch gut informiert war. Wie konnte es ausgerechnet ihm passieren, dass eines seiner Werke den Interessen des Hofes zuwiderlief und darum verschwinden musste? U. W.: Salieri hat wohl gehofft, damit durchzukommen, dass das Stück nicht explizit in Russland spielt, sondern am Hof des Khans in Peking. Vielleicht hat er sich aber auch einfach gedacht, falls die Oper jetzt nicht zur Aufführung gelangt, dann vielleicht eines Tages, wenn Russland kein Bündnispartner mehr ist. Große Sympathien schien Joseph II. für Russland ohnehin nicht zu hegen. Er hatte mit Katharina II. ein reines Zweckbündnis gegen das osmanische Reich geschmiedet. Der Pakt beruhte nicht etwa auf einer Zuneigung zu den Russen, im Gegenteil, Joseph hat das zaristische Russland mehr oder weniger verachtet, wegen eines Mangels an Aufgeklärtheit und des übertriebenen Prunks am Hof und der verarmten Bevölkerung. Das hat ihm missfallen.

Kublai Khan/Chinesische Darstellung ca. 16. Jhdt./UAO

Salieri und Casti haben womöglich schon in einem frühen Planungsstadium begriffen, dass sie sich damals keine Hoffnungen auf eine Aufführung machen konnten. Ein Beweis, dass das Stück der Zensurbehörde vorgelegt worden wäre, fehlt. Im Falle des Falles hätte die Zensur aber womöglich nicht nur verborgene Russland-Bezüge getadelt: In dieser Satire wird ganz offensichtlich ein Monarch der Lächerlichkeit preisgegeben, was seinerzeit verboten war. U. W.: Richtig. Der Khan wird in dem Stück als tumber Säufer dargestellt, das ist natürlich eine Herabwürdigung.

Sein Sohn Lipi wird auch nicht gerade schmeichelhaft dargestellt. U. W.: Ja, der Hellste ist er nicht. Sein Charakter ist aber auch von seinem Erzieher Posega geformt worden: Der hat Lipi so manipuliert, dass er nur ihm hörig ist.

Trotz der schrägen Figuren findet die zweiaktige Oper ein Happy End: Der cholerische Regent sieht ein, dass nicht sein Sohn, sondern sein Neffe Timur die schöne Prinzessin Alzima heiraten und der nächste Khan werden sollte. Wie beurteilen Sie das Niveau des Librettos? J. v. S.: Es ist ein sehr unterhaltsames und theaterwirksam. U. W.: Es ist genial. Ich würde sagen, Casti ist der bessere Librettist als Lorenzo Da Ponte. Es besitzt unglaublichen Sprachwitz, und ich denke, das hat auf Salieri einen starken Eindruck gemacht. Er hat das nicht einfach so runterkomponiert: Man merkt, es lag ihm am Herzen. Es gibt großartige Momente in dieser Partitur: Das Quartett Nummer 28 (Ti procuro e regno e sposo) zum Beispiel, kurz vor dem Happy End, hat mozartianische Qualitäten. Sehr ausdrucksstark ist auch das Duett von Alzima und Timur im ersten Akt (Deh perchè mi guardi e poi) komponiert: Man hört den Herzschlag der Prinzessin in der Musik, ihr Zittern und ihre Furcht. Sehr schön gestaltet ist außerdem Timurs Tenor-Arie am Beginn des Zweiten Akts (Quai grazie rendere) – sie hätte genauso gut von Mozart stammen können.

 Bemerkenswerterweise ist ein Schriftstück erhalten, in dem Salieri seine eigene Oper bewertet. Einige Nummern finden dabei Lob, andere Tadel. Hart geht er dabei mit dem zweiten Finale ins Gericht: Es „verdient wenig musikalisches Lob, es ist ganz auf die Handlung abgestellt“. Warum hat Salieri das geschrieben? U. W.: Ich glaube, er hat sich bei einigen Nummern gedacht: Da muss der Text Vorrang vor der Musik haben. Wenn die Musik hier zu aufwendig gestaltet ist, zu viel Zeit benötigt, leidet der Text. Das Primat des Wortes hat in diesen Passagen also dramaturgische Gründe.

Ist es richtig, dass sechs Jahre nach der Entstehung von „Cublai“ noch ein Versuch unternommen wurde, das Werk auf die Bühne zu bekommen? U. W.: Das ist eine Vermutung, ein Beweis dafür ist nicht erhalten. Es gibt nur ein Indiz: Casti hat damals eine Schrift drucken lassen, die alle politischen Anspielungen und Russland-Bezüge in „Cublai“ abstreitet. Das glaubte ihm aber niemand. Die Vorlage für die Oper war Castis „Poema tartaro“ gewesen, das bereits dieselben Figuren auftreten ließ und klar den russischen Hof aufs Korn nahm. Hinter Castis Dementi von 1794 stand vermutlich der Wunsch, die Oper doch noch aufgeführt zu sehen. Entsprechende Pläne waren aber wohl nicht sehr weit gediehen.

Salieris „Cublai Kan“/die erste Seite des Autographs, das die Österreichische Nationalbibliothek mittlerweile (2024) komplett digitalisiert hat/Stretta

Kommen wir in die Gegenwart zurück: Würden Sie sich die Arbeit noch einmal antun, ein handschriftliches Opernmanuskript aufzuspüren, es in eine spielbare Partitur zu verwandeln und diese dann herauszugeben? U. W.: Wir haben „Cublai“ soeben nochmals neu herausgegeben, nun in der italienischsprachigen Fassung. Das war allerdings nicht mehr so aufwendig wie unsere erste Auseinandersetzung mit der Oper – diesmal gab es ja schon eine gedruckte Ausgabe und auch einen Klavierauszug. Ob ich mir eine solche Arbeit von Grund auf noch einmal antun würde? Ich hätte schon Interesse. Es ginge sich aber wohl zeitlich nicht mit meinem Job als Geschäftsführer von Stretta Music aus. Ich könnte es mir aber vorstellen, in der Rente bei Gelegenheit noch einmal so ein Projekt zu übernehmen. Die Arbeit ist schon sehr reizvoll. J. v. S.: „Cublai“ war nicht die erste Oper, die einer von uns beiden editiert hat. Ich hatte mich davor schon mit „Argenore“ von Wilhelmine von Bayreuth auseinandergesetzt und diese Opera seria auch dirigiert. U. W.: Und ich hatte davor bereits das Aufführungsmaterial einer Oper von Johann Christian Bach für das Würzburger Mozartfest erstellt. J. v. S.: Als Team haben wir aber das erste Mal bei „Cublai“ zusammengearbeitet und die Musik dann erfolgreich für das Mozartfest Würzburg einstudiert. (Unsere Edition der Oper wird im Juni 2025 erscheinen. Klavierauszug und Partitur zur Oper erscheinen Mitte Juni 2025 und können vorbestellt werden.) Red.: Christoph Irrgeher (12.03.2024)

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Wie immer hat ein so umfangreicher Artikel bei uns viele Quellen. Dank vor allem an den Autor Timo  Juoko Herrmann für seinen Artikel aus dem Booklet zur neuen Aufnahme (der zuvor bereits im Programmheft der Wiener Aufführung erschienen war). Dank an den Journalisten und Kollegen Paul Korenhof, dessen Rezension aus dem niederländischen  Klassikmagazin opusklassiek übernehmen zu können. Dank an die Pressestelle des Theaters an der Wien (Andrea Gruber) für das Programmheft. Ebenso Dank an den Regisseur Ulrich Peters für seine wirklich sehr liebenswürdige, aufwendige Scan-Arbeit des Programmheftes und Fotobereitstellung zur Würzburger Aufführung 1998 (dazu auch seine website). Und schließlich Dank an die Online-Notenhändler Stretta Music für unsere Übernahme der Bemerkungen von Christophe Rousset zu Salieri und des Gespräches zwischen Christoph Irrgeher und den Stretta-Geschäftsführern und Herausgebern von „Kublai Khan“ Johan van Slageren und Udo Wessiepe, die 1998 diese Oper für Würzburg ausgegraben und aufgeführt hatten. G. H.

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Literatur (Auswahl) zum Artikel von Timo  Juoko Herrmann : Angermüller, Rudolph, „Cublai (Fassung Casti)“, in: Antonio Salieri (1750-1825) e il teatro musicale a Vienna, 2012. # Casti, Giovanni Battista, Opere di Giambattista Casti in un volume, 1838. # Corti, Mario, „Casti, Salieri e Pietro il Grande“, in: Slavia – rivista trimestrale di cultura, 29. Jahrgang, Nr. 4, 2020. # Hager, Manuela, „Virtuos, respektlos und satirisch: Der italienische Dichter Giovanni Battista Casti am Wiener Hof“, in: Mozart und Salieri – Partner oder Rivalen?, 2008. # Herrmann, Timo Jouko, Antonio Salieri – Eine Biografie, 2019. # Mosel, Ignaz von, Über das Leben und die Werke des Anton Salieri, 1827. # Rice, John A., Casti, Salieri, and Catilina: Political Tragicomedy during the French Revolution, 2016. # Salieri, Antonio, Cublai Gran Kan de Tartari. Opera Eroicomica [Partitur mit autographen Kommentaren, 2 Bde.], 1786-88. # Sorrenti, Francesco, „Sai di quanta forza / presso tutte le genti ognor sia stato / di guerra il dritte, e la ragion di Stato: rivoluzioni, complotti e autobiografismo negli ultimi drammi di G. B. Casti (1786-1796)“, in: La letteratura italiana e le arti, 2018. # Stendhal [d.i. Beyle, Marie-Henri], Promenades dans Rome, 1829.

Dorfszenen im Abendkleid

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Eine neue Jenufa hat Simon Rattle vorgelegt. Erschienen ist sie bei LSO, dem Eigenlabel des London Symphony Orchestra (LSO 0897). Vorangegangen waren mit Katya Kabanova und Das schlaue Füchslein zwei weitere Opern von Leos Janacek. Es steht zu erwarten, dass die Reihe fortgesetzt. Rattle hat dem Komponisten in jüngster Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit gewidmet, in der Staatsoper München sogar die selten gespielten Ausflüge des Herrn Broucek geleitet. Jenufa wurde bei zwei Konzerten am 11. und 14. Januar 2024 in der Barbican Hall in London mitgeschnitten. Diese gehört mit ihren fast 2000 Sitzplätzen zum einem großen Kultur- und Konferenzcentrum im Osten der City und ist Sitz des London Symphony Orchesters.

Auf dem Konzertpodium sind dem Werk gewisse Grenzen gesetzt. Die dramatischen Beziehungen zwischen den handelnden Personen können sich nicht so ausleben wie im Opernhaus. Tages- und Jahreszeiten spielen eine Rolle. Chöre treten nicht als Beiwerke sondern als Teil des Geschehens in Erscheinung. Ein kleines mährisches Dorf um die Jahrhundertwende mit seinen Bewohnern wird zur Bühne für Welttheater der ganz großen Gefühle zwischen Sehnsucht und Abgrund. Manche Momente verlangen nach dem bewegte Bild in einer szenischen Umgebung, um glaubhaft zu werden. Im Booklet finden sich Fotos von der Veranstaltung. Die Damen in langen Abendkleidern, die Herren in Anzügen mit Krawatten. So läuft in der Oper Jenufa niemand herum. Obwohl der Klang insgesamt sehr gut eingefangen ist, fehlt es vor allem in der großen mit Tänzen versetzten Chorszene im ersten Aufzug an räumlicher Präsenz. Die Wiedergabe wird dann etwas eng. Und, man muss das Werk sehr genau kennen, um an Lautsprechern oder unter Kopfhörern folgen zu können. Gesungen wird im originalen Tschechisch. Im Booklet gibt es zusätzlich nur eine englische Übersetzung. Wer eine deutsche Fassung benötigt, wird zum Beispiel bei Reclam fündig. Das Orchester selbst lässt nichts zu wünschen übrig. Rattle holt wunderbare Details heraus und spürt den volksliedhaften Inspirationen nach. Man könnte schwören, diese und jene Streicherklänge so noch nie gehört zu haben.

In der Sängerriege gibt es nur zwei Muttersprachler: den Tenor Ales Briscein als Laca und den Bass Jan Martinik als Altgesell und Dorfrichter. Wie bei konzertanten Aufführung nicht unüblich, übernehmen Sänger kleinerer Partien gleich mehrere Rollen. Übersichtlicher wird es dadurch allerdings nicht. Alle andere müssen sich in das schwierige tschechische Idiom finden, haben aber – wie auf den Fotos ersichtlich, auf Pulten für alle Fälle die Noten mit den Texten vor sich. Aus Schweden kommen Agneta Eichenholz (Jenufa) und Katarina Karneus (Küsterin). Beide sind den Jahren im wirklichen Leben nach, nicht weit entfernt, klingen manchmal in der Mittellage sogar etwas ähnlich. Der Interpretin der Titelrolle wird aber auch nichts geschenkt vom Komponisten. Insofern kann es nicht schaden, dass die Sängerin keine Anfängerin ist sondern viel Erfahrung mitbringt. Die Großmutter ist die Engländerin Carole Wilson, Steva der schottische Tenor Nicky Spence.

Dem Ensemble gelingt es in den entscheidenden Momenten, die strenge Distanz zwischen Podium und Bühne zu überwinden und das Drama zumindest stimmlich äußerst wirksam und glaubhaft darzustellen, als stünde es in der Kulisse. Der zweite Akt mit den großen Soloszenen der Küsterin und ihrer Ziehtochter Jenufa sowie den aufeinanderfolgenden Auftritten von Steva und Laca, die in ihrer charakterlichen Unterschiedlichkeit großen Eindruck hinterlassen, wird zum Höhepunkt des Mitschnitts. Dabei schlägt die Stunde der Wahrhaftigkeit, nicht nur des Schöngesangs (Foto oben: Hochzeitsort Niedersachsen – Wassermühle in Hude). Rüdiger Winter

Doris Soffel

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Mit dem Mezzosopran Doris Soffel stand gleich dreifach  eine der bekanntesten und beliebtesten Sängerinnen der Deutschen Oper Berlin, ihr seit vierzig Jahren verbunden, der Uraufführung von Oceane und vielen anderen Werken wie zuletzt La Fiamma, Arabella oder Elektra zum Erfolg verhelfend, bei der Vorstellung der kommenden Saison des Hauses unter dem Titel Was kommt ? auf der Bühne: als Sängerin, als Moderatorin und schließlich, was das Wichtigste ist, als Auszuzeichnende 20.Mai 2025mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Hauses, das ihr so viel zu verdanken hat. Nach dem Nordsternorden, dem Faust und dem Titel einer Kölner Kammersängerin ist das der vierte Ehrentitel, der der Künstlerin zuerkannt wurde.

Deutsche Oper Berlin. Saison 2025/26: Was kommt? Highlights der neuen Saison in Musik und Moderation. 19.05.2025/ Copyright: Marcus Lieberenz/bildbuehne.de/Deutsche Oper Berlin

Als Moderatorin, die zwei Beiträge, die erste Arie der Contessa aus Le Nozze di Figaro und die Tutti aus L’Italiana in Algeri ansagte und die damit  wohl nicht erwartete Kommentare, nämlich ungebremsten Jubel bei der Erwähnung von Götz Friedrich und weniger als verhaltenen bei der von Rolando Villazon als bevorstehendem Regisseur von Rossini, provozierte und tatkräftig das Publikum zu lenken versuchte. Als Sängerin, die sich für die erfahrene Ehrung mit einer empfindsamen Zueignung von Richard Strauss bedankte und die schließlich bühnenbeherrschend den Chor aus Strauß‘ Die Fledermaus optisch und akustisch anführte.

Als nunmehr Ehrenmitglied der Deutschen Oper kann Doris Soffel nicht nur auf eine unvergleichlich erfolgreiche Karriere zurückblicken, sondern sie kann auch in die Zukunft schauen, so wird sie bereits im Herbst als Madelon ( Die Gräfin hat sie bereits gesungen.) in Giordanos Andrea Chénier zurückkehren, und natürlich erwartet das Berliner Publikum auch weiterhin von dem  neuen Ehrenmitglied der Deutschen Oper begeisternde Auftritte (Foto oben: Doris Soffel/Foto Markus Lieberenz). Ingrid Wanja

Luigi Alva

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Im biblischen Alter von 98 Jahren ist der peruanische Tenor Luigi Alva am 15. Mai 2025 im norditalienischen Mariano Comense verstorben. Im Olymp der großen Sänger hatte er schon zu Lebzeiten einen festen Platz gefunden. Er war mehr als nur ein technisch brillanter „tenore di grazia“, er verband die Tugenden des modernen Sängerdarstellers mit denen des klassischen „maestro di musica“. Sein Vortrag, der in seinen Glanzzeiten auch vom Reiz einer sinnlichen, blühenden Stimme profitierte, war uneitel, stilsicher und immer von einer großen Wärme, ja Inbrunst. Das gab seinen Interpretationen in den Opern Mozarts, Rossinis und Donizettis, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben, eine unverwechselbare persönliche Note. Besonders in drei Partien hat er Geschichte geschrieben: Almaviva, Don Ottavio und Ferrando.

Luis Ernesto Alva y Talledo, wie er eigentlich hieß, wurde am 10. April 1927 in der peruanischen Hauptstadt Lima geboren und erhielt dort seine erste Ausbildung bei Rosa Mercedes de Morales. Bereits 1949 stand er in Peru in Zarzuelas auf der Bühne. In Italien setzte er dann seine Studien bei Emilio Ghirardini und Ettore Campogalliani fort, der später auch Lehrer von Mirella Freni und Luciano Pavarotti war. Bereits 1953 übernahm er – neben dem Protagonisten Ettore Bastianini – in einer NDR-Produktion von Puccinis „Tabarro“ die kleine Rolle des Liederverkäufers. Zwei Jahre später debütierte er an der Mailänder Scala als Paolino in Cimarosas „Il matrimonio segreto“. Der Erfolg war so durchschlagend, dass ihn die Intendanz kurz darauf als Partner der Callas im „Barbier von Sevilla“ (unter Carlo Maria Giulini) und als Ferrando in „Così fan tutte“ (unter Guido Cantelli) einsetzte.

Die eigentliche internationale Karriere begann 1957 bei den Salzburger
Festspielen, wo er unter Karajan den Fenton im „Falstaff“ sang. Auf Salz-
burg folgten Aix-en-Provence, die Wiener Staatsoper und schließlich 1964
die Metropolitan Opera, an der er bis 1975 regelmäßig auftrat. Auch auf
deutschen Bühnen war er häufig zu Gast. So übernahm er an der Deut-
schen Oper Berlin den Ferrando in Otto Schenks und Karl Böhms Neupro-
duktion von „Cosi fan tutte“ (1972), ein Jahr darauf den Don Ottavio in Rudolf Noeltes „Don Giovanni“. In dieser Zeit sang er in Berlin auch andere Partien wie den Alfredo in „La Traviata“ sowie – natürlich in deutscher Sprache – Tamino und Belmonte. Diese Partie hatte er nach dem Tod von Fritz Wunderlich zuvor schon bei den Salzburger Festspielen übernommen.

Alva war immer klug genug, die Grenzen seines Faches nicht zu überschreiten. Sein Repertoire blieb deshalb auf die italienische Oper des Settecento und Partien Mozarts, Rossinis, Donizettis und Bellinis (Elvino in „La Sonnambula“) begrenzt. Erst spät in seiner Karriere fügte er den Werther hinzu. Deshalb mag es überraschen, dass der Sänger auf Wunsch des Dirigenten Hermann Scherchen an der Mailänder Scala die Rolle des Bacchus in „Ariadne auf Naxos“ übernahm, eine Partie, die sonst den Heldentenören vorbehalten ist. Dass er damit Erfolg hatte, hängt mit einigen Eigenmächtigkeiten des Dirigenten zusammen, der kurzerhand einige schwere Passagen der Partie strich und auch im Orchestersatz Retuschen vornahm, um eine reine Rokokowelt zu beschwören. In Mailand kam es in dieser Zeit auch noch zu zwei weiteren überraschenden Rollendebüts. Da die damalige Intendanz offensichtlich entschlossen war, den Hosenrollen in der Oper den Garaus zu machen, wurde Alva nicht nur als Siebel in Gounods „Faust“, sondern auch als Sesto in „La clemenza di Tito“ besetzt, in jener Produktion, in der die große Giulietta Simionato 1966 in der lyrischen Sopranpartie der Servilia ihre unspektakuläre Abschiedsvorstellung gab.

Er selbst war bis 1989 als Sänger aktiv. Eine Karriere also, die sich über vier Jahrzehnte erstreckte, also relativ lange für einen Sänger seines Stimmfaches. Ich erinnere mich an seine verblüffte Reaktion, als ich ihn in einem Interview während der Berliner „Così“-Proben fragte, ob er sich vorstellen könne, in reiferem Alter ins Charakterfach zu wechseln, beispielsweise Herodes oder Mime zu singen. Sein stärkster Konkurrent im Fach des lirico-leggero, Ugo Benelli, ist später diesen Weg gegangen und hat seine Karriere damit um einige Jahre verlängern können. Alva zog sich aber keineswegs von der Oper zurück, war als Regisseur und zeitweise als Intendant in Lima und bis ins hohe Alter auch als Pädagoge in Mailand tätig.

Sein diskographischer Nachlass ist, wenn auch mit einem überschaubaren Repertoire, beträchtlich und repräsentativ. In seiner Paraderolle als Almaviva liegt mehr als ein Dutzend Aufnahmen vor. Neben den Studio-Produktionen unter Ionel Perlea, Vittorio Gui, Arturo Basile und Claudio Abbado gibt es zahlreiche Live-Mitschnitte, von denen ich den Dokumenten aus Mailand (mit Maria Callas) und London (mit Teresa Berganza) den Vorzug gebe. In beiden Fällen war Carlo Maria Giulini der inspirierende und zugleich präzise Dirigent. Ihm verdanken wir auch die schon klassische Referenzaufnahme des „Don Giovanni“ (mit Elisabeth Schwarzkopf). Bei „Così fan tutte“ ziehe ich die Live-Aufnahmen unter Cantelli und Hans Rosbaud der späteren Studio-Aufnahme unter Otto Klemperer vor. In Antal Doratis Haydn-Zyklus ist Alva in drei Partien eine tragende Säule des Unternehmens. Die Studio-Produktion von Cimarosas „Il matrimonio segreto“ entstand kurz nach der Bühnen-Aufführung an der Piccola Scala und ist ein weiteres beeindruckendes Dokument seiner glorreichen Anfänge. Fenton unter Herbert von Karajan liegt sowohl als Mitschnitt von den Salzburger Festspielen wie auch als Studio-Produktion mit Referenz-Charakter vor. Als Alternative ist hier ein Mitschnitt unter Giulini vom Holland Festival 1963 zu empfehlen. Einer meiner Favoriten in der Diskographie ist die vom greisen Tullio Serafin verantwortete Aufnahme von Donizettis „L’elisir d’amore“, da der Dirigent schweren Barolo statt Lambrusco serviert, Alva die „furtiva lagrima“ der Komödie erkennen lässt und die Kollegen Rosanna Carteri, Rolando Panerai und Giuseppe Taddei in keiner späteren Aufnahme des Werkes übertroffen wurden.

Die Quintessenz von Alvas unverwechselbarer Kunst finden wir in zwei Alben mit spanischen und südamerikanischen Liedern („Ay ay ay“) und mit Kanzonen Paolo Francesco Tostis. Letzteres ist hier weniger bekannt geworden. Alle Tenöre von Rang haben diese Lieder gesungen und teilweise auch aufgenommen, mir gefallen sie in der Lesart Alvas am besten. Er setzt nicht auf vokale Glanzentfaltung, sondern auf Schlichtheit des Vortrags und ehrliche Emphase und trifft damit den Geist und die Seele dieser Salonlieder genau. Er hat immer Sonne in der Stimme, um es blumig-feuilletonistisch auszudrücken.

Die stattliche Diskographie ist um eine Reihe von Videos zu ergänzen, die den Darsteller Alva in Aktion zeigen. Einige sind als DVDs greifbar, der Rest ohne Mühe im Internet zu finden. An prominenter Stelle steht da Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung des „Barbiere“, in der Teresa Berganza und Hermann Prey Alvas Partner sind. Auch in den Fernseh-Produktionen von „Così fan tutte“ und „Don Pasquale“ (in deutscher Sprache!) begegnen wir dem Herren-Gespann Alva-Prey wieder, die Mozart-Oper verdient zusätzliches Interesse wegen dem Dirigat von Karl Böhm und dem Einsatz von Gundula Janowitz und Christa Ludwig als bewährtes Schwestern-Paar. Der Regisseur Vaclav Kaslik betonte in einem Gespräch mit dem Autor, dass er mit dieser Produktion nicht zufrieden war, sie gar als „Prostitution“ empfand, da er seine visuellen Vorstellungen nicht verwirklichen konnte und ganz darauf reduziert wurde, der Musik gehorsamer Diener zu sein.

Eine auf DVD festgehaltene Aufführung von Haydns „Lo speziale“ (Lugano 1982) präsentiert den späten Alva in der Titelrolle, die im Allgemeinen den Spielbässen vorbehalten ist. Im Netz kann man noch eine Reihe weiterer interessanter Funde machen. So gibt es gleich drei Versionen des „Don Giovanni“: einen italienischen Fernsehfilm und zwei Live-Mitschnitte aus Neapel und Aix-en-Provence. Da sie im gleichen Zeitraum (1958-60) aufgenommen wurden und das Zeitalter des Regie-Theaters noch nicht angebrochen war, weisen die Interpretationen des Don Ottavio keine wesentlichen Unterschiede auf. Das sängerische Umfeld ist aber in allen Fällen interessant. Der attraktive Mario Petri (TV, Neapel) war damals ein führender Vertreter des Don Giovanni, den Gabriel Bacquier in Aix als dekadenten Rokoko-Wüstling gab. Die erfahrenen Mozart-Sänger Sesto Bruscantini (TV, Neapel) und Rolando Panerai (Aix) wechseln sich als Leporello ab, Teresa Stich-Randall (TV, Aix) als Donna Anna sowie Ilva Ligabue (Neapel) und Leyla Gencer (TV) als Donna Elvira vertreten die Frauenriege prominent. Eine besondere Entdeckung ist eine italienische Produktion von „Le nozze di Figaro“ aus den Kindertagen der Fernseh-Oper (1956) in der Inszenierung von Herbert Graf, in der Luigi Alva, hier noch in der ersten Blüte seiner Laufbahn, neben Heinz Rehfuß, Nicola Rossi-Lemeni, Marcella Pobbe und Rosanna Carteri als Basilio zu erleben ist. Selbstverständlich singt er die Arie von der Eselshaut und erfüllt die Partie mit stimmlichem Glanz und diskretem komödiantischem Witz.

Ein nur kurzes, aber berührendes und freudig stimmendes Video aus Peru kann als Epilog zu zwei großen Sängerkarrieren gesehen werden: der damals 81jährige Alva und die 73jährige Berganza präsentieren sich 2008, gleichsam „in alter Frische“, einem hingerissenen Publikum mit dem Zarzuela-Duett „La Rosa con el Clavel“. (Fotos Wikipedia/Metropolitan Opera Archive/prtivat) Ekkehard Pluta

„Intensität, Zartheit, Stärke …“

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Die aus dem Kosovo stammende Sopranistin Marigona Qerkezi hat sich in einem Repertoire etabliert, das von Belcanto über Verdi bis zu Puccini spannt. Derzeit ist sie an der Oper Frankfurt als Norma zu erleben, einer ihrer zentralen Partien. Im Interview mit Beat Schmid spricht sie über ihre musikalischen Wurzeln, ihren Weg zu den großen Rollen des italienischen Fachs und über die Herausforderung, Normas emotionale Tiefe und vokale Raffinesse miteinander zu verbinden.

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Marigona Qerkezi soundcloud

Was sind Ihre frühesten Erinnerungen an Oper und Gesang? Und wann wurde Ihnen klar, dass Sie Sängerin werden wollen? Eine meiner frühesten und schönsten Opernerinnerungen ist, wie ich meine Mutter als Azucena in Verdis „Il trovatore“ auf der Bühne gesehen habe. Ich war bei vielen ihrer Vorstellungen, Konzerte und sogar Proben dabei, und habe mich in dieser magischen Welt immer zu Hause gefühlt. Sie war (und ist es noch heute, gemeinsam mit mir) ein großer Maria-Callas-Fan, und ich erinnere mich lebhaft daran, wie wir ihre Schallplatten gehört haben. Aufnahmen von Callas und anderen Legenden, die unser Zuhause mit Musik füllten. Mein Vater arbeitete außerdem in der Kostümabteilung der Oper, ich war also wirklich von dieser faszinierenden Welt komplett umgeben. Es war unmöglich, sich nicht darin zu verlieben. Ich wusste schon sehr früh, dass ich Teil dieser Welt sein wollte, und mit sechs Jahren trat ich bereits in Konzerten in Ljubljana auf, wo wir damals lebten.

Ihre Karriere begann mit Mozart, Ihr Bühnendebüt gaben Sie als Königin der Nacht in „Die Zauberflöte“, schnell gefolgt von der Contessa in „Le nozze di Figaro“. War dieser Fokus auf Mozart eine bewusste Entscheidung, eine Empfehlung Ihrer Lehrer oder entwickelte sich das ganz natürlich?
Es hat sich ganz natürlich entwickelt. Mozart ist für viele Sänger eine Grundlage, und seine Musik passte sehr gut zu meiner frühen stimmlichen Entwicklung und Technik. Rollen wie die Königin der Nacht, die Contessa oder Donna Anna waren wichtige Schritte zu Beginn meines Weges. Sie führten mich auch auf wunderschöne Bühnen, etwa das Royal Opera House in Muscat oder das New National Theatre in Tokio. Zu Beginn meiner Karriere habe ich auch viel Rossini gesungen, z. B. im Gran Teatre del Liceu, an der Dutch National Opera in Amsterdam oder beim Rossini Opera Festival.

Marigona Qerkezi & Stefano LaColla ijn „Norma“ an der Oper Frankfurt/Foto Barbara Aumüller

Auch in Rollen wie Lucia in Lucia di Lammermoor oder Gilda in Rigoletto haben Sie zu Beginn Ihrer Karriere Erfolge gefeiert. Hatten Sie die Höhe für diese Rollen von Natur aus, oder mussten Sie sich die Spitzentöne erarbeiten? Sowohl als auch. Ich hatte schon immer einen großen Stimmumfang und viel Flexibilität, aber um das in ein zuverlässiges und ausdrucksstarkes Werkzeug für diese extrem anspruchsvollen Rollen zu verwandeln, braucht es viele Jahre sorgfältigen, disziplinierten Trainings. Und das hört eigentlich nie auf. Die Stimme entwickelt sich ja ständig weiter, besonders wenn das Repertoire größer wird, und damit entwickelt sich auch das Training.

Wie haben Sie diese Kontrolle und Beweglichkeit der Stimme entwickelt, und diese präzisen Koloraturen? Vielen Dank! Ich glaube, Präzision ist genauso eine Sache des Geistes wie der Stimme. Durch konsequentes Training und gezielte Übungen wird die Koloraturtechnik zu einem kontinuierlichen Prozess. Da sich die Stimme immer weiterentwickelt, ist es wirklich eine tägliche Arbeit. Persönlich fand ich Koloraturen nie besonders schwierig, und dass ich Querflöte spiele, hat mir dabei definitiv geholfen. Ich bin überzeugt, dass man unabhängig von der natürlichen Veranlagung eine starke Grundlage für Koloraturtechnik aufbauen kann. Die Arbeit an der Beweglichkeit hält die Stimme fokussiert, flexibel und diszipliniert, auch wenn das Repertoire sie nicht ständig fordert.

Später sind Sie in Repertoire übergegangen, das zwar weiterhin virtuos ist, aber mehr dramatisches Gewicht verlangt. Rollen wie Anna Bolena, Leonora in „Il trovatore“, Lucrezia Contarini in „I due Foscari“, Abigaille in „Nabucco“ und natürlich Norma. Wie haben Sie diese Entwicklung stimmlich und darstellerisch gemeistert? Indem ich meiner Stimme genau zugehört und ihrer allmählichen Entwicklung über die Jahre vertraut habe. Es war klar, dass sie auf natürliche Weise an Volumen und Wärme gewonnen hat, ohne an Beweglichkeit zu verlieren. Diese Entwicklung geschah ganz organisch. Dramatisch gesehen sind viele der Rollen, die ich in letzter Zeit gesungen habe, starke, komplexe Frauen, die extreme emotionale Höhen und Tiefen erleben. Ich habe festgestellt, dass meine eigenen Lebenserfahrungen mir helfen, diese Figuren authentisch und mit mehr Tiefe darzustellen.

Momentan sind Sie als Norma an der Oper Frankfurt zu erleben. Wann und wo haben Sie diese Rolle zum ersten Mal gesungen? Norma gilt oft als Meilenstein für eine Sopranistin, als Synthese aus Virtuosität und emotionaler Tiefe. Wie nähern Sie sich dieser komplexen Figur? Ich habe mein Debüt als Norma 2024 an der Palm Beach Opera in Florida gegeben, und es war eine unglaublich bereichernde Erfahrung. Norma ist wirklich eine gewaltige Rolle, eine Frau voller Widersprüche und psychologischer Komplexität. Sie ist göttlich, mütterlich, leidenschaftlich und zugleich zerstörerisch. Diese Rolle verlangt mir alles ab, stimmlich wie emotional. Norma zu singen bedeutet, pure Gefühle zu transportieren.

Was sind aus rein vokaler Sicht die größten Herausforderungen beim Singen der Norma? Die größte Herausforderung ist es, der Stimme die richtige Farbe und Autorität zu geben und gleichzeitig die enormen technischen Anforderungen zu bewältigen, die diese Rolle stellt. Die Gesangslinie mit der emotionalen Erzählung in Einklang zu bringen und die dramatische Tiefe dieses Belcanto-Meisterwerks herauszuarbeiten, erfordert völlige Hingabe. Bellini schrieb mit solcher Eleganz, seine Linien sind lang, getragen und müssen stets ausdrucksvoll bleiben. Norma lebt genauso sehr von innerer Spannung wie von äußerem Glanz und dramatischer Kraft. In dieser Partitur steckt alles: Intensität, Zartheit, Stärke und ein Hauch göttlicher Schönheit. Es ist eine monumentale Rolle in jeder Hinsicht.

Gibt es neben Norma noch andere Rollen, die Sie als Wendepunkte in Ihrer künstlerischen Laufbahn betrachten? Es gibt mehrere Rollen Giuseppe Verdis, die besonders prägend für meine Entwicklung waren: Leonora in „Il trovatore“, Giovanna d’Arco, Elvira in „Ernani“, Aida, Abigaille und Lucrezia Contarini. Diese Partien sind mit bedeutenden Auftritten an Theatern und Festivals verbunden, etwa beim Festival Verdi in Parma, am Teatro La Fenice in Venedig, beim Savonlinna Opera Festival, den Festspielen St. Gallen, an der Polnischen Nationaloper, der Dubai Opera, der Ópera de Oviedo, in A Coruña oder an der Deutschen Oper am Rhein, um nur einige zu nennen. Diese Rollen gehören heute zu meinem festen Repertoire und haben mich künstlerisch stark geprägt. Ich nähere mich auch immer mehr Puccini-Rollen. Neben Mimì („La Bohème“) und Manon Lescaut wird nun bald auch die wunderbare Tosca dazukommen.

Wenn Sie nur eine einzige Oper mit auf eine einsame Insel nehmen dürften, welche wäre es? Und wer ist Ihr Lieblingskomponist? Oh, wenn ich wirklich nur eine Oper mitnehmen dürfte, würde ich einfach viele Reisen auf die Insel unternehmen, um ganz viele Opern mitzunehmen! (lacht)
Aber im Moment würde ich Verdis „Messa da Requiem“ wählen. Das ist zwar keine Oper im eigentlichen Sinn, enthält aber all das Drama, die Tiefe und die emotionale Intensität einer Oper.
Was meinen Lieblingskomponisten betrifft, ist es schwer, nur einen zu nennen. Verdi und Puccini haben immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen gehabt.

Zum Schluss: Können Sie uns von einigen Ihrer kommenden Engagements erzählen? Nach der Norma-Serie in Frankfurt singe ich die Aida am Teatro Lirico di Cagliari, gebe mein Debüt als Tosca an der Royal Danish Opera in Kopenhagen, bin erneut als Norma in konzertanten Aufführungen an der Staatsoper Prag zu erleben und gebe mein Debüt als Lady Macbeth am Theatro Municipal in São Paulo, Brasilien. Das sind einige der Abenteuer, auf die ich mich schon sehr freue! (Foto oben: Marigona Qerkezi/Sabonlinna Opera) Beat Schmid