Lange überfällige Würdigung

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Der 1878 im Fürstentum Monaco geborene und später in Wien ansässige österreichische Komponist Franz Schreker ist heutzutage am ehesten durch seine Opern in Erinnerung geblieben. Besonders Die Gezeichneten, uraufgeführt 1918, erfreuen sich anhaltender Beliebtheit. Dass darüber die Orchesterwerke und auch die Lieder in den Hintergrund rückten, ist seit Schrekers Tod im Jahre 1934 tatsächlich schwerlich abzustreiten, wie ein Blick in die bis heute sehr überschaubare Schreker-Diskographie beweist. Auch um diesem Umstand Abhilfe zu verschaffen, hat es sich der Dirigent Christoph Eschenbach, mittlerweile 83 und seit langem von der Musik des frühen 20. Jahrhunderts fasziniert, zur Aufgabe gemacht, einige wenig im Mittelpunkt stehende Kompositionen Schrekers auf Tonträger einzuspielen, wobei ihm die Deutsche Grammophon Gesellschaft erfreulicherweise mit offenen Armen entgegenkam. Die jetzt erscheinende Doppel-CD dokumentiert das Ergebnis dieser fruchtbaren Zusammenarbeit (DG 4863993). Mit dem Konzerthausorchester Berlin, dem Eschenbach seit 2019 vorsteht, konnte ein in der Moderne bestens bewanderter Klangkörper gewonnen werden.

Eschenbach, der Schreker in der Nachfolge der Symphonik Gustav Mahlers sieht, verhehlt nicht die Schwierigkeiten, welche diese Musik auch erfahrenen Orchestern zu bereiten im Stande ist. Tatsächlich meistert „sein“ Klangkörper diese mit Bravour. Der klugen Auswahl an Werken steht zuvörderst das sogenannte Nachtstück, die über 17-minütige Zwischenmusik aus dem dritten Akt der Oper Der ferne Klang (1912), ein in Eschenbachs Worten „großartiges symphonisches Poème“, das wirklich auch als eigenständige und atmosphärische Tondichtung bestehen könnte. Diesem folgt als Schmankerl die wienerisch angehauchte und intime Valse lente (1908) für kleines Orchester. Die facettenreiche Kammersymphonie (1916), untergliedert in vier Sätze höchst unterschiedlicher Länge vom über zehnminütigen Kopfsatz bis zum nicht einmal zweiminütigen dritten Satz, ist ein Musterbeispiel für Schrekers Gespür für Klangfarben. Vierteilig daher kommt ebenfalls die Romantische Suite (1903), ein Frühwerk, das entgegen der Betitlung bereits durchaus moderne Anklänge in sich trägt. Die ein Vierteljahrhundert später für den Rundfunk komponierte Kleine Suite (1928), in sechs Sätze unterteilt, ist ganz neoklassizistisch angehaucht.

Mit Vom ewigen Leben (1923/27) werden zwei so bezeichnete lyrische Gesänge für Sopran und Orchester beigesteuert, die auf Texten von Walt Whitman basieren, wobei Hans Reisiger die deutsche Übersetzung besorgte. Den solistischen Part übernimmt formidabel die israelische Sopranistin Chen Reiss. Für den Liederzyklus Fünf Gesänge (1909/22) schließlich konnte der renommierte Bariton Matthias Goerne gewonnen werden. Die Lieder handeln von Sehnsucht, Entfremdung, Verzweiflung, nostalgischen Erinnerungen und nicht zuletzt von Tod und Erlösung. Abgesehen vom ersten Lied „Ich frag nach dir jedwede Morgensonne“, das auf den Erzählungen aus tausendundeiner Nacht beruht (Übersetzung: Ernst Ludwig Schellenberg), wird auf Gedichte der symbolistischen Dichterin Edith Ronsperger zurückgegriffen. Beiden Solisten ist die gute Textverständlichkeit hoch anzurechnen.

Angesichts der referenzträchtigen Darbietung aller Beteiligten kann man nicht anders als eine nachdrückliche Empfehlung für dieses Album auszusprechen. Das tadellose Klangbild (Aufnahme: Konzerthaus Berlin, März 2021, Mai 2021 und Mai/Juni 2022) unterstreicht den positiven Gesamteindruck. Der lehrreiche Einführungstext von Mario-Felix Vogt tröstet etwas über die fehlenden Liedertexte hinweg – das einzige Manko dieser Neuerscheinung. Daniel Hauser