Archiv des Autors: -

Kenneth Riegel

.

Am 29. April 1938 in West Hamburg, Pennsylvania, geboren, zeichnete sich die musikalische Karriere des US-amerikanischen Tenors Kenneth Riegel frühzeitig ab. Sein Operndebüt erfolgte 1965 in Hans Werner Henzes Oper König Hirsch in Santa Fe. Noch im selben Jahr debütierte Riegel am Royal Opera House, Covent Garden, in London. Zu seinem Schwerpunkt gerieten die New Yorker Opernhäuser: 1969 begann sein Engagement an der New York City Opera, ab 1973 auch an der Met, wo er auf nicht weniger als 102 Auftritte kam. Bei den Salzburger Festspielen konnte man ihn 1975 erleben, später auch in Paris (1979) und Hamburg (1981). Riegels Diskographie umfasst u. a. Haydns Harmoniemesse unter Leonard Bernstein (Sony), Mozarts Don Giovanni unter Lorin Maazel (Sony; auch als Film verewigt), Bergs Lulu unter Pierre Boulez (DG) und Richard Strauss‘ Salome unter Christoph von Dohnányi (Decca). Bereits am 28. Juni 2023 verstarb der Sänger, der 2005 seinen Bühnenabschied genommen hatte, in Sarasota, Florida, im Alter von 85 Jahren. Daniel Hauser

Erlösung dem Erlöser

.

Es ist vollbracht. Wahrlich, es war viel Geduld notwendig, aber nun liegt der einzige bis dato unveröffentlichte Parsifal unter Hans Knappertsbusch komplett vor (Hänssler PH23002; den zweiten Aufzug daraus gab es beim selben Label bereits auf einem Martha Mödl gewidmeten Album).  Nichteingeweihte konnten es ohnehin nicht nachvollziehen, weshalb die Verehrer des legendären Dirigenten hinsichtlich dessen wahrlich reichhaltiger Parsifal-Diskographie diesem Tage entgegenfieberten. Nicht weniger als ein Dutzend Gesamtaufnahmen des Bühnenweihfestspiels gab es bereits unter der Stabführung des „Kna“, sämtlich aus dem Bayreuther Festspielhaus und erschienen auf diversen Labels. Am berühmtesten davon freilich die offiziellen Einspielungen von 1951 anlässlich der Wiedereröffnung von Neu-Bayreuth (Decca) und von 1962 (Philips), letztere die einzige in Stereo. Beide wurden über einen längeren Zeitraum mitgeschnitten, während es sich bei den anderen Jahrgängen um echte Live-Mitschnitte eines einzigen Abends handelt. Möglich gemacht wurde dies, weil der Bayerische Rundfunk von Anfang an von den wiedererstanden Bayreuther Festspielen in Echtzeit übertrug. Folglich haben sich also auch die anderen Jahre erhalten, in denen Knappertsbusch am Pult stand. Und dies war von 1951 bis einschließlich 1964 fast durchgängig der Fall. Nur einmal setzte der hochgewachsene Elberfelder komplett aus, 1953 nämlich, wo an seiner Statt Clemens Krauss einsprang. Der Grund war die Streichung der Taube in der Schlussapotheose des Finales durch Wieland Wagner, was Knappertsbusch endgültig zu weit ging, der sich mit der minimalistischen Inszenierung schon allgemein nur schwer anfreunden konnte. Im Folgejahr kehrten sowohl die gestrichene Taube als auch Knappertsbusch zurück, wie Bernd Zegowitz in seinem kundigen Einführungstext zu berichten weiß. Im folgenden Jahrzehnt blieb der „Kna“ dann unangefochten Bayreuths Gralshüter; einzig 1957 dirigierte der belgische Dirigent André Cluytens zwei der vier Vorstellungen (wobei der BR wiederum eine unter Knappertsbusch für die Nachwelt festhielt). Von den besagten Rundfunkmitschnitten war bislang nur derjenige vom 13. August 1964 offiziell unter Verwendung der Originaltonbänder und mit ausdrücklicher Genehmigung aus Bayreuth auf Compact Disc erschienen (Orfeo), was gewiss darin begründet liegt, dass es sich um das letzte Dirigat Knappertsbuschs überhaupt handelte. Die übrigen Jahre wurden von teils etwas obskuren Labels auf CD gepresst, waren aber mit einer Ausnahme mehr oder minder einfach erhältlich.

Eben dieser Sonderfall, die Rundfunkübertragung aus dem Jahre 1955, wird nun reichlich verspätet nachgereicht, dafür mit Lizenz des BR und unter Mithilfe des Wagner-Clans. Das 55er Jahr war für Bayreuth ein besonders bedeutsames, war Decca doch mit eigenen Tontechnikern angereist und hatte sowohl den kompletten Ring als auch den Fliegenden Holländer (beide dirigiert von Joseph Keilberth) professionell unter Live-Bedingungen eingespielt. Die Mitschnitte erschienen freilich erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung bei Testament. Wieso ausgerechnet der Parsifal aus dem besagten Jahr solange unter Verschluss gehalten wurde, bietet Raum zu Spekulationen. Vermutlich spielte auch der Zufall eine Rolle. Besetzungstechnisch ist 1955 besonders spannend: Martha Mödl, die Kundry seit der Neueröffnung 1951, sang diesmal auch das Altsolo (so auch im Folgejahr); besagte Stimme aus der Höhe gab die „unpathetische Hochdramatische“ später nur noch in ihrem letzten Bayreuth-Jahr 1967. Der expressive Amfortas stellte Dietrich Fischer-Dieskaus Bayreuther Debüt in dieser Partie dar, die er dort einzig 1956 wiederholen sollte. Eine wirkliche diskographische Bereicherung ist der Titurel von Hermann Uhde, den er in Bayreuth tatsächlich nur an diesem 16. August 1955 sang und diese Minirolle gehörig aufwertete. Mit Gustav Neidlinger übernahm ein weiterer Hochkaräter den Klingsor, gleichsam in der Uhde-Nachfolge. Als Gurnemanz brillierte Ludwig Weber, der die fordernde Partie in Bayreuth ebenfalls schon seit 1951 sang. Mit dem Chilenen Ramón Vinay in der Titelpartie konnte ein waschechter Heldentenor vom alten Schlag mit baritonalem Fundament gewonnen werden. Selbst die kleinen Rollen waren 1955 luxuriös besetzt, zuvörderst Josef Traxel (1. Gralsritter), Gerhard Stolze (3. Knappe), Elisabeth Schärtel (2. Knappe und Blumenmädchen) und Jutta Vulpius (Blumenmädchen). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die deutsch-deutsche Besetzung, waren die Vulpius und Stolze doch DDR-Bürger. Hinzu trat der vom Altmeister Wilhelm Pitz einstudierte Festspielchor.

Obwohl nicht immer jeder Einsatz perfekt ist (merkliche Unstimmigkeiten zwischen Dirigent und Ludwig Weber bei der Verwandlungsmusik im ersten Aufzug) und es hie und da hörbare Wackler im unsichtbaren Orchestergraben gibt, stellt sich doch sogleich die Magie ein, die nur ein Dirigent der Statur Knappertsbuschs bei diesem Werk zu erzielen imstande war. Der 55er Parsifal ist in der Tat bereits von einer dramatischeren Tendenz als die getragenere 51er Darbietung; ein Trend, der sich bis 1964 fortsetzen sollte. Dies wird schon im Vorspiel zum ersten Aufzug deutlich, wenn man die Spielzeiten vergleicht: 14:13 (1951), 13:18 (1952), 12:33 (1955), 12:10 (1959), 12:02 (1962).

Hans Knappertsbusch/ vergl. die Website hansknappertsbusch.de

Klanglich handelt es sich um zufriedenstellendes Rundfunk-Mono, aus dem das Mastering von THS-Studio das Menschenmögliche herausholte (die problematischen Glocken im dritten Akt könnten auch einer ungünstigen Aufstellung der Mikrophone geschuldet sein). Die Textbeilage ist vorzüglich und wahrhaft informativ. Interessant auch die im Booklet enthaltenen Photographien, darunter eine besondere Rarität, wo der „Kna“ mit dem Ausdruck ehrlicher Verehrung die Hand der erkennbar geschmeichelten Mödl hält. Für Knappertsbusch-Freunde ohnehin eine Pflichtanschaffung, für alle anderen eine optionale Ergänzung der eigenen Parsifal-Sammlung. Daniel Hauser

Gabriele Schnaut

.

Am 24. Februar 1951 in Mannheim geboren und anschließend in Mainz aufgewachsen, zeigte sich die musikalische Ader bei Gabriele Schnaut schon früh. Über ein Violine- und Musikwissenschaftsstudium kam sie ab 1971 zum Gesang (Studien in Frankfurt/M. und Ost-Berlin). 1976 erfolgte dann das erste feste Engagement an der Staatsoper Stuttgart. Über Darmstadt (1978-1980) und Mannheim (1980-1986) kam die Schnaut an die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf (1986-1990). Hatte sie als Altistin begonnen, ging es über den Mezzosopran 1985 schließlich ins hochdramatische Sopranfach. Die Musik von Wagner bildete eine feste Säule in ihrem Repertoire. Schon 1977 debütierte Schnaut bei den Bayreuther Festspielen (Waltraute und 2. Norn), sang dort später auch die Venus (1985-1987) und die Sieglinde (1986), vor allem aber die Ortrud (1987-1991 und nochmal 1999). Ihre letzten dortigen Auftritte absolvierte sie im Jahre 2000 als Brünnhilde im kompletten Nibelungenring. Daneben war es gerade Richard Strauss, der im Zentrum ihres Schaffens stand (Elektra, Färberin, Amme, Octavian), aber durchaus auch Puccini (Tosca und Turandot), Bizet (Carmen), Janacek (Küsterin) und Berg (Marie). Gastspiele führten sie u. a. nach Wien, Mailand, London, Paris, Genf, Rom, Barcelona, Warschau, New York, Chicago, Antwerpen und Tokio. Auch als Konzertsängerin (Oratorium und Lied) kam sie zu Ehren. Gabriele Schnaut war Hamburgische (1995) und Bayerische Kammersängerin (2003) und erhielt 2006 den Bayerischen Verdienstorden. Divenhafte Züge entwickelte sie trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge mitnichten. Die letzten gut zwei Jahrzehnte verlebte sie in Rottach-Egern im oberbayerischen Landkreis Miesbach. Am 19. Juni 2023 ist Gabriele Schnaut im Alter von 72 Jahren nach schwerer Krankheit verstorben. Daniel Hauser

God Save the King

.

Diejenigen Zeitgenossen, welche die Krönung der britischen Königin Elizabeth II. im Jahre 1953 wirklich bewusst miterlebt haben, sind mittlerweile um die achtzig oder älter, liegt dieses Ereignis doch bereits sage und schreibe 70 Jahre zurück. Großbritannien und die Queen, das sollte über sieben Jahrzehnte unzertrennbar miteinander verbunden bleiben, so dass es schwerfällt, sich nunmehr wiederum an einen King zu gewöhnen. Tatsächlich wurde England freilich die meiste Zeit von Königen regiert, wenngleich es eben drei Frauen waren, denen eine besonders lange Regierungszeit vergönnt war, nämlich den beiden Elizabeths (1558-1603 und 1952-2022) und Victoria (1837-1901).

Es nimmt nicht wunder, dass das Label Coro die Krönung Charles‘ III. am 6. Mai 2023 zum Anlass nimmt, nun eine aktualisierte Neuauflage spezifischer Krönungsmusik aufzulegen (COR16196). Es zeichnet verantwortlich das Chor- und Orchester-Ensemble The Sixteen unter Harry Christophers, das sich schon seit Jahrzehnten der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis verpflichtet fühlt. Tatsächlich handelt es sich abgesehen von einem der 20 enthaltenen Stücke um Wiederverwertungen aus nicht weniger als zehn älteren Veröffentlichungen der Sixteen, die zwischen 1990 und 2021 erschienen sind. Die einzige wirklich Neueinspielung stellt O Lord, Make Thy Servant Elizabeth von Cecilia McDowall dar, welche von der Genesis Foundation in Auftrag gegeben wurde und sowohl eine Hommage an die verstorbene Queen als auch an das gleichnamige Stück von William Byrd (dort freilich auf Elizabeth I. bezogen) darstellt (Aufnahme: Jänner 2023). Die Auswahl der 70-minütigen CD ist insgesamt gut geglückt und gibt einen repräsentativen Überblick über 500 Jahre englischer bzw. britischer Krönungsmusik, angefangen bei Thomas Tallis (Sing and Glorify) über Orlando Gibbons (Great King of Gods), Henry Purcell (O Sing unto the Lord; Music, the Food of Love) und den unvermeidlichen Georg Friedrich Händel (Zadok the Priest; The King Shall Rejoice) bis hin zu Michael Tippett (Dance, Clarion Air) und Benjamin Britten (Tänze aus Gloriana; Jubilate Deo). Ergänzt wird dies um This Day Day Dawes von einem anonymen Verfasser. Alle Werke tragen dem feierlichen Charakter Rechnung; Atonalität ist insofern auch bei den neuesten Kompositionen nicht zu befürchten. Die Ausführung gerät erwartungsgemäß auf sehr hohem künstlerischen Niveau und zeugt von der anhaltenden Professionalität des HIP-Ensembles. Auch klanglich gibt es nichts auszusetzen. Die reichhaltige (wenn auch nur englischsprachige) Textbeilage unterstreicht den positiven Gesamteindruck. Insofern kann man dem Ausruf des Dirigenten Harry Christophers im Vorwort nur nachdrücklich unterstreichen: Long live the King! Daniel Hauser

Lange überfällige Würdigung

.

Der 1878 im Fürstentum Monaco geborene und später in Wien ansässige österreichische Komponist Franz Schreker ist heutzutage am ehesten durch seine Opern in Erinnerung geblieben. Besonders Die Gezeichneten, uraufgeführt 1918, erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Dass darüber die Orchesterwerke und auch die Lieder in den Hintergrund rückten, ist seit Schrekers Tod im Jahre 1934 tatsächlich schwerlich abzustreiten, wie ein Blick in die bis heute sehr überschaubare Schreker-Diskographie beweist. Auch um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, hat es sich der Dirigent Christoph Eschenbach, mittlerweile 83 und seit langem von der Musik des frühen 20. Jahrhunderts fasziniert, zur Aufgabe gemacht, einige wenig im Mittelpunkt stehende Kompositionen Schrekers auf Tonträger einzuspielen, wobei ihm die Deutsche Grammophon Gesellschaft erfreulicherweise mit offenen Armen entgegenkam. Die jetzt erscheinende Doppel-CD dokumentiert das Ergebnis dieser fruchtbaren Zusammenarbeit (DG 4863993). Mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Eschenbach seit 2019 vorsteht, konnte ein in der Moderne bestens bewanderter Klangkörper gewonnen werden.

Eschenbach, der Schreker in der Nachfolge der Symphonik Gustav Mahlers sieht, verhehlt nicht die Schwierigkeiten, welche diese Musik auch erfahrenen Orchestern zu bereiten im Stande ist. Tatsächlich meistert „sein“ Klangkörper diese mit Bravour. Der klugen Auswahl an Werken steht zuvörderst das sogenannte Nachtstück, die über 17-minütige Zwischenmusik aus dem dritten Akt der Oper Der ferne Klang (1912), ein in Eschenbachs Worten „großartiges symphonisches Poème“, das wirklich auch als eigenständige und atmosphärische Tondichtung bestehen könnte. Diesem folgt als Schmankerl die wienerisch angehauchte und intime Valse lente (1908) für kleines Orchester. Die facettenreiche Kammersymphonie (1916), untergliedert in vier Sätze höchst unterschiedlicher Länge vom über zehnminütigen Kopfsatz bis zum nicht einmal zweiminütigen dritten Satz, ist ein Musterbeispiel für Schrekers Gespür für Klangfarben. Vierteilig daher kommt ebenfalls die Romantische Suite (1903), ein Frühwerk, das entgegen der Betitlung bereits durchaus moderne Anklänge in sich trägt. Die ein Vierteljahrhundert später für den Rundfunk komponierte Kleine Suite (1928), in sechs Sätze unterteilt, ist ganz neoklassizistisch angehaucht.

Mit Vom ewigen Leben (1923/27) werden zwei so bezeichnete lyrische Gesänge für Sopran und Orchester beigesteuert, die auf Texten von Walt Whitman basieren, wobei Hans Reisiger die deutsche Übersetzung besorgte. Den solistischen Part übernimmt formidabel die israelische Sopranistin Chen Reiss. Für den Liederzyklus Fünf Gesänge (1909/22) schließlich konnte der renommierte Bariton Matthias Goerne gewonnen werden. Die Lieder handeln von Sehnsucht, Entfremdung, Verzweiflung, nostalgischen Erinnerungen und nicht zuletzt von Tod und Erlösung. Abgesehen vom ersten Lied „Ich frag nach dir jedwede Morgensonne“, das auf den Erzählungen aus tausendundeiner Nacht beruht (Übersetzung: Ernst Ludwig Schellenberg), wird auf Gedichte der symbolistischen Dichterin Edith Ronsperger zurückgegriffen. Beiden Solisten ist die gute Textverständlichkeit hoch anzurechnen.

Angesichts der referenzträchtigen Darbietung aller Beteiligten kann man nicht anders als eine nachdrückliche Empfehlung für dieses Album auszusprechen. Das tadellose Klangbild (Aufnahme: Konzerthaus Berlin, März 2021, Mai 2021 und Mai/Juni 2022) unterstreicht den positiven Gesamteindruck. Der lehrreiche Einführungstext von Mario-Felix Vogt tröstet etwas über die fehlenden Liedertexte hinweg – das einzige Manko dieser Neuerscheinung. Daniel Hauser

Ein französischer Liebestrank

.

Eine kaum mehr für möglich gehaltene Renaissance erlebt seit einigen Jahren der französische Opernkomponist Daniel-François-Esprit Auber, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Grenzen Frankreichs hinaus hochpopulär. Großen Anteil an dieser Wiederentdeckung hat das Label Naxos, welches mit der modernen Erstaufführung von Le Philtre (Der Liebestrank) einen weiteren Coup landen kann (Naxos 8.660514-15). Zu verdanken ist diese Einspielung den Rossini-Festspielen in Bad Wildbad, die sich dankenswerterweise auch vermehrt der Zeitgenossen dieses Komponisten annimmt. Tatsächlich ist diese am 20. Juni 1831 am Théâtre de l’Opéra (und somit nicht an der Opéra-Comique) in Paris uraufgeführte zweiaktige Oper gewissermaßen das Original des viel berühmteren Elisir d’amore von Donizetti und erlebte in Paris bis 1862 insgesamt nicht weniger als 243 Aufführungen, was für die große und anhaltende Beliebtheit des zweistündigen Werkes beim Pariser Publikum spricht. Das Libretto steuerte, wie so häufig, der Routinier Eugène Scribe bei. Ähnlich wie beim Maskenball und bei Manon Lescaut wurden Aubers Fassungen der jeweiligen Stoffe später durch andere Komponisten verdrängt. Dies ist keineswegs durch mangelhafte Qualität erklärlich, wovon die insgesamt sehr adäquat besetzte Bad Wildbader Aufführung zeugt.

Die Geschichte ist weithin geläufig, auch wenn die Namen der Akteure bei Auber anders lauten. Der Tenor Patrick Kabongo gibt einen splendiden Guillaume und ist in diesem Genre erkennbar gut aufgehoben. Im Sopranpart der Térézine ist Luiza Fatyol zu hören, die mit hörbarer Spielfreude agiert. In den weiteren Partien schließlich, sämtlich stilgerecht und rollendeckend, der Bariton Emmanuel Franco als Joli-Cœur, der Bassist Eugenio Di Lieto als Fontanarose sowie die Sopranistin Adina Vilichi als Jeannette. Als Dirigent zeichnet mit dem notwendigen Gespür verantwortlich Luciano Acocella an der Spitze des Philharmonischen Chors und Orchesters Krakau. Die klanglich trotz der Live-Situation zufriedenstellende Einspielung entstand zwischen dem 13. und 15. Juli 2021 in der Offenen Halle Marienruhe in Bad Wildbad. Die deutschsprachige Textbeilage von Paolo Fabbri fällt informativ aus, das Libretto ist mittels Weblink zumindest auf der Naxos-website im Netz abrufbar, allerdings nur auf Französisch und ohne Übersetzung. In jedem Falle eine willkommene Ergänzung der immer breiter aufgestellten Auber-Diskographie. Daniel Hauser

Klangsinnlicher Strawinski aus Paris

.

Ein geschlagenes Jahr ist vergangen, seitdem der finnische Dirigent Klaus Mäkelä sein vielbeachtetes Debüt beim Traditionslabel Decca mit einem kompletten Zyklus der sieben Sinfonien von Jean Sibelius machte. Lange musste man sich gedulden, bis nun die zweite diskographische Signatur des charismatischen Nordeuropäers erfolgt (Decca 485 3946). Die Auswahl der Werke ist gewiss nicht zufällig. Hatte man bei Sibelius aus die Osloer Philharmoniker gesetzt, denen Mäkelä seit 2020 vorsteht, ist es nun das Orchestre de Paris, wo er seit 2022 ebenfalls als Chefdirigent fungiert. Im Fokus stehen diesmal Igor Strawinski und seine beiden Ballette L’Oiseau de feu (Der Feuervogel) und Le Sacre du printemps (Die Frühlingsweihe), eingespielt in der Pariser Philharmonie im September und Oktober 2022. Beide Werke feierten ihre Uraufführung in Paris, der Feuervogel am 25. Juni 1910 im Théâtre National de l’Opéra und die Frühlingsweihe am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées. Von daher kann man von einem hohen Grad an Idiomatik hinsichtlich der Wahl des eingesetzten französischen Orchesters sprechen.

Vom Feuervogel gibt es neben der kompletten Ballettmusik (1910) nicht weniger als drei vom Komponisten arrangierten Suiten, die auf 1911, 1919 und 1945 datieren. Einzig die erste Suite bedient sich derselben Instrumentierung wie im ursprünglichen Ballett. In den späteren Suiten hat Strawinski das Orchester verkleinert, so entfielen vor allem die direkt auf der Bühne eingesetzten Blechbläser (drei Trompeten, zwei Tenor-Wagnertuben und zwei Bass-Wagnertuben) und zwei der drei Harfen. Dass Mäkelä nun die vollständige Ballettmusik einspielt, darf ausdrücklich begrüßt werden, da die Diskographie nicht derart umfänglich ist, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Tatsächlich dominieren die drei deutlich kürzeren Suiten eindeutig und erfolgte die erste Gesamtaufnahme der kompletten Urfassung erst im Jahre 1959 durch Antal Doráti auf dem Label Mercury. Es folgte sodann 1961 die historisch bedeutsame Einspielung durch den Komponisten selbst für Columbia (1967 nahm Strawinski auch noch die 1945er Suite auf). In der Folge nahmen sich bedeutende Dirigenten wie Pierre Boulez (1967), Ernest Ansermet (1968), Seiji Ozawa (1972 und 1983), Dmitri Kitajenko (1991) und Andris Nelsons (2009) der ungekürzten Originalpartitur an. Mäkelä muss sich also hochkarätiger Konkurrenz stellen. Es darf vorweggenommen werden, dass sich die Neueinspielung der Decca in diesem illustren Kreise gut behaupten kann. Mäkeläs Ansatz begreift das Werk noch aus der spätromantischen Tradition heraus und sieht es gewissermaßen als den letzten Ausläufer dieser von Tschaikowski perfektionierten Gattung. Es nimmt insofern nicht wunder, dass es zugespitztere, sozusagen drastischere Deutungen gibt, zuvörderst besagte Ersteinspielung Dorátis, der in seinen späten Jahren übrigens noch eine Neuaufnahme bei Decca vorlegte (1982). Von besonderem Interesse ist freilich die Tatsache, dass das Orchestre de Paris mit schon genanntem Ozawa vor genau einem halben Jahrhundert bereits eine fulminante Darbietung vorlegte. An die sensationell herausgearbeitete Durchleuchtung der Partitur á la Boulez will Mäkelä augenscheinlich nicht anknüpfen. In keiner anderen mir bekannten Aufnahme wird das Bühnenorchester so akribisch hörbar gemacht wie bei Boulez. Mäkelä, dessen Tonfall insgesamt süffiger daherkommt, nimmt sich mit 48 Minuten auch mehr Zeit als seine Vorläufer (Strawinski selbst benötigte fünf Minuten weniger). Dies führt zu einer lyrischeren Note, die diskographisch gewiss eine Bereicherung darstellt.

Ungleich rabiater, gleichsam der Urknall einer neuen Zeitrechnung, kommt natürlich die Frühlingsweihe daher, deren Pariser Erstaufführung unter Pierre Monteux einen handfesten Skandal auslöste. Entsprechend bedeutsam ist freilich Monteux‘ späte Stereoeinspielung für Decca mit dem legendären Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire (1956). Nicht weniger eminent Leonard Bernsteins radikale Deutung (1958), welche auf den Beifall Strawinskis selbst stieß und gut die Eruption vermittelt, welche die Uraufführung wohl ausgelöst haben muss. Mäkelä sieht sich im Falle des Sacre einer noch geballteren Konkurrenzsituation gegenüber, wurde das Werk seit 1929 (Strawinskis Ersteinspielung) doch weit über 100 Mal in dieser Form aufgenommen (Suiten gibt es hier keine). Es ist nicht einfach, weitere Einspielungen besonders hervorzuheben, doch muss gerade die urrussische Interpretation von Jewgeni Swetlanow (1966) auf jeden Fall Erwähnung finden. Aus historischer Warte bedeutsam ist die unter dem Dirigat Leopold Stokowskis entstandene und in frühestem Zweikanalton produzierte gekürzte Fassung für den legendären Disney-Film Fantasia von 1940. Mit gut 35 Minuten Spielzeit befindet sich Mäkelä auch beim Sacre unter den langsameren Interpreten, wobei die durchschnittliche Spieldauer mit etwa 33-34 Minuten nur unwesentlich schneller ist (Bernstein kam in seiner letzten Einspielung von 1982 gar auf 37 Minuten). Nach der recht auszelebrierten Einleitung kommen die Vorboten des Frühlings deutlich weniger schroff hervor als etwa bei Doráti (1959), Leinsdorf (1973) oder Solti (1974), viel eher der Klangästhetik Karajans (1963 und 1977) nahestehend. Die Detailverliebtheit, die dergestalt wiederum zu Tage tritt, ist auf ihre Art faszinierend. Die große dynamische Bandbreite der Einspielung wird bei diesem Werk besonders deutlich, ohne dass ruhigere Abschnitte nahezu unhörbar würden.

Eine in der Summe bemerkenswerte Premiere Mäkeläs und seines Pariser Klangkörpers, welcher womöglich der ganz große Aha-Effekt abgeht, der seinen Sibelius mit den Osloern auszeichnete, und die hie und da beinahe introvertiert daherkommt, aber bei nüchterner Betrachtung eine vollauf legitime Art der Darbietung der beiden Ballettwerke darstellt. Die Textbeilage fällt gediegen aus. Daniel Hauser

Isländische Orchesterwerke für die Bühne

.

Island nimmt innerhalb der Musikgeschichte der nordischen Länder eine Sonderrolle ein. Spärlich ist die isländische Tradition der klassischen Musik zu nennen, was schon daran liegt, dass es bis 1921 kein landeseigenes Orchester gab und bis 1930 auch kein isländisches Konservatorium. Insofern kann auf gerade ein Jahrhundert zurückgeblickt werden. Der landläufig vermutlich bekannteste Komponist Islands war Jón Leifs (1899-1968), der gleichwohl wiederum einen skurrilen Außenseiter darstellt, nicht typisch ist für die klassische Musik Islands, und dessen schroffes und exzentrisches Werk mitunter als die lauteste Musik überhaupt beworben wurde. Diskographisch ist Leifs allerdings vergleichsweise sehr gut abgedeckt, was so für Páll Ísólfsson (1893-1974), den Begründer der Musikschule Reykjavík, mitnichten gilt. Bis dahin musste eine Ausbildung zum klassischen Musiker zwingend im Ausland erfolgen, in diesem Falle in Leipzig. Anders als Leifs kehrte Ísólfsson nach Beendigung seines Studiums in seine Heimat zurück und wirkte dort nicht nur als Direktor der besagten Reykjavíker Musikschule (1930-1957), sondern war daneben auch Leiter der Musikabteilung des Isländischen Rundfunks (1930-1959) und Organist der Domkirche zu Reykjavík (1939-1968). Die Komponistin Jórunn Vidar (1918-2017) konnte aufgrund der Pionierarbeit Ísólfssons dann als Vertreterin der nächsten Generation isländischer Musikschöpfer bereits am Konservatorium der Landeshauptstadt ihre Studien beginnen.

Das Label Chandos bringt nun eine hochinteressante Scheibe auf den Markt (CHSA 5319), die sich der Musik von Ísólfsson und Vidar annimmt. Es zeichnet, idiomatisch astrein, verantwortlich das Isländische Sinfonieorchester unter der Leitung des britischen Dirigenten Rumon Gamba.

Jeweils zwei Werke der beiden Komponisten wurden berücksichtigt, im Falle von Ísólfsson zwei Bühnenmusiken aus den 1940er Jahren. Die Schauspielmusik zum Drama Das Fest auf Solhaug von Henrik Ibsen (1943) entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter denkbar schwierigen Bedingungen. Obwohl Reykjavík seinerzeit bloß um die 40.000 Einwohner hatte, gelang es, eine eigene Theatergruppe, ein Orchester und das notwendige Publikum dafür zu mobilisieren. Es war als Akt der Solidarität für das deutsch besetzte Norwegen zu verstehen. Die fünfsätzige Bühnenmusik, die einer Suite ähnelt, besteht aus einer Ouvertüre, einem Hochzeitsmarsch, einem norwegischen Volkstanz, dem Portrait eines Bergkönigs und einem abschließenden Trauermarsch und kommt auf eine Länge von einer knappen Viertelstunde. Die Schauspielmusik für Aus Jónas Hallgrímssons Bilderbuch (1945) war gar noch ehrgeiziger und trug patriotischere Züge, war doch die Loslösung Islands von der Krone Dänemark im Vorjahr erfolgt. Der isländische Poet Jónas Hallgrímsson (1807-1845) gilt in seinem Heimatland als Nationalheld. Die Bühnenmusik ist in diesem Falle für bloßes Streichorchester gesetzt, daher leichtgewichtiger, dauert ebenfalls knapp 14 Minuten und umfasst sechs Sätze: ein Vorspiel, einen Marsch, ein Menuett, ein Volkslied sowie abschließend ein Paar isländischer Volkstänze. Wer den gewöhnungsbedürftigen und zuweilen enervierenden Tonfall Leifs‘ im Ohr hat, wird mit Freude feststellen, dass Ísólfsson sich einer deutlich gemäßigteren und letztlich gefälligeren, mehr in der Nachfolge Griegs stehenden musikalischen Sprache bedient, die authentisches Lokalkolorit aufweist.

Jórunn Vidar ist mit Ballettmusik vertreten, zum einen Eldur (Feuer) von 1950, eine knapp zehnminütige Komposition, bei der nach den Worten des Komponisten folgende Bilder in den Sinn kommen: „lodernde Freudenfeuer, Stichflammen, Fanale, Fackeln, Glut, Asche“. Das Feuer, zu Beginn durch einen Feuerstein entfacht, durchläuft verschiedene Phasen, erlischt zwischenzeitlich auch, nur um letztlich wieder aufzuflammen und alles zu verschlingen. Das Ballett wurde zusammen mit der Tänzerin Sigrídur Ármann konzipiert und gelangte als erstes Ballett des neuen Nationaltheaters von Reykjavík auf die Bühne. Dasselbe Team Vidar/Ármann schuf zwei Jahre später auch Ólafur Liljurós, ein Handlungsballett nach einer im Norden sehr geläufigen Volksballade. Diese handelt von Ólafur, der vier Elfinnen begegnet und von diesen betört wird, ihnen aber widersteht und an seinem Gott (in einer Version Christus) festhalten will. Schließlich ringt eine Elfe dem Helden einen Kuss ab, währenddessen sie ihm indes ein zuvor verstecktes Schwert ins Herz stößt. Die kunstvolle Ballettmusik ist etwa halbstündig und untergliedert sich in acht Nummern. Auch die Tonsprache Vidars ist tonal, allenfalls dezent modern und insofern hörbar der Tradition verpflichtet, wobei man durchaus eine Vorbildwirkung gerade Ísólfssons heraushören kann.

Der künstlerische Wert dieser Produktion darf geflissentlich als auf höchstem Niveau bezeichnet werden. Klanglich lässt die Einspielung zudem keine Wünsche offen und liegt neben der gewöhnlichen CD-Spur auch im hochauflösenden SACD-Format, sowohl stereophon als auch als Mehrkanalton, vor (Aufnahme: Eldborg, Harpa, Reykjavík, 13.-15. Juni 2022). Die Textbeilage fällt labeltypisch vorbildlich aus (Einführungstext von Paul Griffiths auf Englisch, Deutsch und Französisch). Insgesamt eine echte Bereicherung für Freunde nordeuropäischer Musik, die Neuentdeckungen aus der Peripherie gegenüber aufgeschlossen sind (13. 03. 23). Daniel Hauser

Gebührende Wiederentdeckung

.

„Was Strauß einst war für Wien – ist Lincke für Berlin!“ Anlässlich des 75. Geburtstages des Berliner Komponisten Paul Lincke im Jahre 1941 dichtete der Komiker Franz Heigl diese zutreffenden Zeilen. Endlich scheint sich diese alte Erkenntnis auch in der Schallplattenindustrie nach Jahrzehnte langem Dornröschenschlaf neuerlich durchzusetzen. Das umtriebige Label cpo bringt früher als erwartet Vol. 2 der Ouvertüren Linckes (cpo 555 448-2). Wie in Vol. 1 sind neun Stücke enthalten und selbst die Gesamtspielzeit ist mit 66 Minuten identisch.

Auch wenn Lincke als Schöpfer der Berliner Operette das Gegenstück zu Johann Strauss Sohn darstellt, so waren seine eigentlichen Vorbilder eigentlich Jacques Offenbach, Franz von Suppè und Carl Millöcker, was sich anhand der Instrumentation nachweisen lässt.

Chronologisch den Anfang macht mit Sinnbild (1898) einer von Linckes wenigen klassischen Konzertwalzern. Dieser entstand während seiner Pariser Zeit. Den eigentlichen Durchbruch feierte der Komponist nach seiner Rückkehr nach Berlin mit der Operette Frau Luna (1899), deren relativ kompakte Ouvertüre die Einleitung zu dieser Neuerscheinung darstellt. Die Operette, die am Apollo-Theater zum größten Erfolg geriet, soll übrigens demnächst komplett bei cpo erscheinen. Noch aus demselben Jahr 1899 stammt auch die eingängige Ouvertüre zu Im Reiche des Indra, exotisch in Indien verortet. Schon in dieser Orchesterintroduktion wird die berühmte Melodie von Wenn auch die Jahre enteilen zitiert, einst im Repertoire jedes bedeutenden Operettensängers. Mit Nakiris Hochzeit (1902) geht es sodann nach Thailand. Die schon in Vol. 1 enthaltene Siamesische Wachtparade entstammt derselben Operette und wurde zum Gassenhauer.

Die ganz große Zeit der Lincke-Einakter war bereits 1906 vorüber, als er mit Das blaue Bild eine sogenannte Fantasie in einem Akt präsentierte. Deren französisch angehauchte Ouvertüre erschien allerdings erst 1911 einzeln. Aus dieser Zeit stammt auch der eindrucksvolle Brandbrief-Galopp. Doch gelang es dem einfallsreichen Lincke, sich schon 1908 neu zu erfinden mittels seiner legendär gewordenen Jahresrevuen am Metropoltheater.

Nach ein paar insgesamt vergeblichen Versuchen, in den letzten Friedensjahren vor dem Ersten Weltkrieg mit großen dreiaktigen Operetten nach Wiener Vorbild zu punkten, gab Lincke 1917 die Komposition für die Bühne zunächst gänzlich auf. Es folgten Ouvertüren nach dem bewährten alten Muster, nun allerdings völlig losgelöst von einem Bühnenstück. Die Ouvertüre zu einer Revue (1928) stellt mustergültig diesen neuen Typus dar, der stilistisch indes aus der Zeit gefallen war und den Entwicklungen der jungen Weimarer Republik nicht Rechnung trug. Insofern war die Wiederentdeckung Linckes nach 1933 nicht zufällig, passte sein modernen Tendenzen fremder Ansatz doch zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. Mit der Ouvertüre zu einer Festlichkeit komponierte er 1933 gar seine herausragendste und ausgedehnteste Ouvertüre überhaupt, die er indes erst im Zuge seines groß begangenen 70. Geburtstages drei Jahre später in Druck geben ließ.

Frau Luna feierte in einem abendfüllenden Neuarrangement nicht mehr für möglich gehaltene Erfolge und wurde gar von Theo Lingen mit Lizzi Waldmüller verfilmt. Nach viel gutem Zureden schuf Lincke mit Ein Liebestraum dann 1940 nach jahrzehntelanger Pause seine letzte Operette, die er im Nürnberg der Meistersinger des 15. Jahrhunderts ansiedelte. Die ihr vorangestellte Ouvertüre stellte insofern auch den Schlusspunkt in Linckes sinfonischem Schaffen dar.

Die Einspielungen entstanden zwischen 10. und 16. Dezember 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) und lassen klanglich keine Wünsche offen. Die Textbeilage (auf Deutsch und Englisch) ist rundum geglückt. Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Neuerscheinung. Daniel Hauser

.

Wenn sich das traditionelle Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne seinem Ende zuneigt, erklingt ebenso geläufig mit Berliner Luft die altüberlieferte Zugabe, die weit über Berlin hinaus, wo sie gar als inoffizielle Hymne der Hauptstadt gilt, Berühmtheit besitzt, deren Komponist aber mittlerweile selbst vielen Berlinern kein Begriff mehr sein dürfte: Paul Lincke, am 7. November 1866 selbstredend ebendort in Berlin geboren. Der Vater der spezifischen Berliner Operette stand in seiner Bedeutung zeitweilig Johann Strauss Sohn sowie Jacques Offenbach nicht nach. Anders als in Wien und Paris, ist die Lincke-Pflege nach dem Zweiten Weltkrieg indes mehr und mehr im Sande verlaufen. Dies dürfte nicht zuletzt an der durch die Nazis beförderten Wiederentdeckung liegen, die er und seine Musik während des Dritten Reiches erlebten. Da lagen seine besten Jahre eigentlich bereits lange hinter ihm. Seine größte Popularität erlebte Lincke in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches, dem er persönlich bis zuletzt verbunden blieb. Nach dem Ersten Weltkrieg waren seine Operetten, die zwischen 1897 und 1913 in rascher Abfolge erschienen waren, bereits nicht mehr gefragt. Bezeichnend, dass es 1940, also zur Zeit seiner unverhofften Renaissance, mit Ein Liebestraum noch eine letzte solche Komposition geben sollte. Nach Kriegsende 1945 ins Visier der Siegermächte gerückt, wurde Lincke in der amerikanischen und britischen Besatzungszone gar mit einem Auftrittsverbot belegt, auch wenn dieses nicht konsequent eingehalten wurde. Eine Anklage wegen möglicher NS-Kollaboration kam freilich auch nicht zustande. Gesundheitlich bereits angeschlagen, verstarb Paul Lincke am 3. September 1946, kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag, im Kurort Hahnenklee bei Goslar.

Paul Lincke im Jahre 1905/ Wikipedia

Unverhofft nimmt sich nun nach Jahrzehnte langer unverdienter Nichtbeachtung – die letzten nennenswerten Lincke-Platten erschienen in den 1960ern – das Label cpo der Musik Paul Linckes an. Eine Reihe der sämtlichen Ouvertüren wurde soeben mit Vol. 1 eingeläutet (555 428-2). Die mit 66 Minuten recht gut bestückte Disc umfasst neun Nummern, davon vier Operettenouvertüren im eigentlichen Wortsinn: Mit den orchestralen Einleitungen zu Venus auf Erden (1897), Lysistrata (1902), Grigri (1911) und Casanova (1913) wurde chronologisch eine geschickte Auswahl getroffen. Hinzu tritt die Ouvertüre zur Burleske Berliner Luft (1904), die selbstredend die berühmte Melodie enthält. Diesen Ouvertüren gemein ist eine Länge zwischen sechs und zehn Minuten, also vergleichsweise ausgedehnte Vorspiele, die sich mehr an den Vorbildern Offenbachs und Franz von Suppès orientieren als an den Wiener Operetten um 1900, die meist mit nur kurzen Orchestereinleitungen auskamen. Für den Freund sinfonischer Musik ist dies freilich durchaus vorteilhaft, zeichnen sich Linckes schwungvolle Ouvertüren doch durch große Sorgfalt und die Anlehnung an bedeutende Vorbilder bis zurück zu Haydn aus. Hinsichtlich seiner Instrumentationskünste steht Lincke dem als genial anerkannten Franz Lehár nicht nach. Als Nachzügler gesellt sich die sog. Ouvertüre zu einer Operette (1926) hinzu, ein Vorspiel ohne Werk, die tatsächlich problemlos auch zwei Jahrzehnte davor hätte entstanden sein können. Überhaupt passte der Komponist seinen Stil nicht vermeintlichen Erfordernissen der neuen Zeit an, sondern blieb sich im Prinzip bis zuletzt treu. Bereits mit der ebenfalls für sich allein stehenden Ouvertüre zu einem Ballett (1919) komponierte er zu Beginn der Weimarer Republik unbeirrbar genauso weiter, als gäbe es den von ihm verehrten Kaiser noch und ließ mit einer Reminiszenz an Rossini die alten Zeiten wiederaufleben. Als meisterhaft und eine seiner besten Kompositionen darf die knapp zehnminütige Walzerfolge Verschmähte Liebe (1897) gelten. Eines seiner populärsten Stücke stellt die gerade gut dreiminütige sog. Siamesische Wachtparade aus der Operette Nakiris Hochzeit, oder: Der Stern von Siam (1902) dar. Überhaupt ist eine Tendenz zum Exotischen bei Lincke zuweilen unverkennbar. Die Libretti zu seinen Operetten steuerte fast ausschließlich sein Freund Heinrich Bolten-Baeckers (1871-1938) bei, der auch für den Text der Berliner Luft verantwortlich zeichnete. Dabei bediente man sich teils auch aus heutiger Sicht grenzwertiger Sujets wie im Falle der Titelfigur in Grigri der Lieblingstochter eines „Negerkönigs“ in Afrika.

Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung des in diesem Repertoire bewanderten Dirigenten Ernst Theis konnte man idiomatische Kräfte verpflichten, deren Darbietung insgesamt wenig zu wünschen übriglässt. Einzig die Berliner Luft hätte man sich vielleicht noch ein wenig stürmischer erhofft; hier bleibt die Konkurrenzaufnahme bei Marco Polo unter John Georgiadis vorzuziehen (8.225366). Die Klangqualität der im November 2020 in der Messehalle 1 in Frankfurt (Oder) eingespielten cpo-Produktion ist anstandslos auf dem gewohnten hohen Niveau. Sehr pointiert fällt der Einführungstext von Stefan Frey aus.

Es bleibt zu hoffen, dass das Label aus Osnabrück diese sehr begrüßenswerte Reihe baldigst fortsetzt. Es harrt noch u. a. die Ouvertüre zur Operette Im Reiche des Indra (1899), deren Wenn auch die Jahre enteilen zum geradezu massentauglichen Schlager avancierte. Daniel Hauser

Ein Engländer namens German

.

Edward wer? Kommt die Rede auf Edward German (1862-1936), 1928 vom britischen König Georg V. zum Sir geadelt, so dürfte die Resonanz hierzulande eher verhalten ausfallen. Geboren in Whitchurch, Shropshire, als Sohn eines englischen Spirituosenhändlers, der sich kurioserweise auch als Laienprediger betätigte, kam er – Geburtsname German Edward Jones – bereits früh mit Musik in Berührung. 1880 schließlich an der ehrwürdigen Royal Academy of Music, änderte er seinen Namen zunächst in J. E. German und später in die heute geläufige Form. Der Grund war eigentlich ganz trivial: Er wollte nicht mit einem Kommilitonen namens Edward Jones verwechselt werden. Mit Deutschland hat sein Name übrigens nichts zu tun, handelt es sich doch um eine anglisierte Form des walisischen „Garmon“. Neben Komposition umfassten seine Studien Orgel und Violine. Früh wurde man auf sein Talent aufmerksam. Schon 1885 wurde an der Royal Academy sein Te Deum aufgeführt, 1886 bereits seine erste komische Oper The Two Poets. Auslandsaufenthalte führten ihn unter anderem zu den Bayreuther Festspielen. Sein Œuvre war breit aufgestellt und umfasste fast alle musikalischen Gattungen. 1901 vervollständigte er Sullivans letzte Oper The Emerald Isle und galt in der Folge als dessen legitimer Nachfolger, was ihn fortan aber auch auf die sogenannte „leichte Klassik“ festlegte. Besonders Merrie England (1902) und Tom Jones (1907) erfreuten sich langanhaltender Beliebtheit. Daneben waren es gerade Bühnenmusiken – primär für Werke von Shakespeare –, für die German berühmt wurde, angefangen bei Richard III (1889) über Henry VIII (1892), Romeo and Juliet (1895), As You Like It (1896), Much Ado about Nothing (1898) bis hin zu The Conqueror (1905). Trotz seiner großen Popularität zu Lebzeiten, inklusive der Bewunderung durch niemanden Geringeren als Sir Edward Elgar, und einiger großer Fürsprecher auch danach – darunter Sir John Barbirolli –, ist German, vielleicht abgesehen von Merrie England, weitestgehend in der Versenkung verschwunden.

Naxos legt nun dankenswerterweise eine bereits fast 30 Jahre alte Produktion neu auf, die einst auf dem Entdecker-Label Marco Polo erschienen ist (8.555228). Enthalten sind die 1893 komponierte Sinfonie Nr. 2 a-Moll Norwich, die Germans letzten Beitrag zu dieser Gattung darstellt (Nr. 1 entstand 1887), sowie die Welsh Rhapsody von 1904 und die Valse gracieuse von 1895 in der revidierten Fassung von 1915. Verantwortlich zeichnet der in diesem Repertoire bewährte Dirigent Andrew Penny mit dem National Symphony Orchestra of Ireland. Die Einspielung wurde am 29. und 30. März 1994 in der National Concert Hall in Dublin produziert. Tatsächlich stellen die Marco Polo/Naxos-Produktionen, die noch einige CDs mehr umfassen, bis heute das Gros in der schmalen German-Diskographie dar. Soweit ersichtlich, wurden lediglich die zweite Sinfonie und die Valse gracieuse seither ein weiteres Mal aufgenommen (2007 mit dem BBC Concert Orchestra unter John Wilson für Dutton). Die Textbeilage (Einführung von David Russell Hulme) ist erfreulich ausführlich, wenn auch labeltypisch bloß auf Englisch.

Edward Germans nach der ostenglischen Stadt Norwich benannte viersätzige Sinfonie Nr. 2 stellt ein im Vergleich zur Vorgängerin gewichtigeres Werk dar (die Spieldauer beträgt eine gute halbe Stunde). Beide haben sie ihren Ursprung in des Komponisten akademischen Lehrjahren. Obschon von der zeitgenössischen Kritik durchaus gewürdigt, führten Selbstzweifel Germans dazu, dass er niemals eine dritte Sinfonie vollenden sollte. Über Jahrzehnte lag die Partitur der Zweiten auch bloß als Arrangement für zwei Klaviere im Druck vor. Erst 1931 entschloss sich der bereits hochbetagte German zu einer Drucklegung der Orchesterfassung, welche tatsächlich neuerlich Interesse an dem Werk entfachte. Obgleich der Komponist betonte, dass sich nicht viel „Altenglisches“ in der Sinfonie befinde, stellt sie eine der bedeutendsten britischen Sinfonien des späten 19. Jahrhunderts und vor Elgar dar. Majestätisch der zehnminütige Kopfsatz, schlicht und anmutig zugleich der sich anschließende langsame Satz (acht Minuten). Im spritzigen fünfminütigen Scherzo zeigen sich am ehesten operettenartige Züge. Beschlossen wird das Werk mit einem an den Beginn gemahnenden Finalsatz (achteinhalbminütig), der breit und choralartig eröffnet wird. Theatralisch klingt die Sinfonie schließlich aus und lässt den Bühnenkomponisten durchscheinen.

Die Welsh Rhapsody, knapp 20-minütig, ist heutzutage vermutlich das am häufigsten aufgeführte Orchesterwerk Germans. Den Eindruck, den es beim Cardiff Musical Festival 1904 schindete, war ganz beträchtlich. Obwohl dem Titel nach eine Rhapsodie, zeigen sich doch sinfonische Züge. So hat German selbst in der Partitur die vier Abschnitte wie folgt betitelt: I. Loudly Proclaim, II. Hunting the Hare – Bells of Aberdovey, III. David of the White Rock und IV. Men of Harlech. Anklänge an Musik aus Wales sind freilich auszumachen, was dem Stück besonders die Anerkennung der Waliser bescherte. Es war im Übrigen auch das letzte eigene Orchesterwerk, welches Edward German öffentlich dirigierte (1927 passenderweise in Aberystwyth, Wales).

Die sechseinhalbminütige Valse gracieuse schließlich ist eigentlich der zweite von insgesamt vier Sätzen der sinfonischen Suite Leeds (1895). Obwohl German auch in diesem Falle die Bezeichnung als Sinfonie vermied, sind derartige Anklänge nicht ganz abzustreiten. Mit einem Wiener Walzer hat diese Valse wenig zu tun, eher findet sich noch ein dezenter französischer Touch, wenngleich sie im Grunde ein Musterbeispiel für den Typus des schnellen englischen Walzers darstellt. Das Stück gibt bereits eine Vorahnung auf die Melodien in Merrie England und letztlich sogar schon auf Eric Coates.

Die künstlerische Darbietung ist, wie angedeutet, tadellos und von den Tontechnikern dankenswerterweise sehr adäquat eingefangen worden. Wer nun Lust auf mehr Edward German bekommen hat, dem seien die ebenso exzellenten Produktionen von Dutton ans Herz gelegt, wo u. a. die erste Sinfonie und die komplette Leeds-Suite vorgelegt wurden. Daniel Hauser

Hallo London: Besuch aus Byzanz

.

Das goldene Byzanz mit seiner Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) lag bereits in seinen letzten Zügen, als es zu einer historisch bedeutsamen Zusammenkunft kam, die Ost und West zusammenführte. Die Reise von Manuel II. Palaiologos (1350-1425), dem drittletzten byzantinischen Kaiser (reg. 1391-1425), nach Westeuropa in den Jahren 1399 bis 1403 war zuvörderst ein Hilfeschrei gen Westen, das über tausendjährige Römische Reich, dessen östlicher Teil anachronistisch später als „byzantinisch“ bezeichnet wurde, vor der osmanischen Bedrohung zu retten. Bereits damals bestand das Imperium, das einst das Mittelmeer umspannt hatte, fast bloß noch aus Konstantinopel, welches an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert nur mehr etwas über 50.000 Einwohner vorzuweisen hatte und sich seit 1394 einer Belagerung durch die Osmanen ausgesetzt sah. Manuel II. besuchte im Zuge seiner Reise Italien, Frankreich und zum Jahreswechsel 1400/01 eben auch England. Diesem einzigen Besuch eines oströmischen Kaisers auf der Insel widmet das Label Capella Records nun eine mit A Byzantine Emperor at King Henry’s Court – Christmas 1400, London betitelte Neuerscheinung (CR427). Mit King Henry ist der englische König Heinrich IV. (1367-1413) gemeint, der erst kurz davor als Usurpator auf den Thron gekommen war und die Dynastie des Hauses Lancaster, einer Nebenlinie der Plantagenets, etablierte. Opernfreunden dürfte dieser König von England durch Verdis Falstaff und Nicolais Lustige Weiber von Windsor zumindest peripher ein Begriff sein, sind beide Shakespeare-Vorlagen doch in dessen Regierungszeit (reg. 1399-1413) angesiedelt.

Bei Capella Records handelt es sich im Übrigen um das Eigenlabel der 1991 von Alexander Lingas in Portland, Oregon, gegründeten Cappella Romana. Das Ensemble hat sich auf slawische und byzantinische Musik in deren Originalsprache spezialisiert und sich in der Vergangenheit in diesem Bereich große Meriten erworben. Die Neuerscheinung – übrigens eine hybride SACD, die auch das Mehrkanalton-Format aufweist – ist bereits die 30. Veröffentlichung der Portlander. Frühere Erscheinungen widmeten sich beispielsweise den Hymnen der legendären byzantinischen Komponistin Kassia aus dem 9. Jahrhundert und dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453. Bereits mit der Namenswahl bewies Lingas, Musikwissenschaftler und langjähriger Professor an der City University in London und nun in Cambridge, das richtige Händchen für historische Zusammenhänge, bezieht sich die Bezeichnung als „Römische Kapelle“ doch auf das byzantinische Konzept der römischen Oikumene, also der gesamten bewohnten damals bekannten Welt. Die sogenannten Byzantiner betrachteten sich selbst bis zuletzt als Rhomaioi, also als Römer (Rhomäer), auch wenn sie im lateinischen Westen „Griechen“ genannt wurden. Das A-Cappella-Ensemble besteht jedenfalls aus zwei Sopranistinnen, zwei Altistinnen, drei Tenören, einem Bariton und drei Bassisten, sämtlich ausgewiesenen Spezialisten für dieses exotische Gebiet der Alten Musik.

Vom musikalischen Leiter Alexander Lingas stammt auch der vorzügliche, sehr umfassende und mit Quellenverweisen angereicherte Einführungstext (allerdings nur auf Englisch), der wichtige und unerlässliche Hintergrundinformationen bietet. Die Zusammenkunft von byzantinischem Kaiser und englischem König war nicht zuletzt eben auch ein direktes Aufeinandertreffen von östlicher und westlicher Musik. Nach seinem Aufbruch im Dezember 1399 war Kaiser Manuel II. zunächst über Italien nach Paris gereist, wo ihn der französische König Karl VI. im Juni 1400 mit allen Ehren empfing. Die Hauptstadt Frankreichs wurde in den kommenden zwei Jahren dann auch die Ausgangsbasis für den Autokrator der Rhomäer in seinen Beziehungen zu den Herrschern des lateinischen Abendlandes. Im Oktober 1400 war Manuels Besuch in England diplomatisch auf den Weg gebracht worden, so dass der Kaiser samt seines Gefolges zunächst ins seinerzeit noch englische Calais übersiedelte. Am 11. Dezember 1400 kam es schließlich zur Kanalüberquerung nach Dover, wo ihn zunächst der Klerus von Canterbury willkommen hieß. Am 21. Dezember 1400 kam es dann endlich zum Herrschertreffen in Blackheath bei London. Das Weihnachtsfest verlebte der Kaiser als Ehrengast des Königs im Eltham Palace. Nach den Festtagen wurde die Konstantinopeler Delegation in London als Gast des Johanniterordens beherbergt. Die tiefe Frömmigkeit des Kaisers und seines Hofstaates im Verbund mit Manuels asketischer und doch kaiserlicher Ausstrahlung beeindruckte die Engländer nachhaltig. Wirklich bedeutsame finanzielle oder militärische Unterstützung konnte ihm Heinrich indes nicht liefern, so dass Manuel im Februar 1401 nach Paris zurückkehrte, wobei ein Teil seiner Abordnung in England verblieb, um die Verhandlungen weiterzuführen. Eine kostbare Reliquie aus Konstantinopel, ein Stück des nahtlosen Gewandes der Gottesgebärerin und Jungfrau Maria, wurde Englands König in diesem Zusammenhang zum Geschenk gemacht. Da die Versuche, Waffenhilfe zu erlangen, auch dort fruchtlos blieben, reiste der Kaiser von Byzanz im November 1402 nach Konstantinopel zurück, wo er bei seiner Rückkehr im Juni 1403 immerhin feststellen konnte, dass die osmanische Belagerung infolge der Niederlage Sultan Bayezids gegen Tamerlan in der Schlacht bei Ankara (28. Juli 1402) nach achtjähriger Dauer mittlerweile aufgehoben worden war.

Charles, Duke of Orléans, in the Tower of London from a 15th-century manuscript/ Quelle: Gedichte von Herzog Karl von Orléans, Brügge 1483 u. 1492-1500 (British Library, Royal MS 16 F II, f. 73r)/ Wikipedia

An Weihnachten 1400 kamen im Eltham Palace die Kleriker und Sänger sowohl der kaiserlich byzantinischen als auch der königlich englischen Hofkapelle zusammen. Genaue Quellenbeschreibungen der dort gespielten Musik haben sich erhalten, einzig der Hinweis auf prächtige und aufwendige Festlichkeiten. Die englischen Chronisten berichten jedenfalls von täglichen Gottesdiensten der kaiserlichen Geistlichen. Aufgrund des seinerzeitigen Schismas zwischen der römisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Kirche ist anzunehmen, dass beide Monarchen an Festgottesdiensten teilnahmen, die gemäß ihren jeweiligen Riten gefeiert wurden. Dies ermögliche eine Rekonstruktion der Inhalte mittels anderweitiger Text- und musikalischer Quellen.

Hinsichtlich des heute sogenannten byzantinischen Ritus ist bedauerlicherweise nichts über die Musik bekannt, die im Zuge dessen von Blechbläser, Holzbläsern und Schlagwerk gespielt wurde – eine musikalische Notation ist hier praktisch nicht existent. Geläufig ist dafür die Vokalmusik der sogenannten Prokypsis durch liturgische Sammlungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Stilistisch mannigfaltig, reicht diese von einfachen Formen der Psalmodie und traditionellen Melodien für vorwiegend syllabische Hymnodien bis hin zu anspruchsvollen und teils langatmigen Werken in kalophonischem („schön klingendem“) Idiom. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts standen in der kaiserlichen Kapelle die Gesänge zweier Schüler des Protopsaltis (Erster Kantor) Johannes Glykes (Mitte 13. Jahrhundert-um 1320) im Mittelpunkt: Der hl. Johannes Papadopoulos Koukouzeles (vor 1270-vor 1341) und Xenos Korones (spätes 13. Jahrhundert-Mitte 14. Jahrhundert).

Was die englische Hofkapelle betrifft, befand sich diese um 1400 in einer bereits unter Richard II. (reg. 1377-1399) begonnenen und unter Heinrich V. (reg. 1413-1422) gipfelnden personellen Vergrößerung. Für das Weihnachtsfest 1400 sind 33 Mitglieder belegt, wovon in den frühen Regierungsjahren Heinrichs IV. üblicherweise 18 reife Sänger waren, etwa fünf jüngere Sänger und neun bis zehn Chorknaben. Liturgisch bediente man sich des sogenannten Sarum Use, des Salisburger Ritus.

Trotz aller offenkundigen Unterschiedlichkeit, die sich schon in den beiden Sprachen Griechisch und Latein zum Ausdruck kamen, gab es auch Parallelen. So gab es weder in Byzanz noch in England seinerzeit einen wirklich einheitlichen, überall identischen Ritus, sondern lokale Unterschiede. Man stützte sich da wie dort auf traditionelle Gesänge, die ein Gros der im Gottesdienst gesungenen Musik ausmachten. Während spätbyzantinische Komponisten vor allem um die Virtuosität bedacht waren, war man im englischen Falle um eine Verschönerung der Musik durch Mehrstimmigkeit bemüht. Improvisierte Polyphonie scheint im frühen 15. Jahrhundert die Regel gewesen zu sein. Infolge des Bruchs im religiösen Leben in England nach der protestantischen Reformation ist bedauerlicherweise kein einziges Manuskript englischer Polyphonie aus dem 14. Jahrhundert erhalten geblieben. Aus den erhaltenen Fragmenten lässt sich erahnen, dass die komplexesten Werke der seinerzeitigen englischen Polyphonie Massensätze und Motetten für vier Stimmen waren, wobei eine Ähnlichkeit zu kontinentalen Komponisten wie Guillaume de Machaut (um 1300-1377) festzustellen ist.

Die Capella Romana versucht aus den genannten Gründen keine strenge Rekonstruktion, die aufgrund der Quellenlage unmöglich erscheint, sondern bedient sich einer Auswahl von Gesang und Polyphonie zur Geburt Christi, welche stilistisch das Repertoire der byzantinischen und englischen Kapelle um 1400 repräsentiert. Hierbei war eine gewisse Flexibilität unabdingbar. So stellt man die Musik in eine ungefähre liturgische Reihenfolge, beginnend mit dem Heiligen Abend und endend mit dem Magnificat für den Gottesdienst der zweiten Vesper, die am Abend des 25. Dezember gefeiert wird. Die griechische und lateinische Auswahl legt Wert auf gemeinsame Themen und parallele musikalische Technik. Tatsächlich ist die Quellenlage hinsichtlich der byzantinischen Musik um 1400 aufgrund der Klosterbibliotheken des Sinai und des Bergs Athos in diesem Falle sogar die bessere.

Mit dem lateinischen Iudea et Hierusalem, einem Responsoriumsgesang, beginnt die Vesper für die Vigil der Geburt des Herrn am Heiligen Abend. Byzantinischerseits wird auf dem Höhepunkt der neunten Stunde an Heiligabend zunächst die Anwesenheit des Kaisers besungen und anschließend Akklamationen für ihn und seine Familie dargebracht. Danach kam der Kaiser in vollem Ornat hinter einem Vorhang hervor, betrat die Bühne (Prokypsis) und empfing den Beifall des versammelten Hofes. Auf Reisen war dieses Zeremoniell reduziert und wurde auf die Fanfaren der Blechblasinstrumente verzichtet, die in Konstantinopel ebenfalls beteiligt gewesen wären. Gleichsam als Coda beendet ein sogenanntes Polychronion die Abfolge der Huldigungen.

Eine Abbildung von Konstantinopel um 1420/Quelle: Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum Archipelagi, 1465-1475 (Bibliothèque nationale de France, GE FF-9351 RES, f. 37r)/ Gallica/ BNF

Den eigentlichen Weihnachtstag eröffnet Ovet mundus letabundus, eine anonyme Vertonung eines nicht-liturgischen Weihnachtstexte für vier Stimmen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die ersten traditionellen byzantinischen Morgengesänge an Weihnachten stellen die Pentekostaria-Hymnen dar, mittels derer die jungfräuliche Geburt Jesu betont wird. Das lateinischsprachige O magnum mysterium hat ebendieses Wunder zum Thema, was neuerlich die gemeinsame Tradition verdeutlicht, trotz jahrhundertelanger unterschiedlicher Entwicklung in Ost und West. Mit dem ersten Kanon der Weihnachtsmatutin, des nächtlichen Offiziums zwischen Mitternacht und frühem Morgen, folgt wiederum eine griechische Hymne, die auf Kosmas von Jerusalem im 8. Jahrhundert zurückgeht. Gleich anschließend folgt ein majestätisches kalophonisches Megalynarion von bald neun Minuten Länge. Als westliches Gegenstück erklingt sodann die Sequenz Te laudant alme Rex, gefolgt von Hodie Christus natus est, also die Hervorhebung der heutigen Geburt  Christi. Das griechische Gegenstück stellt der Prolog zum Kontakion des hl. Romanos Melodos dar. Ein Überbleibsel des liturgischen Erbes der Antike, welches sich die griechischen und lateinischen Christen des Mittelalters teilten, war das Singen des Kyrie eleison in der Messe. Hier hat sich der griechische Wortlaut auch im lateinischen Westen erhalten. Das nachfolgende polyphone Gloria in excelsis ist ein anonymes Werk, welches anhand zweier Quellen (Fountains Abbey in Yorkshire und das sogenannte Old Hall Manuscript) rekonstruiert werden konnte. Der Kommunionsvers für den Weihnachtstag schließlich geht zurück auf den Mönch Agathon Korones (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) und beschließt den zweiten Teil.

Den letzten großen lateinischen Gottesdienst, der am 25. Dezember 1400 im Eltham Palace gefeiert wurde, stellt das Abendgebet der zweiten Vesper dar. Als Höhepunkt desselben erklingt das Magnificat mit dem sich anschließenden Antiphon Hodie Christus natus est. Bruchstückhaft ist die polyphone Vertonung dieses Mariengesangs aus dem 15. Jahrhundert an der Universität Cambridge überliefert.

Die künstlerische Qualität dieser Einspielung ist über jeden Zweifel erhaben und bietet einen spannenden Einblick in eine musikalisch nahezu unbekannte Welt fernab des üblichen Repertoires. Hierzu ist es lediglich notwendig, sich auf den für heutige Ohren ungewohnten, teils sehr reduzierten A-Capella-Gesang einzulassen, was aufgrund des ausgezeichneten Klangs idealtypisch erfolgen kann (Aufnahme: The Madeleine Parish, Portland, Oregon, 18.-22. September 2022). Dass die Gesangstexte vollständig auf Griechisch und Lateinisch jeweils nebst englischer Übersetzung abgedruckt sind, versteht sich von selbst. Daniel Hauser

Melitta Muszely

.

Mit der Wiener Sopranistin Melitta Muszely, geboren am 13. September 1927, verliert die Musikwelt eine der letzten Repräsentantinnen der Goldenen Ära des Gesangs. Wie der Nachname vermuten lässt, war ihre Familie eigentlich aus Ungarn stämmig und insofern eine typische Erscheinung der ehemaligen Donaumonarchie. Die Muszely studierte neben Gesang auch Klavier am Konservatorium ihrer Heimatstadt und debütierte 1950 im ostbayerischen Regensburg, wo sie zwei Jahre lang Ensemblemitglied blieb und dann zunächst nach Kiel wechselte. Zwischen 1954 und 1970 war sie fest an der Hamburgischen Staatsoper verpflichtet und wirkte an einigen Opernuraufführungen wie Ernst Kreneks Pallas Athene weint (1955) und Giselher Klebes Figaro lässt sich scheiden (1963) mit. Gastverträge verbanden sie mit der Deutschen Staatsoper Berlin (1955-1960), der Komischen Oper Berlin (1955-1961), der Wiener Staatsoper (1963-1967) und der Volksoper Wien (1963-1968); ferner gastierte sie am Opernhaus Zürich. International war sie zudem in Paris, Venedig und Lissabon gern gesehener Gast und wirkte bei den Festspielen von Salzburg und Edinburgh mit. Ihr Repertoire war vielfältig und ging u. a. von diversen Mozartpartien wie Susanna, Donna Elvira und Pamina sowie Beethovens Marzelline über Weber (Agathe), Bizet (Micaëla), Wagner (Elsa, Wellgunde), Verdi (Violetta, Desdemona, Leonore, Mrs. Ford) und Tschaikowski (Tatjana, Lisa) bis hin zu Richard Strauss (Sophie, Arabella, Daphne) und gar Menotti (Magda in The Consul). Auch im Operettenfach war sie vielbeschäftigt unterwegs (darunter Werke von Suppè, Johann Strauss Sohn, Millöcker, Lehár und Robert Stolz). Bereits 1957 wurde sie zur Kammersängerin der Berliner Staatsoper ernannt. Ihre aktive Bühnenkarriere endete 1972, ein Jahr nach ihrer endgültigen Rückübersiedlung nach Wien, infolge der Erkrankung ihres Ehemannes und Managers Alfred Filippi, doch blieb sie auch danach als Lied- und Konzertsängerin tätig (ein Liederabend zuletzt noch 2008). Daneben wirkte sie als Gesangspädagogin bis ins hohe Alter. Vielfach ausgezeichnet, erhielt sie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse (1998) und die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold (1999). Noch im vergangenen Herbst konnte sie bei guter Gesundheit ihr 95. Lebensjahr vollenden. Melitta Muszely starb, wie erst jetzt bekannt wurde, bereits am 18. Jänner 2023 in ihrer Geburtsstadt Wien (Foto Melitta Muszely in Hoffmanns Erzählungen in der Filmversion von Walter Felsenstein 1970/ Arthaus Musik, Henschel Verlag, © Clemens Kohl). Daniel Hauser

Siegfried Kurz

.

Mit Siegfried Kurz, der sich nicht nur als Dirigent, sondern auch Komponist einen Namen machte, verliert die musikalische Welt eine der prägenden Persönlichkeiten des Musiklebens der ehemaligen DDR. Am 18. Juli 1930 in Dresden geboren, absolvierte Kurz in seiner Heimatstadt ein Studium der Komposition, Orchesterleitung und Trompete. Bereits 1949 wurde er zum Leiter der Schauspielmusik an den Staatstheatern in Dresden berufen, was er bis 1960 verblieb. Im selben Jahr wechselte er an die Dresdner Staatsoper, wo er in rascher Abfolge vom Staatskapellmeister (1964) und Generalmusikdirektor (1971) bis zum geschäftsführenden musikalischen Oberleiter (1976) aufstieg. Ab 1984 war Kurz als ständiger Kapellmeister und zeitweiliger GMD an der Deutschen Staatsoper Berlin tätig. Als Dozent (1976) und später als Professor (1979) wirkte er parallel an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden. Siegfried Kurz wurde vielfach ausgezeichnet, so als zweifacher Nationalpreisträger der DDR (1976 und 1988). Als Komponist bediente er sich zunächst eines neoklassizistischen Stils, später zuweilen auch mit Einflüssen der Zwölftonmusik angereichert, und schrieb u. a. zwei Sinfonien, jeweils ein Konzert für Klavier, Violine und Horn sowie zwei Streichquartette. Für das DDR-Staatslabel Eterna spielte Kurz u. a. die fünfte Sinfonie von Tschaikowski, deutschsprachige Querschnitte des Don Pasquale von Donizetti sowie des Rigoletto von Verdi und ein Opernrecital mit Ute Trekel-Burckhardt ein. Siegfried Kurz ist am 8. Jänner 2023 in seiner Geburtsstadt Dresden im 93. Lebensjahr stehend verstorben. Daniel Hauser

Idiomatischer „Sturm“ aus Dänemark

.

Shakespeares The Tempest (Der Sturm) wurde häufig vertont. Eine der gelungensten musikalischen Adaptionen stammt vom finnischen Komponisten Jean Sibelius. Die komplette Bühnenmusik, opus 109, datiert auf die Jahre 1925/26 und stellt somit eines seiner Spätwerke dar, kurz vor seiner letzten Tondichtung Tapiola vollendet. Wiewohl diese Bühnenmusik, auf Finnisch Stormen, zuweilen zu seinen stärksten Kompositionen gerechnet wird, wurde sie zumindest komplett selten eingespielt. In ihrer vollen Form für Solisten, Chor und Orchester gesetzt, handelt es sich um ein einstündiges Werk. Erst zweimal wurden Gesamteinspielungen vorgelegt, so von Osmo Vänskä für BIS und von Jukka-Pekka Saraste für Ondine, beide auf 1992 datierend. Diskographisch sind die beiden abgespeckten, rein orchestralen Suiten Nr. 1 op. 109/2 und Nr. 2 op. 109/3 besser repräsentiert.

Naxos legt nun nach drei Jahrzehnten eine Neuaufnahme der vollständigen Bühnenmusik vor (8.574419). Verantwortlich zeichnet mit dem mittlerweile 76-jährigen Okko Kamu ein Veteran der finnischen Dirigentenschule. Ihm zur Seite stehen das Königlich Dänische Orchester (das sich bis 1448 zurückverfolgen lässt) und der Chor der Königlich Dänischen Oper. Kein Wunder, dass die Einspielung in Kopenhagen entstand (Live-Mitschnitt vom 10. Oktober 2021 aus dem Königlichen Opernhaus). Als Solisten agieren die Mezzosopranistinnen Hanne Fischer (Ariel) und Kari Dahl Nielsen (Juno), der Tenor Fredrik Bjellsäter (Stephano), der Bariton Palle Knudson (Caliban) sowie der Bassist Nicolai Elsberg (Tinculo), allesamt Solisten der genannten Königlich Dänischen Oper. Dies ist wiederum kein Zufall, fand doch bereits die Uraufführung des Auftragswerkes am 15. März 1926 in der dänischen Hauptstadt statt. Dies erklärt dann auch, wieso auf Dänisch gesungen wird (Übersetzung des Shakespeare-Textes durch Edvard Lembcke).

Kamu schlägt mit knapp 65 Minuten Gesamtspielzeit moderate Tempi an, langsamer als Saraste (57 Minuten), aber etwas flotter als Vänskä (67 Minuten), der sich insbesondere in der dramatischen Ouvertüre mehr Zeit lässt. Der ausgereifte Spätstil von Sibelius lässt zu keinem Augenblick Zweifel an der Güte des Werkes aufkommen. Kamu und sein dänisches Ensemble wissen dies kongenial umzusetzen. Trotz Live-Bedingungen sind Publikumsgeräusche nahezu nicht vorhanden. Die Gesangsleistungen sind sämtlich (Chor und Solisten) auf hohem Niveau und mit der notwendigen Idiomatik dargeboten. Klanglich übertrifft die Neueinspielung diejenige von Ondine und ist gar noch einen Hauch unmittelbarer als die bereits für sich genommen sehr gute von BIS.

Das Booklet fällt für Naxos-Verhältnisse erstaunlich ausführlich aus und liegt mitsamt des Gesangstextes auf Englisch und auf Dänisch abgedruckt vor. Insgesamt eine wichtige Ergänzung der überschaubaren Diskographie und womöglich die neue Referenz. Daniel Hauser

Authentizität in historischem Klang

.

Von einem Komponisten selbst dirigierte Einspielungen seiner Werke genießen ein besonderes Maß an Authentizität. In relativ wenigen Fällen liegen der Nachwelt derartige Beispiele von im späten 19. Jahrhundert sozialisierten Tonschöpfern vor, denkt man beispielsweise an Richard Strauss, Jean Sibelius oder Edward Elgar. Ralph Vaughan Williams, geboren 1872 und gestorben 1958, fällt fraglos in diese Kategorie. In England einer der beliebtesten Komponisten und häufig auf den Konzertprogrammen, fristet er auf dem Kontinent bis heute eher ein Schattendasein. An Aufnahmen besteht freilich kein Mangel, was maßgeblich an der hohen Wertschätzung in der angelsächsischen Welt seit der Frühzeit der elektrischen Tonaufnahme liegt. Das britische Label Somm bringt nun, pünktlich zum 150. Geburtstag von RVW, eine weitere Disc in ihrer Reihe Vaughan Williams Live (SOMM Ariadne 5019-2).

Die Doppel-CD umfasst insgesamt vier Werke, darunter zwei der beliebtesten seiner Sinfonien, die London Symphony (Sinfonie Nr. 2) und die Sinfonie Nr. 5, letztere sogar doppelt. Hinzugesellt sich die Kantate Dona nobis pacem. Die dirigentischen Fähigkeiten des Komponisten Vaughan Williams sind heutzutage in Vergessenheit geraten. Die nun erhältlichen Aufnahmen legen von der Qualität Zeugnis ab. A London Symphony hat Vaughan Williams nie im Studio eingespielt, so dass dieser Mitschnitt von den BBC Proms vom 31. Juli 1946 – idiomatisch mit dem London Symphony Orchestra – eine absolute Rarität darstellt. Er beruht auf seiner Letztfassung von 1936, die um etwa 15 bis 20 Minuten kürzer ausfällt als jene der Uraufführung von 1914. Die fünfte Sinfonie liegt in der Weltpremiere vom 31. Juli 1943 sowie in einem neun Jahre später, vom 3. September 1952 erhaltenen Mitschnitt vor, beide Male ebenfalls von den Proms in der Londoner Royal Albert Hall und da wie dort mit dem London Philharmonic Orchestra. Die Unterschiede sind teils ziemlich erstaunlich, wählt der Komponist-Dirigent 1952 in jedem der vier Sätze doch ein langsameres Tempo, so dass sich die Gesamtspielzeit mit gut 37 Minuten insgesamt fast vier Minuten länger ausnimmt. Das Chorwerk Dona nobis pacem schließlich ist in der ersten Rundfunkübertragung aus den BBC Studios in London von November 1936 überliefert, die einen Monat nach der Uraufführung vom 2. Oktober des Jahres mit denselben Solisten Renée Flynn (Sopran) und Roy Henderson (Bariton) erfolgte, zu denen sich BBC Symphony Orchestra & Chorus gesellten.

Ist man des erheblichen Alters des Ausgangsmaterials und der technischen Schwierigkeiten gerade der Live-Aufzeichnung eingedenk, so erscheint die Klangqualität insgesamt brauchbar, wenngleich weit entfernt von audiophilen Ansprüchen und für RVW-Anfänger gewiss nicht geeignet. Die alle vier bis fünf Minuten notwendig gewordenen Plattenwechsel mit dadurch entstehenden kurzen Unterbrechungen bei den Live-Mitschnitten aus den 1940er Jahren sind in den Tracks der ersten CD minutiös abgebildet. Für das Remastering zeichnet der auf Klangrestauration spezialisierte Toningenieur Lani Spahr verantwortlich, der auch die 1952er Aufnahme der Sinfonie Nr. 5 mit neuem Material vervollständigen konnte. Die informativen Einführungstexte von Simon Heffer, Alan Sanders und Andrew Neill werden durch den abgedruckten Text der Kantate vervollständigt. Ein kleiner Wermutstropfen ist die Tatsache, dass keine deutschsprachige Übersetzung beigegeben wurde. In Summe eine Neuerscheinung für fortgeschrittene Bewunderer des Komponisten (und Dirigenten) Ralph Vaughan Williams. Daniel Hauser