Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Opernparaphrasen

 

Die Herzogin benutzt Patou, genauer den 1929 von Jean Patou kreierten Duft „Joy“, mit dem der Pariser Modeschöpfer der durch den Börsencrash ausgelösten Depression ein Zeichen der Freude in Form einer Duftwolke entgegensetzen wollte. Der als teuerstes Parfum der Welt aus Blütenessenzen gemischte Duft war das Lieblingsparfum der Duchess of Argyll, deren skandalöser Lebenswandel die britische Boulevardpresse bis zu aufsehenerregenden Scheidungsprozess in den 1960er Jahren, nachdem sie die feine Gesellschaft verstoßen hatte, und ihrem Tod in Armut 1993 beschäftigte. Die 1995 uraufgeführte, bis heute mehrfach gespielte Kammeroper Powder Her Face über das Leben der Dirty Duchess machte den 24jährigen Komponisten, Dirigenten und Pianisten Thomas Adès auf einen Schlag berühmt. Den Erfolg wiederholte er in dem umjubelten The Tempest nach Shakespeare 2004 an Covent Garden und dem noch nicht ganz so vielgereisten Würgeengel (The Exterminating Angel nach Bunuel) 2016 in Salzburg. Zwei dieser Opern stehen auf dem Programm der im Juli 2018 in Tanglewood und im März 2019 in Boston eingespielten Werke für zwei Klaviere, Soloklavier und Orchester und Klavier (CD MYR027) mit dem Tanglewood Music Center Orchestra, Adès als Dirigent und Pianist und dem Pianisten Kirill Gerstein.

Mit den vier Sätzen der Concert Paraphrase on Powder Her Face kehrt Adès quasi zu seinen Anfängen zurück. Zusammen mit Gerstein spitzt er die grotesken, ironischen und skurrilen Szenen, laut Adès die Schilderung einer nicht mehr ganz taufrischen Herzogin am Ende des 20. Jahrhunderts und am Ende der Einflussnahe des britischen Adels zu virtuosen Momentaufnahmen zu, in deren Überhitztheit auch Momente der Verzweiflung aufscheinen und mit denen er die Kunst der Opernparaphrase vom 19. ins 21. Jahrhundert rettet. Zuerst kommt, so Adès, meine Ode an die Freude (Ode to Joy), womit das Parfum der Herzogin gemeint ist, Joy von Patou. Dann folgt die fünfte Szene: „Is Daddy Squiffy?“ Die dritte Szene ist die vierte Szene der Oper, die Arie „Fancy Being Rich!“. Die Paraphrase endet mit der achten und letzten Szene der Oper und der Arie „It Is Too Late“, in der der tote Herzog als Hotelmanager wiederkehrt, um die Herzogin aus dem Zimmer zu werfen, in dem sie lebt, und dem abschließenden Tango, mit dem das Zimmer für den nächsten Gast vorbereitet wird.

Ebenfalls als Weltersteinspielung spielt Gerstein die im engen Zusammenwirken mit Adès entstandene Berceuse aus The Exterminating Angel, mit der der gemeinsame Selbstmord und Liebestod des Liebespaars Eduardo und Beatriz beschrieben wird: leise, langsam und von unerbittlicher Kraft. Heller, strahlender, leichter und doch von profilierter Schärfe dann die drei Moderato, Prestissimo und Grave überschriebenen und von Gerstein mit kristalliner Witzigkeit gespielten Chopin-Reminiszenzen von 2010.

Das gewichtigste Stück ist das knapp halbstündige Werk für Klavier und Orchester In Seven Days, eine musikalische Schöpfungsgeschichte in Gestalt einer Klavier-Sinfonie. Adès erklärt seinen Schöpfungsbericht: Das Stück ist eine siebenteilige Entwicklung von Ideen, die wiederkehren und sich wandeln, die sich ausbreiten und explodieren, als würde der genetische Code des Universums in eine Musik ausbrechen, die sowohl organisch als auch geometrisch ist: von den Fugen, mit denen die Lebewesen auf der Erde beschrieben werden, zu dem kristallinen Bild des Chaos am Beginn der Zeiten, mit dem das Stück öffnet und schließt – als wäre das Universum ziemlich zufrieden mit seinem bescheidenen statischen Zustand, bevor ein Schöpfer auf den Plan tritt und alles für immer verändert – zu den langsamen, kaleidoskopischen Spiralen galaktischer Energie, die im Land-Gras-Erde-Satz erklingen. Auch ohne dem ständig wechselnden Perspektiven und den Atomen des Chaos als Hörer auf die Spur zu kommen, kann man sich von dieser gut gemachten, eminent wirkungsvollen Musik und dem Zusammenspiel des Orchesters mit dem kraftvollen, wiederum stupend virtuosen und von Gerstein mit filigraner sphärischer Schärfe und souveränem Klanggespür gespielten Klavierpart beeindrucken lassen. Rolf Fath

Gütiges Publikum in Parma

 

Es ist die allertraurigste unter Verdis Opern, des Komponisten, dem es erst am Lebensende gelang, eine Komödie mit Erfolg zu vertonen, denn selbst Otello darf zu Beginn der gleichnamigen Oper „Venere splende“ schmachten, Violetta erlebt glückliche Wochen mit Alfredo auf dem Lande und Gilda träumt vom „Caro Nome“ und erlebt so ein kurzes Glück. In I due Foscari hingegen herrscht Trübsinn von Anfang an, sind alle drei Personen in einer aussichtslosen Lage, der Intrige des herrsch- und rachsüchtigen Loredano hilflos ausgeliefert. Kein Wunder, dass Venedig nicht daran interessiert war, ein Werk uraufzuführen, das die Stadt in so düsterem Licht erscheinen ließ. So wurde Rom zur Geburtsstätte der Oper, die vielleicht auch wegen der traurigen, von keinem Hoffnungsschimmer erleuchteten Handlung nie so recht Fuß fassen konnte auf den Opernbühnen. Dabei hat sie drei ganz wunderbare, von Leitmotiven begleitete Partien für Sänger, und die drei großen Baritone der jüngsten Vergangenheit, Piero Cappuccilli, Renato Bruson und Leo Nucci wussten sich das zunutze zu machen, schufen eindringliche Rollenportraits vorzugsweise in der Inszenierung von Pier Luigi Pizzi.

Das Genueser Label Dynamic, das dem Opernfreund schon Zugang zu so mancher interessanten italienischen Aufführung verschafft hat, hat nun auch eine DVD von den Verdi-Festspielen 2019 in Parma, der Verdi-Stadt par excellence, auf den Markt gebracht, allerdings wird auch Parma nicht mehr seinem Ruf gerecht, sei es der des kritischsten und buh- und pfeiffreudigsten Publikums der Opernszene, sei es der der Erwartung, in dieser Stadt bekäme man noch italienische Sänger zu hören.

Regisseur Leo Muscato hat das Stück in der Verdizeit angesiedelt, was die Kostüme von Silvia Aymonino bezeugen und was nicht weiter stört, wenn man nicht weiß, dass es zu dieser Zeit längst keinen Dogen von Venedig mehr gab, der letzte bereits 1802 gestorben war. Andererseits stört die Gewandung des Chors in Gehrock und Zylinder auch nicht besonders, und der Rundhorizont mit Portraits verstorbener Dogen im ersten Akt, die Scheibe als Ort der Handlung, die von Bühnenbildner Andrea Belli entworfen wurden, sind so stimmungsträchtig wie zweckmäßig.

Am Pult der Filarmonica Arturo Toscanini, verstärkt durch das Orchestra Giovanile della Via Emilia steht Altmeister Paolo Arrivabeni, ein Kapellmeister im besten Sinn des Wortes, der die Kontraste in Tempi und Lautstärke auskostet, Straffheit und Brio gleichermaßen walten lässt. Der Coro del Teatro Regio di Parma, einstudiert von Martino Faggiani, weiß natürlich auch, wie man Verdi zu singen hat, und lässt den Zuhörer daran teilnehmen.

Wie bereits erwähnt, gibt es keine italienischen Sänger für die drei Hauptpartien, nur der mit wenig Musik bedachte Jacopo Loredano wird von Giacomo Prestia mit machtvoller Röhre gesungen, lässt dessen unversöhnlichen Rachedurst in schwarzen Tönen hörbar werden. Vor allem in der Emilia Romagna und ihren Theatern, auch im Veneto ist Vladimir Stoyanov ein gern gesehener Gast. Der Kontrast zwischen körperlicher Hinfälligkeit, deren Darstellung extrem ausgekostet wird, und stimmlicher beachtlicher Potenz für den alten Dogen ist bemerkenswert, die Baritonstimme besticht durch ihre warme Farbe, und im „Questa è dunque“ des letzten Akts wächst der Sänger, was vokale und darstellerische Eindringlichkeit betrifft, über sich selbst hinaus. Ganz zum Schluss wünscht man sich mehr Verinnerlichung, als er aufzubringen im Stande oder willens ist. Für den Schmerzensmann Jacopo ist der Tenor Stefan Pop, den man sich gut in Donizetti-Rollen vorstellen kann, etwas zu hell, die Stimme klingt in der Höhe weinerlich, was bei dieser Partie penetrant wirken kann, die Phrasierung ist nicht die großzügigste. Die Cabaletta im ersten Akt liegt ihm besser als die Arie im ersten Akt, für „Perpetua notte“ opfert er einer erzwungen wirkenden Dramatik die musikalische Linie, verliert er die musikalische Contenance. Gefallen kann der Tenor in einem ausdrucksvollen „Da voi lontano la morte“. Die struppige Perücke wirkt optisch geradezu entstellend. Aus Mexiko stammt Maria Katzarava, einst Gewinnerin von Domingos Operalia, inzwischen zwischen den hübschen Chordamen durch enorme Körperfülle wie ein Fremdkörper wirkend. Vokal kann sie gefallen durch einen kristallklaren Sopran, gut gestützte Piani, schön ausgeformte Töne. Wird es allerdings dramatisch, dann entgleist die Stimme schon einmal, wird sie im Terzett scharf wie auch im letzten verzweifelten Ausbruch.

Auf die teilweise nicht höchsten Ansprüchen genügenden Sängerleistungen reagiert das Publikum für ein italienisches untypisch mit mattem Applaus für die Arien und stürmischem Beifall am Schluss (Dynamic 37865). Ingrid Wanja           

Mitreißend

 

Nicht gerade mit einem reichen Liedschaffen bringt man den Namen Sergey Prokofiev in Verbindung und doch hat jetzt die russische Mezzosopranistin Margarita Gritskova eine interessante CD mit Songs und Romanzen des Komponisten, der lange in Frankreich lebte, aber 1936 freiwillig in die Sowjetunion zurückkehrte, aufgenommen. Diese seine seltsame Entscheidung erklärt auch die bunte Vielfalt, die die 16 Tracks auszeichnet, die teilweise vom französischen Impressionismus, teilweise von den Anforderungen, die das stalinistische Russland an seine Künstler stellte, geprägt, in jeder Hinsicht jedoch hoch interessant sind.

Natürlich dürfte es eine solche CD auf dem westeuropäischen Markt nicht leicht haben, hätte Naxos nicht vorgesorgt und ein hilfreiches Booklet mit einer kompetenten Einführung in das Liedprogramm und mit Übersetzungen oder zumindest Inhaltsangaben der Musikstücke es dem Hörer ermöglicht, sich an der CD nicht nur zu erfreuen, sondern die einzelnen Lieder auch zu verstehen.

Es beginnt mit einem fast schon kleinen Operneinakter, dem ältesten, aus dem Jahr 1914 stammenden Stück, der Geschichte vom hässlichen Entlein, das sich zum  stolzen Schwan entwickelt, und es ist erstaunlich, dass der Hörer, obwohl der Text nicht übersetzt wurde, die Geschichte nachvollziehen kann, so deutlich kann die Sängerin Gefühlszustände, Handlungsabläufe nachvollziehbar machen, weiß sie Groteskes wie Gefühlvolles zu vermitteln mit einer angenehm timbrierten Stimme perfekt angebundener Höhe, die die Mezzofarbe zu bewahren weiß.

Es folgen drei der Five Poems aus dem Jahr 1915, dessen erstes, Das graue Kleidchen, eine klare Rollenverteilung zwischen dem Erzähler und der Titelfigur, der Verkörperung von Leid und Tod, hörbar macht, wobei fasziniert, wie die Stimme des Mädchens gerade, weil sie zart und verhalten bleibt, besonders geheimnisvoll klingt. Vertraue mir  ist ähnlich unheimlich, der in feinem Schwebezustand gehaltene Mezzo weiß die zu nichts Gutem führende Verführung, in der bereits das „Blätter fallen“ erahnbar ist, perfekt und damit nachvollziehbar zu verdeutlichen. Auch Der Zauberer, und hier verstärkt die wie tröpfelnd klingende Begleitung der einfühlsamen Maria Prinz diesen Eindruck, klingt die Stimme im „ so sang man es in alten Liedern“ wie sich verlierend an die unheimliche Atmosphäre.

Es folgen fünf Lieder auf Gedichte von Anna Akhmatova, und hier kann sich in Echte Zärtlichkeit das schöne Timbre voll entfalten, kann die Sängerin aber auch zugleich beweisen, wie farbig ein gut gestütztes Piano sein kann, während in  Erinnerung an die Sonne auch das Verlöschen sich in Schönheit vollziehen kann. Grüß dich  lässt erst in den letzten Worten  das Grässliche der Geistererscheinung hörbar werden, in Der grauäugige König lässt die Sängerin den Hörer darüber staunen, wie sie eigentlich eintönig Traurigem immer wieder neue vokale Nuancen abgewinnen kann.

In Denk an mich! Mit dem Text von Konstantin Balmont entwickelt die Stimme und mit ihr das Piano aus dem quasi akustischen Nichts Hochdramatisches bis hin zum Schrei „Denk an mich“, und auch Stöhnt ein graues Täubchen eignet sich nicht zum Ausstellen einer schönen Stimme, sondern verlangt nach der Fähigkeit zum Nuancieren, zur Charakterisierung, zum feinen sich Steigern im scheinbar Eintönigen, was Sängerin und Pianistin sich hörbar nicht nur vorgenommen, sondern auch verwirklicht haben.

Angeblich der Text eines russischen Volkslieds soll Anjutka sein, in dem dieselbe zu fleißigem Lernen aufgefordert wird, da ja im neuen Russland der Tüchtige sogar dank der Oktoberrevolution bis ins Präsidentenamt aufsteigen kann. Man vermeint in der Begleitung des Klaviers zu hören, dass sich der Komponist über sein eigenes Werk lustig macht, aber das ist vielleicht auch überinterpretiert. Das Plappermaul hingegen hält in virtuosem Temporeichtum, was es im Titel verspricht.

Plakativer als die anderen Tracks ist auch Das Totenfeld, für das die Sängerin die ihre den Charakter einer Naturstimme annehmen lässt.  In munterem Plauderton zart hingetupfte Töne hat sie für Im Morgenrot, einen verführerisch-herausfordernden Ton nimmt sie schließlich für Katarina an und führt nicht nur dieses Lied, sondern die gesamte CD zu einem mitreißenden Abschluss (Naxos 8.574030). Ingrid Wanja

 

Augen zu und hören

 

„Come in quest’ora bruna sorridon gli astri e il mare! Come s’unisce, o luna, all’onda il tuo chiaror!“ Mit diesen Worten beginnt die Arie der Amelia im ersten Akt von Verdis Simon Boccanegra nach einem geradezu impressionistisch anmutenden, zart-flirrenden, von Violinen dominierten Vorspiel. Und was fällt dem modernen Regisseur dazu ein, denn ein uninszeniertes Preludio darf nicht sein: Er lässt eine Horde so strengkostümierter wie –frisierter Damen, die in ihre Tabletts vertieft sind, auf- und wieder abmarschieren. Ihnen waren im Prolog, 25 Jahre zuvor, bereits wie irre mit ihren Handys hantierende, Mails empfangende oder absendende Herren in grauen Anzügen vorausgegangen, Plebejer, während die Patrizier einheitlich in Schwarz gewandet sind, Simon aus der Masse heraussticht, weil er einen braunen Anorak trägt und natürlich wegen so unkonventioneller Kleidung dem Zuschauer vermittelt, dass er ein guter Mensch ist. Ein Zeugnis der Armseligkeit ist die Regie von Alexander Kriegenburg für die Salzburger Festspiele von 2019, denn da gibt es nicht etwa eine neue Sicht mit neuen Erkenntnissen über dieses Schmerzenskind Verdis, das 1857 uraufgeführt wurde und erst 1881 seine endgültige Fassung erhielt. Die Regie pfropft dem historisch fest in der Zwietracht zwischen den beiden großen Handelsrepubliken Venedig und Genua verankerten Stück keine moderne Sicht, sondern nur ein modernes Outfit auf und nimmt ihm damit ein gut Teil seiner Wirkung. In der Personenführung bleibt die Produktion armselig, denn dass Paolo die Rose, die Gabriele seiner Amelia verehrt hat, zerpflücken wird, dass wusste der Zuschauer genauso sicher, wie er in Kupfers Fidelio voraussah, dass Pizarro das Geranientöpfchen Marzellines zertrampeln wird.

Die Szene von Harald B. Thor passt zwar wegen ihrer Monumentalität zu Genua, La Superba, ist aber mit ihrem Kalkweiß langweilig, mit den Videobotschaften wie lontano dal mare weit von der Wahrheit entfernt, bzw. nur auf die Produktion zutreffend, die das vielzitierte Meer fast gänzlich ausspart, nur im letzten Bild den Blick darauf in Ausschnitten freigibt und es im Kostüm (Tanja Hofmann) von Amelia sichtbar werden lässt. Alles in allem kann man die Optik nur für das loben, was sie nicht tut, nämlich sich der Solisten nicht anzunehmen, sie weitgehend in Ruhe zu lassen. Und das haben sie, tüchtig wie sie fast alle sind, zumindest verdient, wenn man sich natürlich auch wünscht und es ihnen gegönnt hätte, dass sie auf der Riesenbühne mehr Hilfestellung erhalten hätten.  Am Schluss wird sogar noch der zuvor viel mit Twittern beschäftigte Chor im Stich gelassen, denn als es mit Selbstmord (Paolos!), Hochzeit, Tod, Herrscherproklamierung endlich Wichtiges der Welt mitzuteilen gäbe, bleiben die Handys in den Hosentaschen.

Viel Freude bereiten die vier Herren des Solistenensembles. Da ist natürlich als Bassfels an erster Stelle René Pape als Fiesco zu nennen, dem im Prolog die Tochter sterbend in die Arme sinkt und der trotzdem ein unangefochtenes Il lacerato spirito mit wundervollem Fluss der gewaltigen Stimme singt, und das obwohl er sich optisch so zittrig-taprig geben muss, dass man ihm die mindestens 25 Jahre, die ihm noch vergönnt sind, nicht abnehmen kann. Balsamisch ist sein Anteil am Vicino a me, profund der am Duett mit Simone im letzten Akt nach einem durch Mark und Bein gehenden i morti ti salutano.

Angemessen raubeinig im Vergleich zu dem Simones hört sich der Bariton von André Heyboer in der Rolle des Paolo an, ein Brunnenvergifter, wie er giftiger nicht sein könnte. Dem Strick des Henkers entgeht er, indem er den Rest des für Simone bestimmten Gifts trinkt, das bei ihm sofort, bei Simone erst nach vielen Stunden so recht wirkt. Aber Oper ist halt im Reich des Unwahrscheinlichen angesiedelt, und wenn nicht, dann sorgt die Regie dafür.

Einen angenehmen, geschmeidigen und zugleich markanten Bariton hat Luca Salsi für den Dogen, seine gute Diktion ist lobenswert, mehr in seiner großen Ansprache als im Piangi ist er mit einem leider nur selten agogikreich geführten, eher dem Dauerforte verpflichteten, gesund klingenden Material eine Freude für den Hörer.

Einen feurigen Gabriele Adorno, den es nicht lange beim von der Regie verordneten Schampus und Pianoforte hält, gibt Charles Castronovo mit dunkel getöntem Tenor, der an Metall zugelegt hat, der leicht nasal, aber nobel klingt und der eine schöne mezza voce einzusetzen hat. Bereits im Rezitativ vor seiner großen Arie weiß er generös zu phrasieren, und das Piano im Segen im ersten Akt hat viel Substanz.

Eine optisch gefallen könnende Amelia ist Marina Rebeka, die schöne Töne für den Schluss hat, einen feinen Triller zum Ende des ersten Akts beisteuert, deren Mittellage aber schwach, deren Höhe oft zu schrill ist, so dass sie insgesamt gegenüber ihren männlichen Kollegen etwas abfällt.

Vorzüglich singt der Chor der Staatsoper Wien (Ernst Raffelsberger) mit gebändigter Allgewalt, tadellos und eher zurückhaltend zumindest bei dieser Aufnahme geben sich die Wiener Philharmoniker unter Valery Gergiev, der wohl gerade zuvor in Bayreuth mit dem Tannhäuser weniger glücklich agiert hatte. Wer sich durch eine ärgerliche Optik den Spaß an Oper nicht mehr verderben lässt, guckt und hört, alle anderen schalten nur den Ton an, und ein musikalischer Genuss ist ihnen gewiss (Unitel 802704). Ingrid Wanja  

Telemann aus Hamburg

 

Nicht aus der Telemann-Stadt Magdeburg kommt die Neuaufnahme seines Miriways, sondern aus Hamburg, wo es gleichfalls ein Telemann Festival gibt und das Werk im November 2017 in der Laeiszhalle konzertant aufgeführt wurde. PENTATONE hat in Koproduktion mit dem Norddeutschen Rundfunk den Mitschnitt auf zwei CDs veröffentlicht (PTC 5186 842). Wegen der Mitwirkung der renommierten Akademie für Alte Musik Berlin ist diese Initiative besonders zu begrüßen. Das Orchester mit seinem musikantischen Schwung und dem lustvollen Einsatz ist dann auch der Trumpf der Einspielung. Am Pult steht der Kanadier Bernard Labadie, Gründer des bekannten Barockorchesters Les Violons du Roy, der die federnde Musik mit ihrem Elan und dem orientalischen Kolorit spannungsvoll auffächert. Neben der inspirierenden Begleitung der Solisten hat der Klangkörper auch Gelegenheit, in mehreren Instrumentalnummern zu glänzen. Feierlich gemessen setzt die einleitende Sinfonia ein, munterer Hörnerklang bestimmt deren bewegten B-Teil. Von erhabenem Charakter sind die schreitende Sinfonie en Sarabande und die gewichtige Marche en Persien im 2. Akt.

Hamburg ist für dieses Werk durchaus prädestiniert, denn immerhin wurde es hier 1728 in der Oper am Gänsemarkt uraufgeführt. Das Libretto von Johann Samuel Müller bedient die im 18. Jahrhundert beliebte Orient-Mode, führt nach Isfahan, der persischen Residenz von Miriways. Der afghanische Stammesfürst hat nach seinem militärischen Sieg den persischen Prinzen Sophi als König in der eroberten Provinz eingesetzt. Mit seiner heimlichen Ehefrau Samischa hat er eine Tochter, Bemira, deren Aufenthalt unbekannt ist. Miriways will sie finden und mit Sophi verheiraten. Am Ende kommt es zu diesem Happy-End, und auch ein weiteres Paar, der tatarische Fürst Murzah und die Perserin Nisibis, findet sich.

In der Besetzung gibt es mehrere in der Alte-Musik-Szene bekannte Sänger, so Robin Johannsen als persischer Prinz Sophi, Sophie Karthäuser als Bemira, Marie-Claude Chappuis als Samischa und Anett Fritsch als Zemir.

In der Titelrolle ist der deutsche Bariton André Morsch mit einer resonanten Stimme von besonderer Klangschönheit zu hören. In seiner Auftrittsarie „Ein dopp’ler Kranz“ nimmt er das heiter-ausgelassene Thema des vorangegangenen Chores auf, welcher wie ein Vorläufer zu „Bassa Selim“ aus der Entführung anmutet. Ein großer Kontrast dazu ist die heftig erregte, vom Orchester mit pulsierenden Figuren untermalte Arie zu Beginn des 2. Aktes, „Es erzitt’re der Wütrich“. Den Gemütszustand der Figur vermag er in „Verjage die Wolken“ und „Geh, undankbares Herze“ plastisch zu formulieren. Am Ende des 3. Aktes fällt ihm mit „Lass, mein Sohn“ ein Solo von getragenem Ernst zu, welches die Stimme noch einmal in ihrer Schönheit und Sensibilität aufscheinen lässt.

Nicht weniger als vier Soprane gibt es in der Besetzung, was zu einer gewissen Gleichförmigkeit im Klangbild führt. Für den persischen Pronzen Sophie, eigentlich eine Mezzo-Rolle, wurde Robin Johannsen gewählt, bekannt vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit René Jacobs. Aber ihr Sopran ist sehr hell und leicht, vermag eine männliche Figur kaum zu suggerieren. Hier wäre ein hoher Counter die geeignetere Wahl gewesen. Dem Anspruch der dramatisch grundierten und an Koloraturen reichen Arie „Die Liebe spricht“ wird sie mit ihrer flexiblen Stimme gleichwohl mühelos gerecht. Ihr gebührt der letzte solistische Auftritt in der Oper mit dem furiosen  „Ich will mit verscheuchten Rehen“, dessen erregte Koloraturläufe beinahe einen Wahnzustand suggerieren. Dafür fehlt es der Stimme allerdings an Gewicht und Farbe. Für Miriways’ uneheliche Tochter Bemira ist Sophie Karthäuser ideal besetzt, denn ihr Sopran von apartem Timbre und zärtlicher Art verleiht der Arie „Ich liebe dich“ viel Anmut.

Recht ähnlich klingt Lydia Teuscher als persische Dame Nisibis, die ihre sanft wiegende Arie „Komm, sanfter Schlaf!“ kultiviert und feinsinnig vorträgt. Aber sie erfüllt auch die virtuosen Anforderungen der Partie und absolviert die Koloraturen der Arie „Mein widriges Geschicke“ am Ende des 1. Aktes beeindruckend. Im 3. Akt fällt ihr das einzige Duett, hier Aria à 2, des Werkes zu. Mit dem tatarischen  Fürsten singt sie „Welch süßes Ergötzen“, das die „himmlische Lust“ in zarten oder jauchzenden Koloraturen vorwegnimmt. Die vierte Sopranistin ist Annett Fritsch als persischer Fürst Zemir, auch dieser im Original eine Mezzo-Partie. Aber immerhin ist die Stimme etwas dunkler getönt als die ihrer Kolleginnen und in der Wirkung auch persönlicher durch die prägnante Artikulation und das Gewicht, das sie den Noten gibt. Die Arie „Ja, ja, es muss mir glücken“ profitiert vom energischen  Nachdruck, eine weitere, „Die Dankbarkeit“, von der plastischen Klangrede. Von Hörnern prachtvoll untermalt wird ihr Solo „Unwürd’ger, deine Liebeskerze“, welches das virtuose Vermögen der Interpretin herausstellt. Bei „Kann’s möglich sein“ im 3. Akt erfreut der noble Ton von hoher lyrischer Kultur.

Mit Marie-Claude Chappuis als Miriways’ Ehefrau Samischa findet sich der einzige Mezzosopran in der Besetzungsliste. Auch ihre gramvolle Arie „Könnt’ ich nur zu ihm sprechen“ fällt in dem stockenden Duktus aus dem Rahmen. Den 3. Akt eröffnet sie mit der Arie „Lass dir sein ehrerbietg’s Flehen“, die in ihrer munteren Heiterkeit von ganz anderem Charakter ist. Chappuis erfreut hier mit delikatem Gesang.

Kontrastierende Farben bringen zwei Baritone ein – Michael Nagy als Murzah, der in der Arie „Angenehme Westenwinde“ mit sanften Tönen und im 2. Akt in „Edle Sinnen lassen nicht“ mit kantablem Melos aufwartet, sowie Dominik Köninger als Geist und Scandor mit gewohnt zuverlässigem Auftritt. Der jubelnde Schlusschor „Die Sonne des Glückes“ kündet mit Janitscharen- Klängen vom frohen Ausklang.

Die Aufnahme ist eine ernsthafte Konkurrenz zur Einspielung von 2014 mit dem L’Orfeo Barockorchester unter Michi GaiggBernd Hoppe

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Mady Mesplé

 

Die große Sopranistin Mady Mesplé ist tot:  Sie war genauso in Lakmé von Delibes zu Hause wie im zeitgenössischen Repertoire. Die aus Toulouse stammende Sopranistin ist Samstag, den 30. Mai 2020 im Alter von 89 Jahren in Toulouse, der Stadt, in der sie geboren wurde, gestoprben

“ Ich bin immer eine langsame Frau und immer zu spät“, gestand sie am Mikrophon von Antoine Livio im Jahr 1995 auf France Musique in einer bescheidenen Charakteristik ihrer Karriere. Ariadne auf Naxos, Lakmé, Rigoletto, aber auch die weniger klassischen Werke wie Dialogues des Carmelites, Die Jakobsleiter, oder die Quatre poèmes de Sappho… Während fast drei Jahrzehnten sang Mady Mesplé die größten Rollen auf den wichtigsten Bühnen, ohne je die Herausforderung der zeitgenössischen Szene zu vernachlässigen.

1931 in Toulouse geboren, spielte sie zuerst Klavier, worin sie hervorragend war, bevor sie in Toulouse in die Klasse von Madame Izar-Lasson, der Ehefrau des Direktors des Théâtre du Capitole von Toulouse, kam. Das Ehepaar öffnet ihr den Weg nach Liège und Belgien. Sie singt dort Lakmé, den Barbier von Sevilla und wendet sich weiter zum Théâtre de la Monnaie in Brüssel, dann zur Oper von Lyon, wo sie in Les Contes d´Hoiffmann  brilliert, einer Oper, die sie im Dezember 1975 auch in Paris in einer Inszenierung von Patrice Chéreau singen wird.

Der Name von Mady Mesplé bleibt untrennbar mit der Moderne und den Werken ihrer Zeitgenossen verbunden. Eine Musik, die sie nicht als schwerer empfand, aber die viel Arbeit erforderte: „Man muss sehr musikalisch sein, ein gutes Gehör haben… Ich habe viel gearbeitet, ich glaube, ich glaube, ich habe ein gutes Gehör, ich habe genug für die Harmonie getan… Mein Gott, ich war oft verloren und wusste nicht mehr, was ich sang!“

Dieser Sinn für die Moderne wurde bei ihr nie schwächer. Als sie Ende der 80iger Jahre die internationale Opernszene verlässt, überträgt sie dasselbe Interesse für dieses zeitgenössische Repertoire auch in ihren Unterricht. Etwas, worauf sie stolz ist, wie sie vor einigen Jahren betont hat, war, dass sie „mehr zeitgenössische Musik als Operette gesungen hat!“. Francois Gautier (Übersetzung Ingrid Englitsch/ Foto Künstlerpostkartte Harcourt/ OBA30)

 

Dazu auch noch einmal eine Vita bei Wikipedia: Mesplé studierte am Konservatorium zunächst Klavier, dann Gesang und setzte ihre Gesangsausbildung in Paris bei Georges Jouatte und Janine Micheau fort. 1953 debütierte sie am Opernhaus von Lüttich, dessen Ensemble sie drei Jahre angehörte, in der Titelrolle von Léo Delibes’ Lakmé. Daneben gastierte sie am Théâtre de la Monnaie in Brüssel.

1956 wurde sie Mitglied der Pariser Oper und der Opéra-Comique. An der Opéra-Comique wirkte sie 1962 in der Uraufführung der Oper Princesse Pauline von Henri Tomasi und 1963 in der Uraufführung von Le dernier sauvage von Gian Carlo Menotti mit. Sie gab Gastspiele am Teatro dell’Opera di Roma, am Teatro San Carlo in Neapel, am Teatro Colón in Buenos Aires und an der Bayerischen Staatsoper in München. 1972 trat sie am Bolschoi-Theater in Moskau auf und debütierte an der Metropolitan Opera in New York als Gilda in Giuseppe Verdis Rigoletto.

Zu ihrem Repertoire gehörten neben der Lakmé u. a. die Titelrolle in Charles Gounods Mireille und die Juliette in dessen Roméo et Juliette, die Philine in Ambroise Thomas’ Mignon und die Ophélie in dessen Hamlet, die Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte, die Titelrolle in Gaetano Donizettis Lucie di Lammermoor, die Rosina in Gioachino Rossinis Barbiere di Siviglia sowie die Sophie in Richard Strauss’ Rosenkavalier und die Zerbinetta in dessen Ariadne auf Naxos.

Sie war exklusiv bei EMI/ Voix de son Maitre verpflichtet und nahm fast unendlich viele Einielungen auf, darunter  u. a. Partien aus Lakmé, Georges Bizets Don Procopio (den nun bei Chant du Monde), Charles Lecocqs La fille de Madame Angot, André Messagers Véronique, Reynaldo Hahns Ciboulette, Robert Planquettes Les cloches de Corneville, André-Ernest-Modeste Grétrys Zémire et Azor, Erik Saties Socrate, Jules Massenets Werther, Rossinis Guillaume Tell, Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt und aus Daniel-François-Esprit Aubers Opern Manon Lescaut und Fra Diavolo auf. Sie war für Jahrzehnte aus der französischen Opernlandschaft nicht wegzudenken.

Carsens trübe Szene

 

O je, schon wieder eine Tagessschau mit Musik, denkt der gequälte Opernfreund, wenn er von Robert Carsen im Booklet vernimmt, dass es sich bei seinem Idomeneo um Im Teatro Real von Madrid eine Produktion für den Frieden und gegen den Krieg handeln soll, und wenn zu Beginn vor einem gewaltigen Maschendrahtzaun Flüchtlinge mit entsprechendem Gepäck und Wasserflaschen aufmarschieren, gegen Ende sich am Strand Berge von Schwimmwesten auftürmen und man ganz zum Schluss in eine zerstörte Straßenschlucht wohl einer orientalischen Stadt schaut, ist man erst einmal bedient. Trägt dann noch das gesamte Personal außer Ilia und Elettra Uniform und Maschinenpistole und wirft beides zum happy end ab bzw. weg, dann ist darüber die eigentliche Quintessenz des Stücks, die Unvereinbarkeit zwischen Staatsräson und Liebe, sei es väterliche oder geschlechtliche, die Erlösung aus diesem Konflikt nur durch selbst einen erzürnten Gotte rührende  Opferbereitschaft auf der Strecke geblieben.

Abgesehen von dieser mit potthässlicher Kostümierung (Luis F. Cavarhol) einhergehenden Optik ist die Produktion eine durchaus ansehnliche, die sich durch stellenweise feine Personenführung und eine beeindruckende Video-Meereslandschaft mit zwischen still ruht die See oder dräuender Flut bis hin zum Tsunami wechselndem Hintergrund (Will Duke) auszeichnet.

Idamante wird in dieser Produktion nicht von einem Mezzosopran, sondern von einem Tenor gesungen, und dem Besetzungsbüro gelang es, mit der empfindsamen, kultiviert eingesetztem, wenn auch nicht mit einem schönen Timbre begabten Stimme von David Portillo eine sehr jugendliche der dunkleren, dramatischeren substanzreicheren von Eric Cutler  als Idomeneo entgegen zu setzen. Ähnlich kontrastreich verhielten sich die beiden Sopranstimmen zueinander. Eine zarte, lyrische Mädchenstimme setzte Anett Fritsch für die trojanische Prinzessin Ilia ein, sehr angenehm in ihrer zweiten Arie mit einem schönen Leuchten in der Höhe, im Dramatischen aber flach bleibend. Zu Recht Publikumsliebling war Eleonora Buratto als fulminante Elettra, die die Furien souverän toben, den Zefiro sanft säuseln und mit ihrer letzten Arie das Blut des Hörers in Wallung geraten ließ. Eindrucksvoll war der wenn auch verstärkte Nettuno von Alexander Tsymbalyuk, solide der Arbace von Oliver Johnston. Der Chor des Teatro Real legte sich mit Gewinn ins Zeug, das Orchester unter Ivor Bolton spielte viel besser, als die ungefügen Bewegungen seines Leiters es vermuten ließen und erhellte mit akustischem Strahlen die trübe Szene (Opus arte 1317D). Ingrid Wanja

 

Hochbesetzt

 

Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends war es still um den italienischen, 1690 in Strongoli  geborenen Komponisten Leonardo Vinci. Aufgeführt und eingespielt wurden eher die Opern seines Zeitgenossen Antonio Vivaldi. Nur hin und wieder fand sich auf den Recitals renommierter Barocksänger (Cecilia Bartoli, Simone Kermes, Xavier Sabata, David Hansen, Filippo Mineccia) eine Arie des Komponisten. Das änderte sich schlagartig im Jahre 2011, als Diego Fasolis mit dem Concerto Köln Vincis Artaserse in einer spektakulären Besetzung für Virgin aufnahm und ein Jahr später in Nancy szenisch aufführte. Alle Hauptrollen, auch die weiblichen, wurden von Countertenören interpretiert, womit an die Kastratenbesetzung der Uraufführung 1730 in Rom erinnert wurde. Jüngster Paukenschlag in Sachen Vinci war das Recital des Counters Franco Fagioli bei der DG mit dem Titel Veni Vidi Vinci, welches 14 Arien des Komponisten, darunter sieben Weltpremieren, vorstellt.

Nun veröffentlicht das österreichische Label Parnassus Arts Productions auf drei CDs (und einem ebenso hochinformativen wie mitreißend geschriebenen Einführungsartikel von Boris Kehrmann) Vincis Dramma per musica Gismondo Re di Polonia,  nachdem dieses 2018 im Teatr Miejski in Gliwice und im Theater an der Wien aufgeführt worden war (9120104870017). Das Stück kam 1727 in Rom zur Premiere und basiert auf einem Libretto des Venezianers Francesco Briani, welches dieser für den Komponisten Antonio Lotti verfasst hatte, der es unter dem Titel  Il vincitor generoso vertonte – ein Herrscherlob auf König Fredericks IV. von Dänemark, der 1709 die Lagunenstadt besuchte und zu dessen Ehren die Aufführung gegeben wurde. Vinci hat dieses Libretto 18 Jahre später nahezu wörtlich vertont. Die Protagonisten der Oper sind Gismondo, König von Polen, und Primislao, Herzog von Litauen. Zwei Fürsten, Ernesto von Livland und Ermano von Mähren, lieben Gismondos Tochter Giuditta, die jedoch Primislao zugetan ist. Zwischen dessen Tochter Cunegonda und Gismondos Sohn Otone entspinnt sich die eigentliche Liebeshandlung. Alle Figuren sind zwischen Politik und Liebe hin- und hergerissen, doch am Ende siegt die Großmut und zwei glückliche Paare finden sich. Die menschlichen Konflikte der Handlung haben Vinci inspiriert zu einer farbigen, affektreichen Musik, für die er auch Material aus seiner Ernelinda verwendete. Mit dem (oh!) Orkiestra Historyczna stellt sich ein neuer Klangkörper auf CD vor, geleitet von Martyna Pastuszka – auch sie ein bislang unbekannter Name auf dem Musikmarkt. Aber schon mit dieser ersten Aufnahme liefern beide einen imponierenden Beweis ihrer Meisterschaft. Mit stürmischem Bläsergeschmetter setzt die Sinfonia ein und bringt in ihrer Durchführung das pulsierende Spiel des Orchesters zu starker Wirkung. Der 3. Akt beginnt mit einer pompösen Marciata, in welcher der Klangkörper wiederum heroisch auftrumpft. Aber auch in der Begleitung der Sänger sind Gespür für Rhythmus und Melos spürbar.

In der Besetzung finden sich zwei Countertenöre, die auch beim Artaserse mitgewirkt hatten – der Ukrainer Yuriy Mynenko und der Österreicher mit kroatischen Wurzeln Max Emanuel Cencic. Letzterer ist Executive Producer der Aufnahme – damit Garant für eine erstklassige Besetzung – und auch Interpret der Titelrolle. Die Stimme des Sängers hat sich in den letzten Jahren bemerkenswert entwickelt, ist durchgängig gerundet und ausgeglichen, hat den hysterischen Beiklang in der Höhe, der früher zu bemerken war, verloren. Schon der bewegte Auftritt, „Bella pace“, mit reichen Koloraturpassagen imponiert, ebenso die Gleichnisarie „Se soffia irato“, welche das Bild einer Taube im Sturm imaginiert. Deren eilende Koloraturen absolviert Cencic bravourös, wie er auch im stürmischen „Torna cinto“ des 2. Aktes brilliert und die Nummer mit einem exponierten Schlusston krönt. Mynenko als Otone mit seiner schönen und sinnlichen Stimme steht ihm keineswegs nach, kann bereits in der Auftrittsarie, „Vado ai rai“, mit fein getupften staccati und reichem Zierwerk prunken. Er beschließt den 1. Akt mit einer Nachtigallen-Arie („Quell’usignolo“), deren betörender und kunstfertiger Gesang mit Trillern und staccati von Flöten lieblich umspielt wird. Im 2. Akt kann er in „Vuoi ch’io mora“ seinen Schmerz mit ergreifenden Tönen ausdrücken, im heldischen „Assalirò quel core“ die Stimme in ihrem weiten Umfang voll ausreizen und im lieblich wiegenden „Pupille vezzose“ des 3. Aktes seine lyrischen Qualitäten auskosten.

Zwei weitere Counter sind dagegen neu in der Opernszene – der Brite Jake Arditti als Ernesto und der Amerikaner Nicholas Tamagna als Ermano. Ersterer besitzt eine Stimme von reizvoll androgynem Timbre mit auffallend üppiger Substanz in der Tiefe. Diese kann er besonders in der munter bewegten Arie im 2. Akt, „E col senno“, ausstellen. Kontrastreich sind das lieblich-zärtliche „D’adorarvi così“ und das auftrumpfende, mit virtuosen Koloraturläufen ausgestattete „Parto con quella speme“ im  3. Akt. Ermano führt sich erst im letzten Akt mit der stürmischen Arie „Son come cervo misero“ ein und Tamagna kann hier mit seiner resoluten, angenehm timbrierten  Stimme für sich einnehmen.

Auch die mitwirkenden Soprane waren bisher auf Besetzungslisten kaum anzutreffen. Die weibliche Hauptrolle der Cunegonda nimmt die Belgierin Sophie Junker wahr. Ihr lyrischer Sopran ist von hoher Kultur, was den empfindsamen und klagenden Arien der Partie gut ansteht („Sentirsi il petto“ im 1. und „Tu mi tradisti ingrato“ im 2. Akt). Sie trägt diese Lamenti mit starker Expressivität vor. Mit Otone beendet sie den 2. Akt mit dem innigen Duett „Dimmi una volta addio“, in welchem beide Stimmen perfekt harmonieren. Ein Höhepunkt der Oper ist ihre stürmische Arie im 3. Akt „Ama chi t’odia“, die in rasendem Furor ihren Hass und Erregungszustand spiegelt. Cunegonda ist auch beteiligt im einzigen Terzett des Werkes mit Gismondo und Otone („Dolce padre“), welches einen Gefühlssturm aller drei Personen ausdrückt. Und schließlich fällt ihr das letzte Solo der Oper zu – „Di rispondi“ am Ende des 3. Aktes, das geheimnisvoll raunend beginnt und sich dann ganz verinnerlicht fortsetzt. Erst der nachfolgende Schlusschor „Nel gran Sarmata“, der davon singt, dass mit dem Ölbaum und Lorbeer das erhabene Haupt Gismondos gekrönt wird, bringt eine feierliche Note ein.

Die Polin Aleksandra Kubas-Kruk ist als Primislao zu hören, also eine Besetzung en travestie. Die Stimme ist im Timbre nicht sonderlich individuell, aber die Gesangskunst der Sopranistin steht außer Frage. Schon in ihrem ersten Auftritt „Và, ritorna“ vermag sie energisch aufzutrumpfen und mit herausgeschleuderten Spitzentönen zu beeindrucken. Imponierend auch die exponiert notierte Arie „Nave altera“, die rhythmisch prägnant, mit großem Nachdruck und brillanten Koloraturgirlanden interpretiert wird. Einen starken Kontrast bilden die beiden Arien im 3. Akt — „Vendetta o ciel“ kämpferisch und „Sento di morte“ ganz verhalten, fast stockend.

Die Russin Dilyara Idrisova gibt die Giuditta und komplettiert mit ihrem jugendlichen Sopran von androgyner Anmutung eine insgesamt hochkarätige Besetzung. Die Sängerin meistert auch die Noten in der Extremhöhe bravourös, wie im koketten „Così mi piacerai“ oder dem heiteren „Se l’onda corre“.

Cencic und sein Team haben mit dieser Einspielung für einen Meilenstein in Sachen Leonardo Vinci gesorgt, dem hoffentlich weitere Initiativen folgen werden. Anfang September soll das Werk in identischer Besetzung beim neu gegründeten Festival Bayreuth Baroque konzertant aufgeführt werden . Bernd Hoppe 

 

(Foto Vinci „Gismondo“ Parnassus Max Emanuel Cenci c® Lukasz-Rajchert/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/..)

Zeitgenossenschaft

 

Bei allen Unterschieden viele Gemeinsamkeiten zeichnen die beiden von ihrer Musik her so unterschiedlichen Komponisten Ernst Krenek und Kurt Weill aus, und damit ist nicht nur das Geburtsjahr 1900  gemeint oder das Exil in den USA. Ansporn genug, um die beiden sich ihrem Schaffen widmenden Kurt-Weil-Gesellschaft Dessau und die Ernst Krenek Institut Privatstiftung Krems zur Unterstützung einer Tagung zu motivieren, die das Thema des Kurt Weill Fests Dessau  2016, „Krenek, Weill & die Moderne“ mit leichter Abänderung in Zeitgenossenschaft: Ernst Krenek und Kurt Weill im Netzwerk der Moderne abwandelte. Initiator war und Herausgeber des daraus entstandenen Buches ist Matthias  Henke, dem auch das Vorwort zu dem stattlichen Band, der die Ergebnisse des Unternehmens zusammenfasst, geschrieben hat.

In  diesem weist er nicht nur auf das gemeinsame Geburtsjahr, sondern auch darauf hin, dass beide Komponisten in Familien aufwuchsen, die an klassischer Musik interessiert waren und die die musikalische Ausbildung ihrer Söhne förderten,  dass beide 1920 nach Berlin zogen, in Donaueschingen auftraten und Riesenerfolge erzielten, Krenek mit Jonny spielt auf und Weill mit der Dreigroschenoper. In den USA allerdings entwickelten sie unterschiedliche Musikstile, Weill passte sich dem amerikanischen Geschmack an und Krenek beschritt den Weg der Atonalität.

Man könnte noch hinzufügen, dass beide ihre Werke bei der Wiener Universal Edition AG veröffentlichten.

Über die „privilegierten Kindheiten“ beider Komponisten berichtet Kristina Schierbaum, wobei sie sich auf Kreneks Überlieferungen stützen kann, während über Weills frühe Jahre aus dessem Mund kaum etwas zu vernehmen ist, auch wenig darüber von fremder Hand geschrieben wurde. Trotzdem weiß man, dass die Familie jüdischen Glaubens ihn in einen Fröbel-Kindergarten schickte, das Krenek zweisprachig in Wien aufwuchs, da die Großmutter nur Tschechisch sprach. Schierbaum berichtet anschaulich und unterhaltsam über die Schulzeit und insbesondere den Musikunterricht für die späteren Komponisten, über erste eigene Musikstücke, die vom achtjährigen Krenek und vom zwölfjährigen Weill zu vermelden sind.

Nicht etwa über Weill und Brecht, sondern über Krenek und den deutschen Schriftsteller schreibt Joachim Lucchesi, wobei er Interessantes über die Abneigung Kreneks gegenüber dem „Politclown“ und dessen „musikdramatischen Nihilismus“   zu berichten weiß, sehr anschaulich über die Versuche, sein Pamphlet gegen Brecht und dessen pädagogisch-agitatorische Tendenzen bei Zeitungen unterzubringen, schreibt und besonders den Unwillen Kreneks darüber, dass das Publikum sich während einer Aufführung einmischen soll und Mitwirkende vorübergehend aus ihrer Rolle heraustreten können. Lucchesi weist sehr überzeugend nach, dass für Krenek zu dieser Zeit das Transzendentale zur Oper gehört. Er verschweigt aber auch nicht, dass es bei ihm durchaus auch anti-illusionistische Elemente, so in Karl V. ,gibt und dass einer Zusammenarbeit mit Brecht eigentlich nur dessen Kommunismus im Wege stand.

Schwere Kost gibt es mit Reinke Schwimmings Artikel über Kurt Weill und Ernst Bloch zu verdauen. Immerhin bleibt es konkret mit dem Bericht über Blochs Artikel über den Song der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper, nachdem man sich durch Bemerkungen über den ontologischen Materialismus des Philosophen, die Utopie als Keimzelle der Hoffnungsphilosophie durchgekämpft hat, die der Autor dankenswerter Weise dem Leser höchst verständlich nahe zu bringen weiß. Gewagt sind die Vergleiche Jennys mit Elsa und Senta, denen allesamt „Sehnsucht nach messianischer Erlösung“ zugeschrieben wird, so ist denn der Inhalt des Songs wertvoll, die Form aber die des minderwertigen Schlagers. Entlassen wird der Leser mit der Einsicht, dass für Bloch die Musik die direkteste Ahnung von Utopie vermittelt.

Ulrich Wilker hatte die Aufgabe, Verbindungen zwischen Krenek, Weill und Zemlinsky aufzuspüren, schwierig, da lediglich der Dirigent Zemlinsky als Aufführender ihrer Werke für die beiden Komponisten von Interesse war. Als „Knotenpunkte der Moderne“ werden „Der Zwerg“ und „Der Kreidekreis“ bewertet, Weills Einfluss auf Zemlinsky wird untersucht.

Andreas Eichhorn  widmet sich dem Thema  „Musik und Weltanschauung“ anhand von Paul Bekkers Briefen an die beiden Komponisten. Weil er ihn „hochnäsig und herablassend“ findet, geht Krenek nicht auf den Wunsch Bekkers ein, sich zur zeitgenössischen Musik zu äußern, sieht sich stattdessen zu einem Statement gegen die Weltanschauungsoper veranlasst, während er andererseits Weill dafür lobt, dass in dessen Die Bürgschaft die Musik „ die Politik in sich aufgesogen hat wie der Sonnenstrahl eine kleine Wasserpfütze“, sie also als solche nicht mehr wahrnehmbar ist. Man staunt  und staunt darüber, wie heftig Fragen wie diese die Musiker der damaligen Zeit bewegten und vergleicht im Stillen die Sprachlosigkeit heutiger Künstler damit.

Claudia Maurer Zenck schreibt über die Aufführungen der beiden Komponisten in der Berliner Krolloper, einst mit 2500 Sitzen das größte Opernhaus Berlins. Besonders interessant ist  in diesem Zusammenhang, dass für Kreneks Das Leben des Orest Giorgio di Chirico als Bühnenbildner gewonnen wurde- Fotos geben davon Zeugnis. Jürgen Schehera hingegen widmete sich den Aufführungen in Leipzig, listet alle und nicht nur die der Opern auf und verweist auf ein pikantes Detail, das erklärt, warum beide Komponisten sehr häufig in diesem Institut aufgeführt wurden.

Andreas Zeising berichtet über die Fotos, die es, teilweise von berühmten Meistern der Zunft, von beiden Komponisten gibt- natürlich mit den entsprechenden Abbildungen. Stefan Weiss widmet seinen Artikel den Violinkonzerten beider Komponisten aus dem Jahr 1924, Leanne García Alós den Streichquartetten Nr. 1, Weiss vergleicht Besetzung, Metrik und Formvorstellungen miteinander, lässt die zeitgenössische Kritik zu Wort kommen.

Auch als Liedkomponisten waren beide Komponisten aktiv, widmeten sich sogar demselben Dichter, nämlich Rainer Maria Rilke. Die sinfonische Dichtung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke ist leider verloren gegangen, auch von den sechs Liedern, die Weill auf Texte Rilkes vertonte, haben nur 1 ½ überlebt. Von In diesem Dorfe liefert der Verfasser eine interessante Interpretation. Krenek vertonte 1926 drei Rilke-Gedichte als Lacrimosa, von dem das zweite Lied einer näheren Betrachtung unterzogen wird.

Marco Hoffmann vergleicht die beiden Einakter Der Zar lässt sich fotografieren und Der Diktator miteinander  und stellt fest, dass beide, sei es mit dem Handlungsort Fotoatelier, sei es mit der Nähe zu Mussolini, in der Moderne angekommen sind, beide sich durch rasch wechselnde Perspektiven auszeichnen.

Den Abschluss bildet der Beitrag von Nils Grosch, der zu Exil und kultureller Mobilität Stellung bezieht, die Frage aufwirft, ob Assimilation nur Bereicherung oder auch Verlust bedeutet und wie die beiden Komponisten- Krenek wechselt seine Meinung in dieser Beziehung- diese Frage beantworten.

Die letzten Seiten Bandes werden durch ein Namen- und Werkregister und eine Übersicht über die Autoren eingenommen. Aber schon vor dessen Lektüre fühlt man sich durch das Buch bereichert und wissender als zuvor (195 Seiten, Edition Argus 2019 als Band 8 der Ernst Krenek Studien; ISBN 978 3 931264 37 6). Ingrid Wanja

 

Im Nerz durch Weisse Nächte

 

Petersburg: Verdi gelangte bis dorthin und führte die erste Fassung von La Forza del Destino auf, Johann Sebastian Bach wäre gern dort gewesen, musste aber in Leipzig  bleiben und weiter für den Thomanerchor Kantaten schreiben, nun gibt es eine CD mit Musik, die es an den Petersburger Hof schaffte und vielleicht sogar während einer der hochsommerlichen Nuits Blanches, so der Titel der Silberscheibe, dort aufgeführt wurde. Die kanadische Sopranistin und Barockspezialistin Karina Gauvin hat gemeinsam mit dem Pacific Baroque Orchestra unter Alexander Weimann Musik, die am Zarenhof des 18.Jahrhunderts gespielt wurde, aufgenommen, darunter als Prominentesten Christoph Willibald Gluck, außerdem die beiden Ukrainer Dimitri Stepanowitsch Bortnianski und Maxime Sozontowitsch Berezovski, dazu den in Italien ausgebildeten Evstignei Ipatievitsch Fomine sowie  Domenico Dall’Oglio, Tartini-Schüler, der gemeinsam mit seinem Bruder fast 30 Jahre lang am Zarenhof tätig war.  Eher dem kalten russischen Winter allerdings huldigt das Cover, das die Sängerin mit üppiger Nerzstola und Schleierhütchen zeigt, hinter dem die Augen geheimnisvoll leuchten.

Aus Bortnianskis Oper Le Faucon (Der Falke) stamm die Arie der Elvire über die Liebe zu ihrem Sohn, die das Orchester mit süß-geschmeidigem Klang einleitet, der zu der Stimme von schönstem Ebenmaß in allen Registern, weich und sehr feminin, optimal passt, ein schönes Wechselspiel zwischen Instrumenten und menschlichem Organ garantierend. Später gibt es noch die effektvolle Ouvertüre zu dieser Oper um einen Edelmann, der das Herz bereits erwähnter Elvire dadurch gewinnt, dass er sein letztes Gut, einen Falken, für sie schlachtet und auftischt. Lediglich ein Orchesterstück trägt Dall’Oglio mit dem Allegro aus der „Sinfonia Cosacca“ bei, die allerdings eher barock als kosackisch klingt.

Von Bortnianski hingegen hat es noch ein zweites Werk auf die CD geschafft, Alcide aus dem Jahr 1778, in dem der junge Herkules vor die Entscheidung gestellt wird, welchen Lebensweg er gehen will, den angenehmen oder den ruhmreichen, aber beschwerlichen. Seine Entscheidung ist bekannt. In seinen beiden Arien demonstriert die Sängerin eine Stimme von jugendlicher Frische, singt raffinierte Schwelltöne und lässt die Verzierungen nicht wie mühsam erkämpfte, sondern wie beiläufig dargebotene klingen.

Arien zweier unterschiedlicher Partien lässt die Gauvin in Berezovkis Oper Demofonte, einmal des zu Menschenopfern gezwungenen Königs Demofonte, der hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blickt, einmal des sich den Opfern widersetzende Timante, der sich, sein Schicksal beklagend, an seinen kleinen Sohn wendet. Die erste Arie klingt eher wie eine Vokalise als sinnerfüllt, demonstriert aber die hervorragende Technik der Sängerin, die Leichtigkeit, mit der die Stimme geführt wird, die zweite lebt vom ihr innewohnenden Kontrast, „voi foste il mio diletto, voi siete il mio terror“, dem sie mit innigem Ton souverän Ausdruck verleiht.

Das Herzstück der CD sind natürlich die Auszüge aus Glucks Oper Armide, der der Sopran viel Jugendlichkeit, viel Kapriziöses, viele einander widersprechende Gefühle mit auf den Weg gibt. Erstaunlich ist dabei, wie sie zugleich sehr zart und sehr präsent sein kann. Nuancenreich gestaltet sie  die Arie „Ah! si la libertè“, mit sanftem Tonansatz, und „Le perfide Renaud “ zeugt in der wunderbar instrumental geführten Stimme von Verletzbarkeit, so wie die Wutausbrüche stets die Einheit des Timbres bewahren. Alles in allem ein weiteres Zeugnis der Gestaltungskunst der kanadischen Sängerin (ATMA  ACD2 2791). Ingrid Wanja

 

Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.

Norwegisches aus Florenz

 

Recht guten Mutes nähert man sich noch immer Opern-DVDs aus Italien, denn wenn auch hier bereits moderne Regie ihr Unwesen treibt, garantiert doch meistens der gute Geschmack der Italiener, ihr Sinn für das Dekorative, ihr Bestreben, auch auf der Bühne bella figura zu machen, die Vermeidung des German trash in seiner schlimmsten Ausformung.

Dirigiert nun gar noch Fabio Luisi, von dem ein Mitglied der Staatskapelle Berlin einst meinte: „Da muss erst ein Italiener kommen, um uns zu zeigen, wie man Hänsel und Gretel spielt“, dann hebt das in der Erwartung von Wagners Der fliegende Holländer ebenso die Stimmung wie die Hoffnung, der Maggio Musicale Fiorintino werde, wie in der Vergangenheit meistens, für gute Sänger sorgen.

Alle Erwartungen erfüllt wurden vom Orchester und seiner Leistung bei dieser ersten Wagner-Aufführung Luisis in seinem Heimatland Italien, das in seinem Spiel Durchsichtigkeit mit Opulenz miteinander vereinte, das bereits in der Ouvertüre eine unvergleichlich romantische Stimmung zu zaubern wusste und seinen Teil zur einer glücklichen akustischen Ausgewogenheit zwischen Bühne und Orchestergraben beitrug. Auch der Coro Ars Lyrica  (Eintudierung Marco Bargagna) gemeinsam mit dem Coro del Maggio Musicale Fiorentino (Einstudierung Lorenzo Fratini) sang höchst idiomatisch und dazu die Herren kraftvoll-gebändigt, die Damen agogikreich und frisch.

Regisseur Paul Curran stellt das Stück nicht auf den Kopf, will aber auch nicht auf das Betonen einer eigenen Handschrift verzichten. Die besteht zunächst einmal in einer Verlegung der Story in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Damen Wasserwelle und Seidenstrümpfe mit Naht ( Kostüme Gabriella Ingram) trugen. Dazu würde kein Spinnrad passen, und so sitzen sie an Nähmaschinen, die in einem hässlichen Fabriksaal (Szene Saverio Santoliquido) aufgebaut sind. Für das Erscheinen des Holländer-Schiffs wird verständlicherweise Videotechnik bemüht und diese weiß eindrucksvolle Momente zu kreieren. Das gilt leider ganz und gar nicht für die erste Begegnung zwischen Holländer und Senta, der alles Magische abgeht, so wie auch der Schluss aus purer Verlegenheit geboren scheint: Holländer und Senta gehen aufeinander zu und recken sich die Hände entgegen.

In Italien scheint man noch immer der Meinung zu sein, hässliche Stimmen in deutschen Opern seien das Normale. Anders ist das Engagement von Thomas Gazheli kaum zu erklären, der einen ausgesprochenen Alberich-Bariton hat, immerhin über eine gute Höhe verfügt, dessen Timbre aber alles andere als edel ist. Die Stimme wirkt nicht einheitlich gut fokussiert, die Mittellage eher schwach, und optisch ist er ebenfalls kaum beeindruckend. Da er von der Regie offensichtlich keine Hilfestellung bekommen hat, wirkt sein Spiel recht unbeholfen. Dass Marjorie Owens eine tolle Stimme haben muss, sieht man auf den ersten Blick, denn wer optisch derart wenig der schönen Senta entspricht, der muss entsprechend ausgleichende stimmliche Qualitäten haben. Die hat der Sopran in Hülle und Fülle, was sich in einer mühelos wirkenden Ballade mit sicherer, strahlender Höhe, sanften Intervallsprüngen und insgesamt einem betörend schönen, warmen Leuchten und Strahlen der Stimme äußert. Einen angenehmen Zwischenfachtenor und eine ebensolche optische Erscheinung bietet Bernhard Berchtold mit beispielhafter Diktion für den Erik auf. Mal hohl, mal mit enger Stimmführung und darstellerisch aufs Schlimmste chargierend, ist Mikhail Petrenko ein des Maggio nicht würdiger Daland. Als Norweger des 20.Jahrhunderts sollte er auch kein Kreuz schlagen, wenn schon Moderne, dann konsequent! Die angemessene Optik und eine Stimme, die lyrischer sein könnte, hat Timothy Oliver für den Steuermann, während Annette Jahns nicht die übliche rundlich-gemütvolle, sondern eher herb-strenge Mary gar nicht ältlicher Stimmmittel ist (Bluray C-Major 753808). Ingrid Wanja    

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Religiöse Fleissarbeit

 

Vielleicht sogar ein Lebens-, auf jeden Fall aber ein Lebensabschnittswerk ist das von Andrea Chudak, die fünfzehn Jahre lang unterschiedliche Versionen des Ave Maria“ aus sieben Jahrhunderten sammelte und sie nun, 68 an der Zahl, auf fünf CDs bei der Antes Edition in der Funktion als Initiatorin, Produzentin und Sängerin herausgegeben hat.

Angesichts einer solchen Fülle von zwar in Bezug auf den Text sich leicht, in  Bezug auf die Musik sich stärker voneinander unterscheidender Tracks fragt man sich natürlich, für wen die fünf CDs bestimmt sein, wen sie interessieren könnten. Der Musikhistoriker wird sicherlich dadurch irritiert, dass chronologisch gesehen ein wildes Durcheinander, kein ihn befriedigendes Ordnungsprinzip herrscht. Auch kann ihn nicht zufrieden stellen, dass kaum eins der Stücke in Originalbesetzung erklingt, sondern dass das vorhandene Potential an mitwirkenden Künstlern eingesetzt und die Stücke auf dieses, was Sänger und Instrumentalisten betrifft, zugeschnitten werden musste. So mussten besonders die für oder mit Chor vorgesehenen Stücke wesentlich verändert werden. In dieser Hinsicht befriedigen dann noch am ehesten die Aves, die von vornherein für die Sängerin komponiert wurden. Auch nach der Herkunft der Komponisten, von denen es deutsche, französische, italienische und weitere gibt, wird nicht gegliedert, noch nach Originalen und Fälschungen oder Originalen und Bearbeitungen. Und sollte man es sich zum Prinzip gemacht haben, nach wechselnden Sängern und Instrumenten zu gliedern, dann wäre das höchst fragwürdig. Es bleibt also nur der schlichte, sich an Musik erfreuende Hörer als Interessent und der dürfte nach dem ununterbrochenen Anhören aller fünf CDs und aller 68 Avi (oder Aves) reif sein für das Kloster oder eine andere Anstalt.

Das umfangreiche Booklet erläutert zunächst in der „Einführung“ die Geschichte des Ave Maria und seiner vielfältigen Erscheinungsformen, ehe 1568 eine feste Form dafür gefunden wurde. Es erwähnt als bekanntestes das von Schubert, als ebenfalls sehr populäres das von Bach/Gounod und hält fest, dass es enorme  Qualitätsunterschiede gibt, erwähnt Gregorianik, die Herkunft von Gassenhauern, den Gebrauch als Salonstück und die Fülle von Bearbeitungen. Dieser Artikel ist informativ und bereitet den Hörer angemessen auf den Genuss der CDs vor.

Es folgt eine umfangreichere Beschreibung der einzelnen Titel, teils mit interessanten Informationen wie der, dass der Komponist des ersten Tracks auch der der Musik zu der Fernsehreihe „Um Himmels Willen“ ist, dass Mozarts Ave klingt wie das Duett Fernando/Guglielmo aus Così fan tutte, Bo Wiget für sein Ave nur den Konsonanten M zuließ oder Rudolf Weinwurm einen Text von Kaiserin Sisi verwendete. Auch Anekdotisches wie die mit dem Ave verbundenen Flirtversuche zum Beispiel Bruckners können das Interesse des Hörers und Leers verstärken. Dass Karl May immerhin ein, Saint-Saëns dagegen volle zehn Aves komponierte, von denen auf der CD immerhin drei, aber nicht hintereinander, sondern verstreut vertreten sind, lässt wieder die Frage nach dem Ordnungsprinzip aufkommen. Dieser Artikel, so gut er gemeint sein mag und so hilfreich er vielleicht auch bei der Bewältigung des Hörpensums ist, irritiert durch zahlreiche seltsame Wendungen wie „ „allerdings aus einer mehrstimmigen Chanson“, „von Laien gut ausführbar und dennoch intime Wirkung entfalten“ oder „eine weitere Gruppe eröffnet sich durch plumpe Fälschungen“.

Erfreulich ist dann doch, und das ist ja die Hauptsache, die Ausführung des Unternehmens durch die drei Gesangssolisten, die sich ganz uneitel ihrer Aufgabe gestellt haben. Der Sopran von Andrea Chutak ist klar und mädchenhaft, bemüht sich mit Erfolg um eine schöne Schlichtheit und kann in der Höhe leuchten. Wenn die Laute begleitet, nimmt die Stimme einen geradezu kindlichen Klang an und wird a cappella angenehm instrumental geführt. Julian Rohde hat einen angenehm timbrierten und klar konturierten Tenor, singt in der Höhe allerdings recht offen. Grundsolide ist der Bariton von Matthias Jahrmärker. Die Instrumentalisten sind  Andreas Schulz (Klavier), Jakub Sawicki, Robert Knappe  und Matthias Jakob  (Orgel),  Olaf Neun (Laute), Lidiya Naumova (Gitarre), Michael Schepp und Susanne Walter (Violine), Stefan R. Kelber (Viola), Ekaterina Gorynina (Cello) und Olaf Neun (Erzlaute) und Almute Zwiener (Horn).

Wegen der Corona-Pandemie müssen die eigentlich vorgesehenen Konzerte, darunter in der Potsdamer Friedenskirche, wo die Aufnahmen entstanden, ausfallen. Ob sich genügend „Ave-Maria“-Begeisterte für die fünf CDs interessieren (ANTES BM179001)? Ingrid Wanja

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Doppelrolle

 

Sie kann alles: Spitzentanz, singen, dirigieren. Ihre Brüsseler Lulu hält eine DVD fest (2 DVD Belair BAC 109), eine zweite dokumentiert ihr Debüt als Operndirigentin mit The Rake‘s Progress in Göteborg (2 DVD Accentus Musicus ACC 20420). Die kanadische Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan, die vor Tom Randles Maler im fast durchsichtigen, schwarzen Dessous-Zweiteiler auf Spitze tänzelt, was ihr formidabel gelingt, ist mit gestochenen Spitzentönen, hinreichender Mittellage und nicht ganz so präsenter Sprechstimme, lockenden Girlanden in ihrem Lied („Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben“) und sehrender Hingabe (O, Freiheit! Herr Gott im Himmel“) eine darstellerisch fesselnde, sich ständig wandelnde, blonde, rote Lulu von großer Präsenz und Ausstrahlung. Klar, sie ist eine Projektionsfläche. Und sie ist eine Tänzerin. Bereits im Prolog, dem Krzysztof Warlikowski eine weitere Erzählung – über Lilith – vorangestellt hat, präsentiert der Tierbändiger (nicht ganz akzentfrei Iwan Ludlow, der als Athlet Rodrigo von faszinierender Ausstrahlung ist), selbst ein Reptil im glitzernden Batman-Schuppen-Kostüm, statt der Schlange eine kleine Ballerina und somit dem tanzenden Knaben (Auguste: Jesse Callaert) eine Partnerin (Petite Lulu: Sarah Rawart). Ein Thema, Kindesmissbrauch, ist gleich angeschlagen. Blitzschnell der Wechsel vom Showvorspiel mit einer dem Publikum frontal gegenübersitzenden Abendgesellschaft auf der Bühne und der von Warlikowskis treuer Ausstatterin Malgorzata Szczęśniak bestückten Glasvitrine, später das Atelier des Malers, in das menschliche Bestiarium, in dem Lulu verführt und verführt wird. Dazu ein glitzernder Vorhang, dahinter Teile einer Rolltreppe und die Videos von Denis Guéguin, deren Bilderflut und Voyeurismus im Théatre de la Monnaie besser zu erfassen war als auf der DVD. Dietrich Henschel, mit unattraktiver Perücke, ist ein sanfter, nahezu als einziger ganz und gar idiomatisch singender Dr. Schön, Alwa, der korrekte, blasse Charles Workman, ebenfalls im braven Anzug mit Krawatte, eher sein Bruder als Sohn. Warlikowski gibt den Szenen die fahrige Betriebsamkeit und Beliebigkeit eines Fernseh-Krimis, verliert aber sein Thema, die Unschuld der Kinder, nie aus dem Blick: die kleinen Tänzerinnen und Tänzer stehen vor dem Kasten mit der Leiche des Malers, derweil Rosalba Torres zur Verwandlungsmusik zwischen der zweiten und dritten Szene des 1. Aktes als schwarzer Schwan ein intensives Solo gestaltet und die gleichfalls in Ballerinenkostüm geschlüpfte Lulu als schwarze Odile Alwa verführt, woraus Warlikowski mit den Eleven und Elevinnen der Koniglijke Balletschool Antwerpen, Alwa und Lulu eine seiner dekorativ aparten, verlegenen Szenen formt, in denen der fin-de-siècle Geist von Frank Wedekinds 1895/1904 erdachter Provokation und Kunstfigur in die Gegenwart drängt. Woraufhin am Ende des ersten Aktes (Dr. Schön: „Jetzt kommt die Hinrichtung“) Torres in einer großen stummen Szene (Choreographie: Claude Bardouil) den sterben Schwan gibt. Paul Daniel und das Orchestre symphonique de la Monnaie spielen die Cerha-Fassung als aufbäumende, spätromantisch zupackende, mir manchmal etwas zu lautstark überwältigende Theatermusik, um sich gegen die Bilderflut zu behaupten. Nicht alles entschlüsselt sich, nicht jede der sich im Hintergrund quälenden Gestalten wird klar, mache Figuren bleiben papieren. Die Situationen im zweiten Akt pendeln vor den Ballettstangen zwischen Klischee, Verlegenheit und Regieroutine, die Tanzboden-Attitüden des dritten Akts mit den im Schaukasten balancierenden Kindsfrauen wirken leicht kunstgewerblich, doch in der zweiten Szene mit den kleinen Ballerinen in ihren Metallbetten, der als weißer Schwan durch Londons rieselnden Schnee tänzelnden und von Jack the Ripper in der Vitrine abgestellten Lulu und den gemeuchelten Schwänen, des schwarzen und des weißen, erreicht Warlikowski, dessen Regiezutaten 2012 noch nicht so vorhersehbar waren, neuerlich eine Intensität, die sich auf der DVD vermutlich nur teilweise vermittelt. Natascha Petrinsky als Geschwitz, Pavlo Hunka als Schigolch, Frances Bourne u.a. als Punk-Gymnasiast und der interessante Albrecht Kludszuweit als Marquis wirken seltsam unerheblich.

Sechs Jahre später, im Dezember 2018, keine rätselhaften Zeichen, Symbole, verschlungenen Nebenhandlungen und irritierenden Bilder. Eine schlichte Black Box auf der Bühne des Göteborger Konserthuset ist die Kiste allen Übels mittels derer Linus Fellbom Igor Strawinskys The Rake’s Progress erzählt. Die Seitenwände sind herabgeklappt und geben den Blick frei auf das dahinter spielende Gothenburg Symphony Orchestra, das Gothenburg Symphony Vocal Ensemble und Barbara Hannigan, die bei ihrem Debüt als Operndirigentin wie ihre Hauptfigur einen Pakt mit dem Teufel einhergegangen ist und noch die Last des gesamten Projekts zu stemmen und u.a. mittels ihrer „Equilibrium“-Initiative zur Förderung junger Sänger aus 350 Bewerbern die Besetzungen für die Produktion auszuwählen hatte. Wieviel Spaß ihr und allen Mitwirkenden das Projekt, über das man mehr in dem einstündigen Film Taking Risks erfährt, gemacht hat, spürt man allenthalben in dieser animierten Aufführung und der frisch unverbogenen Hingabe der jungen Sänger. Der vom Light-Design kommende Fellbom taucht das Geschehen in ein karamellfarbenes Sepiabraun und gibt dem halbszenischen Geschehen eine wohltuende ironische Distanz. Zugleich gelingt es ihm, die Figuren in ihren schönen, abstrahierten 18. Jahrhundert-Kostümen (Anna Ardelius) als unsere Zeitgenossen zu zeichnen und Anteilnahme für den leichtfertigen Tom und seine schmerzvoll liebende Anne zu erwirken. Wenn der charismatische John Taylor Ward mit zynischem Zucken des Mundes als Nick Shadow auf Annes Schmerz „No word from Tom“ reagiert, was Michael Beyers Film wie nebenbei einfängt, drückt er damit mehr aus als manche Inszenierung. Die große Szene der Anna am Ende des ersten Akts macht Aphrodite Patoulidou, hingebungsvoll begleitet von Hannigan, die sich bereits 2010 mit Strawinskys Ballettoper Le renard für eine zweite Karriere als Dirigentin warmgelaufen hatte, zum zentralen Moment der Aufführung. Mit schmalem, lyrischem Tenor singt William Morgan den strubbelköpfigen, mit leichtgläubiger Zuversicht in sein Unglück laufende Tom. Morgans Ton ist zart und nicht sehr individuell und kann sich trotz des dahinter platzierten Orchesters nicht immer sicher behaupten. Kate Howden ist eine grell deftige Baba, irritierend die Besetzung von Annes Vater und Mother Goose mit Erik Rosenius Rolf Fath

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Sullivan, Cellier & Ford

2018 veranstaltete die National Gilbert and Sullivan Opera Company eine professionelle Wiederbelebung von Haddon Hall seit etwa hundert Jahren. Obgleich es bloß zwei Aufführungen gab, die John Groves für ORCA rezensierte, stieß die Produktion auf großes Interesse, allein schon deshalb, weil ein Großteil der Musik Sullivan von seiner besten Seite zeigt. Das nunmehrige Vorhandensein von Aufführungsmaterial führte dazu, dass sich die Arthur Sullivan Society und andere dazu entschlossen, eine Einspielung mit dem BBC Concert Orchestra und den BBC Singers zu sponsern.

.

Sullivan hatte bereits zwei Bühnenwerke komponiert, welche in der britischen Geschichte verwurzelt waren (The Yeomen of the Guard und Ivanhoe), und er wollte, dass sich Gilbert an einem weiteren beteiligt. Aber nach dem „Teppichstreit“ war dies nicht möglich. Als D’Oyly Carte ein neues Werk brauchte, um The Gondoliers am Savoy Theatre zu ersetzen, wandte er sich an Sidney Grundy, einen erfolgreichen Dramatiker, der bereits The Vicar of Bray geschrieben hatte, was 1892 am Savoy wiederaufgenommen wurde. Sullivan war führend in der Gestaltung derjenigen Sorte von Libretto, die ihm vorschwebte, und die Zusammenarbeit mit Grundy stellte sich als überaus freundschaftlich heraus. Der Librettist stellte ihm mindestens zwei Fassungen jeder musikalischen Nummer zur Auswahl.

Obwohl der Komponist Anfang 1892 mit der Arbeit an dem Projekt in Monte Carlo begann, führte ein Wiederauftreten seiner langjährigen Nierenerkrankung, die ihn beinahe umbrachte, leider womöglich dazu, dass auf hoch inspirierte Nummern weniger einprägsamen Passagen folgten, etwa das Finale des ersten Aktes. Weitere Informationen zur Entstehung von Haddon Hall und eine kurze Inhaltsangabe finden Sie in meinem vorherigen ORCA-Artikel.

Trotzdem sind die besten Ausschnitte, wie etwa Dorothys Solo im ersten Aufzug When Yestereve I knelt to pray, hervorragend. Diese Nummer wird als Einleitung des ersten Aktes verwendet, der ungewöhnlich ist, beginnt er doch mit einem Chor abseits der Bühne: Ye Stately Homes of England.

Dorothy, die Heldin, ist in den sehr fähigen Händen von Sarah Tynan, deren Diktion als vorbildlich zu bezeichnen ist. (Sollten Sie nicht einverstanden sein, finden Sie das Libretto einschließlich der gesprochenen Dialoge online.) Lady Vernon wird von Fiona Kimm formidabel gesungen; ihr Lied (oder besser Arie?) Queen of the Garden im dritten Akt erinnert stark an Katishas Gesang in The Mikado. Den schneidigen John Manners übernimmt Ed Lyon, ausgestattet mit einem Timbre, das immer wieder an den verstorbenen D’Oyly Carte-Tenor Thomas Round erinnert, insbesondere bei The earth is fair im ersten Aufzug. Die komische Rolle des Oswald, Manners‘ Diener, wird stilvoll von Ben McAteer interpretiert, dessen Akt-Eins-Nummer Come Simples and Gentles einen der Höhepunkte darstellt, nicht nur, weil sie so gut umgesetzt wurde, sondern auch wegen Sullivans erfinderischer Orchestrierung der dritten Strophe. Der erfahrene Bassist Donald Maxwell singt die andere komische Rolle des McKrankie. Wiederum gefällt sich Sullivan darin, das Orchester wie einen Dudelsack klingen zu lassen. Henry Waddington demonstriert seine glänzende Bassstimme in der Rolle des Sir George Vernon. Darüber hinaus brilliert das BBC Concert Orchestra im ländlichen Tanz des ersten Aktes sowie im orchestralen Sturm des zweiten.

In viktorianischen Zeiten erwarteten die Zuschauer häufig einen einaktigen „curtain raiser“ sowie ein sogenanntes „after piece“. Zur Erinnerung: Trial by Jury begann seine Existenz als after piece für La Périchole. Aus diesem Grund haben sich die Produzenten dieser CDs dazu entschlossen, zwei derselben, die am Savoy in den frühen 1890er Jahren verwendet wurden und nach wie vor im D’Oyly Carte-Archiv samt Orchestrierungen existieren, zu inkludieren. Beide wurden kürzlich als Teil der Musica Britannica von Stainer & Bell veröffentlicht.

Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass es „Haddon Hall“ bereits 2000 in einer ersten Einspielung mit dem Prince Consort Edinburgh unter David Lyle bei Divine records gab und noch  erhältlich ist… (jpc)

Der curtain raiser ist Mr Jericho, eine einaktige Operette von Ernest Ford, der zu D’Oyly Cartes musikalischem Stab gehörte. Sie wurde 1893 vor Haddon Hall aufgeführt, wobei die Zweitbesetzungen für das Hauptwerk verwendet wurden und eine Handlung im Gilbert-Stil mit einem Text von Henry Greenbank (der später die Bücher für Jones‘ The Geisha and a Gaiety Girl schrieb) vorgetragen wurde. Später wurde diese Operette als Begleitung zu Fords abendfüllender Oper Jane Annie gespielt, die auf einem Buch von Conan Doyle und J. M. Barrie basiert. Die Musik erwies sich als „melodiös, hell und angenehm“ und deutlich in Sullivans Stil, was nicht verwunderlich ist, studierte er doch mit diesem an der Royal Academy of Music.

Als after piece fungiert eine weitere Operette, Captain Billy von François Cellier. Sowohl François als auch sein Bruder Alfred (der Komponist von Dorothy und The Mountebanks) waren zusammen mit Sullivan Chorsänger an der Chapel Royal gewesen. 1879 wurde er zum Musikdirektor der Opera Comique ernannt und verblieb die meiste Zeit seines Lebens in verschiedenen Funktionen bei der D’Oyly Carte-Organisation. Er komponierte eine Reihe kurzer Opern für das Savoy, doch leider ging ein Großteil der Stücke verloren, da sie nie gedruckt wurden. Beide Einakter werden von der Besetzung von Haddon Hall superb aufgeführt, als ob sie jahrelang mit ihnen zu tun gehabt hätten, nicht nur für diese Aufnahme. Sie beide sind hörenswert und in keiner Weise „zweitklassig“.

Für die musikalische Leitung dieser drei Werke zeichnet der stilvolle und überaus befähigte John Andrews verantwortlich. Die herausragende Einspielung entstand im ehemaligen Rathaus von Watford (dem heutigen Watford Coliseum) und verfügt über eine exzellente Akustik – wenn man in der Lage ist, den Straßenlärm zu unterdrücken (es steht an einem riesigen Kreisverkehr), was dem Toningenieur Dexter Newman gelungen ist (Dutton 2 CDLX 7372). John Groves (Dank an ORCA / Operetta Research Center Amsterdam; Übersetzung Daniel Hauser)

Stimmwunder aus Venezuela

 

Bei den Händelfestspielen Halle 2018 machte der junge, damals noch unbekannte Sopranist Samuel Moriño in der Eröffnungsproduktion Berenice, Regina d’Egitto als Alessandro erstmals auf sich aufmerksam. Der Sänger hatte bislang nur in Konzerten mitgewirkt und an diesem Hallenser Abend sein Debüt auf einer Opernbühne gegeben. Umso mehr erstaunten seine szenische Souveränität und das lustvoll-lockere Spiel. In diesem Jahr sollte er nach Halle zurückkehren, um bei den Festspielen die Titelrolle in der Neuinszenierung des Teseo zu singen. Die Pandemie machte auch dieses Projekt – wie so viele andere im In- und Ausland – zunichte. Orfeo wartet mit einer willkommenen Alternative auf und bringt das erste Recital mit dem Sänger heraus, das im Oktober 2019 in Halle aufgenommen wurde und Arien von Händel und Gluck unter dem Titel Care pupille vorstellt (C998201). Dieser ist der Arie des Oronte aus Glucks Il Tigrane entnommen, welche als eine von drei CD-Weltpremieren das Ende des Programms markiert. Mit ihr wird die Anthologie mit 13 Nummern imponierend abgeschlossen. Samuel Mariño besitzt eine Ausnahmestimme, wie sie heute kaum noch zu finden ist. Sie besticht in ihrer Klangschönheit, dem sinnlichen Reiz und der technischen Perfektion.

Die Gluck-Auswahl beginnt mit Ausschnitten aus Antigono, darunter Scena ed Aria der Berenice, die dreiteilige Sinfonia und die Arie des Demetrio „Già che morir deggio“. Die Komposition entstand 1755 als Auftragswerk für das Teatro Argentina in Rom. Da Frauen damals nicht auf der Bühne in Erscheinung treten durften, wurde die Rolle der Berenice von dem Soprankastraten Giovanni Belardi wahrgenommen, der vor allem in Frauenrollen reüssierte. Berenice ist in ihrer großen Szene „Berenice, che fai“ in einer existentiellen Situation, da sich ihr geliebter Demetrio aus Verzweiflung das Leben nehmen will („Già che morir“). Den inneren Aufruhr Berenices schildert Mariño mit bemerkenswert reichen stimmlichen Mitteln. In ihrer Nähe zu Glucks Orfeo ist Demetrios Arie orchestral wie vokal ein Stück von mirakulöser Schönheit. In der dreiteiligen Sinfonia hat das begleitende Händelfestspielorchester Halle unter Michael Hostetter Gelegenheit, mit musikantischem Schwung zu glänzen. Das Allegro wird befeuert von stürmischem Bläsergeschmetter, das Andante hat graziöse Delikatesse, das Presto ist ein fulminanter Ausklang. Obwohl das Orchester den Namen des Hallenser Meisters trägt,  überzeugt es in den Gluck-Teilen durch rasanten Drive oder kantables Melos sogar noch mehr.

La Sofonisba – eine Rarität und gleichfalls erstmals im Katalog – wurde 1744 im Mailänder Teatro Regio Ducale mit der Sopranistin Rosalia Andreides in der Rolle des Königs uraufgeführt. Dessen Arie „Tornate sereni“ ist ein lieblich-empfindsames Stück, das Mariño fein auskostet. Der Titel von Glucks Oper La Corona steht derzeit unter keinem guten Stern, aber die Arie der Atalanta, „Quel chiaro rio“, ist in ihrem Wechsel von Allegro- und Adagio-Passagen sowie den anspruchsvollen Verzierungen ein willkommener Titel, in dem Mariño brillieren kann. Wieder bewundert man das virtuose Vermögen des jungen Sängers, seinen Einsatz, auch die vertracktesten Koloraturen mit  furchtloser Attacke anzugehen und sie bewundernswert zu meistern.

Im ersten Teil der CD sind Arien von Händel zu hören, beginnend mit dem Alessandro aus der Berenice – also jenem Werk, in welchem Mariño vor zwei Jahren in Halle gefeiert wurde. Dessen Auftrittsarie „Che sarà quando amante accarezza“ ist geschmückt mit tänzelnden Koloraturen und feinen Trillern, die Mariño souverän bewältigt. Die Stimme hat hier einen fast kindlich-keuschen Klang, aber der zärtlich-schmeichelnde Ton dürfte viele Counterliebhaber entzücken.

Es folgen drei Arien des Meleagro aus Atalanta, Er ist König von Ätolien und in die Jägerin Atalanta verliebt. In der ersten Arie, „Care selve“, verdeutlicht er seine Liebessehnsucht mit schmachtendem Ausdruck. Mariño sorgt hier für einen ersten Höhepunkt mit sphärischen Tönen von betörender Klangschönheit. Die Partie schrieb Händel für den 22jährigen Soprankastraten Gioacchino Conti (genannt Giziello), der in London ein Konkurrent von Farinelli war. In der nächsten Arie, „Non sarà poco“, ist Mariños Stimme von hohem sinnlichem Reiz und bravourös in der Absolvierung des virtuosen Zierwerks. Das wiegende „M’allontano, sdegnose pupille“ wird mit lieblicher Anmut ausgebreitet und imponiert durch die mühelose Beherrschung der Extremnoten. Den Abschluss des Händel-Teiles bildet die Arie des Sigismondo, „Quella fiamma“,  aus Arminio, in welcher der Sänger in einen virtuosen Dialog mit der Oboe tritt. Auch in dieser Rolle war der Sopranist Gioacchino Conti besetzt – noch einmal eine Herausforderung für Samuel Mariño, die er souverän meistert  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Bernd Hoppe