Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Keine Jahrhundertaufnahme

 

Nato sotto maligna stella? Natürlich ist man froh, wenn es überhaupt neue Gesamtaufnahmen von Opern, die immerhin konzertant entstanden sind, in Corona-und damit opernfreien Zeiten gibt, und wenn gar ein Star wie Jonas Kaufmann nach seinem Bühnendebüt in der Partie des Otello in London und München mit einem so renommierten Orchester und Chor wie dem der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom am Werk war, sind die Erwartungen hoch. Leider werden sie nur teilweise erfüllt, was nicht nur an dem Star selbst, sondern auch an einigen weiteren Faktoren liegt.

Das Werk beginnt stürmisch, und das Orchester und der Chor sollten mit dem gebotenen Aplomb bei der Sache sein,  aber wenn man auch den schneidenden, aufbrausenden Anfang goutieren kann, ist man im Verlauf der Aufnahme doch zunehmend irritiert von einer sehr veristischen Auffassung von Verdis letztem tragischem Werk, von manchmal überzogenen Tempi, vor allem, weil man vor dem Liebesduett im ersten  und zu Beginn des vierten Akts jeweils unter Antonio Pappano ein Orchestervorspiel hören kann, das besser nicht auf das Kommende vorbereiten könnte.

Natürlich gibt es kaum ein heikleres Entree für einen Tenor  als das von Otello mit seinem „Esultate“, und wenn eine alte Weisheit meint, ein Sänger sollte immer nur so viel auf der Bühne (auch der Konzertbühne oder bei der Aufnahme) geben, dass er noch eine Reserve für eine Steigerung hätte, dann wurde sie von Jonas Kaufmann in den Wind geschlagen, denn man hört dem Tenor an, dass er alle Kräfte aufbieten muss, um einigermaßen eindrucksvoll zu wirken. Auch das „Abassa le spade“ wirkt erzwungen, teilweise klingt die Stimme gaumig, nie wie aus einem Guss und für eine Oper, in der die meisten Szenen sich zwischen Tenor und Bariton abspielen, zu baritonal. Die eindrucksvolle Höhe dann wirkt wie eine zweite Stimme, die mit der Mittellage wenig zu tun hat. Die größte Enttäuschung bereitet also der erste Akt, das „Ora e per sempre“ liegt dem Tenor gut in der Stimme, und diese klingt hier auch wie die eines Tenors, der Kraftakt am Schluss des zweiten Akts gelingt, auch wenn er um die Stimme bangen lässt. Schön herausgearbeitet ist der Kontrast innerhalb des „Datemi ancor“. In „Dio! Mi potevi scagliar“ wird auf Kosten des Gesangs für manchen Geschmack dem Sprechgesang zu viel Raum gegeben, während ganz am Schluss das „Gloria“ strahlend und schön klingt, nicht deutlich wird, dass es ein eher sarkastischer Abgesang auf dieselbe ist. Alles in allem muss man feststellen, dass die Stimme sich zur Zeit der Aufnahme nicht im allerbesten Zustand befand, will man nicht noch weitergehen und die Partie generell als eine für den Tenor nicht geeignete erachten.

„Onesto“ Jago ist Carlos Alvarez mit einem schwerer  gewordenen Bariton, der nicht nur einsam in seinem Credo, sondern auch im Umgang mit Otello seiner Stimme einen bärbeißigen, bösartigen Charakter verleiht, die Kontraste, besonders in der Lautstärke sucht und in dieser veristischen, den Charakter im Sound offenbarenden Darstellung eigentlich weder das Vertrauen Otellos noch Cassios gewinnen dürfte. Sein Credo hat eher Vorder- als Abgründiges zu offerieren. Im Parlando, wenn die Stimme nicht unter Druck gesetzt wird, klingt sie angenehm, schön tückisch klingt „Temete signor la gelosia“, der Sogno di Cassio ist gut dem lauernden Klang des Orchesters angepasst.

Desdemona ist eine starke Frau, die es, obwohl aus vornehmem venezianischem Hause stammend,  wagte, einen Underdog zu heiraten. Dafür klingt die Stimme von Federica Lombardi etwas zu unbedarft, allerdings schön, ja lieblich, empfindsam, Verletzbarkeit verratend. Im zweiten Akt hat sie als Antwort auf die Huldigungen des Chors einen angenehmen Glockenton. Leichte Schärfen fallen kaum ins Gewicht, die „prime lacrime“ könnten melancholischer ausfallen, das „a terra“ klingt sehr verhalten, im vierten, ihrem Akt ist der Wechsel zwischen Beherrschung und Ausbruch der Angst sehr intensiv gestaltet. Einen angenehmen lyrischen, rollengerecht etwas läppisch klingenden Tenor hat Liparit Avetisyan für den Cassio. Virginie Verrez als Emilia sowie Riccardo Fasi, Fabrizio Beggi und Gian Carlo Fiocchi bleiben in weiteren Partien solide. Alles in allem hält diese CD nicht, was die großen Namen auf dem Cover versprechen ( 2 CD, Sony 19439707932). Ingrid Wanja

Tempi per sempre passati?

 

Seit Jahren stand er überlebensgroß in perfektem Ritter-Outfit jeden Sommer auf der Piazza Bra in Verona, das Schwert in die Brust des Gegners stoßend, wartete auf seine Auftritte in Franco Zeffirellis Trovatore-Inszenierung in der Arena, war ein beliebtes Fotomotiv für die Touristen so wie die Sphinx aus Aida oder der Engel aus Tosca. Wo mögen sie alle in diesem Jahr wohl sein, nachdem der verzweifelte Versuch vom direttore artistico Cecilia Gasdia, wenigstens für jeweils 3000 anstelle der 16 000 abendlichen Arenabesucher die Aufführungen der Saison 2020 zu retten, gescheitert ist, wo auf der Website der Fondazione bereits ausschließlich von der Saison 2021 die Rede ist, von einem Requiem, von Riccardo Muti als Aida-Dirigent, von Domingo- und Kaufmann-Galas. Und was tun die vielen Menschen, die drei Monate lang als Statisten, Platzanweiser, Getränkeverkäufer, Bühnenarbeiter, Kissenvermieter oder gar als Tänzer, Sänger, Orchestermitglieder gearbeitet haben? Womit verdient die Dame, die den Maestro in den Orchestergraben geleitet, ihr täglich pannino und was wird aus dem Chef der Claqueure, der mit einem Bravo Maestro den Abend stimmungsvoll beginnen ließ? Waren die Champagnergläser bereits mit Arena di Verona 2020 graviert und sind nun nicht mehr zu gebrauchen? Dieser Sommer wird für Verona ein verlustreicher und trauriger sein, und so kommt eine DVD aus dem vergangenen Jahr, als Anna Netrebko in der Arena als Trovatore-Leonora debütierte, gerade recht zur Auffrischung schöner Erinnerungen.

Die Arena wird noch eine Zeitlang von den Produktionen, die Franco Zeffirelli zu verdanken sind, zehren können, denn keiner wie er, vielleicht noch Hugo De Ana und Pier Luigi Pizzi, konnte mit dem Riesenrund umgehen, es mit Leben, manchmal sogar zu viel des Guten, füllen, dem Auge immer wieder Neues, Farbenprächtiges, Staunenswertes bieten. Auf der anderen Seite konnte er Monumentalopern wie Aida und I vespri siciliani auch auf kleinstem Raum wie dem Theater der Verdi-Stadt Busseto unterbringen. Da er nicht nur Regisseur, sondern auch Ausstatter war, stammt von ihm auch der mittlere der drei Wehrtürme des Trovatore, der sich, wenn Leonora der Welt abschwören will, zu einer prachtvollen gotischen Kathedrale öffnet. Und er konnte es sich, besonders zur Freude nicht opernerfahrener Arenabesucher, auch erlauben, zusätzliche Zigeunerballette einzufügen, um die für diese Minderheit viel zu prächtigen Kostüme (Raimonda Gaetani) so richtig zur Schau zu stellen, echte Tiere, für die Bühne immer ein unkalkulierbares Risiko, auftreten und Manrico und Leonora ihrem kurzen Glück entgegenreiten zu lassen. Staunen kann der Betrachter auch über das Geschick, mit welchem der Regisseur die Chöre, oft in der Arena eine unbeholfen bzw. gar nicht agierende  Masse, zu bewegen weiß.

Wer Anna Netrebko engagiert, muss auch Yusif Eyvazov nehmen, wenigstens meistens, und so war es auch bei dieser Aufführung , für die als Datum nur 2019 angegeben ist, was einen Zusammenschnitt mehrerer Aufführungen, durchaus legitim, vermuten lässt. Der Tenor kann auf eine angenehme Optik bauen, die durch die prachtvollen Kostüme noch unterstrichen wird, erweist sich als zuverlässig, kann mit seiner Stimme weit ausholen, hat die Acuti für die Stretta, was seinen Eindruck auf das Publikum nicht verfehlt, so dass ein doch recht gequetscht klingendes Timbre nicht weiter ins Gewicht fällt. Strahlend schön ist die Leonora von Anna Netrebko, dazu kommt eine tadellose, Begeisterung provozierende sängerische Leistung eines dunkel grundierten, leidenschaftlich lodernden Soprans mit feinem Spitzenton im Piano für die erste Arie, einem virtuosem Feuerwerk für die anschließende Cabaletta. Wunderbar ist das Zaubern mit agogikreichem chiaro scuro in der zweiten Arie, auch diese mit Cabaletta vorgetragen, und sogar zum Abschluss des allein schon durch die schweren Kostüme bei sommerlicher Hitze anstrengenden Abends findet sie noch zu engelsgleichen Tönen. Von allen guten Geistern verlassen scheint der Luna von Luca Salsi zu sein, der seinen granitgleichen Bariton allzu ungefüge kraftmeierisch einsetzt, der „Leonora è mia“  zum Brunftschrei werden lässt und der nach so viel überdimensionalem Einsatz nur mit Mühe wieder zu einem einigermaßen auf Linie gesungenem „Il Balen del suo sorriso“ zurückfinden kann. Beim Duett mit Leonora ist er dann, wen wundert‘s, schon heiser. Schwer an ihren Gewändern zu tragen hat die Azucena von Dolora Zajick, deren einst süffiger Mezzosopran bereits in mehrere Teile zerfallen ist, die Höhe wie entfärbt, die Tiefe überbrustig. „Mi vendica“ klingt wie aus einer anderen Welt kommend und angenehmes Erschauern provozierend, aber die unterschiedlichen Farben der Stimme sind doch sehr irritierend. Zum Schluss bleibt ihr immerhin il rogo erspart, sie erdolcht sich und statt ihrer steht die Burg in Flammen. Oft unterschätzt wird die Aufgabe des Basses, wenn behauptet wird, der Trovatore benötige die vier besten Sänger zum Gelingen. Einer, der unzählige Male  Zaccaria und Ramfis in der Arena gesungen hat, meinte einmal, am stolzesten mache ihn seine Leistung als Ferrando, der tatsächlich perfekten Verdi-Gesang vom Sänger fordert. Riccardo Fassi wird dieser Aufgabe durchaus gerecht. Pier Giorgio Morandi hält als erfahrener Kapellmeister alles perfekt zusammen, was in der Arena eine respektable Leistung ist.

Man kann nur hoffen und wünschen, dass 2021 bruchlos an 2019 anknüpfen, Cecilia Gasdia alle ihre Vorhaben verwirklichen kann und das Publikum den wackeren Ritter tagsüber  auf der Piazza Bra und abends in der Arena wieder bestaunen kann ( C-Major 754608). Ingrid Wanja

 

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Beethoven 2020: Schriftliches

 

Kein gutes Jahr für seinen 250. Geburtstag hat sich Ludwig van Beethoven ausgesucht, mussten doch schon viele geplante Konzerte und Festaufführungen zu seinen Ehren ausfallen, und man kann nur hoffen, dass zum Tag der Taufe, dem 17.12. 2020, wieder einiges möglich sein wird, um den Musik-Giganten angemessen zu feiern. Sein genauer Geburtstag ist nicht bekannt, doch da eine möglichst zeitnahe Taufe nach der Geburt wegen der hohen Säuglingssterblichkeit der damaligen Zeit angestrebt wurde, kann man davon ausgehen, dass er zumindest im Dezember geboren wurde.

Nicht ausfallen musste zum Glück die Doppelausstellung in Bonn vom 17.12.2019 bis 26.4.2020  und wird hoffentlich die in Brüssel vom 13.10.2020 bis 17.1.2021, passend zur EU-Präsidentschaft Deutschlands, wobei, wie der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, in seinem Grußwort im das Ereignis begleitenden Buch Beethoven. Welt. Bürger. Musik.“ Katalog zur Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, 2019/2020 erklärt, Bonn für Vita und Werk, Brüssel für das Nachwirken zuständig ist. Und wer den Prachtband mit dem Untertitel Welt Bürger Musik und dazu einen gutgefüllten Plattenschrank besitzt, der kann sicherlich den großen Deutschen, den gern auch Flandern und Österreich für sich in Anspruch nehmen, gebührend feiern und sich selbst ein großartiges Geschenk machen.

Nicht irritieren lassen sollte man sich vom Cover, das einen minderbemittelt ausschauenden Herrn, dessen Wurstfinger platt auf Klaviertasten lagern, zeigt. Das berühmte Stieler-Portrait bekommt man am Schluss des Buches auch noch zu sehen, dazu einen Aufsatz über dieses und andere Beethoven- oder auch generell Komponistenkonterfeis.

Das Buch soll zwar kein Ausstellungskatalog sein, ist aber so einsichtig und übersichtlich gegliedert, dass man durch den Band wie durch Museumshallen flanieren kann.

Zunächst gibt es neben dem Grußwort aus europäischer Sicht noch eines von Monika Grütters, die dem Komponisten das Prädikat ein „musikalischer Revolutionär für Bürger“ verleiht, nachdem Charles Michel besonders die Bedeutung der Europahymne, 1955 von Richard Coudenhove-Kalargi vorgeschlagen, 1972 vom Europarat und 1985 von der Europäischen Union akzeptiert, hervorgehoben hatte.

Nach den Grußworten gelangt der Leser zum gemeinsamen Vorwort des Intendanten der Bundeskunsthalle, Rein Wolfs, und des Direktors des Beethovenhauses Bonn, Malte Boecker, die den kulturhistorischen Ansatz der Ausstellung, die von Agnieszka Lulinska und Julia Ronge gestaltet wurde,  betonen, die beide dem Leser noch als Autorinnen begegnen werden. Die zitierte „zeitgenössische Anmutung“, die dem Buch und damit wohl auch der Ausstellung durch neo-studio Berlin zuteil wurde, vermutet man zunächst in den jedem Kapitel vorangehenden, zunehmend verfremdeten Portrait, aber das stammt von Isabella Cotier.

Die beiden Kuratorinnen führen den Leser noch selbst in das ebenfalls von ihnen zu verantwortende Buch ein, machen ihn mit ihrem Anliegen bekannt, das überlieferte Bild von Beethoven „auf den Prüfstein zu stellen“, Anekdoten zu „hinterfragen“ und nicht hinreichend Dokumentiertes (Liebschaften oder Konflikt um die Adoption des Neffen) „auszusparen“.

Der Band ist so interessant wie übersichtlich gegliedert, indem jedes der fünf Kapitel eine andere Farbe zugeteilt bekommen hat. Zunächst erscheint auf kräftiger Farbe die römische Kapitelzahl, dann die Jahreszahlen, die den dokumentierten Zeitraum angeben, und danach die Titelüberschrift. Die jeweils zweite Seite bringt eins der schon erwähnten Beethovenportraits, es folgt eine umfangreiche Zeittafel in Weiß auf Farbe, danach die einzelnen Aufsätze in Farbe auf Weiß, was desto besser zu lesen ist, je dunkler die gewählte Farbe ist. Eingestreut bzw. eingeheftet sind kleine farbige Zettel, auf denen verstorbene oder noch lebende Musiker über „ihren“ Beethoven berichten. Am Rand sind in kleiner Schrift Anmerkungen zum Text und zu den vielen Bildern, was angenehm für den Leser ist, da er nicht dauernd umherblättern muss.

Obwohl „nur“ 265 Seiten umfassend, bringt das Buch, nicht zuletzt durch das gewählte Format, eine Fülle von Informationen. Im ersten der fünf Teile berichten Norbert Schloßmacher über die frühe Prägung Beethovens durch die Residenzstadt Bonn, die Geschichte der Stadt, Topographie, Bevölkerung, Religion, Kultur und das reiche Musikleben, das auch Vater und Großvater die Möglichkeit zum Überleben bot. Ingrid Bodsch schreibt über die Beziehungen zwischen Bonn und Wien, John D. Wilson über Beethoven als Mitglied der Hofmusikerfamilie, Barbara Vinten unter Roll Over Beethoven! Über ein Happening mit 700 Beethovenstatuen und die Heroisierung Beethovens in der bildenden Kunst.

Das 2.Kapitel, in Magenta gehalten, umfasst die Jahre 1792 bis 1801 und bietet dem Leser so unterschiedliche Aufsätze wie Otto Bibas über die Lehrjahre bei Haydn und anderen in Wien, Barry Coopers über des Komponisten Verhältnis zum Klavier (mit besonders vielen Autographen), Lulinskas  Ausführungen über das Ballett Die Geschöpfe des Prometheus, Alan Gosmans über Beethoven und die Suche nach dem Anfang, verbunden mit der Frage, wann ein neues Jahrhundert beginnt.

Der dritte Block, in Blau die Jahre 1802 bis 1812 umfassend, schildert die Zeit der ersten Erfolge mit Aufsätzen von Julia Ronge über den Tagesablauf im Hause Beethoven, von Steven M. Whiting über die Wiener Theaterlandschaft, Julia Cloot über Goethe und Beethoven in Teplitz (Die berühmte Begegnung verlief wohl anders, als von Bettina von Arnim überliefert.) und die Musik zu Egmont, William Meredith über Beethoven als Patient, wo der erschrockene Leser erfährt, dass die später fast völlige Taubheit bereits vor Beethovens dreißigstem Geburtstag erste Anzeichen fühlen ließ.

Das vierte Groß-Kapitel um fasst in der Farbe Braun die Jahre 1813 bis 1818 und handelt vom Ruhm und seinem Preis. Dazu äußern sich William A. Kindermann, der der Frage nachgeht, inwiefern Beethoven Revolutionär oder Oppotunist war und dabei auf die Kompositionen Wellingtons Sieg und die Kantate Der glorreiche Augenblick mit einer Verherrlichung Kaiser Franz‘ eingeht. Spätestens jetzt geht dem Leser auch auf, dass die populärsten Werke des Komponisten nicht interpretiert werden, man darin nicht die Aufgabe des Buches sah, was nachvollziehbar, weil nicht die Aufgabe einer Ausstellung und des sie begleitenden Buches ist. Nur die Missa Solemnis erfährt im letzten Kapitel durch Jan Caeyers diese Ehre. Adam Zamoyski widmet sich der vorübergehenden Napoleon-Verehrung, Verena Großkreutz des Komponisten Verhältnis zum Geld, Karl Traugott Goldbach der Meinung der zeitgenössischen Kollegen über Beethoven und zwar Schuberts, Spohrs und E.T.A. Hoffmanns. Thematisiert wird auch der Widerspruch zwischen dem Bekanntheitsgrad des Komponisten über die Grenzen Europas hinaus und seinem Verharren im „keine Person von Stand zu sein“. Interessant ist die Frage danach, ob menschliche Schwächen des Urhebers den künstlerischen Wert eines Werkes mindern können, wie die zunehmende Entgrenzung von Gattungsformaten zu bewerten ist.

Beethoven grenzenlos nennt sich das 5.Kapitel und umfasst die Jahre 1819 bis 1827. Hier kommen die Liebhaber von Stielers berühmten Portrait von 1820 in Silke Bettermanns Beitrag zu ihrem Recht, wenn sie sich auch für dessen Entstehung und Beurteilung interessieren. Sie können mit anderen Beethoven-Portraits und denen anderer Komponisten vergleichen. Norbert Oellers schließlich widmet sein Kapitel der Ode an die Freude, ihrer Entstehung, ihren verschiedenen Fassungen, ihren unendlich vielen Vertonungen. Inwiefern Krankheit und Tod Beethovens zeittypisch waren, hat Daniel Schäfer untersucht, verschweigt auch nicht die nachträgliche Heroisierung des Todeskampfes, den Beethoven austrug. Den Abschluss des so facettenreichen wie gut lesbaren, den Leser nie ermüdenden Buches bildet ein Aufsatz von Ilona Sármány-Parsons über den Pastorale-Bilderzyklus der Villa Scheid und andere mit Beethoven zusammenhängende oder ihn darstellende Kunstwerke wie Max Klingers Skulptur oder Klimts Beethoven-Fries. Vielleicht ist dieses Buch in Zeiten eingeschränkter Möglichkeiten, den Meister durch Aufführungen seiner Werke zu feiern, durch seine geschickte Gliederung und die Vielfalt der Themen der wichtigste Beitrag zum Beethovenjahr (265 Seiten Wienand Verlag 2019, Illustrationen, Index;  ISBN 978 3 86832 555 3). Ingrid Wanja         

Für Kenner unerreicht

 

Zu Lebzeiten stand Jascha Horenstein (1898-1973) zumeist im Schatten anderer. Nachdem er bereits in den 1920er Jahren in Berlin für Furore gesorgt und schon 1928 eine viel beachtete Einspielung der siebten Sinfonie von Bruckner mit den Berliner Philharmonikern vorgelegt hatte, erlitt als Jude seine vielversprechende Karriere infolge der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten einen empfindlichen Knick. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Horenstein nicht mehr, eines der führenden Orchester der Welt als Chefdirigent zu übernehmen. Erst in seinen letzten Jahren konnte er vermehrt mit Spitzenorchestern zusammenarbeiten, so vor allen Dingen mit dem London Symphony Orchestra, mit welchem einige seiner heute berühmtesten Einspielungen, besonders von Mahler-Sinfonien, entstanden. Erst nach und nach wurden viele Rundfunkproduktionen der für Horenstein künstlerisch gleichwohl ertragreichen Nachkriegsjahre, besonders aus Deutschland, Österreich, Großbritannien und Frankreich, aber auch aus Südamerika, dem Hörer zugänglich. Seine Ton-Dokumente gelangten weitgehend nur bei kleinen und meist obskuren Labels an die Öffentlichkeit.

 

Profil/Hänssler legt nun eine 10 CDs umfassende Box Jascha Horenstein – Reference Recordings vor (PH19014). Enthalten sind Werke von Beethoven bis Schönberg, wobei der Fokus auf der Musik des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts liegt. Die Aufnahmen datieren, mit einer Ausnahme, auf die Jahre zwischen 1953 und 1962. Gleichsam als Bonus sind die historisch zu nennenden Kindertotenlieder mit Heinrich Rehkemper und dem Orchester der Staatsoper Berlin von 1928 beigegeben. Klangwunder darf man sich also nicht erwarten. Lediglich die Schottische Fantasie von Max Bruch mit dem überragenden David Oistrach und dem London Symphony Orchestra aus dem Jahre 1962 und, erstaunlicherweise, die Südwestfunk-Aufnahmen aus Baden-Baden von 1956, nämlich Wagners Faust-Ouvertüre, Liszts Faust-Sinfonie sowie Strawinskys Feuervogel, sind bereits in Stereo festgehalten. Mit einigem Recht wird man gerade diese SWF-Aufnahmen als den Mittelpunkt der neuen Kollektion bezeichnen dürfen, waren diese frühen Stereoproduktionen, ursprünglich für Vox eingespielt, doch lange Jahre nur schwer greifbar. Sie zeigen Horenstein auf der Höhe seiner Kunst und klingen für das enorme Alter auch heute noch sehr ansprechend. In anderen Fällen ist die von Hänssler getroffene Auswahl nicht immer nachvollziehbar. Die Bedeutung, die Horenstein als Mahler-Interpret erlangt hat, wird zwar durch Inklusion der ersten und dritten Sinfonie gewürdigt, doch fanden nicht die überragenden Spätaufnahmen von 1969/70 für Nonesuch (später auf CD neu aufgelegt von Unicorn-Kanchana) Berücksichtigung, sondern wurde auf klangtechnisch problematische ältere Aufnahmen zurückgegriffen, was insbesondere im Falle der 1961 live mitgeschnittenen Dritten recht ärgerlich ist. Bei der Ersten ist die 1953 für Vox mit dem Pro Musica Orchester Wien entstandene Einspielung enthalten. Mit diesem reinen Schallplatten-Ensemble hat Horenstein 1954 auch Bruckners Achte eingespielt, eine künstlerisch fraglos wertvolle Interpretation, die freilich nicht die Ekstase des BBC-Mitschnitts von 1970 aus der Royal Albert Hall entfaltet und klanglich wiederum abfällt. Dieses Manko haftet auch der Beethoven’schen Eroica von 1955 an, die indes derart gehaltvoll herüberkommt, dass man dies gerne in Kauf nimmt. Die wichtigen französischen Aufnahmen Horensteins sind gleichfalls abgedeckt, so mit Hindemiths Mathis der Maler, den beiden Klavierkonzerten von Ravel (mit Vlado Perlemuter als Solisten) sowie dem ersten Klavierkonzert von Brahms (mit Claudio Arrau am Flügel). Daneben sind es die Bamberger Symphoniker, mit welchen Horenstein häufig zusammenarbeitete, in der Kassette mit Don Juan und Tod und Verklärung von Richard Strauss sowie dem Lohengrin-Vorspiel und Vorspiel und Liebestod aus Tristan und Isolde von Wagner vertreten. In Gestalt von Schönbergs Verklärter Nacht und der Kammersinfonie, ferner auch Bártoks zweitem Violinkonzert (Ivry Gitlis als Solist), findet die Moderne, die Horenstein am Herzen lag, ihren Platz. Eine in der Summa lohnenswerte Anschaffung mit einigen echten Schmankerln, die als Basis für eine eingehendere Beschäftigung mit dem Dirigenten Jascha Horenstein wertvolle Anreize bieten kann. Daniel Hauser

Voyage of a Slavic Soul

 

Arion nennt sich bei Orchid Classics die CD der ukrainisch-walisischen Sopranistin Natalya Romaniw, so wie auch der Titel eines der Lieder von Rachmaninov lautet. Aber wer oder was ist Arion, im Lied selbst kommt der Begriff nicht vor, und so rätselt der Hörer, holt sich Rat bei Wikipedia und kann wählen u.a. zwischen einem antiken Dichter, einem Pferd aus der griechischen Mythologie, einer Gattung aus der Familie der Wegschnecken, einer isländischen Bank oder einem Schiff, was naheliegend, aber für dieses unheilverkündend ist, denn es geht um den einzigen Überlebenden eines Schiffsunglücks.

Wie dem auch sei, die junge Sängerin kann und will wohl auch ihre slawischen Wurzeln nicht verleugnen, obwohl doch gerade Wales, denkt man nur an Gwyneth Jones oder Bryn Terfel, eine Landschaft mit hervorragendem musikalischem Ruf ist. Ihr Großvater, den sie zärtlich Dido nannte und dem sie die CD gewidmet hat, machte sie mit ukrainischer Volksmusik bekannt, sie wirkte im Chor des ukrainischen Klubs in Swansea mit, ihre erste Opernpartie war Tatjana, und auch jetzt noch ist diese neben Lisa eine ihrer bevorzugten Rollen.

Voyage of a Slavic Soul ist er Untertitel der CD, und diese beginnt mit drei Liedern von Rimski-Korsakov. In Softly the soul zeigt der Sopran viel Corpo besonders in der dunkel getönten Mittellage, ein Timbre mit melancholischem Touch und eine leicht scharfe, hier durchaus nicht unangenehme Höhe. Auch im folgenden The Nymph goutiert man die reiche Stimme, die sich problemlos zurücknehmen , der Nymphe etwas Geheimnisvolles verleihen kann. In Summer Night’s Dream wird der Kontrast zwischen Realität und Traumwelt deutlich herausgestellt.

Dvoráks Love Songs leiden eher unter einer gewissen Härte und Schärfe der Stimme, die in der Mittellage aber immer wieder, so in So many a heart in der Mittellage weich und damit sehr angenehm werden kann. Von schönem Ebenmaß ist der Sopran im abschließenden Oh dear, nachdem bereits in In the woods eine gut tragende mezza voce plastisch Erfahrungen in der Natur wiedergegeben hat.

Natürlich darf Tschaikowski nicht fehlen, hier vertreten mit Gentle stars von eindringlicher Melancholie, Can’t it be day mit hellem Jubelton und sich steigerndem Refrain, Why als sanfte Klage, die sich bruchlos steigert zur Verzweiflung.

Mit Rachmaninov geht es weiter, der die Stimme in vielen dunklen Farben schillern lässt, Operhaftes fordert, aber auch Volksliedhaftes, das der Sängerin ebenso liegt, anzubieten hat. Da kommt dann hin und wieder auch die bereits zuvor bemerkte Schärfe der Extremhöhe ins Spiel. Mit der titelgebenden dramatischen Ballade Arion schließt der Rachmaninov-Block.

Es folgen noch zwei tschechische Komponisten mit Janáček und dem weniger bekannten Vitĕzsláv Novák. Der Bekanntere bietet Volksliedhaftes, dessen Ton der Sopran sehr schön trifft, und auch Munteres wie die letzten beiden Tracks macht dem Sprachunkundigen deutlich, worum es sich handelt.

In den Liedern von Novak, ebenso wie die seines Vorbilds, im mährischen Liedgut verwurzelt, vereint Natalya Romaniw Ruhiges mit durchaus Spannungsvollem. Ihre Begleiterin Lada Valešová unterstützt sie dabei erfolgreich (ORC100131). Ingrid Wanja     

Gegen den Mief der Nachkriegszeit

 

Die Aufführung ist längst vergessen, der akustischen Erinnerung helfen die zwei CDs (Capriccio C54405) auf die Sprünge. Stephan Kimmig hatte in seiner Stuttgarter Inszenierung von Henzes Oper Der Prinz von Homburg die Militärmaschinerie durch einen Turnsaal ersetzt, darin Körperertüchtigung und Selbstoptimierung an den Ballettstangen an die Stelle von militärischen Training und Gefecht traten und der Prinz von Homburg als Außenseiter auf einer Leiter der allseitigen Körperertüchtigung an der sich in kurzen Hosen, auch der alte Kurfürst beteiligt, zusah. Der Mitschnitt der Stuttgarter Aufführungen aus dem März 2019 profitiert einerseits vom natürlichen Parlando und eleganten Zusammenspiel in den Konversationen der Generäle, andererseits rücken gleich in der Eingangsszene Textdeutlichkeit und Prägnanz akustisch etwas in den Hintergrund als habe der Fehrbelliner Staub die Szene eingenebelt. Cornelius Meister lässt das Staatsorchester Stuttgart dabei kammermusikalisch durchdringenden und umsichtig agieren und versucht die belkantistischen Inseln auszuloten, etwa wenn der Prinz Natalie ihren Handschuh überreicht, und in den Ensembleszenen zuchtvolle Eindringlichkeit zu erzeugen. Robin Adams ist ein zurückhaltender, oftmals gewöhnlicher Prinz, dem man das „vor sich hinträumend“ nicht leicht abnimmt, der sich aber auch bei „Nun denn auf deiner Kugel! Ungeheures“ in einen geradezu wütenden Furor und berstenden Ausdruck („Heut’ Kind der Götter, such ich, Flüchtiges“) steigert und mit bulligem Bariton und draufgängerischer Wucht den Prinzen als vokalen Kraftakt begreift. Der Prinz aus den Pinien- und Zypressenparks im Latium lässt seine Muskeln spielen, singt selten mit den beschwörenden Zwischentönen, die der Text nahelegt, ist eher wuchtig als empfindsam („Ich seh das Grab beim Schein der Fackeln öffnen“). Zwischentöne stehen Moritz Kallenberg hinreichend zu Gebote, der als Homburgs Freund Graf Hohenzollern zarte Tenor-Leuchtsignale sendet und im Gespräch mit Homburg im Gefängnis von präziser Diktion und hoher Intensität ist. Vera-Lotte Böcker singt die Natalie leidenschaftlich und mit akzentuiertem Koloratursopran, der im leidenschaftlichen Einsatz für Homburg etwas hart, doch nie unangenehm wird. Seit Jahrzehnten verwöhnt Helene Schneidermann (Kurfürstin) ihr Stuttgarter Publikum durch soignierte Wortdeutlichkeit und gestalterische Prägnanz, während Stefan Margita den zweifelnden Kurfürsten mit gebrochenem Heldentenor und hintergründiger Schlaffheit charakterisierte. So plastisch und akustisch wirkungsvoll in den heftigen Bläserattacken Meister die Schlacht auch einfängt, wirkt sie bei aller handwerklichen Virtuosität des jungen Henze auch ein wenig altbacken, wie ein akustischer Schwarz-weiß-Film, eine Klangkulisse, die den Idealismus des Stückes mit seinem Konflikt zwischen Individuum und Staat und den weltvergessenen Träumer als Helden, auf den Henze von Luchino Visconti hingewiesen wurde, den Faltenwurf eines Mantel- und Degenfilms der 1950er Jahre überwirft. in der berühmten Schlacht bei Fehrbellin führt der legendäre Befehlsverweigerer Friedrich von Homburg den Sieg der Brandenburgischen gegen die Schweden herbei, ohne den ausdrücklichen Befehlt abzuwarten. Für diese Insubordination wird er zum Tode verurteilt. Eine Begnadigung lehnt er ab.  Doch die Spannung zwischen dem Sein eines Einzelnen und der Staatsräson, Fragen der Missachtung von Gesetz und Ordnung, das Zittern eines Menschen vor der Gewalt der herrschenden Macht, der Mut, sich ihr zu widersetzen – all das könnte auch heute oder hätte vor tausend oder zweitausend Jahren sein können, in Sparta oder in Athen. Solche Konflikte sind nicht an die Lokalität Brandenburg und nicht an das „Preußentum“ gebunden. Mir gefällt es, das Ganze in eine Beziehung zu Griechenland zu setzen.“ (Henze). In seiner Strawinsky gewidmeten Partitur legte Henze, in dezidierter Ablehnung der Darmstädter Schule und der seriellen Musik, ein Bekenntnis zu seiner italienischen Wahlheimat und der Belcanto-Oper Donizettis, Bellinis und Rossinis ab – Die engelhafte Melancholie Bellinis, das funkelnde Brio Rossinis, die schwere Leidenschaftlichkeit Donizettis, das alles vereint,, zusammengerafft in Verdis robusten Rhythmen.., das waren Dinge, die mich seit Jahren schon gefangen genommen hatten.“ (Henze) eine federleichte südländische Replik auf den Mief und die Kälte der Nachkriegszeit, vor denen einige Jahre später auch seine Kleist-Librettistin Ingeborg Bachmann nach Italien floh. So meisterhaft, wie vom Meister vorgeführt, winkt das 1960 in Hamburg uraufgeführte kunstvolle Klöppelspiel doch auch sehr zeitgebunden. Kaum vorstellbar, dass die revidierte und jetzt auch in Stuttgart genutzte Fassung 1992 erstmals im kleinen Cuvilliéstheater erklang. Cornelius Meister ließ das Staatsorchester oftmals so martialisch und kraftmeierisch auftrumpfen, zwar brillant in der trennscharfen Attacke, aber auch so vordringlich, dass die Sänger, darunter die den Chor ersetzenden je drei Offiziere und Hofdamen, oftmals nur Folie bleiben.  Rolf Fath

 

 

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“

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Der italienisch-österreichisch-kroatische Komponist Ivan Zajc (eigentlich Giovanni von/ de Zaytz 1832/ Fiume -1914/ Zagreb) kann als ein weiterer  politischer wie künstlerischer Repräsentant der enormen gesellschaftlichen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Europas gelten. Sein Lebenslauf und seine Karriere stehen fast symbolisch für die Auflösung der alten nationalen Ordung und der großen Machtblöcke. Der Begriff „national“ hat ab der endgültigen Vetrtreibung Napoleons und der erdrückenden  Restauration vor allem für die ehemaligen K. u. K. Völker danach eine besondere Bedeutung. Italien und namentlich der heutige Ostblock gingen Österreich nach Sarajewo verloren. Damit konstituierten sich die neuen Grenzen der ehemaligen Vielvölkerstaates neu.

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Ivan Zajc 1875 in einem Stich von Mukarovsky/ OBA

Ähnlich wie seine Kollege Moniuszko und Carrer durchlebte auch Giovanni von/ de Zaytz  diesen schmerzvollen Weg vom (gefühlten) Staatenlosen/Unterjochten zum stolzen Nationalbewussten Ivan Zajc, der gegen Ende seines Lebens dieses noch einmal mit einer triumphal aufgenommenen Befreiungsoper krönte, eben Nikola Subic Zrinski, in Kroatien als Nationaloper gegen die Osmanen (ähnlich wie der Marcos Botsaris von Carrer in Griechenland) gehandelt – der sich nachstehend anschließende Kommentar im Booklet zur neuen Aufnahme hält sich auf dem nationalen Auge sehr bedeckt.  Die neue CD ist ein leider doch eine stark gekürzte Fassung als  Mitschnitt von 2018 aus dem Ivan-Zajc-Theater in Rijeka, dem ehemaligen italienischen Fiume und Zajcs Heimatstadt, bei cpo erschienen – eine große Tat, gab es bislang doch nur die alte Yugoton-LP-Übernahme auf CD unter Milan Sachs (diese mit Ballett und auch auf youtube, wobei sich bei youtube weitere optische Mitschnitte  aus Zagreb 1967 und erneut 1997 und im Konzert ebendort 2018 sowie  auf operavision aus Rijeka 2018, alle ohne Ballett finden; ebenfalls gibt es den Zrinski in einem Mitschnitt bei youtube aus Split 1991 in wüster Optik und 2008 optisch so vaterländisch-bunt wie die übrigen genannten).

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Ivan Zajc: Schon immer fand ich die sogenannten Kleineren Komponisten (compositori minori) aus dem Umkreis Verdis so spannend in ihrem Bemühen, eine alternative Musiksprache zum Giganten der italienischen Oper zu entwickeln und damit eine eigenständige Identität zu zeigen. operalounge.de-Lesern wird nicht entgangen sein, dass wir viel über diese Musiker berichtet haben – Marzano ist so einer, vor allem aber Carrer, Gomes oder Apolloni, später auch Catalani oder vorher Ponchielli natürlich (und viele mehr wie Bona, Mercadante, Faccio u. v. m.). Alle eint das Bemühen, aus dem Schatten Verdis herauszutreten, der die Musikszene nicht nur Italiens beherrschte – nur Wagner kommt ihm gleich in der Wirkung auf seine Epoche.

Spannend sind auch jene Komponisten, die durch die politischen Entwicklungen in Europa sich von einem Produzenten eher gefälliger Musik zu glühenden Freiheitskämpfern entwickeln und damit ihre schöpferische Kraft in den Dienst der nationalen Sache stellten – Oper als Propaganda (ganz im Sinne des jungen Verdi). Ivan Zajc ist so einer (wie auch seine griechischen Kollegen Carrer oder Samara oder Auber in Belgien/Frankreich). Was zeigt, dass Oper als politische Propagandamaschine durchaus Wirkung zeigen kann oder zumindest die sozialen und politischen Strömungen der Zeit widerspiegelt.

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Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“ aus Rijeka 2018 bei cpo

Ivan Zajc, als Giovanni de Zaytz zu Beginn ein hoffnungsvoller K. u. K-Komponist aus dem österreichischen Herrschaftsgebiet, wandelte sich vom italienisch-geprägten Opern-Komponisten relativ konventioneller Werke zum glühenden kroatischen Nationalisten nach der Ablösung seiner Vaterlandes vom österreichischen „Joch“. Seine Befreiungsoper Nikola Šubić Zrinski rüttelt mit allen verfügbaren Säbeln gegen die ehemaligen Besatzer (Osmanen in dieser Oper, aber eigentlich sind die Österreicher gemeint). Die nationale Identität wird bemüht. Das hatte eine phänomenale Wirkung im gerade geeinten Land. Dennoch – seine „besseren“ Werke stammen aus seiner italienischen Zeit in Fiume, dem heutigen Rijeka,  in melodischer wie in kompositorischer Hinsicht. Nun ist eine neue Aufnahme seiner bedeutenden späten Oper Nikola Subic Zrinski bei cpo herausgekommen: Zeit für einen Blick auf den Komponisten zwischen der Neuen und der Alten europäischen Ordnung im 19. Jahrhundert.

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Und zum Komponisten selbst: Johann/Giovanni von Zaytz wurde 1832 im damaligen italienischen Ort Fiume an der Adria, heute Rijeka, geboren. Italiens Anspruch erstreckte sich bis nach lstrien und zum ostseitigen Adria-Ufer. Wodurch auch die Pflege istrischer Komponisten wie Smareglia heute noch am Teatro Verdi von Triest erklärbar ist. Die Adria gehörte ja lange zur Seerepublik Venedig. Ein gutes Beispiel für diese Zwei-Länder-Verhaftung ist da auch Franz von Suppé: Wenn Suppé nicht in Wien war, zeichnete er auf Musikprogrammen meist mit seinem echten italienischen Namen Francesco Demelli, später auch Francesco Suppé-Demelli. Die Familie Demelli-Suppé stammte ursprünglich aus Cremona (die Großeltern). Suppé war gebürtiger Kroate – er wurde in Split geboren.

Zajcs Karriere beschreibt exemplarisch ebenso das musikalische wie politische Geschehen seiner Zeit. Er studierte in Mailand (1850 – 55) bei Stefano Ronchetti-Montivi, Alberto Mazzucato und vor allem bei Lauro Rossi (dessen Domino nero ebenfalls zuletzt in Jesi aufgeführt wurde und bei Bongiovanni als CD vorliegt). Wie viele seiner Komponisten-Kollegen aus nicht-italienischen Ländern sah auch Zajc in einem Studium am Mailänder Konservatorium die große und einzige Möglichkeit, in der damaligen Musikszene seiner Zeit zu reüssieren. Seine erste Oper La Tirolese gewann 1855 an der Musikhochschule von Mailand den ersten Preis.

Das Ivan-Zajc-Theater auf dem gleichnamigen Platz in Rijeka/ Wikipedia

Bemerkenswerterweise ging er danach sofort zurück an die Oper (Teatro Civico) seines Geburtsortes, wo er 1860 seine außerordentlich interessante Oper Amelia nach dem Drama Schillers herausbrachte (youtube/ dazu auch ein Artikel hier in operalounge.de). Romilda da Messina, ebenfalls nach Schiller, von 1862 blieb nur ein Projekt, ebenfalls I Fu­nerali del Carnaval 1862 und La Festa del Ballo 1863. Von 1855 bis 1862 blieb er in Fiume, dann wechselte er nach Wien – die Alternative zu Mailand und das Mekka der Operette, die er nun in großer Anzahl und mit Erfolg herstellte. In diese Jahre fällt Tagesware wie Mannschaft an BordFitzliputzi, Ein Rendezvous in der Schweiz, Meister Puff und vieles mehr – alle deutlich im Strauß/Lanner-ldiom und der populären Unterhaltung an den verschiedenen Theatern verpflichtet. Sogar eine Sonnambula nach dem Libretto von B. Young von 1868 gibt es. 1870 schrieb er nicht nur den Raub der Sabinerinnen für das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater zu Berlin, sondern zog wieder zurück in die Heimat, diesmal in das damalige Agram, heute Zagreb, wo er zum Leiter und Generaldirektor der ersten festen „Croatischen Nationaloper “ (1870 – 1908) ernannt wurde, säbelrüttelnde Nationalopern (vor allem Nikola Subic Zrinski aber auch Mislav und Ban Leget, vorher noch I montanari (alle bei youtube als Live-Aufnahmen) gegen die ehemaligen K.& k.- Landesherren schrieb und durch diese am nationalen Selbstbewusstsein seines Landes mitwirkte. Zajc´s Oper Lisinka (youtube) fällt in die  letzte Phase im Schaffen und Leben des Komponisten, der in Zagreb 1914 hochgeehrt starb. Sein Andenken ehrt auch die heute in lvan-Zajc-Theater umbenannte Oper in Rijeka, seiner Geburtsstadt Fiume, woher die neue cpo-Aufnahme von 2018 stammt und deren Produktion bei operavision zu sehen war: schöne bunte Bilder im gewohnten Stil.

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018/ Foto Novkovic

Zajcs Leben liest sich für uns westliche und Nachkriegs-Europäer so unverfänglich, steht aber für  eine bedeutende nationale Entwicklung und für politische Umwälzungen, denn die Loslösung von Italien (so Fiume/Rijeka), von Österreich-Ungarn und die Rückbesinnung auf einen eigenen Staat Kroatisch-Slawonien (Militärgrenze bis 1881) brachten auch ein erhöhtes Nationalbewusstsein und ein vermehrtes Bedürfnis nach Stärkung der eigenen Kultur mit sich, wie dies in vielen Ländern Osteuropas und der Fall war. Smetana oder Dvorák stehen musikalisch-politisch in Tschechien dafür. Noch 1809 – 1814 hatte Kroatien zu den Illyrischen Provinzen Napoleons gehört, danach wurden die beiden Teile wie Nebenländer der ungarischen Krone behandelt. In den Revolutionsjahren 1848/49 kämpften die Kroaten auf kaiserlicher Seite unter Banus Jelacic gegen die Ungarn. Daraufhin wurden Kroatien und Slawonien ein einziges österreichisches Kronland, jedoch 1867 wieder mit Ungarn (nun unter österreichischem Zepter) vereinigt. Die Sonderstellung legte der ungarisch-kroatische Ausgleich 1867 fest. Im 1. Weltkrieg schlossen sich die Kroaten den Bestrebungen zur Schaffung eines südslawischen Na­tionalstaates an (1918), doch traten sie bald entschieden in heftige Gegnerschaft zur aggressiven zentralistischen Politik Jugoslawiens. 1941 – 45 entstand der von den Achsen­mächten gestützte Staat Kroatien, 1946 wurden daraus Kroatien, Dalmatien und Slawonien, die gingen in die Volksrepublik der Bundesstaaten Jugoslawien über. Heute ist Kroatien wieder und endlich eigener Staat mit den beiden Opernzentren Zagreb und Rijeka. Geerd Heinsen

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Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018/ Foto Novkovic

Die Oper Nikola Subic Zrinjski.  Im Beiheft zur neuen cpo-Aufnahme als Mitschnitt aus dem Ivan-Zajc-Theater in Rijeka schreibt Davor Merkas:  Spürbar hat(te) sich in den Opern des (Komponisten)  natürlich (in seiner Wiener Zeit) die österreichische Umgebung niedergeschlagen, in der Zajc viele Jahre lebte – die Kaiserstadt und hier vor allem die Wiener Ope­rette. In der Melodik und Rhythmik einiger Opern, die nach seiner Rückkehr in die Heimat entstanden sind, lassen sich slawische (insbesondere tschechische) Elemente ausmachen. Man könnte diese bereits als das Streben nach einem nationalen musikalischen Ausdruck interpretieren, der sich auf die Volks­musik Kroatiens stützte – das allerdings im Rahmen des pan­slawischen Gedankenguts, das in den damaligen politischen Tendenzen gegenwärtig war. Eines jedoch steht neben der souveränen Beherrschung des Metiers ganz außer Frage: Die größte Qualität in Zajcs Kompositionen, von denen einige erst noch ihren Weg ins Standardrepertoire der Konzertsäle finden müssen – das ist seine  Fähigkeit der melodischen Erfindung.

Für sein Libretto zu der Oper Nikola Subic Zrinjski benutzte der kroatische Schriftsteller Hugo Badalic (1851- 1900) das Schauspiel Zriny, das der junge deutsche Dichter und Dramatiker Theodor Körner (1791-1813) ein Jahr vor seinem Tode geschrieben hatte. Dieses Drama basiert auf einem Ereignis aus dem Jahre 1566 – auf der historischen Schlacht von Sziget.  (…)

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Theaterzettel der Erstaufführung 1841 in Zagreb in kroatischer Sprache/ OBA

Die Oper wurde 1832 in deutscher Sprache am National- Theater von Zagreb aufgeführt. Erst 1841 folgte eine Version in kroatischer Übersetzung. Es ist interessant, dass das Stück in Zagreb als »vaterländisches Drama« figurierte und nicht, wie es der Originaltitel will, als »Trauerspiel« gegeben wurde. Die napoleonischen Kriege hatten Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen Grundfesten erschüttert (…). Das anschließende Erstarken des Nationalbe­wußtseins weckte ohne Frage das Interesse der Schriftsteller an heroischen und patriotischen Themen. Die Schlacht von Sziget – ein lehrreiches Exempel, ein Musterbeispiel der höchsten patriotischen Tat und des ultimativen Opfers für die Heimat (ähnlich wie in Griechenland der Freiheitsheld Marcos Botsaris) – nahm im Laufe der Zeit geradezu mythische Dimensionen an. Daher überrascht es nicht, dass das auf dem literarischen Original fußende Libretto des Zrinjski in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als in Kroatien der Kampf um die nationale Selbständigkeit in vollem Schwange war und die Wellen der patriotischen Be­geisterung hoch gingen, bei der Zagreber Uraufführung am 4. November 1876 starke Reaktionen auslöste. Das Werk selbst galt seines Gegenstandes wegen als Musterbeispiel einer Nationaloper und ließ um sich eine Aura entstehen, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. (…)

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/Frontispiece des Klavierauszugs/ OBA

Der als »musikalische Tragödie« untertitelte Dreiakter Nikola Subic Zrinjski ist seiner Gattung und Form nach eine klassische Oper mit musikalischen Nummern, wie wir sie gleichermaßen in Gioacchino Rossinis opere serie finden, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Italien etablierten. Dass  sie als historische, heroische und nationale Oper wahrgenommen wird, liegt zunächst einmal am Ge­genstand und Inhalt des Textbuches, dann aber auch an dem großen Reichtum chorischer Sätze – von den insgesamt zweiunddreißig Nummern des Werkes ist ein Drittel dem Chor überlassen, der überdies rund zwanzig Antworten und Kommentare unterschiedlicher Länge zu singen hat. Hier fin­den sich, namentlich in der Form von Märschen, zahlreiche Elemente der Militärmusik. Und endlich ist auch die deutlich hervorgehobene Beziehung zwischen Werk und Nation ein typisches Kennzeichen für die Nationaloper. Daneben neh­men indes in Nikola Subic Zrinjski auch die private Familien­tragödie Zrinjskis sowie die ergreifende Liebesgeschichte seiner Tochter Jelena und des Offiziers Juranic einen großen Platz ein. Wenngleich diese Handlungsstränge nicht im Zen­trum der Ereignisse stehen – den Brennpunkt des Geschehens bildet natürlich der epische Lärm der Waffen -, so offenbart Zajc doch gerade in den Duetten und Arien des dritten Aktes die ganze Schönheit seines lyrischen Künstlertums und me­lodramatischen Talentes, dank derer ihm hier eindrucksvolle Kontraste zu den heroischen Teilen des Werkes gelungen sind.

So erzeugt Zajc (unterstützt von seinem Librettisten) im Wirrwarr des Krieges und dem verstörenden Klirren der Waffen musikalische Oasen, deren idyllische oder elegische Stimmungen sich als suggestive, dramaturgisch gerundete Einheiten darstellen. Dementsprechend stehen die intimen Tragödien und Schicksale der Einzelpersonen in einem mächtigen Kontrast zu den Massenszenen, worin die Ensem­bles die Rolle der vox populi spielen und die Vertreter einer kollektiven Identität darstellen.

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Szene aus der Aufführung in Rijeka/ Foto Novkovic

Die gesamte Oper enthält eine Reihe melodischer Arien und feiner Orchesterwirkungen (die kammermusikalischen Klänge der lyrischen Szenen begegnen den Tutti der drama­tischen Auftritte (…).

Es muss indes gesagt werden, daß das musikalische Idiom der Oper Nikola Subic Zrinjski in harmonischer oder kompositionstechnischer Hinsicht gegenüber der damaligen Opernpraxis nichts Neues zu bieten hat. Gleichwohl drückt die Synthese, die Ivan Zajc aus Elementen der italienischen Oper und der Wiener Operette sowie einigen Charakteristi­ka der slawischen Musik im Feuer seiner Inspiration »ge­schmiedet« hat, dem Werk einen ganz und gar originellen Stempel auf. (…)  Ivan Zajc konnte nirgends die formale oder psychologische Monumentalität und Bühnen­wirksamkeit erreichen, die die große Oper á la Meyerbeer auszeichnet – und er hat es auch nicht versucht.

Die in der vorliegenden Aufnahme leider nicht enthaltenen Ballett- Nummern vom Anfang des zweiten Aktes waren die ersten in der Geschichte des Kroatischen Nationaltheaters. Sie bil­den einen eigenen kulturellen Wert und nehmen in der Ge­schichte der kroatischen Tanzkunst einen besonderen Platz ein, denn sie markieren die Geburtsstunde des Kroatischen Nationalballetts.

Nikola Subic Zrinjski spielt in der Operngeschichte Kro­atiens eine ganz besondere Rolle: Sie ist die meistgespielte Oper in der Geschichte des Kroatischen Nationaltheaters Za­greb und hat neben Jakov Gotovacs Ero der Schelm von allen Opern kroatischer Komponisten die meisten Aufführung im In- und Ausland erlebt. Die prägnanten, leicht einprägsamen Melodien und die strenge archetypische Kraft ihrer Chöre, unter denen vor allem die schon 1866 entstandene Nummer „U bojl U bojl“ (»Zum Kampf! Zum Kampf!«) hervorzuheben ist, haben die Oper Nikola Subic Zrinjski auch außerhalb ihrer Heimat bekannt gemacht. (…). Davor Merkas

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Und nun Besprechung von Rolf Fath: Ein leichter fast elegant tändelnder Ton herrscht am Hof des Sultans in Belgrad, dem sein Leibarzt Levi noch zehn Lebensjahre prophezeit werden, worauf er von wütender Kriegslust gepackt wird. Nach Wien will er ziehen und unterwegs die von dem gefürchteten Kommandeur Zrinjski gehaltene Festung Szigetvár einnehmen. Zajc versteht sein Handwerk. Im geschmeidigen Plauderklang der Gespräche und Rezitative, die sich zu kurzen, hübschen Duetten und Rundgesängen verdichten, in denen er das Tempo strettahaft anzieht, beweist sich der Routinier, der sich als 30jähriger in seinen Wiener Jahren ab 1862 mit rund zwei Dutzend Operetten einer gewisse Reputation erwarb. Zugleich fehlt Zajcs leicht fasslicher Musik, in der sich auch die Erfahrungen seiner Mailänder Jahre spiegeln, als er zwischen 1850 und 1855 u.a. bei Lauro Rossi Unterricht hatte, der letzte Schwung und ein eigener, prägnanter, vielleicht kroatischer Ton, wie nun auch dieser Mitschnitt aus dem nach ihm benannten Opernhaus seiner Geburtsstadt Rijeka beweist. Auf die Ballette zu Beginn des zweiten Aktes, die als Keimzelle einer eigenständigen kroatischen Nationalballetts gelten, wurde in dieser auf den Originalpartituren basierenden Einspielung leider verzichtet. Es ist viel von Ruhm und Ehre und von kroatischem Heldentum die Rede, die bis zum bitteren Ende verteidigt werden, als der kroatische Befehlshaber Nikola Šubić Zrinjski und seine Frau mit einem inbrünstig patriotischen Zweigesang auf den Lippen Abschied von der Burg nehmen und die Soldaten und Offiziere in der Gewissheit ihres Untergangs für das Vaterland in ihre letzte Schlacht ziehen.

Ivan Zajc Nikola Subic Zrinski Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018 Foto Novkovic

Die Marschchöre, die rund ein Drittel der 31 Nummern ausmachen, geben den Herren des Rijeka Opera Choir viel zu tun. Die einprägsamen Unisononummern kehren mehrfach wieder und haben eine mitreißende Färbung, ohne eine ähnliche dramatische Wucht wie beim jungen Verdi zu entfalten. Überhaupt fehlt  Nikola Šubić Zrinjski, auffallend für ein 1876 uraufgeführtes Werk aus der Hand eines derart mit dem internationalen Opernschaffen vertrauten Komponisten, ein dramatischer Bogen, zerfallen die drei am Hofe Suleimans und auf der Festung Szigetvár spielenden Akte in Waffenrasseln, Patriotismus und eine Liebesgeschichte zwischen Zrinjskis Tochter Jelena und dem Offizier Juranić, der seiner Geliebte im unterirdischen Gewölbe der Festung auf ihren Wunsch hin lieber den Todesstoß versetzt als sie in Feindeshand fallen zu lassen – eine Szene wie aus einer Seria Rossinis – und dann fahnenschwingend die Kroaten gegen Türken anführt. Die gesanglichen Anforderungen sind mit Rücksicht auf die Möglichkeiten des damaligen Zagreber Ensembles wenig exzessiv. In der Nachfolge eines Nabucco wäre der Titelheld einzuordnen, den Robert Kolar mit lyrisch feinem Bariton, viel Nuancen und Gefühl und durchaus italienischer Schulung singt, etwa in den ruhigen Linien seines Gebets am Ende des ersten Aktes, der Arie im zweiten Akt mit der Erkenntnis seiner Niederlage und im erlesenen Duett mit seiner Gattin Eva im dritten Akt, das zum emotionalen Höhepunkt der Partitur gehört. Hier zeigt Kristina Kolar als Eva einen zupackenden, strapazierfähigen Sopran. Kristina Knego hat für die Tochter Jelena einen hübschen, hell eleganten Sopran, mit dem sie kleine Koloraturen einstreuen kann und in ihren zwei großen Szenen, der Romanze im ersten und der Traumerzählung im dritten Akt, in welche die Feen des Frauenchors recht martialisch einbrechen, gewinnt. Aljaž Farasin ist als Juranić ein ausreichend feuriger wie sentimentaler Liebhaber. Als Suleiman führt Luka Ortar einen bemerkenswert unattraktiven Bass ins Gefecht. Mit seinem apart gepressten Tenor ist Giorgio Surian junior nicht unrecht als der nach Suleimans Tod nach der Macht greifende Mehmed, und Dario Bercich verleiht dem Leibarzt Levi mit seinem lyrischen Bariton Gewicht. Rijekas finnischer GMD Ville Matvejeff hat sich merklich vom Patriotismus dieser Heldengeschichte anstecken lassen und dirigiert den Dreiakter, der hier 115 Minuten dauert, mit Verve. Rolf Fath

Ivan Zajc Nikola Subic Zrinski Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018 Foto Novkovic

Und zum Komponisten selbst: Johann/Giovanni von Zaytz wurde 1832 im damaligen italienischen Ort Fiume an der Adria, heute Rijeka, geboren. Italiens Anspruch erstreckte sich bis nach lstrien und zum ostseitigen Adria-Ufer. Wodurch auch die Pflege istrischer Komponisten wie Smareglia heute noch am Teatro Verdi von Triest erklärbar ist. Die Adria gehörte ja lange zur Seerepublik Venedig. Ein gutes Beispiel für diese Zwei-Länder-Verhaftung ist da auch Franz von Suppé: Wenn Suppé nicht in Wien war, zeichnete er auf Musikprogrammen meist mit seinem echten italienischen Namen Francesco Demelli, später auch Francesco Suppé-Demelli. Die Familie Demelli-Suppé stammte ursprünglich aus Cremona (die Großeltern). Suppé war gebürtiger Kroate – er wurde in Split geboren.

Zajcs Karriere beschreibt exemplarisch ebenso das musikalische wie politische Geschehen seiner Zeit. Er studierte in Mailand (1850 – 55) bei Stefano Ronchetti-Montivi, Alberto Mazzucato und vor allem bei Lauro Rossi (dessen Domino nero ebenfalls zuletzt in Jesi aufgeführt wurde und bei Bongiovanni als CD vorliegt). Wie viele seiner Komponisten-Kollegen aus nicht-italienischen Ländern sah auch Zajc in einem Studium am Mailänder Konservatorium die große und einzige Möglichkeit, in der damaligen Musikszene seiner Zeit zu reüssieren. Seine erste Oper La Tirolese gewann 1855 an der Musikhochschule von Mailand den ersten Preis.

Das Ivan-Zajc-Theater auf dem gleichnamigen Platz in Rijeka/ Wikipedia

Bemerkenswerterweise ging er danach sofort zurück an die Oper (Teatro Civico) seines Geburtsortes, wo er 1860 seine außerordentlich interessante Oper Amelia nach dem Drama Schillers herausbrachte (youtube/ dazu auch ein Artikel hier in operalounge.de). Romilda da Messina, ebenfalls nach Schiller, von 1862 blieb nur ein Projekt, ebenfalls I Fu­nerali del Carnaval 1862 und La Festa del Ballo 1863. Von 1855 bis 1862 blieb er in Fiume, dann wechselte er nach Wien – die Alternative zu Mailand und das Mekka der Operette, die er nun in großer Anzahl und mit Erfolg herstellte. In diese Jahre fällt Tagesware wie Mannschaft an BordFitzliputzi, Ein Rendezvous in der Schweiz, Meister Puff und vieles mehr – alle deutlich im Strauß/Lanner-ldiom und der populären Unterhaltung an den verschiedenen Theatern verpflichtet. Sogar eine Sonnambula nach dem Libretto von B. Young von 1868 gibt es. 1870 schrieb er nicht nur den Raub der Sabinerinnen für das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater zu Berlin, sondern zog wieder zurück in die Heimat, diesmal in das damalige Agram, heute Zagreb, wo er zum Leiter und Generaldirektor der ersten festen „Croatischen Nationaloper “ (1870 – 1908) ernannt wurde, säbelrüttelnde Nationalopern (vor allem Nikola Subic Zrinski aber auch Mislav und Ban Leget, vorher noch I montanari (alle bei youtube als Live-Aufnahmen) gegen die ehemaligen K.& k.- Landesherren schrieb und durch diese am nationalen Selbstbewusstsein seines Landes mitwirkte. Zajc´s Oper Lisinka (youtube) fällt in die  letzte Phase im Schaffen und Leben des Komponisten, der in Zagreb 1914 hochgeehrt starb. Sein Andenken ehrt auch die heute in lvan-Zajc-Theater umbenannte Oper in Rijeka, seiner Geburtsstadt Fiume, woher die neue cpo-Aufnahme von 2018 stammt und deren Produktion bei operavision zu sehen war: schöne bunte Bilder im gewohnten Stil.

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018/ Foto Novkovic

Zajcs Leben liest sich für uns westliche und Nachkriegs-Europäer so unverfänglich, steht aber für  eine bedeutende nationale Entwicklung und für politische Umwälzungen, denn die Loslösung von Italien (so Fiume/Rijeka), von Österreich-Ungarn und die Rückbesinnung auf einen eigenen Staat Kroatisch-Slawonien (Militärgrenze bis 1881) brachten auch ein erhöhtes Nationalbewusstsein und ein vermehrtes Bedürfnis nach Stärkung der eigenen Kultur mit sich, wie dies in vielen Ländern Osteuropas und der Fall war. Smetana oder Dvorák stehen musikalisch-politisch in Tschechien dafür. Noch 1809 – 1814 hatte Kroatien zu den Illyrischen Provinzen Napoleons gehört, danach wurden die beiden Teile wie Nebenländer der ungarischen Krone behandelt. In den Revolutionsjahren 1848/49 kämpften die Kroaten auf kaiserlicher Seite unter Banus Jelacic gegen die Ungarn. Daraufhin wurden Kroatien und Slawonien ein einziges österreichisches Kronland, jedoch 1867 wieder mit Ungarn (nun unter österreichischem Zepter) vereinigt. Die Sonderstellung legte der ungarisch-kroatische Ausgleich 1867 fest. Im 1. Weltkrieg schlossen sich die Kroaten den Bestrebungen zur Schaffung eines südslawischen Na­tionalstaates an (1918), doch traten sie bald entschieden in heftige Gegnerschaft zur aggressiven zentralistischen Politik Jugoslawiens. 1941 – 45 entstand der von den Achsen­mächten gestützte Staat Kroatien, 1946 wurden daraus Kroatien, Dalmatien und Slawonien, die gingen in die Volksrepublik der Bundesstaaten Jugoslawien über. Heute ist Kroatien wieder und endlich eigener Staat mit den beiden Opernzentren Zagreb und Rijeka. Geerd Heinsen

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(Ivan Zajc:  Nikola Subic Zrinjski mit Aljaz Farasin/ Lovro Juranic, Robert Kolar/ Nicola Subic Zriunski, Kristina Kolar/ seine Frau Eva, Anamarija Knego/ deren Tochter Jelena u. a., Rijeka Opera Choir, Rijeka Symphony Orchestra, Ville Matvejeff; 2 CPO mit zweisprachigem Libretto und Anmerkungen,  9729878; eine Rezension folgt. Weitere Information zu den CDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei  https://www.jpc.de/jpcng/classic/home)

Ivan Zajc: „Nikola Subic Zrinski“/ Szene aus der Aufführung in Rijeka 2018/ Foto Novkovic

(Bild oben: der historische Miklos V. Subic Srinski/ Wikipedia. Dank an cpo und den Autor für die Übernahme einiger längerer Textpassagen aus dem Beiheft zur neuen Aufnahme; das Foto oben/ Novkovic zeigt eine Szene aus der Aufführung der Oper in Rijeka 2018/ Ivan-Zajc-Theater Rijeka; Weitere Information zu den CDs   im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei  https://www.jpc.de/jpcng/classic/home)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Herrschergunst aus Mannheim

 

Nur 38 Lebensjahre waren dem 1732 in Neapel geborenen Komponisten Gian Francesco de Majo vergönnt – 1770 erlag er in seiner Geburtsstadt einem Lungenleiden. Neben Gluck, Traetta und Johann Christian Bach zählt er zu den Reformkomponisten, die die opera seria von der Willkür der Sängerstars zugunsten einer Aufwertung der dramatischen Ereignisse befreien wollten. Nach der Uraufführung seiner ersten Oper 1759 in Rom reiste de Majo durch Italien sowie nach Wien und Mannheim. In der deutschen Musikmetropole hatte er 1764 eine Ifigenia in Tauride komponiert und von dort erhielt er zwei Jahre später mit Alessandro nell`Indie erneut einen Opernauftrag. Das Libretto von Metastasio über Alexander den Großen, der dem besiegten indischen König Porus sein Reich zurückgibt und damit seine herrscherliche Großmut beweist, wurde vor de Majo bereits über vierzig Mal vertont (erstmals 1729), darunter von Händel. Hasse, Gluck, Jommelli und Traetta.

Nach der Uraufführung am 4. November 1766 geriet de Majos Version bald in Vergessenheit und ist auch nicht vollständig überliefert. Beispielsweise fehlen die Ouvertüre und sämtliche secco-Rezitative. Bei der im September 2008 und Mai 2009 im Nationaltheater Mannheim entstandenen Einspielung, die im Rahmen des Projektes Mannheimer Hofoper stattfand, gibt es ganze drei accompagnato-Rezitative. Die Lücke der Ouvertüre hat der Dirigent Tito Ceccherini mit der zu de Majos Adriano in Siria gefüllt. Mit dem Nationaltheaterorchester Mannheim fächert er die Musik in ihrer Vielfalt differenziert und spannungsvoll auf. Schon das muntere Spiel in der Ouvertüre gefällt, und auch bei den Instrumentalnummern – einer majestätischen Marcia im 1. und der martialischen Sinfonia d’istromenti militari im 2. Akt – imponiert die beherzte Attacke des Musizierens. Im Vergleich zur Ifigenia besitzt die Komposition  allerdings nicht jenes radikale Reformbestreben, wirkt konventioneller und ist voller hochvirtuoser Arien, was der Besetzung mit den beiden Mannheimer Primadonnen Dorothea und Elisabeth Wendling geschuldet war. (Mozart schrieb später für sie die Rollen der Ilia und Elettra in seinem Idomeneo.)

Die Besetzung der Aufnahme (von 2008), die Coviello auf zwei CDs und mit einem informativen Booklet herausgebracht hat (COV 20911), rekrutiert sich aus Ensemblemitgliedern des Nationaltheaters Mannheim und ist auf solidem Niveau. Die Titelrolle nimmt Lars Møller wahr, dessen weicher Bariton die Milde des Regenten trefflich wiedergibt. Von schmeichelnder Wirkung ist seine Auftrittsarie „Vil trofeo“ in ihrem wiegenden Melos. Deren ausgedehnte Koloraturläufe absolviert der Sänger mit schöner Leichtigkeit. Auch Alessandros Arie im 2. Akt, „Se è ver“, kommt in ihrer Sanftmut dem stimmlichen Charakter des Interpreten sehr entgegen. Einzig „Serbati a grand’imprese“ im 3. Akt ist von heroischem Anstrich und empfängt vom Bariton auch den gebührenden Aplomb.

Poro ist en travestie mit der französischen Mezzosopranistin Marie-Belle Sandis besetzt. Ihre Stimme tönt streng, vermag aber die Koloraturgirlanden im energischen Auftritt, „Vedrai con tuo periglio“, mühelos zu formen. Mit „Senza procelle ancora“, einer Gleichnisarie vom Steuermann im Sturm, eröffnet Poro den 2. Akt. Von Naturgewalten ist in der eher kontemplativen Musik freilich nichts zu vernehmen. Hörnerklang leitet die Arie „Destrier“ ein, welche Sandis forsch angeht, aber auch hier herb, zuweilen gar heulend klingt. Äußersten Erregungszustand des Königs spiegelt die furiose Arie „Trafiggerò“ im 3. Akt wider, was die Interpretin plastisch einfängt,  allerdings einige schrille Töne nicht vermeiden kann.

Mit Poros Geliebter, Königin Cleofide, – auch sie eine populäre Figur im Opernkosmos – hat die Sopranistin Cornelia Ptassek eine der Primadonnenpartien zu bewältigen. Ihre Arien sind in der Mehrheit von lyrischer Empfindung, Mozarts Konstanze verwandt, und man wünschte sich dafür eine Stimme mit größerer Noblesse. Schon in der ersten Arie, „Se mai turbo“, klingt sie larmoyant. Den gleichen Wortlaut hat ihr nachfolgendes Duett mit Poro, welches nach getragenem Beginn in einen stürmischen Schluss mündet und den 1. Akt beendet. Auch die Arie im 2. Akt, „Digli  ch’io son fedele“, grenzt an die Wehleidigkeit. Am überzeugendsten ist das von erregten Figuren der Streicher eingeleitete  „Se il ciel“, das bis in  die Extremhöhe geführt wird.

Die andere Virtuosa ist Poros Schwester Erissena, mit der die Sopranistin Iris Kupke gute Figur macht. Die helle, leichte Stimme ist gebührend flexibel für das Zierwerk, treffsicher und brillant in den staccati und beherzt im Ausdruck. Ihr furchtloser Gesang nimmt sehr für sich ein, trotz der mitunter angespannten und grellen exponierten Höhe. Und im 3. Akt kann sie bei „Son confusa“ auch mit Tönen von inniger Lyrik aufwarten.

Zwei weitere, en travestie besetzte Partien sind Gandarte, General von Poros Armee, und Timagene, Alessandros Vertrauter und insgeheim sein Feind, womit das Ensemble komplett ist. Gandarte tritt erst gegen Ende des 2. Aktes auf. Seine beiden Soli sind von wehmütiger Stimmung, was Katharina Göres/Sopran überzeugend einfängt. Von lieblich-pastoraler Anmutung ist dagegen Timagenes „O sugl’estivi ardori“, wofür Gundula Schneiders Mezzosopran im Klang zu anonym bleibt. Zu nennen ist noch der Herrenchor des Nationaltheaters Mannheim (Einstudierung: Tilman Michael), der in den Auftritten der Bacchus-Priester für Wirkung sorgt. Bernd Hoppe

Nicolas Joel

 

Am 19. Juni 2020 starb der große französische Regisseur Nicolas Joel, von 1990 bis 2009 auch Intendant der Opéra de Toulouse, ein Verlust auch für die internationale Opernszene. Nachstehend bringen wir den Nachruf seines Stammhauses. G. H.

 

C’est avec beaucoup de tristesse que les équipes du Théâtre du Capitole viennent d’apprendre le décès de leur ancien directeur artistique : Nicolas Joel.  Née a Paris, Nicolas Joel commence sa carrière à l’opéra dès 1973, date à laquelle il est engagé comme assistant metteur en scène à l’Opéra national du Rhin (Strasbourg). Il y travaille aux côtés de Jean-Pierre Ponnelle, qui le marque durablement. Il devient ensuite l’assistant de Patrice Chéreau pour le Ring du centenaire à Bayreuth. Sa carrière de metteur en scène explose au début des années 1980 : de Vienne à New York en passant par San Francisco, Chicago, Londres, Zurich, Milan, Madrid, Buenos Aires, il met en scène les plus grands artistes : Luciano Pavarotti, Plácido Domingo, Shirley Verrett, José Van Dam…

En 1990, il devient directeur artistique du Théâtre du Capitole, faisant de Toulouse l’un des grands centres lyriques internationaux. Durant presque vingt ans (1990-2009), il invitera en effet à Toulouse les plus grands noms du chant, de la direction d’orchestre et de la mise en scène, donnant leurs premiers grands rôles à de jeunes stars alors inconnues du grand public : Roberto Alagna, Marcello Alvarez, Leontina Vaduva, Inva Mula, Sophie Koch, Ludovic Tézier, Ricarda Merbeth, Karine Deshayes, Anne-Catherine Gillet… Très attaché à l’artisanat du spectacle, il fait régulièrement appel à des décorateurs, scénographes et costumiers aussi prestigieux qu’Hubert Monloup, Ezio Frigerio, Franca Squarciapino, Vinicio Cheli, Pet Halmen… Il donne aussi une nouvelle impulsion au Ballet du Capitole en nommant Nanette Glushak, proche de George Balanchine, à sa direction. C’est lui qui lancera à la fin des années 1990 les campagnes de travaux qui permettront au Théâtre du Capitole de bénéficier des dernières innovations techniques et de retrouver un somptueux écrin (Antoine Fontaine/Richard Peduzzi) à l’acoustique exceptionnelle.

Victime d’un accident vasculaire cérébral en 2008, il prend toutefois les rênes de l’Opéra national de Paris l’année suivante, y nommant comme directeur musical Philippe Jordan. S’appuyant sur un socle d’œuvres populaires, il fait entrer au répertoire de la « grande boutique » des ouvrages longtemps délaissés par ses prédécesseurs, du vérisme italien (Francesca da Rimini de Zandonai par exemple) à Mathis der Maler de Paul Hindemith, et proposant un nouveau Ring (une somme jamais redonnée dans son intégralité depuis 1957 sur la scène de l’Opéra de Paris) avec le tandem Jordan-Krämer.

Depuis 2014, il se consacrait de nouveau à sa passion première : la mise en scène, reprenant de par le monde ses plus grands succès (Samson et Dalila, La Rondine , Werther, Aida, Faust, La Walkyrie, etc.). Avec lui, s’éteint l’un des derniers monstres sacrés du monde lyrique.

Nos pensées vont à sa famille, ses proches et tous ceux qui auront eu la chance de pouvoir travailler à ses côtés. Opéra de Toulouse

„Grand homme de scène, érudit et passionné, Nicolas Joel est l’une des figures marquantes de la vie lyrique des dernières décennies. De grands chanteurs d’aujourd’hui lui doivent leurs premiers triomphes. Il a marqué à la fois le Théâtre du Capitole et l’Opéra national de Paris. Nous poursuivrons son combat pour le glorieux artisanat du théâtre, la passion et le respect des œuvres et des créateurs, le goût forcené de la beauté.“ Christophe Ghristi – Directeur artistique du Théâtre du Capitole (Foto Opéra de Toulouse)

 

 

Historisch, wenngleich verdienstvoll

 

Auch heute, drei Jahrzehnte nach seinem Ableben, ist Leonard Bernstein trotz seiner unbestreitbaren kompositorischen Fähigkeiten primär als Dirigent in Erinnerung geblieben. Seine Welterfolge als Komponist feierte er vor allem mit Candide (1956) und West Side Story (1957). Mit seiner Mass legte er 1971 sein vielleicht kontroversestes Werk überhaupt vor. Mit vollem Titel als MASS: A Theatre Piece for Singers, Players, and Dancers bezeichnet, erfolgte der Kompositionsauftrag durch die US-amerikanische Präsidentenwitwe Jacqueline Kennedy. Dargestellt wird ein Gottesdienst, bei welchem einiges durcheinander gerät. Der Zelebrant – die vokale Hauptrolle – feiert zusammen mit seiner Gemeinde, den sogenannten Street People, eine katholische Messe. Lebens- und Glaubenskrisen des Geistlichen sowie der Gemeindemitglieder sorgen für Unterbrechungen. Stilistisch ist ein Großteil der Musik des 20. Jahrhunderts abgedeckt, vom Jazz und Blues über den Rock und den Broadwaystil bis hin zum Expressionismus und zur Atonalität.

 2018, im Jahre, in welchem Bernstein seinen 100. Geburtstag hätte begehen können, wurde die nun bei Capriccio vorgelegte Neuaufnahme des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter Dennis Russell Davies eingespielt (Capriccio C5370). Mit Vojtěch Dyk in der Rolle des Zelebranten setzte man auf einen vor allem im Popbereich tätigen jungen tschechischen Sängerschauspieler. In Leonard Bernsteins eigener legendärer Weltersteinspielung von 1971 (CBS) übernahm der damals noch blutjunge Bariton Alan Titus diesen Part; später sollte er gerade als Wagner-Sänger eine große Karriere machen, die ihn bis nach Bayreuth führte. Bernstein-Schülerin Marin Alsop setzte in ihrer Aufnahme von 2008 den ebenfalls primär in der populären Musik beheimateten Bariton Jubilant Sykes ein (Naxos). Dieses Vorgehen hat also durchaus Vorbilder, mag aber nicht unbedingt den Intentionen des Komponisten entsprechen. Unter klanglichen Aspekten ist die Neueinspielung dann tatsächlich ganz vorne anzusiedeln, obwohl selbst die bald 50 Jahre alte Bernstein-Aufnahme für ihr Alter noch immer erstaunlich gut herüberkommt. Die hysterische Intensität von damals wird heute nicht mehr erreicht, was vielleicht auch gar nicht mehr möglich ist, fehlen doch die damaligen Zeitumstände, die dieses Werk in der vorliegenden Form überhaupt erst hervorbrachten. Das Wiener ORF-Orchester schlägt sich wahrlich wacker und versucht sich an einem idiomatisch-amerikanischen Klang, angespornt vom aus Ohio stammenden US-Dirigenten. Neben der Wiener Singakademie kommen Schülerinnen und Schüler der Opernschule der Wiener Staatsoper sowie die Company of Music als Street Chorus zum Einsatz. Im direkten Vergleich sind dann indes Bernstein und auch Alsop wohl doch vorzuziehen, obwohl sich bei der Neuproduktion keine gravierende Schwachstelle ausmachen lässt. Dies mag am Ende dann auch an den durchgängig amerikanischen Beteiligten in den älteren Aufnahmen liegen. Als „europäisierte“ Alternative ist die Capriccio-Einspielung aller Ehren wert und bereichert die Bernstein-Diskographie um eine weitere Facette. Daniel Hauser

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

„O squallido, o esangue“

 

Wer eine Opernaufführung besuchen will, für deren Regie, Szene und Lichtregie Robert Wilson verantwortlich ist, sollte sich darauf gefasst machen, Bilder von atemberaubender Schönheit zu sehen, umso mehr, wenn  die Kostüme von Jacques Reynaud stammen, aber er sollte auch eine Optik ertragen können, die absolut nichts mit der Musik, mit der Handlung und mit den Bedürfnissen von Sängern zu tun hat. So geschehen im Dezember 2018 in Madrid in einer Produktion, die auch für Kanada und Litauen, außerdem für Paris bestimmt war oder ist.

Eigentlich ist Puccinis Turandot noch am ehesten für eine Wilson-Regie geeignet wegen der Starrheit der Gesellschaft, die in dem ursprünglich von Gozzi stammenden Stück portraitiert wird. Der die Hinrichtung des persischen Prinzen verkündende Mandarin, die drei Maschere Ping, Pang und Pong, der alte Kaiser Altoum und seine Tochter Turandot, ihnen allen steht die in abgezirkelten Bewegungen, in einem weiß geschminkten Gesicht mit kleinem Mund und emporgezogenen Augenbrauen ewigen Erstauntseins bestehende Optik nicht schlecht an, aber anders ist es, wenn auch der heiß in Liebe entbrannte Kalaf, die sich für ihn opfernde Liù und der um sie trauernde Timur nicht über Verkehrspolizistenbewegungen hinauskommen, Liù stirbt, indem sie den Kopf zur Seite neigt, keine der Personen eine andere auch nur ansatzweise berührt- und Turandot am Schluss allein mit dem Chor auf  der Bühne steht, Kalaf wohl verschütt ging und nur ein weißer Strich, vom Bühnenhimmel kommend, sich auf sie herniedersenkt. Das ist einfach nur geschmäcklerisch und sängerfeindlich dazu, denn man sieht immer wieder, wie es die Solisten zu Bewegungen treibt, die nur mühsam unterdrückt  werden. Bei einem derart einseitig auf den ästhetischen Eindruck setzenden Konzept wirken dann nach Alter und Gewicht nicht dem Idealbild entsprechende Sänger besonders peinlich. Was den menschlichen Mitwirkenden versagt bleibt, bietet der Hintergrund mit im ersten Akt ständig in Bewegung seienden Säulen im Übermaß. Wie zum Hohn gegenüber der sonstigen Starrheit zieht während des Mondchors ein Storch seine Himmelsbahn.

Dirigent Nicola Luisotti setzt mit dem Orchester des Teatro Real Madrid alles daran, akustisch auszugleichen, was durch die starre Optik verloren ging. Auch der Chor des Opernhauses und der Jorcam Children Chorus singen klangschön und voller Hingabe. Viel zu tun haben die drei Minister mit Dauerhopsen, -augenklimpern, -kopfwackeln und –grimassenschneiden, das die Kamera auch dann gern zeigt, wenn die anderen Solisten singen. Joan Martin-Royo, Vicenç Esteve und Juan Antonio Sanabria verausgaben sich schauspielernd und lassen es sängerisch an Prägnanz fehlen. Dumpf klingt der Mandarin von Gerardo Bullón, keinen Altmänner-, sondern einen gestandenen Charaktertenor lässt Raúl Gimenez, einst hervorragender Rossinisänger, hören. Nicht die extreme Pianissimoraffinesse wie manche ihrer Kolleginnen, aber eine solide lyrische Sopranstimme, die vor allem in ihrer zweiten Arie ruhige Innigkeit ausstrahlt, setzt Yolanda Auyanet für die Liù ein. Mit konstant guten Leistungen wartet unerschütterlich Gregory Kunde mit höhensicherem, wenn auch nicht unbedingt italienisch klingendem Tenor als Kalaf auf. Etwas wattig klingt der Bass von Andrea Mastroni, der den Timur singt. Eine unerschütterliche Turandot ist Auch-Wagnersängerin Irene Theorin, die im ersten Akt auf schwindelerregendem Fünfmeterbrett auf die Bühne geschoben wird und deren Gesicht zu einem Porzellankopf geschminkt wurde, aus dem nie scharfe, glasklare und dem Lyrischen zugeneigte Töne dringen. Auch die Mittellage trotzt den Schwierigkeiten der Partie, und die Stimme kann sich mühelos über die Chormassen schwingen (BelAir BAC 570/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja  

 

Anneliese Rothenberger

 

Sie war viel mehr als die „Operetten-Tante“ aus dem ZDF, als die sie oft etwas herablassend abgetan wurde. Nein, sie war eine bedeutende Künstlerin, eine Sängerin, die nicht nur der angeblich so „leichten Muse“  mit hoher Professionalität zum Leben verhalf, sondern die als herausragende Lyrische einen hohen Maßstab setzte, der kaum wieder erreicht worden ist. Natürlich ist sie als Sophie neben den beiden anderen Legenden Schwarzkopf und Jurinac akustisch wie optisch selber zur Legende geworden, aber sie hat auch sehr oft die Grenzen ihres lyrischen Mediums ausgetestet, ob als Martha, Undine, Butterfly, Gilda oder als Violetta. Und natürlich als ganz individuelle Lulu, auch optisch auf ihre Art hocherotisch.

Dennoch ist Anneliese Rothenberger auch für mich eine der ganz ganz Großen im Operettenfach in Erinnerung. Niemand singt so wie sie den „Künstlerball bei Kroll“ in der Lockenden Flamme der Hamburger Nachkriegszeit, niemand wie sie die wunderbaren Operetten jener Jahre beim Rundfunk. Diese silbrige und ungemein leistungsstarke und vor allem unverkennbare Stimme sitzt im Ohr, absolut.

Anneliese Rothenberger/ Foto Thomas Voigt

Sie hat wie der Dirigent Marszalek und seine Sänger der deutschsprachigen Operette eine Qualität gegeben, die mit ihr verloren gegangen ist, die aber das Genre damals noch einmal neu belebt hat, als es nach dem Krieg am Boden lag und verloren schien. Wie nur wenige ihrer Generation hatte sie nichts Süßliches in der Stimme, keinen Kitsch, aber Sentiment. Was ein großer Unterschied ist. Dass sie denn doch – mit Betonfrisur – wie Ruth Leuwerik zum Symbol einer Epoche von Sahnetorte und Mercedes am Gardasee wurde:  Dafür kann sie nichts. Sie hat – muss man leider sagen – auch einige unglückliche Aufnahmen gemacht: eine eiserne Schöne Helena oder eine marmorne Ilia, zu spät und schlecht beraten. Die Storjohann-Schablone der Electrola drückte sie zu oft in das ewig lächelnde Klischee des heiteren Genres. Aber darunter litten auch Gedda und manche andere. Es war die Politik der Kölner Firma. Und die blockierte auch einen anderen Eindruck von der Rothenberger. Und andere Rollen. Worunter sie sehr litt.

Die Rothenberger war klug und konzentrierte sich auf das neue Medium Fernsehen, wo sie mit ihrer Präsentation junger Künstler wirklich vielen Gutes getan hat. Dass sie als die eherne und ewig strahlende Gallionsfigur dieser Sendungen aufgebaut wurde, kann man ihr ja kaum verdenken.

Aber ich erinnere sie auch in einem bezaubernden Liederabend in der Berliner Philharmonie zu West-Zeiten, wo sie mit großem Charme Werke von Mendelssohn und Schubert („Der Hirt auf dem Felsen“) präsentierte und eine ganz unerwartete Seite an Intimität miterleben ließ.

Anneliese Rothenberger: Lortzings „Undine“ bei Electrola, nun Warner. Als Bonus-CD wurde in dieses Album eine Schallplatte mit Probeausschnitten und Interviews integriert, die während der Aufnahme der Oper im November 1966 in der Berliner Grunewaldkirche entstand. Auch die Rothenberger kommt ausführlich zu Wort. / Foto, wie auch oben als Ausschnitt,  Electrola

Sie starb 2010, und wir finden, es ist Zeit, an sie zu erinnern. Mit einer Hommage an sie, die unser Freund, der Musikjournalist, Filmemacher und Opernfachmann Thomas Voigt (operalounge.de-Lesern natürlich vertraut) zu ihrem ersten Todestag am 24. Mai 2011 in Schloss Mainau vor illustren Gästen gehalten hat. Seine Emotionen kommen in diesen Sätzen auch zu uns bewegend herüber, danke Thomas. G. H.

 

Thomas Voigt am 24. Mai 2011: Wir haben uns heute getroffen, um einer Frau zu gedenken, die in unserem Leben etwas Besonderes bedeutet hat, als Künstlerin, als Kollegin, als Freundin; einer Frau, die viele Gesichter und Facetten hatte. Und damit meine ich nicht allein die ganze Bandbreite ihrer Opernrollen, die von der kleinen unschuldigen Gretel in Humperdincks Märchenoper bis zur Mörderin Lulu reichte. Damit meine ich auch die ganz unterschiedlichen Bilder, die man mit ihrem Namen assoziiert. Für Klassik-Liebhaber war und ist sie eine Opern- und Liedsängerin von Weltrang, eine Künstlerin, die vor allem im Mozart- und Strauss-Repertoire Maßstäbe setzte, die seither selten erreicht, geschweige denn übertroffen wurden.

Anneliese Rothenberger als Sophie neben Sena Jurinac in der Salzburger Rank-Verfilmung des „Rosenkavalier“/ Screenshot/BMG

Für das so genannte „breite Publikum“ aber ist sie das Synonym für „Klassik im Fernsehen“. Anneliese Rothenberger hat auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet, sie hat mit ihren Sendungen Millionen von Menschen erreicht, die nie ein Opernhaus oder einen Konzertsaal von innen gesehen haben. Laut Umfragen war sie in den Siebziger Jahren, „die beliebteste Frau im deutschen Fernsehen“.

Es gab nicht wenige Hardcore-Klassikfans und auch einige Journalisten, die ihr diese Breitenwirkung übel genommen haben. „E“ und „U“, Ernste und Unterhaltungsmusik waren zu dieser Zeit im deutschsprachigen Raum viel strenger getrennt als z. B. in den USA, wo man es keineswegs als ehrenrührig empfand, wenn Opernstars wie Birgit Nilsson oder Franco Corelli in Fernsehshow auftraten. Dass sie in Deutschland für ihre Fernseherfolge oft angegriffen wurde, vor allem von einem pseudo-intellektuellen Teil der Presse, machte ihr auch Jahre später noch zu schaffen. Nach einem besonders gemeinen Artikel in einer Tageszeitung schrieb sie mir: „Wahrscheinlich wäre es diesen Leuten lieber, wenn sie schreiben können: Sie hat sich konsequent von den Niederungen des Fernsehens fern gehalten, auch mit der Konsequenz, dass sie heute von der Fürsorge lebt!“

Schon als Schüler brachte es mich auf die Palme, wenn man über ihre TV-Erscheinung die Bedeutung der Sängerin verkannte. Und wenn später Elke Heidenreich alias Else Stratmann meine geliebte Anneliese auf das Image der Yellow Press reduzierte, war ich drauf und dran, ihr einen gesalzenen Hörerbrief zu schreiben. Wusste sie denn nicht, dass die Frau als Künstlerin Weltklasse war? Kannte sie nicht ihre Aufnahmen und Opern-Filme? Hatte sie nicht gelesen, dass sie laut Lotte Lehmann die „beste Sophie der Welt“ war? Dass Renata Tebaldi ihr nach einer gemeinsamen Bohème an der Metropolitan Opera coram publico die Hand geküsst hatte? Hatten sie nicht den berühmten Salzburger Rosenkavalier unter Karajan oder die Münchner Arabella mit Lisa Della Casa gesehen? Wollte sie nicht wahrhaben, dass die Rothenberger in so konträren Partien wie Konstanze und Lulu selbst notorische Skeptiker überzeugt hatte?

Um so wohltuender war es, als man bei ihren Auftritten in August Everdings da capo-Sendung in Alfred Bioleks Boulevard Bio und zuletzt bei Beckmann statt der Yellow-Press-Figur die „wahre“ Rothenberger erleben konnte: Direkt, ehrlich und nicht immer nur „nett“. Everding konnte selbst schlagfertige Künstler in Grund und Boden reden; doch Anneliese war eine der Wenigen, die ihm kontra gaben. Als er wieder mal die Frage stellte: „Wie war ihr Verhältnis zum Regisseur?“, schoss sie zurück: „Ich hatte nie ein Verhältnis mit einem Regisseur!“

Der Mann ihres Lebens, Gerd W. Dieberitz, war zugleich ihr Manager. In der Branche galt er als ruppig, und bei Proben sollen schon mal die Fetzen geflogen sein. Bei den wenigen Malen, wo ich mit beiden zusammen traf, u. a. bei einem Gesangswettbewerb in Wien, hatte ich den Eindruck eines perfekt aufeinander eingespielten Teams.

Was hat, von der Stimme einmal abgesehen, ihre Persönlichkeit ausgemacht?, fragte mich der Moderator beim Nachruf im Deutschlandradio. Die ersten Begriffe, die mir in den Sinn kam, waren „Professionalität“ und „Gewissenhaftigkeit“. Anneliese war sehr gewissenhaft, auch in Dingen, die man für weniger wichtig halten mag. Zum Beispiel im Beantworten von Fanpost. „Du beantwortest wirklich jeden Brief?“, fragte ich ungläubig, „Jawohl, jeden!“, antwortete sie, „die Leute haben sich die Mühe gemacht, mir zu schreiben, und ich finde es selbstverständlich, dass ich ihnen antworte.“

Anneliese war eine Arbeiterin, die sich alles abverlangte. Allein, was sie in den Studios der Rundfunkanstalten, Plattenfirmen und Fernsehsender leistete, muss ihr erstmal eine nachmachen. Wenn ich mir heute ihre NDR-Aufnahme von Künnekes Künstlerball bei Kroll (NWDR 1950) anhöre, fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser rasante „Rap“ als Direktsendung über den Äther gegangen sein soll. Solch hochvirtuoses Geplapper, noch dazu mit so vielen Zungenbrechern – LIVE gesendet, ohne Schnitt und Korrektur? Aber ich trau’s ihr zu. Sie war halt erzprofessionell.

Ihre „Ehe“ mit der Schallplatte war lang und glücklich. Der Electrola-Produzent Fritz Ganss hatte in ihr die geeignete Nachfolgerin für Erna Berger gefunden. Wie diese war auch Anneliese Rothenberger eine Sopranistin zwischen Lyrik und Koloratur; als Martha beherrschte sie die volksliedhafte Schlichtheit der „letzten Rose“ genauso wie die virtuosen Verzierungen in den Ensembles.

Was neben der hervorragenden Textverständlichkeit bei ihren Aufnahmen immer wieder auffällt: Die Unverkennbarkeit des Timbres. Eine einzige Phrase reicht aus, um sie zu erkennen (was man von manchen lyrischen Sopranen, die heute als Weltklasse gelten, schwerlich behaupten kann). Sie selber hatte kein sonderliches Interesse an ihren eigenen Platten. Als ich sie auf die Neuausgabe der Wiener Fledermaus unter der Leitung von Oscar Danon ansprach, wusste zunächst gar nicht, was ich meinte. Sie hatte diese herrlich vitale, großartig besetzte Einspielung völlig vergessen.

Im Gegensatz zu manchen Profis, die sich selbst viel abverlangen, war sie großzügig gegenüber den Schwächen anderer. Bei Gesangswettbewerben war sie ausgesprochen fair im Umgang mit den jungen Sängern, jedenfalls habe ich von ihr nie ein hartes Wort gehört. Und wenn es hervorragende Talente gab, so wie hier vor zwei Jahren, bei ihrem letzten Wettbewerb auf der Mainau, konnte sie sich freuen wie ein Kind.

Beim Abschlusskonzert im Jahr 2009 übernahm sie wie gewohnt die Moderation. Alles lief glatt, und so waren wir Juroren ziemlich überrascht, als sie nach dem Konzert total zerknirscht auf uns zu kam und meinte: „Bitte, entschuldigt! Das hätte mir nicht passieren dürfen!“ – „Ja, um Gottes Willen, was denn?“ – „Dass ich Euch nicht vorgestellt habe!“ Noch Wochen später machte sie sich Vorwürfe, uns „vergessen“ zu haben.

Den Grund für solch extreme Gewissenhaftigkeit kann man ahnen, wenn man ihre Memoiren liest. Dort beschreibt sie das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens, den Tod ihres kleinen Bruders. Die beiden hatten auf der Straße Kriegen gespielt, und der 5jährige war dabei vor einen Lastwagen gerannt. Der Vater gab ihr die Schuld an diesem Unfall, redete monatelang kein Wort mit ihr. Und da er sehr herzkrank war, gab ihm der Tod des Jungen den Rest: er überlebte ihn nur um ein Jahr. Führte die Kompensation von Kindheits-Trauma und Schuldkomplex zu einer besonderen Ausprägung von Gewissenhaftigkeit und Professionalität? Es mag allzu sehr nach Küchenpsychologie klingen, aber ich bin überzeugt, dass es bei ihr so war.

Thomas Voigt, renommierter Gesprächspartner für viele Diven, Musikjournalist und Autor /Foto: Facebook

Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1999 fürchtete ich eine zeitlang, sie würde nicht mehr auf die Beine kommen. Doch sie raffte sich wieder auf. Trotz ihrer mädchenhaften Statur war sie körperlich ziemlich robust: immer wieder hat sie sich von Krankheiten und Rückschlägen erholt. Ein echtes Steh-Auf-Mädchen.

Ihre Freundschaft hat mir viel bedeutet. Ihre Platten und Filme haben mir unzählige schöne Stunden beschert, ihre Mitwirkung als Interviewpartnerin hat unsere Filme über Fritz Wunderlich (2006), Lisa Della Casa (2008) und Robert Stolz (2009) um eine unverwechselbare Farbe bereichert. Und nicht zuletzt war sie es, die mich auf diese Insel holte, zusammenführte mit der Familie Bernadotte, mit Brigitte Stephan und den Juroren des Wettbewerbs. Auch posthum hat sie uns viel Freude geschenkt, durch ihre Stimme, durch ihre Kunst, durch ihre Gegenwart in unseren Gefühlen und Gedanken. Dafür möchte ich an dieser Stelle, im Namen all ihrer Freunde, von ganzem Herzen danken. Thomas Voigt (Rede zum 1. Todestag am 24. Mai 2011, Schloss Mainau/ nachzulesen auf der Website von Thomas Voigt)

 

Jaja der deutsche Wald …

 

Schwer tun sich die deutschen Opernbühnen mit Webers Oper Der Freischütz, hat dieses Werk doch einige Prädikate und Vorkommnisse, die fortschrittlichen, modernen Regisseuren ein Gräuel sein müssen, so der Ruf, die Nationaloper der Deutschen zu sein, den deutschen Wald als Handlungsort, einen Geistlichen als Konfliktlöser und deus ex machina, einen Chor von Männern mit Gewehren, auch wenn diese nur zu friedlicher Jagd eingesetzt werden, und der „Wir winden dir den Jungfernkranz“-Chor, weil einst zu populär, darf sowieso nur als Karikatur seiner selbst auf eine deutsche Bühne. Das alles sind so schreckliche Ingredienzien, dass nur eine komplette Demontage und die Verdrehung der Handlung wie der Charaktere als Ausweg bleiben, und der Hauptstadt Berlin war es nach dem Lehnhoff-Freischütz an der Staatsoper, der wiederum einer Berghaus-Produktion gefolgt war, nicht mehr möglich, einen annehmbaren Freischütz auf die Bühne zu bringen. Komische Oper und Staatsoper versuchten sich mit Demontage des Werks an demselben, die Deutsche Oper ließ lieber ganz die Hände davon.

Das Aalto-Theater Essen bringt seit einiger Zeit mit schöner Regelmäßigkeit seine Aufführungen als CDs unter das Publikum, Marschners Hans Heiling, Meyerbeers Le Prophéte, Suks Asrael, auch Mahler-Sinfonien sind bereits auf dem Markt und nun auch der Freischütz aus dem Jahr 2018. Sieht man die Fotos im Booklet, ist man über die Beschränkung auf das Hörerlebnis dankbar, denn in moderner Kleidung und im Heute spielend, werden die Figuren zu Deppen, die in einer Zeit voller Aberglaubens, von einem schrecklichen Krieg gebeutelt und verunsichert, glaubwürdig erscheinen.

Angenehm an der CD ist erst einmal die schöne Ausgewogenheit zwischen Orchester und Sängern, zudem, wenn auch manchmal im Verhältnis zum Gesang zu leise, der gar nicht peinlich-künstlich wirkende gesprochene Dialog, der sich zwanglos und sehr natürlich wirkend in das Ganze einfügt. Durch eine klangvolle Präzision fällt der Chor bereits im „Viktoria“ und dann immer wieder auf (Jens Bingert). Sehr gut schlagen sich insbesondere die Bläser, sich effektvoll steigernd macht das Orchester unter Tomas Netopil einen sehr guten Eindruck. Es hat hörbar die unter der langen Leitung von Stefan Soltesz gewonnene Qualität bewahren können.

Fast sämtliche Rollen sind aus dem Ensemble heraus besetzt. Heiko Trinsinger hat für den Kaspar zwar nicht die ganz abgrundtiefschwarzen Farben, aber sein „Schweig, schweig“ klingt doch böse genug, und zudem ist sein Bariton koloratursicher. Ausgeglichen zwischen viril und sensibel gibt sich der Tenor von Maximilian Schmitt für den Max, ein vorzüglicher deutscher Zwischenfachtenor mit auch unangestrengten dramatischen Ausbrüchen. Etwas spröde klingt der Kilian von Albrecht Kludszuweit, zunächst ein feudaler Wüterich ist der Ottokar von Martijn Cornet, dann aber höchst angenehm, markant vertritt Karel Martin Ludvik als Kuno seinen Standpunt, und als letzte dunkle Stimme verbreitet der Eremit von Tijl Favevts vokale Autorität.

Die beiden Damen sind vokal einander ähnlicher, als es eigentlich wünschenswert ist. So klingt die Agathe von Jessica Muirhead manchmal recht kindlich, als wenn sie ein Ännchen sein wollte, ist das Ännchen von Tamara Banješević ganz und gar nicht soubrettig, nicht neckisch, sondern beherzt, frisch und den Eindruck erweckend, als hätte sie mehr dramatisches Potential, als sie zugeben möchte. Die Agathe erreicht in „Und ob die Wolke“ nicht ganz die ruhige Klarheit, die man erwartet (es ist die falsche Stimme dafür), für die große Arie zuvor hätte man gern noch mehr Wärme und Rundung der Stimme. Alles in allem ist die Einspielung dieser schwierigen Oper eine passable, aber eher eine Essener Momentaufnahme (2 CDs Oehms OC 988)? Ingrid Wanja

Weltstar und Mätresse der Mächtigen

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Und nun ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Laurent Brunner über die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen, verführte. 1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um dort ihr Glück zu versuchen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte. 1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragenden Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand 1796/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: der Geiger und Komponist Pierre Rode /Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing: „Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite. „Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Tüchtig war sie ja, die Grassini: Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/ Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Cesar Ragani, der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone. „Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

 

Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Bawr) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini als Didon in Paers Oper/ Elfenbeinminiatur von Fredinando Quaraglia/ Wikipedia

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…)

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) 

Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Mann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia (. o.), das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

 

Den Artikel von Laurent Brunner entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur neuen Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Abbildung oben: Giuseppina Grassini par Marie-Guilhelmine Benoist, Musée des Beaux-Arts de Beaune/ Ausschnitt/ Wikipedia; Redaktion G. H.

Eine bedeutende

 

Die Hamburgische Staatsoper zeigte in diesen Tagen als Gratisstream den wunderbaren alten TV-Film der Elektra (unter Leopold Ludwig mit Regina Resnik, Ingrid Bjoner, Helmut Melchert, Hans Sotin und einer ganzen Garde von ersten Sängern jener Zeit – 1968 in der Regie von Joachim Hess im Deutschen Fernsehen gezeigt. Den Soundtrack gab´s mal bei Ponto (wie auch eine 3-CD-Box mit Live-Ausschnitten). Aber anders als andere Opern aus dieser Hamburger Serie ist Elektra nie als DVD herausgegeben worden – das selbe Schicksal teilen die Arabella mit Arleen Saunders und die Martha unter Stein. Elektra ist die Berliner Hochdramatische Gladys Kuchta.

Und bei erneutem Anschauen/Anhören verbeuge ich mich einmal mehr vor meiner Isolde, Turandot, Leonore, Senta oder Brünnhilde und eben Elektra meiner Lehrjahre an der Deutschen Oper Berlin.  Damals eher schnöde ihre Dauerpräsenz beklagend, bin ich heute demütig und preise sie als eine der wirklich wichtigen Nachkriegsstimmen, ohne die das große Repertoire in Deutschland und an der Deutschen Oper Berlin nicht hätte stattfinden können. Ich muss gestehen, wir haben damals im 2. Rang uns über die Schärfe der Stimme beklagt, auch über ihr nicht immer so liebenswürdiges und etwas nasales Timbre. Aber mit heutigen Ohren gehört, staune ich über ihr ungeheures Engagement, über ihre Emphase (Schluss Elektra und vor allem in ihrer Glanzpartie der Isolde), über ihr schieres Beharrungsvermögen (neben dem stentoralen Beirer damals keine kleine Leistung). Sie war eine Bedeutende, wie ich heute erkenne.

Gladys Kuchta in „Elektra“/ Produziert von Polyphon Film- und Fernsehgesellschaft für NDR © Polyphon 1968; Regie: Joachim Hess; Ausstattung: Herbert Kirchhoff/ Screenshot wie oben

Die Kuchta war der Inbegriff der tüchtigen Amerikanerin an den deutschen Bühnen jener Jahre. Ihre Karriere reichte von Berlin bis nach Buenos Aires, mit Umwegen u. a. über die Met und San Francisco. Auch sie hatte das Pech, im immer größer werdenden Schatten der Nilsson zu stehen, neben der sie manche Sieglinde singen musste, während sie an anderen Häusern eben in den großen Rollen ihres Fachs glänzen konnte (ein Lebenslauf findet sich am Ende dieses Beitrags).

Ihre Dokumente auf dem offiziellen Markt sind wenige (der „berühmte“ Fidelio unter Bamberger von 1965/ Concert Hall/ Nonesuch, die Giulietta im quergeschnittenen, deutschen Hoffmann unter Kraus bei DG jener Jahre, die Sopranpartie in Beethovens Neunter/ dto. bei Concert Hall und anderen  sowie bei DG in Kagels Staatstheater 1971). Live ist sie besser repräsentiert, aber nur für Sammler (so als Senta und Isolde neben Beirer in Buenos Aires 1964, ebendort auch als Turandot neben der jungen Caballé 1965 sowie die Brünnhilde im dortigen Ring ebenfalls 1964; vom Berliner Stammhaus DOB gibt es Zeugnisse ihrer Lady Macbeth neben William Dooley 1963, Isolde neben Beirer 1964 und mehr; aus Bayreuth ist sie Sammlern ein Begriff als Götterdämmerungs-Brünnhilde 1968 und 1969; als Abigaille trifft man sie in San Francisco 1964 an; und an der Met ist sie mit der Sieglinde neben Vickers und Nilsson 1961 sowie als Donna Anna neben Peerce 1963 belegt – ganz sicher habe ich einige Auftritte ausgelassen, mea culpa).

Diese eindrucksvolle Wieder-Begegnung mit Gladys Kuchta als Elektra nun wollen wir mit einem Artikel würdigen.Also bringen wir noch einmal ein historisches Porträt von ihr, das wir 2017 bereits veröffentlichten und das  Peter Maria Katona, seit 1983 machtvoller Besetzungschef des Royal Opera House Covent Garden, für unsere Kollegen der großen deutschen Opernzeitschrift Opernwelt 1967 in Berlin geführt hatte und das sowohl seine Eindrücke von ihr auf der Bühne beschreibt, wie auch die Künstlerin selbst zu Wort kommen lässt. Dank an beide, den Autor wie die OpernweltG. H.

 

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Gladys Kuchta privat/Buhs/DOB

Ihre Brünnhilde in Sellners neuem Berliner Ring (von 1967/ G. H.) ist wieder ein vorläufiger Höhe­punkt in der Karriere dieser sympathischen Sängerin und rechten Vollblutkünstlerin, die in den letzten Jahren in einer beständigen Entwicklung ganz in das große Fach des schweren Wagner-Soprans hineingewachsen ist. Beständigkeit – das scheint überhaupt einer der Momente zu sein, die für die Lauf­bahn von Gladys Kuchta leitend waren. Sie lässt sich nicht von der allgemeinen Hetze des Berufes mitreißen – obwohl sie nun eine der höchst raren echten „Hochdramatischen“ ist, die heute gewiss an einer Hand abzuzählen sind.

Natürlich singt sie mittlerweile an allen gro­ßen Häusern der Alten und der Neuen Welt, doch sie ist auch nunmehr zehn Jahre ihrer Berliner Oper treu geblieben. Während so manchem in den letzten Jahren Berlin bloß als Sprungbrett für dann recht unruhige und wechselhafte Karrieren diente. Gladys Kuchta weiß –  und sie betont es gerne -, was ein künstlerisches Domizil, eine kontinuierliche Arbeit mit wesentlichen Regisseuren an ein und demselben Haus bedeutet.

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

als Turandot in Berlin/Buhs/DOB

Diese Einstellung verrät auch unschwer ihr sehr folgerichtiger Aufstieg selbst: Geboren in Massachusetts und „solange sie sich besinnen kann“ zum Singen entschlossen, studierte sie fünf Jahre in New York und kam dann 1952 mit einem Fulbright-Stipendium nach Italien. Ein halber Zufall ergab es, dass sie schon wenige Wochen später von Tullio Serafin für den Don Giovanni nach Florenz geholt wurde (sie sang damals die Elvira und, pikanterweise, Birgit Nilsson die An­na).

als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

als Brünnhilde mit Josef Greindl in Berlin/Buhs/DOB

Die Zeit in der Provinz – die fünf Jahre in Kassel zeigen es – hat sie keineswegs als raschen „Absprung“ nach oben betrachtet, sondern als ganz entscheidende und in Ruhe genutzte Vorbereitung: „Natürlich – manche Karrieren gehen gleich kurz und steil hinauf und werden als Sensation aufgemacht, doch dann geht es meist ebenso so steil wieder herunter, nur dann spricht niemand mehr davon. Es hat mir, gerade als Amerikanerin, die in Amerika und Italien im Grunde nur die Stagione kannte, sehr gut getan, hier in Deutschland in einem Ensemble und unter erfahrenen Regisseuren zu wachsen. Das ist eine absolute Notwendigkeit, schon um über­haupt erst einmal Sicherheit und solide Grundlagen zu gewinnen. Nur so kann sinn­voll gearbeitet werden, kann ein Sänger und eine Persönlichkeit sich entwickeln. Das ist ja genau der Punkt, warum es fast überhaupt keine Heldenstimmen mehr gibt und alles sich wundert, warum zum Beispiel keine Siegfried-Tenöre nachwachsen – Leute wollen sich einfach nicht in Ruhe entwickeln, sondern meinen, gar schon als schwere Hel­den auf die Welt zu kommen. Und bis sie kaum dreißig sind, ist das Material dann verbraucht, ehe es sich richtig entfalten konnte. Ich habe selbst ganz lyrisch angefan­gen und nichts forciert.“

Erst 1961, so erzählt sie, fragte Professor Seefehlner in Berlin sie, warum sie noch nicht das schwere Fach sän­ge. „Nun, ich habe gesagt: Man hat mir noch keine Chance gegeben. Und als wir dann da­nach über die Elektra-Neuinszenierung sprachen, in der ich die Chrysothemis singen sollte, sagte ich einfach: Lassen Sie mich doch die Elektra singen.  Und so kam es dann eben.“

as Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Als Lady Macbeth mit William Dooley/Buhs/DOB

Sie ist ein Star ohne Allüren, nennt als Hob­by sehr hausfrauliche Neigungen und ist eine charmante Erzählerin, der man es so kaum glauben würde, dass ihr auf der Bühne die wilden Elektra-Figuren weitaus lieber sind als die freundlich-damenhaften. „Ich habe Mozart immer gerne gesungen, aber auch nicht zuviel – nach einiger Zeit fühle ich mich da eingeengt, es ist mir zu wenig Spielraum im Temperament. Die Gräfin etwa möchte ich nie wieder singen – stimm­lich ist das gar kein Problem, aber im Spiel“ – sie musste so sehr Dame sein – „und das widerstrebte mir immer.“ Es klingt wohl scherzhaft, aber man kann sie durchaus ver­stehen, wenn man gerade ihre Elektra gese­hen hat: Sie hat zum Stimmfach auch das fu­riose Temperament, das sie nicht so gerne zurückdrängen lässt.

Sie probt ausgesprochen gerne – „weil man in jeder neuen Arbeit an einer Partie auch immer wieder etwas Neues herausfinden und sich deutlich machen kann“. Die Gepflogen­heit, bis in die letzten Proben hinein nur zu markieren oder gar im Play-back-Verfahren nur stumm von einer Position in die andere zu agieren, liegt ihr gar nicht: „Eine Partie muss als Ganzes entstehen und nicht aus Stücken. Gestik, Aktion und voller stimm­licher Einsatz müssen organisch zusammen­passen und auch so immer wieder geprobt werden.“

als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

Als Brünnhilde in Berlin/Buhs/DOB

So wird schon deutlich – obwohl sie gern und viel reist -, dass sie doch das Ideal kon­zentrierter Ensemblearbeit ganz für sich angenommen hat und daran „deutscher als die Deutschen“ festhalten möchte. „Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich in Deutschland jetzt auch schon Stagione-Gewohnheiten aus­breiten, und das gerade von einigen ent­scheidenden Theatermännern auch noch ge­fördert wird. Das ist kein gesunder Nähr­boden für das Theater. Aber das kommt auch durch den Einfluss der viel schnelllebigeren Massenmedien; und besonders die Schall­platte tut ein Übriges. Gewiss: Die Schallplatte ist großartig, weil sie Musik zu Leuten bringt, die sonst nicht damit in Berührung kämen. Auf der anderen Seite aber vermittelt sie ein ganz falsches Bild, eine falsche Perfektion, die im Theater nie und nimmer zu erreichen ist. Und mancher Künstler setzt sich selbst im Studio einen Maßstab, vor dem er auf der Bühne glatt versagt.“

Nach den Dirigenten gefragt, unter denen sie gesungen hat, zählt sie eigentlich die meisten großen Namen auf, die heute zu nennen sind, und berichtet von manchem für sie bestim-menden Erlebnis. Eines allerdings ist beson­ders erzählenswert, zumal da es ihr nicht nur künstlerisch einen unvergesslichen Eindruck gemacht hat, sondern auch den Reiz des Ku­riosen besitzt. Und zwar war es während ihrer New Yorker Studienzeit, als für eine Benefiz-Aufführung von Verdis Requiem, das Arturo Toscanini leitete, ein Chor von hundertzwanzig Solisten (!) zusammenge­stellt wurde – überwiegend Studenten und Kirchensänger. „Die Auswahl war schon sehr streng. „Ich zählte dann sogar zu den vier Solosopranen des Kyrie. Grace Hoffman war übrigens auch dabei. Als wir zur ersten Probe kamen, hat wohl kaum die Hälfte von uns gesungen, so fasziniert waren wir von Toscaninis unerhört überlegener Persön­lichkeit und Ausstrahlung. Aber auch so einen Chorklang habe ich nie wieder gehört – das Rex tremendae, gesungen von dreißig aus­gesucht schönen Bass-Stimmen, hörte sich ein­fach unbeschreiblich an. Wir alle sangen übri­gens umsonst – auch die Solisten, darunter Di Stefano und Siepi.“ Ihr Bericht lässt sich nachprüfen – das Konzert wurde damals live mitgeschnitten und kam später als (noch heute im Katalog stehende) Plattenaufnahme heraus. Unter diesen Umständen kam es also zu Gladys Kuchtas erster Platte!

Gladys Kuchta als Färbersfrau mit Grace Hoffman in Berlin/Buhs/DOB

Doch nach dem Blick in die Vergangenheit – die Pläne für die Zukunft? „Nun, zu­nächst einmal Brünnhilden und kein Ende. Ein Ring nach dem anderen.“ Und auch sonst: Wagner über Wagner, wäre hinzuzu­fügen. So sehr sie da auch in ihrem Element ist: Interessante neue Rollen würden sie na­türlich besonders reizen, zumal in dem schwe­ren Fach eben relativ wenig Gelegenheit dazu gegeben ist. Sie würde gern moderne Partien singen – Liebermanns Penelope steht zum Beispiel auf dem Wunschzettel». Oder so etwas wie eine „Lulu für dramatischen So­pran“. Überhaupt ist sie aller modernen Mu­sik erstaunlich zugetan – von der Ansicht, die moderne Oper befinde sich in einer star­ken Krise oder nähere sich einem toten Grenzbereich, will sie gar nichts wissen. „Ich habe ein altes Lexikon von 1827. Da steht über Beethoven zu lesen: Er geht bis an die Gren­ze des Möglichen. Wo gibt es also absolute Grenzen? Wer will denn wissen, ob nicht all das, was heute schon als Grenze betrachtet werden soll, in fünfzig oder hundert Jahren einmal als Neuanfang gewertet werden wird? Ich würde nie eine Rolle ablehnen aus Be­quemlichkeit oder weil ich sie selbst nicht gleich begreife. Es müsste aber natürlich etwas sein, was mich zu singen und darzustellen wirklich reizt – wie eben die Penelope – und was nicht der Stimme schadet. Die Marie im Wozzeck habe ich zum Beispiel in Kassel ja gesungen – das war allerdings eine für die Stimme äußerst gefährliche Partie, die ich auch nicht mehr singen möchte. Ich sollte sie ja auch an der Met machen, aber das habe ich abgelehnt. Wenn man diese Rolle so sin­gen soll, wie sie im Notentext dasteht, ohne es sich bequem zu machen, und gleichzeitig mit allem Einsatz und Temperament – das zerreißt auf die Dauer wirklich die Stimme.“

Gerade dieses Beispiel zeigt vielleicht am klarsten, wie präzise und bewusst sie arbeiten will, eben „genau so zu singen, wie es da­steht“. Sie macht sich niemals etwas leicht. Ih­re Partien sind – und das verdient hervor­gehoben zu werden, gerade weil es nicht die Regel ist – musikalisch bis ins kleinste De­tail ausgearbeitet und gegenwärtig. Jede Ak­zentuierung, dynamische Werte und Abstu­fungen, die (besonders im italienischen Fach) gerne mit Sorglosigkeit übergangen werden, realisiert sie mit ganz auffälliger und er­staunlicher Konsequenz. Diese zunächst vom rein musikalischen ausgehende Ausformung ist dann eine denkbar sichere Basis für die dramatische Realisierung. In wirklich emi­nenter Weise verbindet sich die vorbildlich balancierte Gesangslinie – ohne je ins Grelle, Scharfe zu geraten – mit starker dramati­scher Projektion, fern von allem kalten, „keimfreien“ Glanz. Und dann eben natür­lich: Gladys Kuchta hat ein geradezu erup­tives Bühnentemperament, und ihre Lieb­lingsrollen, die ihr besondere Gelegenheit geben, dies zur Geltung kommen zu lassen – also Elektra, die Färberin, Isolde und Brünnhilde -, sind gleichzeitig nicht zufäl­lig auch ihre hervorragendsten Leistungen. Ihre Elektra hat vom Auftrittsmonolog bis hin zur Ekstase des Schlusses eine ständig zu­nehmende intensive Gewalt. Dabei breitet sie schon in dem ersten Monolog die ganze Ge­spanntheit der Figur aus, mit einer expressi­ven stimmlichen Vehemenz, die normaler­weise schon den Verbrauch der rein physi­schen Möglichkeiten bedeuten müsste, doch der Kuchta stehen, und das gilt generell, im­mer noch außerordentliche Steigerungen zur Verfügung. Ich habe eigentlich nie entdecken können, dass sie sich in irgendwelchen Passa­gen einmal ausruht, „auf halbe Kraft schal­tet“, was ja durchaus legitim wäre.

als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Als Senta mit Ruth Hesse in Berlin/Buhs/DOB

Ihre wichtigsten Rollen, mit denen sie zwischen Hamburg und Rom ein ebenso begehrter Gast ist wie etwa an der Met und in Buenos Aires, umfassen außer dem ganzen Wagner-Fach die großen dramatischen Partien: Turandot, Lady Macbeth, Ariadne, Fidelio und auch noch die Verdi-Amelia, Tosca, Donna Anna. Zwei seien hier noch herausgehoben: die Färberin in der Frau ohne Schatten und die Götterdämmerung-Brünnhilde. Beide Male verlangt in diesen Rollen der Mittelakt dramatische Ausbrüche bis an die Grenze des Möglichen. Die lyrische Linie, die dann das Duett des dritten Aktes der Färberin abver­langt, ist eine kaum lösbare Aufgabe, doch gerade diese Stelle ließ Gladys Kuchta beide Male, wie ich sie sah, zum stärksten gesang­lichen Eindruck der Berliner Aufführung werden, die ja auch sonst wahrlich an sängerischen Höhepunkten nicht arm war. Vor kurzem schließlich die Götterdämmerung: Nach der exzessiven Dramatik von Eid und Racheschwur sang sie die „Starken Scheite“ mit einer herrlichen inneren Gelassenheit und stimmlichen Ruhe, die kein Zeichen vorheriger Beanspruchung verriet. Die kantablen, leisen Stellen dieses Schlussgesanges (vor allem die Anrufung „O ihr, der Eide ewiger Hüter!“) kamen mit einer fast liedhaften Lauterkeit des Tones, die ebenso im szenisch-dramatischen Ausdruckswert wie als persönliche Lei­stung und menschliche Äußerung zutiefst be­wegend erschien.

 

Noch kurz ein Blick in das tüchtige Wikipedia mit Dank: Gladys Kuchta (* 16. Juni 1915 in Chikopee, Massachusetts; † 7. Oktober 1998 in Hamburg) war eine US-amerikanische Opernsängerin (Sopran). Ihre Familie stammte aus Polen. Sie absolvierte ihre Gesangsausbildung an der Mannes School sowie an der Juilliard School of Music in New York. Eine ihrer Gesangspädagoginnen war Zinaida Lisitchkina. Anfang der 1950er Jahre setzte sie ihre Gesangsausbildung in Italien fort, wo sie 1952 in Florenz als Donna Elvira in der Oper Don Giovanni debütierte. Ein Jahr später übernahm sie ein Engagement am Stadttheater von Flensburg. Von 1954 bis 1958 gehörte sie zum Ensemble des Staatstheater Kassel. Anschließend war sie festes Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Dort gab die Künstlerin, einen Tag nach ihrem 60. Geburtstag, ihre Abschiedsvorstellung, als Isolde in Tristan und Isolde.

Gladys Kuchta sang auf den großen Opernbühnen dieser Welt u. a. in Wien, London, Dresden, Düsseldorf, Florenz, Stuttgart, München, Bayreuth, San Francisco, Buenos Aires, Edinburgh, Hamburg, Rom, New York, Stockholm, Paris etc. Dabei arbeitete sie mit den großen Dirigenten der Zeit zusammen, allen voran Karl Böhm, Herbert von Karajan, Lorin Maazel und Leopold Ludwig. Die Sopranistin wirkte 1968 an der ersten Studio-Operngesamtproduktion in Farbe für das Fernsehen mit. Sie verkörperte die Elektra in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. Ein weiterer Höhepunkt ihrer internationalen Karriere war das Gastspiel der Deutschen Oper Berlin 1963 in Tokyo. Dort sang sie die erste Isolde im asiatischen Raum.

Neben ihrer Bühnenpräsenz war die Künstlerin weltweit als Lied- und Konzertsängerin engagiert. Ferner war sie als Gesangspädagogin an der Folkwang-Schule in Essen tätig. Zu ihren Schülern gehören Albert Dohmen, Hans-Peter König, Andreas Förster, Vuokko Kekäläinen u. a. m.

 

Wir danken der Opernwelt (und dort besonders der ehemaligen Archivarin Andrea Müller für ihre Grabungen im Archiv) für die Genehmigung zum Nachdruck dieses Artikels, der eben dort in der Nummer 8/1967 erschien. Der Autor Peter Katona ist berühmt als casting director des Royal Opera Hauses Covent Garden, und er wird sein Jugendwerk sicher mit einem Lächeln noch einmal sehen. Dank geht auch an die wie stets liebenswürdige Pressefrau Bettina Raeder damals von der Deutschen Oper, die die Fotos von Ilse Buhs heraussuchte und überhaupt für uns Berliner Journalisten unvergessen ist.  G. H.