Erlösung dem Erlöser

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Es ist vollbracht. Wahrlich, es war viel Geduld notwendig, aber nun liegt der einzige bis dato unveröffentlichte Parsifal unter Hans Knappertsbusch komplett vor (Hänssler PH23002; den zweiten Aufzug daraus gab es beim selben Label bereits auf einem Martha Mödl gewidmeten Album).  Nichteingeweihte konnten es ohnehin nicht nachvollziehen, weshalb die Verehrer des legendären Dirigenten hinsichtlich dessen wahrlich reichhaltiger Parsifal-Diskographie diesem Tage entgegenfieberten. Nicht weniger als ein Dutzend Gesamtaufnahmen des Bühnenweihfestspiels gab es bereits unter der Stabführung des „Kna“, sämtlich aus dem Bayreuther Festspielhaus und erschienen auf diversen Labels. Am berühmtesten davon freilich die offiziellen Einspielungen von 1951 anlässlich der Wiedereröffnung von Neu-Bayreuth (Decca) und von 1962 (Philips), letztere die einzige in Stereo. Beide wurden über einen längeren Zeitraum mitgeschnitten, während es sich bei den anderen Jahrgängen um echte Live-Mitschnitte eines einzigen Abends handelt. Möglich gemacht wurde dies, weil der Bayerische Rundfunk von Anfang an von den wiedererstanden Bayreuther Festspielen in Echtzeit übertrug. Folglich haben sich also auch die anderen Jahre erhalten, in denen Knappertsbusch am Pult stand. Und dies war von 1951 bis einschließlich 1964 fast durchgängig der Fall. Nur einmal setzte der hochgewachsene Elberfelder komplett aus, 1953 nämlich, wo an seiner Statt Clemens Krauss einsprang. Der Grund war die Streichung der Taube in der Schlussapotheose des Finales durch Wieland Wagner, was Knappertsbusch endgültig zu weit ging, der sich mit der minimalistischen Inszenierung schon allgemein nur schwer anfreunden konnte. Im Folgejahr kehrten sowohl die gestrichene Taube als auch Knappertsbusch zurück, wie Bernd Zegowitz in seinem kundigen Einführungstext zu berichten weiß. Im folgenden Jahrzehnt blieb der „Kna“ dann unangefochten Bayreuths Gralshüter; einzig 1957 dirigierte der belgische Dirigent André Cluytens zwei der vier Vorstellungen (wobei der BR wiederum eine unter Knappertsbusch für die Nachwelt festhielt). Von den besagten Rundfunkmitschnitten war bislang nur derjenige vom 13. August 1964 offiziell unter Verwendung der Originaltonbänder und mit ausdrücklicher Genehmigung aus Bayreuth auf Compact Disc erschienen (Orfeo), was gewiss darin begründet liegt, dass es sich um das letzte Dirigat Knappertsbuschs überhaupt handelte. Die übrigen Jahre wurden von teils etwas obskuren Labels auf CD gepresst, waren aber mit einer Ausnahme mehr oder minder einfach erhältlich.

Eben dieser Sonderfall, die Rundfunkübertragung aus dem Jahre 1955, wird nun reichlich verspätet nachgereicht, dafür mit Lizenz des BR und unter Mithilfe des Wagner-Clans. Das 55er Jahr war für Bayreuth ein besonders bedeutsames, war Decca doch mit eigenen Tontechnikern angereist und hatte sowohl den kompletten Ring als auch den Fliegenden Holländer (beide dirigiert von Joseph Keilberth) professionell unter Live-Bedingungen eingespielt. Die Mitschnitte erschienen freilich erst mit einem halben Jahrhundert Verspätung bei Testament. Wieso ausgerechnet der Parsifal aus dem besagten Jahr solange unter Verschluss gehalten wurde, bietet Raum zu Spekulationen. Vermutlich spielte auch der Zufall eine Rolle. Besetzungstechnisch ist 1955 besonders spannend: Martha Mödl, die Kundry seit der Neueröffnung 1951, sang diesmal auch das Altsolo (so auch im Folgejahr); besagte Stimme aus der Höhe gab die „unpathetische Hochdramatische“ später nur noch in ihrem letzten Bayreuth-Jahr 1967. Der expressive Amfortas stellte Dietrich Fischer-Dieskaus Bayreuther Debüt in dieser Partie dar, die er dort einzig 1956 wiederholen sollte. Eine wirkliche diskographische Bereicherung ist der Titurel von Hermann Uhde, den er in Bayreuth tatsächlich nur an diesem 16. August 1955 sang und diese Minirolle gehörig aufwertete. Mit Gustav Neidlinger übernahm ein weiterer Hochkaräter den Klingsor, gleichsam in der Uhde-Nachfolge. Als Gurnemanz brillierte Ludwig Weber, der die fordernde Partie in Bayreuth ebenfalls schon seit 1951 sang. Mit dem Chilenen Ramón Vinay in der Titelpartie konnte ein waschechter Heldentenor vom alten Schlag mit baritonalem Fundament gewonnen werden. Selbst die kleinen Rollen waren 1955 luxuriös besetzt, zuvörderst Josef Traxel (1. Gralsritter), Gerhard Stolze (3. Knappe), Elisabeth Schärtel (2. Knappe und Blumenmädchen) und Jutta Vulpius (Blumenmädchen). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die deutsch-deutsche Besetzung, waren die Vulpius und Stolze doch DDR-Bürger. Hinzu trat der vom Altmeister Wilhelm Pitz einstudierte Festspielchor.

Obwohl nicht immer jeder Einsatz perfekt ist (merkliche Unstimmigkeiten zwischen Dirigent und Ludwig Weber bei der Verwandlungsmusik im ersten Aufzug) und es hie und da hörbare Wackler im unsichtbaren Orchestergraben gibt, stellt sich doch sogleich die Magie ein, die nur ein Dirigent der Statur Knappertsbuschs bei diesem Werk zu erzielen imstande war. Der 55er Parsifal ist in der Tat bereits von einer dramatischeren Tendenz als die getragenere 51er Darbietung; ein Trend, der sich bis 1964 fortsetzen sollte. Dies wird schon im Vorspiel zum ersten Aufzug deutlich, wenn man die Spielzeiten vergleicht: 14:13 (1951), 13:18 (1952), 12:33 (1955), 12:10 (1959), 12:02 (1962).

Hans Knappertsbusch/ vergl. die Website hansknappertsbusch.de

Klanglich handelt es sich um zufriedenstellendes Rundfunk-Mono, aus dem das Mastering von THS-Studio das Menschenmögliche herausholte (die problematischen Glocken im dritten Akt könnten auch einer ungünstigen Aufstellung der Mikrophone geschuldet sein). Die Textbeilage ist vorzüglich und wahrhaft informativ. Interessant auch die im Booklet enthaltenen Photographien, darunter eine besondere Rarität, wo der „Kna“ mit dem Ausdruck ehrlicher Verehrung die Hand der erkennbar geschmeichelten Mödl hält. Für Knappertsbusch-Freunde ohnehin eine Pflichtanschaffung, für alle anderen eine optionale Ergänzung der eigenen Parsifal-Sammlung. Daniel Hauser