Auch heute, drei Jahrzehnte nach seinem Ableben, ist Leonard Bernstein trotz seiner unbestreitbaren kompositorischen Fähigkeiten primär als Dirigent in Erinnerung geblieben. Seine Welterfolge als Komponist feierte er vor allem mit Candide (1956) und West Side Story (1957). Mit seiner Mass legte er 1971 sein vielleicht kontroversestes Werk überhaupt vor. Mit vollem Titel als MASS: A Theatre Piece for Singers, Players, and Dancers bezeichnet, erfolgte der Kompositionsauftrag durch die US-amerikanische Präsidentenwitwe Jacqueline Kennedy. Dargestellt wird ein Gottesdienst, bei welchem einiges durcheinander gerät. Der Zelebrant – die vokale Hauptrolle – feiert zusammen mit seiner Gemeinde, den sogenannten Street People, eine katholische Messe. Lebens- und Glaubenskrisen des Geistlichen sowie der Gemeindemitglieder sorgen für Unterbrechungen. Stilistisch ist ein Großteil der Musik des 20. Jahrhunderts abgedeckt, vom Jazz und Blues über den Rock und den Broadwaystil bis hin zum Expressionismus und zur Atonalität.
2018, im Jahre, in welchem Bernstein seinen 100. Geburtstag hätte begehen können, wurde die nun bei Capriccio vorgelegte Neuaufnahme des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter Dennis Russell Davies eingespielt (Capriccio C5370). Mit Vojtěch Dyk in der Rolle des Zelebranten setzte man auf einen vor allem im Popbereich tätigen jungen tschechischen Sängerschauspieler. In Leonard Bernsteins eigener legendärer Weltersteinspielung von 1971 (CBS) übernahm der damals noch blutjunge Bariton Alan Titus diesen Part; später sollte er gerade als Wagner-Sänger eine große Karriere machen, die ihn bis nach Bayreuth führte. Bernstein-Schülerin Marin Alsop setzte in ihrer Aufnahme von 2008 den ebenfalls primär in der populären Musik beheimateten Bariton Jubilant Sykes ein (Naxos). Dieses Vorgehen hat also durchaus Vorbilder, mag aber nicht unbedingt den Intentionen des Komponisten entsprechen. Unter klanglichen Aspekten ist die Neueinspielung dann tatsächlich ganz vorne anzusiedeln, obwohl selbst die bald 50 Jahre alte Bernstein-Aufnahme für ihr Alter noch immer erstaunlich gut herüberkommt. Die hysterische Intensität von damals wird heute nicht mehr erreicht, was vielleicht auch gar nicht mehr möglich ist, fehlen doch die damaligen Zeitumstände, die dieses Werk in der vorliegenden Form überhaupt erst hervorbrachten. Das Wiener ORF-Orchester schlägt sich wahrlich wacker und versucht sich an einem idiomatisch-amerikanischen Klang, angespornt vom aus Ohio stammenden US-Dirigenten. Neben der Wiener Singakademie kommen Schülerinnen und Schüler der Opernschule der Wiener Staatsoper sowie die Company of Music als Street Chorus zum Einsatz. Im direkten Vergleich sind dann indes Bernstein und auch Alsop wohl doch vorzuziehen, obwohl sich bei der Neuproduktion keine gravierende Schwachstelle ausmachen lässt. Dies mag am Ende dann auch an den durchgängig amerikanischen Beteiligten in den älteren Aufnahmen liegen. Als „europäisierte“ Alternative ist die Capriccio-Einspielung aller Ehren wert und bereichert die Bernstein-Diskographie um eine weitere Facette. Daniel Hauser
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