Archiv für den Monat: Januar 2023

Von den Anfängen der Oper

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Das Cover-Foto zeigt eine attraktive junge Frau unserer Zeit, die Beschriftung Arias for Anna Renzithe first Opera Diva meint eine Sängerin längst vergangener Zeiten, und ganz klein und ganz unten steht auch noch, wer tatsächlich auf der CD zu hören ist. Es handelt sich um die als Spezialistin für Alte Musik hoch gehandelte Sopranistin Roberta Invernizzi, die mit dem Ensemble Sezione Aurea Arien eingespielt hat, die einst im fernen 17. Jahrhundert für die erste Primadonna der jungen Kunstgattung komponiert wurden, darunter die bekannte Arie der Ottavia “Disprezzata regina“ aus Monteverdis L’Incoronazione di Poppea. Obwohl höchstwahrscheinlich sich eines ehrbaren Lebenswandels befleißigend, stand auch sie wie ihre Berufsgenossinnen unter dem Generalverdacht einer unsittlichen Lebensführung , wurde nicht nur für eine „cantante“, sondern eine „cortegiana“ gehalten, obwohl ein zeitgenössisches Portrait sie in hochehrbarer Gewandung und mit eher strengem als sich einschmeicheln wollendem Blick zeigt. Den Titel Primadonna und dazu noch die allererste dürfte sie sich gleichermaßen durch die Qualitäten ihrer Stimme, über die es schriftliche Zeugnisse gibt, als auch und vor allem durch die Eindringlichkeit ihrer Darstellung verdient haben.

Von den dreizehn Opern, in denen Renzi nachweislich auftrat, sind nur die Partituren von vier derselben vollständig überliefert. Trotzdem fällt bei ohnehin nur 48 Minuten Gesamtspielzeit der CD die Ausbeute an Gesangsnummern mit ganzen sechs, dazu ein und ein Viertel Minuten Duett etwas mager aus, andererseits sind die Stücke für Orchester oder auch nur Cembalo überaus reizvoll.

Bereits in der ersten Arie, der der Ottavia wird deutlich, dass zumindest Roberta Invernizzi, wie man es Anna Renzi nachsagte, einen hohen Wert  der Expression, weniger  dem gefälligen Fluss der Melodie  beimisst. Die Stimme wird schön instrumental geführt, lässt feine Glockentöne vernehmen, und die  „fulmini“, die „Giove“ nicht hat, lodern zumindest in der Sopranstimme. In Antonio Cestis Arie aus Argia scheint eine gewisse Verwaschenheit der Diktion als Stilmittel eingesetzt zu werden, wird der Charakter der Beiläufigkeit besonders hervorgehoben, erscheint die Stimme als zusätzliches Orchesterinstrument. Filiberto Laurenzi komponierte die Konzertarie „O cara libertà“, in der ein schöner Klageton, eine bemerkenswerte Geläufigkeit und ein melancholischer Touch im Timbre die Liebe als Versklaver an- und beklagen. Im kurzen „Ecco l’alba che ridente“ umschmeicheln die beiden Soprane einander. Ein schillerndes Persönchen tritt dem Hörer mit der Heldin der Laurenzi-Oper La Finta Savia entgegen, die neckisch und schalkhaft souverän mit den Tönen umzugehen versteht.  Der Sopran erscheint hier  zarter und heller zu sein und kehrt stärker als in den anderen Partien das Virtuose heraus.

Die Orchesterstücke stammen von Cesti, Frescobaldi, Rossi, Cima und Ceresini und verbreiten mal Festliches, mal Verspieltes, immer aber Hochprofessionelles (Brillant Classics 96716). Ingrid Wanja

Schmuckstück im Barock-Katalog

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Liebhaber der Barockmusik dürften jubeln über die Veröffentlichung von Porporas Dramma per Musica Calvo il Calvo bei Parnassus (PARARTS002, 3CDs). Denn mit diesem 1738 in Rom uraufgeführten und danach nie wieder gespielten Werk wurde im September 2020 das von Max Emanuel Cencic initiierte Bayreuth Baroque Opera Festival im Markgräflichen Opernhaus der fränkischen Wagner-Metropole eröffnet. Das Werk basiert auf einer Episode aus dem deutschen Mittelalter und behandelt den Streit um ein Familienerbe. Die neue Einspielung entstand im August 2021 in Athen und weist in allen Partien eine identische Besetzung gegenüber der Bayreuther Aufführung auf.

Eine Phalanx der aktuell führenden Countertenöre und Sopranisten ist angetreten, angeführt von Franco Fagioli als Adalgiso. Die Partie war für den Starkastraten Lorenzo Ghirardi geschrieben und ist die anspruchsvollste der Oper. Die Auftrittsarie, „Tornate tranquille“, ist gespickt mit Trillern und Verzierungen, verlangt vom Interpreten sogleich höchste Kunstfertigkeit. Am Ende des 1. Teiles sorgt er mit einer tobenden Sturm-Gleichnisarie, „Saggio Nocchier che vede“, für einen wirkungsvollen Aktschluss. Während das Orchester das wogende Meer suggeriert, muss der Sänger mit endlosen, geradezu gurgelnden Tönen einen Steuermann in auswegloser Situation auf hoher See vorgeben – eine tour de force fast ohne Vergleich im Barockgenre. Von ähnlichem Anspruch ist die Gleichnisarie am Ende des 2. Aktes „Spesso di nubi cinto“ mit ihren schier endlosen Koloraturgirlanden. Fagioli fegt hier wie ein Rasender durch das System und fügt seinen vielen Ausnahme-Interpretationen eine weitere bedeutende hinzu. Auch das letzte Solo des Werkes („Con placido contento“) gehört ihm und in diesem haben sich alle Stürme gelegt, sind Ruhe und Frieden eingekehrt. Fagioli verdeutlicht dies mit zärtlich getupften Tönen und delikaten Trillern. Adalgisos Vater Lottario gibt Max Emanuel Cencic, Gründer des Festivals und Regisseur der Produktion. Ihm fällt die erste Aria des Werkes zu, „Vado nello splendore“, in der er mit dem schmeichelnden Klang seines Counters den wiegenden Rhythmus des Stückes betörend ausbreitet. Im Kontrast dazu ist sein zweites Solo, „Se rea ti vuole iol Cielo“, von furiosem Zuschnitt mit rasenden Läufen und eine Herausforderung an die Bravour des Sängers. Ein musikalisches Juwel ist seine wiegende Aria „Quando s’obscura il Cielo“ im 2. Akt, in welcher Cencic mit geschmeidiger Stimmführung imponiert. Gegen Ende des 3. Akt hat er mit der aufgewühlten Aria „So che tiranno io sono“ noch ein Bravourstück par excellence, mit dem er seinen führenden Status eindrücklich bestätigt. Der Tenor Peter Nekoranec ist sein Vertrauter Asprando. Der Sänger mit gediegen timbrierter Stimme ist eine Entdeckung. Seine erste Aria, das stürmische „Col passaggier talora“, nutzt er, um die Kultur seines Organs und die Bravour in den Koloraturläufen effektvoll zu demonstrieren. Von ähnlichem Charakter ist „Piena di sdegno in fronte“ im letzten Akt, in welchem er noch einmal mit wilder Verve aufwartet. Giuditta, zweite Frau von Kaiser Ludwig, ist die zentrale Sopranpartie des Werkes und mit Suzanne Jerosme besetzt. Im Auftritt, „Pensa, che figlia sei“, kann sie energisch auftrumpfen, aber auch empfindsame Töne hören lassen. Die Solistin, hierzulande noch weniger prominent, hinterlässt den besten Eindruck. Diesen vermag sie in der rasanten Aria „Vorresti a me sul ciglio“ mit vehementen Koloraturrouladen sogar noch zu steigern. Stark in der Wirkung auch die wütende Aria „Tu m’ingannasti“ mit fulminantem Einsatz. Auch Gildippe, ihre Tochter aus erster Ehe, ist eine Sopranrolle und wurde Julia Lezhneva übertragen. Sie muss in ihrem Auftritt, der Aria „Sento, che in sen turbato“, sogleich alle Register ihrer Kunst ziehen, denn die Partie war für Porporas Schüler Porporino komponiert, der mit Ghirardi konkurrieren sollte. Mit ihrer lieblichen, überaus flexiblen Stimme kann Lezhneva hier glanzvoll bestehen. Dies trifft auch auf die ausgedehnte Aria „Se nell’amico nido“ zu, in welcher ein ganzer Katalog von kosendem Zierwerk gefordert wird. Bezaubernd singt sie die Aria „Se veder potessi il core“ im 2. Akt mit ihren gurrenden, zwitschernden Lauten. Hinreißend auch das kokette „Amore è un certo foco“ mit lieblich verspielten Tönen. Im 3. Akt hat sie mit Adalgiso das Duetto „Dimmi, che m’ami“ zu singen, das in seinem innigen Melos und den sich harmonisch verschlingenden Stimmen einen Höhepunkt der Komposition darstellt. Giudittas Vertrauter und vermeintlicher Liebhaber Berardo ist der seit kurzem aufstrebende Sopranist Bruno de Sá. Sein kindliches Timbre mag Geschmackssache sein, doch ist seine Virtuosität über jeden Zweifel erhaben. Die stupende, absolut sichere Extremhöhe kann er schon in seiner ersten Aria, „Sai, che fedel io sono“, zeigen. Mit „Per voi sul Campo armato“ hat er im 2. Akt eine beherzte Aria, die einen kämpferischen Entschluss ausdrückt. Hier fehlt es dem Interpreten weniger an Emphase als an heroischem Stimmklang. Gleiches trifft auf „Su la fatal arena“ im 3. Akt zu, wo die Stimme fast einen heiteren Klang aufweist und kaum an einen „tödlichen Kampfplatz“ denken lässt. Aber man staunt erneut über die Bravour des Sängers und die brillanten Töne in extremer Tessitura. Nian Wang komplettiert die Besetzung als Giudittas Tochter Eduige. Die Stimme der Mezzosopranistin von androgynem Charakter lässt auch an einen Counter denken, auf jeden Fall ist sie von schöner Substanz und hoher Klangqualität.

Dirigent George Petrou ist mit seinem auf historischen Instrumenten musizierenden Orchester Armonia Atenea den Festspielen von Beginn an verbunden. Auch mit dieser Einspielung beweist er seine Kompetenz für die Musik mit ihrer leidenschaftlichen Dramatik und allerhöchsten Virtuosität. Gleich in der einleitenden Sinfonia mit pompösem Trompetengeschmetter im ersten Allegro setzt er ein Achtungszeichen und kann auch die drei festlichen Aktfinali mit gebührendem Glanz ausbreiten.

Nach diesem Carlo, einem Schmuckstück im Barock-Katalog, wartet der Freund Alter Musik nun noch auf Porporas Polifemo, der zuerst bei den Salzburger Pfingstfestspielen zu erleben war und 2021 in Bayreuth erklang. Bernd Hoppe

GLANZVOLL AUFPOLIERT

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Am 23. September 1958 saßen zu nächtlicher Stunde der Decca-Produzent John Culshaw und der Dirigent Georg Solti in der Bar des Wiener Hotels Imperial beisammen. Plötzlich spazierte Culshaws EMI-Kollege Walter Legge herein und wollte wissen: „Was machen Sie hier?“ Solti entgegnete: „Wir nehmen Rheingold auf.“ Darauf Legge: „Sehr hübsch, aber Sie werden nicht einmal fünfzig Schallplatten verkaufen.“ Die Anekdote wird dieser Tage oft und gern erzählt. Und das aus gutem Grund. Rheingold, der Vorabend zu Richard Wagners Ring des Nibelungen ist in einem bislang einzigartigen Remastering neu aufgelegt worden. Nicht nur als SACD (485 315-9). In Referenz an das Original, das erstmals 1959 in den Handel gekommen ist, gibt es auch eine Vinyl-Ausgabe (SXL 2101/03-B). Walküre folgt noch 2022, Siegfried und Götterdämmerung dann im nächsten Jahr. Nachzulesen ist die Geschichte im Buch „Ausgespielt – Aufstieg und Fall der Klassikindustrie“ des englischen Musikkritikers Norman Lebrecht, verlegt 2007 bei Schott. Die Aufnahme selbst begann am Tag nach der nächtlichen Begegnung in den wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen. Erste Sitzung war eine Klavierprobe mit der dreiundsechzigjährigen Kirsten Flagstad, die die Fricka sang und damit nochmals in einer neuen Rolle debütierte. Sie hatte ihre Bühnenkarriere bereits beendet, blieb gelegentlich aber in Studios tätig. Culshaw, der ihr Sohn hätte sein können, verehrte sie sehr und wollte sie ursprünglich sogar als Brünnhilde besetzen, was sich aber nicht realisieren ließ. Ihren Zenit deutlich überschritten, verbreitet sie stimmlich aber noch immer majestätische Würde, die für Wotans göttliche Gemahlin genau richtig schien. Mit ihrem legendären Ruf drückte sie der Produktion ein Gütesigel der besonderen Art auf.

Als Fricka hinterließ die einst weltweit gefeierte Wagnerheroine eine letzte leuchtende Spur auf dem internationalen Musikmarkt. Sie starb 1962. Eine Decca-Platte zu ihrem Gedenken wurde denn auch mit einer großen Szene aus dem neuen Rheingold bestückt. Die Flagstad was das mit Abstand älteste Ensemblemitglied, gefolgt von dem neun Jahre jüngeren Set Svanholm, der als Loge mitwirkte. 1908 wurde Kurt Böhme (Fafner) geboren, 1910 Paul Kuën (Mime) und Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich seine Glanzrollen gefundene hatte. Jahrgang 1918 war die Altistin Jean Madeira (Erda), 1919 Hetty Plümacher (Wellgunde) und Ira Malaniuk (Floßhilde). Nesthäkchen ist die erst vierundzwanzigjährige Dänin Oda Balsborg (Wellgunde) gewesen. Wotan George London (1920), Fasolt Walter Kreppel (1923), Freia Claire Watson (1927) sowie Froh Waldemar Kmentt und Donner Eberhard Waechter (beide 1929) lagen dem Alter nach dazwischen. Mit der Rheingold-Besetzung standen drei Sängergenerationen vor den Mikrophonen in den Sofiensälen. Nur Neidlinger und Böhme behielten ihre Rollen auch in den folgen Teilen bei, während die Watson zur Gutrune wechselte. Für Kontinuität im Großen und Ganzen standen Solti, die Wiener Philharmoniker und die Aufnahmeleitung. Der Dirigent war 1912 in Budapest geboren worden. Obwohl bereits seit 1947 bei Decca unter Vertrag, begann sein Aufstieg zum Weltruhm erst mit dem Ring.

Legge, der gewöhnlich als weitsichtig galt und mit den von ihm betreuten Aufnahmen kräftige Akzente setzte, die bis in die Gegenwart nachwirken, hatte sich diesmal geirrt – und zwar gewaltig. Mehrfach preisgekrönt, entpuppte sich dieser Ring als eine der erfolgreichsten Produktionen der Schallplattengeschichte. Endlich konnte Wagners Bühnenweihfestspiel auch in den eigenen vier Wänden gehört werden, immer und immer wieder, bei Tag und bei Nacht. Es bedurfte keiner Notenkenntnisse, um das Werk in seiner Kühnheit und Genialität kennenzulernen. Wer wissen wollte, wie Wagner klingen kann, kam daran nicht vorbei. Selbst Skeptiker griffen irgendwann danach. In kaum einer Sammlung dürfte er fehlen. Die erste Studioaufnahme, die erst 1965 vollendet wurde, war nie von Markt verschwunden, war immer griffbereit und landete auf keinem Wühltisch in Kaufhäusern. Vor diesem Schicksal bewahrte sie auch ein angemessener Preis. Von 1967 an trat Herbert von Karajan bei Deutsche Grammophon mit seinem Ring als der große Decca-Herausforderer auf, indem er neue ästhetische Klangvorstellungen entwickelte. Das Decca-Produkt ließ sich dadurch nicht verdrängen. Rüdiger Winter

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„Die größte aller Errungenschaften in der Geschichte der Schallplattenaufzeichnung.“ Mit Superlativen sollte man bekanntlich behutsam umgehen. Und doch ist die Zuschreibung des berühmten britischen Klassikmagazins Gramophone letzten Endes zutreffend. Die bald als Goldener Ring bezeichnete Produktion, die sich über nicht weniger als sieben Jahre erstrecken sollte, war zunächst gar nicht als Gesamteinspielung der Operntetralogie Richard Wagners geplant. Verantwortlich zeichneten der visionäre englische Produzent John Culshaw (1924-1980) und der ambitionierte aus Ungarn stammende Dirigent Georg Solti (1912-1997). Chronologisch korrekt, stand das Rheingold im Herbst 1958 am Anfang. Die Reihenfolge des Nibelungenrings wurde später indes nicht eingehalten, was auch daran lag, dass Decca 1961 die Walküre zunächst unter Erich Leinsdorf vorlegte und man insofern zunächst Siegfried (1962) und Götterdämmerung (1964) unter Solti den Vorrang gab. Erst 1965 produzierte Decca dann als Abschluss des Wiener Ring-Projektes nach gerade einmal vier Jahren eine weitere Einspielung der Walküre.

Die wegen ihrer Akustik geschätzten Sofiensälen in Wien wurden zum Aufnahmestudio / Decca

Was rechtfertigt nun diese Neuausgabe? Dazu ist zunächst ein kurzer Rückblick vonnöten. Nachdem die Stereo-Langspielplatten von 1959 bis 1966 sukzessive erstmals auf den Markt kamen, erfolgte im Jahre 1984 – sicherlich angeregt durch das Wagner-Jubiläum anlässlich des 100. Todestages des Komponisten 1983 – die CD-Premiere des Culshaw/Solti-Rings. Der Produzent hat dies nicht mehr erlebt; von der Decca hatte er sich bereits 1967 getrennt und arbeitete danach einige Zeit für die BBC. Das Remastering für diese CD-Erstauflage erfolgte im seinerzeit durchaus adäquaten 16 Bit/48 kHz-Standard, galt allerdings landläufig als misslungen und dem Potential der Einspielung nur unzureichend gerecht werdend. 1997 schließlich – wohl eher zufälligerweise in Soltis Todesjahr – nahm sich Culshaws ehemaliger Assistent James Lock neuerlich der Gesamtaufnahme an. Diese Neuauflage wurde technisch verbessert in 24 Bit/48 kHz durchgeführt. Sie wurde zur Grundlage für alle weiteren Auflagen des letzten Vierteljahrhunderts und erzielte eine deutliche klangliche Verbesserung, die zumindest erahnen ließ, was Culshaw seinerzeit vorgeschwebt war. 2012 schließlich, am Vorabend eines weiteren Wagner-Jahres (200. Geburtstag), entschied sich Decca für eine Generalüberholung des 1997er Remasterings. Nach den damaligen offiziellen Angaben des Labels befanden sich die originalen Tonbänder zu diesem Zeitpunkt bereits in einem zu suboptimalen Zustand, um ein komplettes neues Remastering anzugehen.

Dies wurde von Musikkritikern verschiedentlich bereits damals in Zweifel gezogen und ein bloßer Vorwand vermutet. Aus heutiger Sicht erhärtet sich freilich der Verdacht, dass man 2012 die nicht unerheblichen Mühen scheute, die man ein Jahrzehnt später nun eben doch in Kauf nahm. Decca gibt als Grund für die Umsetzung des kaum mehr für möglich gehaltenen Unterfangens den 25. Todestag von Sir Georg Solti an. Wie dem auch sei, bleibt als Faktum, dass man nach zweieinhalb Jahrzehnten nun ein drittes Mal die Originaltonbänder heranzog und im sog. DSD-Verfahren (Direct Stream Digital) ein komplett neues Remastering in der sagenhaften Qualität von 24 Bit/192 kHz (sog. Hi-Res alias High Resolution) auf den Weg brachte.

Die Bandbreite der Dynamik der Einspielung ist nun nicht nur mittels Klangspektren nachweislich ins Unermessliche gesteigert, sondern auch hörbar noch einmal deutlich verbessert worden. John Culshaws Vision von einer audiophilen Produktion, die auch noch Generationen danach als die Referenzeinspielung gelten kann, hat sich nun, nach über einem halben Jahrhundert, womöglich doch noch bewahrheitet. Den Beweis für den wirklichen Qualitätszuwachs lieferte kürzlich bereits eine als The Golden Ring bezeichnete SACD (485 336-4) mit insgesamt klug ausgewählten Höhepunkten aus dem Ring des Nibelungen, wobei alle vier Opern gleichmäßig bedacht wurden. Bereits auf dieser Grundlage ließ sich sagen, dass es den Tontechnikern nun zum ersten Mal spektakulär gelungen ist, das in den bisherigen Ausgaben klanglich ein wenig abfallende, da am frühesten entstandene Rheingold in derselben Klanggewalt erklingen zu lassen wie den später eingespielten Rest. Geringfügige Abstriche, die man hier bisher machen musste, gehören somit der Vergangenheit an.

Dirigent Georg Solti und Decca-Produzent John Culshaw während der Aufnahmen zum „Ring“/ Foto Decca

Das nunmehr vollständig aufgelegte Rheingold (485 315-9) macht logischerweise den Anfang bei dieser hochauflösenden Edition, die bis Mai 2023 abgeschlossen sein soll. Dass sich Decca dazu entschloss, als zweites die Walküre zu berücksichtigen und somit der eigentlichen Reihung der Ring-Opern treu zu bleiben, ist ausdrücklich zu begrüßen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass auch die Rheingold-Gesamtaufnahme den hohen Erwartungen, welche durch die Highlights-Disc geweckt wurden, vollumfänglich gerecht wird. Etwaige Befürchtungen, eine über die Jahrzehnte fortgeschrittene Abnutzung der Bänder könnte das Hörerlebnis beeinträchtigen, sind glücklicherweise nicht eingetreten. Die ganz wenigen Momente, wo man bei hyperkritischer Hörsitzung so etwas wie eine gewisse Bandabnutzung wähnen könnte, dürften schlicht und ergreifend an der jetzt bis ins kleinste Detail durchhörbaren Tontechnik liegen. Und selbst, wenn man in Rechnung stellte, dass die Bänder eben nicht mehr im selben Zustand vorliegen wie 1997, gilt es ohne Übertreibung hinzuzufügen, dass keine spätere Einspielung des Rheingold klanglich üppiger daherkommt als diejenige Soltis. Auch die vor einigen Jahren als Blu-ray-Audio remasterte Neuauflage der Deutsche-Grammophon-Einspielung unter Herbert von Karajan von 1967, die für sich genommen jetzt ebenfalls vorzüglich klingt, erreicht nicht ganz die Opulenz des von der Decca forcierten Klangbildes. Ganz zu schweigen von späteren Aufnahmen, wobei die unter Live-Bedingungen entstandenen wie diejenige von den Bayreuther Festspielen unter Karl Böhm (ebenfalls 1967 und später bei Philips aufgelegt) fairerweise nicht zum direkten Klangvergleich herangezogen werden sollten. Auf einen interessanten Unterschied zwischen den Einspielungen Soltis und Karajans – Ende der 1960er Jahre die einzigen erhältlichen – wies bereits der legendäre englische Musikkritiker des Gramophone Alec Robertson (1892-1982) hin: Während die Decca für das Gekreische der Nibelungen Soprane einsetzte, entschied sich die DG für Tenöre.

George London, hier als Wotan an der Met/ Wikipedia

Das künstlerische Niveau des Solti-Rheingolds ist bekanntlich auf einem später nicht mehr übertroffenen Level. Mit dem amerikanischen Bassbariton George London hatte man die idealtypische, noch eher jugendliche Verkörperung zumindest des Rheingold-Wotan verpflichtet, dem gleichwohl die natürliche und eben nicht bloß aufgesetzte göttliche Autorität zu eigen ist, die in dieser Partie unabdingbar erscheint. An seiner Seite die schon damals legendäre norwegische Wagner-Ikone Kirsten Flagstad als Fricka, deren schon etwas ältliche Klangfarbe in diesem Zusammenhang für diese Rolle durchaus als adäquat bezeichnet werden kann. Der zweite Skandinavier im Besetzungsteam, der schwedische Tenor Set Svanholm, brilliert hier in einer Altersrolle als Feuergott Loge. Luxuriöser könnten die übrigen Götter nicht besetzt sein. Mit dem aus Wien stammenden Bariton Eberhard Waechter hatte man einen absoluten Glücksgriff als Donner getroffen, dem man den Gewittergott auch glaubhaft abnimmt. Der Tenor Waldemar Kmentt, ebenfalls Wiener, gibt einen wohltimbrierten Froh. Dazu gesellen sich der jugendliche Sopran von Claire Watson als Freia und der überaus beeindruckende Alt von Jean Madeira als Erda – beide US-Amerikanerinnen. Die Nibelungen sind auf nicht weniger ausgezeichnetem Niveau. Der aus Mainz stämmige Bassbariton Gustav Neidlinger prägte die Partie des Alberich dermaßen, dass er völlig mit ihr identifiziert wurde. Seine Auftritte stellen fraglos Höhepunkte der Aufnahme dar. Mit dem Charaktertenor Paul Kuën ward zudem ein Mime aufgeboten, der nicht zur einseitigen Übertreibung neigte.

Kirsten Flagstad, die Sängerin der „Rheingold“-Fricka, starb 1962. Die Hommage-LP erschien mit einem Cover-Foto, das während der Aufnahme in Wien entstand / Decca

Das Riesenpaar besteht aus den Paradebassisten Walter Kreppel (Fasolt) und Kurt Böhme (Fafner), die verschieden genug klingen, um eine eindeutige Unterscheidung zu ermöglichen. Schließlich die Rheintöchter, bei welchen mit Oda Balsborg (Woglinde), Hetty Plümacher (Wellgunde) sowie Ira Malaniuk (Floßhilde) das hohe künstlerische noch einmal unterstrichen wurde. Bei ihnen allen ist die ausgezeichnete Diktion und Textverständlichkeit hervorzuheben, wie sie im Wagnergesang leider schon seit langem nicht mehr die Regel darstellt. Im selben Maße wie das vorzügliche Sängerensemble tragen die hier bezwingend aufspielenden Wiener Philharmoniker unter Georg Soltis begnadeter musikalischer Leitung zum Ausnahmerang dieser Produktion bei. Die orchestralen Höhepunkte kommen zuweilen beinahe orgiastisch ausgekostet daher, wobei die erste Verwandlungsmusik, die Fluchszene, Donners Hammerschlag und natürlich der Einzug der Götter in Walhall besonders zu erwähnen sind.

Das weitere Voranschreiten des klanglich nachhaltig aufgefrischten Culshaw/Solti-Rings darf von daher mit Spannung erwartet werden. Daniel Hauser

Empathie und Können

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Die Rezeptionsgeschichte der Les nuits d’été von Hector Berlioz auf Tonträgern wird von Sängerinnen dominiert. Vorgegeben ist das durch die Entstehungsgeschichte nicht. Die Lieder sind Vertonungen von Versen Théophile Gautiers aus einem Gedichtband. Dichter und Komponist kannten sich gut. Als Zyklus sind sie von vornherein nicht angelegt gewesen. Über etwa sieben Jahre erstreckte sich die Komposition. 1840 lag sie fertig vor, im Jahr darauf wurde die Klavierfassung veröffentlicht. Schon 1834 orchestrierte Berlioz Absence, in der endgültigen Reihenfolge an die vierte Position gerückt, 1856 – und damit mehr als zwanzig Jahre später – folgten die übrigen fünf Titel. Berlioz hat keine geschlossene Aufführung erlebt, sie aber dann doch als Sammlung verlegen lassen. Die Lieder wurden zu seiner Zeit nur einzeln gegeben, auch von Sängern. Davon zeugen unterschiedliche Transpositionen, die autorisiert sind. Aus Sicht des lyrischen Ichs der Dichtungen ist in den Liedern eine betont männliche Warte auszumachen. Schon im ersten Lied Villanelle wird eine Schöne zum Waldspaziergang animiert, um Maiglöckchen zu pflücken. Und im letzten Lied, L’île inconnue, lädt ein Seemann wieder eine junge Schönheit zu einer Fahrt mit unbestimmtem Ziel ein. Sie fragt nach dem Land, in dem die Liebe ewig wohne, welches für ihn aber nicht existiert. Stattdessen wiederholt er seine Einladung an das Mädchen.

Bei Erato singt Michael Spyres die Lieder in der Orchesterfassung, die sich gegen die ursprüngliche Klavierbegleitung durchgesetzt hat. Er wird begleitet vom Orchestre philharmonique de Strasbourg unter John Nelson (5054 1971 96850). Spyres hat auf CD etliche Vorgänger, darunter Nicolai Gedda, José van Dam, Jean-Paul Fouchécourt, Stéphane Degout, Ian Bostridge, Christian Gerhaher. Beim Süddeutschen Rundfunk, der sich schon in den 1950er Jahren auf Initiative seines Dirigenten Hans Müller-Kray an einer Berlioz-Renaissance versucht hatte, die zunächst folgenlos blieb, entstand eine Aufnahme mit Helmut Krebs in deutscher Übersetzung von Peter Cornelius. Selbst Komponist und dazu noch Dichter, war er am ehesten in der Lage, die Übersetzung der musikalischen Struktur des Originals anzupassen. Cornelius und Berlioz waren persönlich miteinander bekannt. Der Franzose hätte garantiert Einspruch erhoben, wären er mit der Arbeit des Kollegen nicht einverstanden gewesen. Es dürfte sich um die einzige Einspielung in deutscher Sprache handeln. Eine andere habe ich nicht gefunden.

Mich hatte bisher noch keine Interpretation durch einen Sänger, der auch auf Tonträgern nachzuhören ist, vollumfänglich überzeugt. Nicht einmal Nicolai Gedda, der in seiner Zeit ähnlich hohe Maßstäbe für Berlioz gesetzt hatte wie jetzt Spyres. Erst zweiundvierzig Jahre alt, ist der amerikanische Tenor als Énée, Benvenuto Cellini, Faust und Récitant in L’enfance du Christ im Musikbetrieb und auf CD fest etabliert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er sich den Liedern zuwenden würde. Nun ist es soweit. Seine Umtriebigkeit und sängerische Unerschrockenheit, die auch vor Wagners Tristan keinen Halt machte, ist bemerkenswert. Es besteht immerhin die Gefahr, dass die Stimme auf Dauer nicht mithält, was sehr schade wäre. Und dennoch scheint sich sein Repertoire, zu dem auch Händel und Mozart gehören, in der Summe in seiner Interpretation der Lieder niederzuschlagen. Er singt als Wissender. Mit sicherem Instinkt trifft er genau das, was Berlioz in seiner Zerrissenheit und Depression, in seinem Ungestüm ist. Hinter betörender, in Duft gehüllter Melancholie lauern Gefahren. Besonders in Au cimetière, jener Spukszene auf dem Friedhof mit ihrem Grabgesang, schöpft er die dissonante Vielfalt der Stilmittel von Berlioz bis zum Gehtnichtmehr aus. Dass ihn dabei der Dirigent, ein ausgewiesener Berlioz-Kenner, sicher durch Klippen führt und immer wieder aufs Neue inspiriert, steht außer Frage. Als künstlerische Partner haben sie sich gesucht und gefunden.

Gekoppelt sind Les nuits d’été auf der neuen CD, die im Oktober 2021 in Strasbourg aufgenommen wurde und die Nelsons vielgelobte Beschäftigung mit Berlioz in Strasbourg fortführt mit Harold en Italie (Joyce DiDonato sang dort nach den Troyens dto. mit Spyres ebenfalls die Nuits d´eté im Konzert). Beide Werke passen vorzüglich zusammen, weil auch in der Sinfonie ähnliche poetische Stimmungen aufkommen wie in den Liedern. Viola-Solist ist der Brite Timothy Ridout. Aufgenommen wurde im Oktober 2021 in Strasbourg. Rüdiger Winter

Lohnend

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Mit Ersteinspielungen, die von einem informationsreichen Booklet in Italienisch und Englisch begleitet werden, tut sich das Genueser Label Dynamic hervor, das sich nun zwei Komponisten aus der Zeit zwischen den Weltkriegen gewidmet hat, als in Rom ein besonders intensives Musikleben blühte. Es handelt sich um das Musikerehepaar Giovanni und Iditta Salviucci, wobei die Gattin nach italienischer Art ihren Mädchennamen Parpagliolo beibehielt. Sie stammt aus dem Umkreis von Ottorino Respighi, dessen Ehefrau Elsa ihre Lehrerin war und der sie die auf der CD veröffentlichten Tre canti d’amore widmete. Nach der Eheschließung mit Giovanni Salviucci bekam sie innerhalb von drei Jahren ebenso viele Kinder, denen sie sich dann neben einer Lehrtätigkeit ausschließlich widmete, auch weil ihr Gatte bereits im Alter von 30 Jahren verstarb. Das erklärt auch, dass die Lieder und die Kammersinfonie Giovannis für 17 Instrumente eigentlich Jugendwerke sind, die aber bereits eine frühe Meisterschaft verraten.

Es beginnt mit Idittas Lied Fides, das von den Träumen eines Kindes handelt, dem eine goldene Zypresse in einem Wald aus goldenen Bäumen vorgegaukelt wird, während in seinem eigenen Garten eine dunkel Zypresse bitterlich weint. Die vor allem als Spezialistin für Kammermusik und im Chor des Zürcher Opernhauses singende Sopranistin Selena Colombera, begleitet von Guido Salvetti,  hat dafür eine quellfrische, kristallklar klingende Stimme, die sie künstlich naiv erscheinen, nur auf „piange alla bufera“ dumpf klingen lässt. Wie Edelsteine funkelt sie, wenn in Canzone popolare eben diese besungen werden, während leichte Schärfen in La buona parola, eine Verkündigung, in die agogikreiche Ansprache des Engels eingebaut werden. Die Regentröpfchen im Märzregen werden fein plätschernd charakterisiert, klingen frisch und silbrig, während sich inDelusione d‘ infinita tristezza“ sich trüb vom Rest der Canzone abhebt. Einen schwebenden Klang , der in einen schmerzlichen Aufschrei  auf „Egli è partito“ übergeht, verleiht die Sängerin La partenza. Ein naives Plappern kennzeichnet schließlich das letzte Lied der Komponistin und die Wiedergabe durch den Sopran.

Wie die seiner Frau sind auch die Tracks, die Giovanni Salviucci zugeschrieben werden, Ersteinspielungen, aber von ihm gibt es auch eine ganze Reihe bereits veröffentlichter Orchesterwerke, von denen allerdings das auf der vorliegenden CD eine Ausnahme bildet. Es handelt sich um eine Kammer-Sinfonie, in der jedes der 17 Instrumente nur einfach, also quasi als Solist, eingesetzt wird. Hier wie bei den Liedern wird deutlich, wie sehr Salviucci gleichzeitig der klassischen italienischen Polyphonie wie zeitgenössischen europäischen Tendenzen zugetan war. Das Orchestra della Svizzera Italiana unter Tito Ceccherini nimmt sich des Werks, das wie eine klassische viersätzige Sinfonie aufgebaut ist, an und lässt ein ausgesprochen frisches, eingängiges Musikstück vernehmen.

Davor singt Selena Colombera Lieder des Komponisten, so den Zyklus Quattro Liriche auf Texte von Floridi, beginnend mit Oh lagrima mit schillernden Soprantönen, einem schönen Jubelton auf „È primavera“, einem zärtlich verklingenden „ultimo fiore“ im gleichnamigen Lied. Ebenfalls vom noch nicht Zwanzigjährigen stammen die Tre liriche mit einem raffinierten chiaro-scuro in Domani vado via, einem „lontana“, in dem sich die Unendlichkeit aufzutun scheint (Tu sei lontana) und einem fein vom Klavier umspielten Ultima Rosa. Es lohnt sich, die beiden Komponisten zu entdecken (Dynamic CDS7966 mit interessanten Infos im Booklet). Ingrid Wanja         

Gelebte Mosaiken

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Ein gewaltiger Band von weit über 600 Seiten, der dem Rezensenten Achtung abnötigt, aber auch etwas Angst einjagt ist Dieter David Scholz‘ Der ganze Wagner- Ein Mosaik mit dem Untertitel Gesammeltes aus 30 Jahren: Rezensionen, Vorträge, Essays, Kommentare, Nachrufe & mehr. Muss man das alles lesen, um sich ein Urteil erlauben zu dürfen? Ich glaube nicht und habe mich auf drei Kapitel beschränkt, auf Das heutige Bayreuth, Wagneraufführungen & mehr und Wagneraufführungspraxis, hoffe, dass sie exemplarisch für das Ganze sind, und habe mir vorgenommen, peu à peu auch die anderen Kapitel rein zum Vergnügen zu lesen, denn das dürfte garantiert sein.  Außerdem habe ich mir aus dem Namensregister einen Namen herausgesucht und habe ihn in unterschiedlichen Kapiteln des Buches aufgesucht. Es handelt sich um Christian Thielemann, gleichermaßen mit Wagner wie mit Bayreuth verbunden.

Dessen Wagnerbuch würdigt Scholz eines reinen Verrisses, nennt es „eine der überflüssigsten Wagner-Biographien überhaupt“. Auch als Dirigent findet Thielemann kaum Gnade vor des Autors Ohren, da „er kräftig auf die Pauke haut“ (Rienzi), und Publikumszuspruch ist der „von seinen Fans“. Anlässlich des Bayreuther Tristan mit Isoldenwechsel will sich der Autor „nicht an Spekulationen beteiligen“, teilt dem Leser jedoch trotzdem mit, was gemunkelt wurde. Dem Ring von 2013 stellt er den Petrenkos gegenüber, der „erfreulicherweise alles deutschtümelnd Weihevolle“ vermied, was indirekt ein Verriss von Thielemanns sein dürfte. Ganz schlecht kommt die Ring-Aufnahme weg, die schon in der Überschrift als „Ein Exempel an Langsamkeit und schlechter Aufnahmetechnik, zudem musikalisch fragwürdig“ abgekanzelt wird. Nicht nur zu anderen Dirigenten, sondern zum Meister selbst wird der Berliner Dirigent als unwürdiger Kontrast hingestellt mit dem Hinweis auf dessen Aussprüche „langweilige Kerle“ und „Stimmung ist gar nichts!“

Nun ist das Buch keineswegs ein Pamphlet gegen ungeliebte Dirigenten, rein zufällig stieß die Rezensentin auf dieses Thema, das nur einen vergleichsweise beschränkten Platz einnimmt.

An erster Stelle von Das heutige Bayreuth steht eine Rezension von Brigitte Hamanns Die Familie Wagner, ein Buch, dass die uneingeschränkte Zustimmung von Scholz erfährt mit einem „keine hat es besser besprochen als Brigitte Hamann“. Das wird ausführlich und nachvollziehbar begründet, und die Rolle von Winifred, die nach dem Krieg Hausverbot in Bayreuth hatte, wird durch Buch wie Rezension mit einem „Hitler wird erst durch Bayreuth gesellschaftsfähig“ zutreffend eingeschätzt. Die Wagner-Gattin  allerdings, und nicht nur an dieser Stelle, sondern wiederholt als „Steigbügelhalter Hitlers“ zu bezeichnen, ist übertrieben, dieses Attribut dürfte Franz von Papen zukommen. Gut nachvollziehen kann man die Einschätzung von Oswald Georg Bauers Dokumentation über Wolfgang Wagner als „Steinbruch“ für spätere und kritischere  Forschungen, ein Rundfunkbeitrag über Gudrun Wagner lässt diese durch die vielen Zitate zur Selbstcharakterisierung wieder lebendig werden.

Immer wieder löst der Autor Bewunderung für sein Wissen, aber auch seine Bereitschaft zu urteilen aus, so im Beitrag Wagners Erben, in dem es um die Verhinderung von Nike Wagner  /Mortier zugunsten der beiden Töchter Wolfgang Wagners geht. Man bemerkt seine Leidenschaft für Wagners Musik in dem Verteidigungskampf gegen Modernisierungsmätzchen, wie sie Katharina ins Feld führt, um an die Macht zu kommen. Andererseits ist er zu einer nüchternen Würdigung des Werkstattgedankens bereit und in seinem Urteil ausgewogen. Und man weiß zu schätzen, dass er stets Rücksicht darauf nimmt, für welches Medium er gerade schreibt oder spricht.

Von Nike Wagner stammt der Vergleich der Wagners mit den Atriden, bei denen jeder jedem nach dem Leben trachtete, und der wird von Scholz gern zitiert, so auch im Kapitel über Eva Wagners Rückzug aus Bayreuth nach angeblichem oder tatsächlichem Hausverbot. Und wieder scheint Thielemann um die Ecke zu linsen.

Sehr interessant sind die Beiträge, die unter dem Thema Wagneraufführungspraxis zusammengefasst sind, insbesondere der über Toscanini, von dem man nicht gedacht hätte, dass er mit einem „größter Komponist des Jahrhunderts“ für Wagner den Italiener Verdi auf den zweiten Platz verwies. Nachdenklich wird man, wenn man liest, dass die in die USA emigrierte Friedelind Wagner behauptete, ihr Großvater hätte sicherlich Hitler abgelehnt und wäre auch aus Deutschland geflohen wie sie. Da muss man doch mehr als einmal schlucken und ist Scholz dankbar dafür, so Interessantes zu vermitteln.

Aus dem Block Wagneraufführungspraxis interessieren sicherlich besonders die Gespräche mit zwei Wagnerdirigenten, mit Hartmut Haenchen und mit Peter Schneider. Es ist bewundernswert, was der Autor den beiden Dirigenten entlocken kann, sei es ein „vorurteilsbelastet“ für die Meistersinger oder die Unterschiede zwischen der Münchner und der Bayreuther Partitur der Walküre. Und wer ahnte schon, dass der Walkürenritt verfälscht wird, wenn nicht die kurze erste, sondern die zweite Note betont wird.

Man kann sicher sein, dass auch die anderen Kapitel, so über CDs und DVDs, über Wagnerorte, über Wagner in Politik und Gesellschaft und vieles mehr so anregend und wissensbereichernd sind wie die hier besprochenen und sollte dieses Buch als großen Schatz betrachten. Natürlich gehören auch eine Bibliographie und ein Personenregister dazu. (Dieter David Scholz: Der ganze Wagner – Ein Mosaik; Königshausen & Neumann Würzburg 2022; ISBN 978 3 8260 7671 8). Ingrid Wanja

Schleicht spielende Wellen

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In seiner Collection Chateau de Versailles bringt das französische Label CHATEAU DE VERSAILLES Vivaldis Serenata La Senna Festeggiante heraus, die im Februar 2021 in der Opéra Royal de Versailles eingespielt wurde (CVS064). Mit Diego Fasolis steht ein Spezialist für den italienischen Barock am Pult des Orchestre de l’Opéra Royal, der die Musik in ihrem heiter-festlichen Charakter mit Verve und Esprit serviert. Die Serenata wird von einer dreisätzigen Sinfonia im klassischen Muster Allegro/Andante/Allegro eröffnet und der Dirigent kann schon hier Gespür für den Rhythmus und das Idiom der Musik einbringen. Gleiches gilt für die Sinfonia mit der Satzfolge Adagio/Presto/Allegro, welche die Deuxième Partie einleitet.

Der Uraufführungsort des Werkes ist nicht erwiesen, ganz sicher entstand es im Auftrag des französischen Botschafters in Venedig, der Vivaldi zum Hauskomponisten des Institutes erwählt hatte. Und so könnte die Komposition jene „bellissima serenata“ gewesen sein, die laut Chronik am 2. September 1724 oder am 25. August 1726 in der Botschaft aufgeführt wurde. Aber auch Rom wäre möglich, wo Vivaldi 1724 am Teatro Capranica seinen Tigrane und den Giustino inszeniert hatte. In beiden Opern gibt es Passagen, die auch in der Partitur der Serenata zu finden sind.

Die Sängerbesetzung besteht aus einem Sopran als L’Età dell’oro, einem Mezzo als La Virtù und einem Bass als La Senna. Letztere Partie ist eine Allegorie auf die Seine in Paris und deshalb die kraftvollste des Werkes. Es ist ein Glücksfall, dass dafür der renommierte italienische Bassist Luigi De Donato zur Verfügung stand – ein Spezialist im Barockfach und Besitzer einer herrlichen Stimme. Sein Auftritt, „Qui nel profondo“, ist von energischem Zuschnitt und der Sänger kann hier gebührend auftrumpfen und die Pracht seine Stimme imponierend ausstellen. Auch das stürmische Air „L’alta lor“ am Ende der Première Partie profitiert von der Vehemenz des Vortrages. Im Kontrast dazu steht getragene „Pietà, dolcezza“ zu Beginn der Deuxième Partie, in welchem er die Töne feierlich zelebriert und wie Samt ausbreitet.

Mit dem Air „Se qui pace“ fällt dem Sopran das erste Solo des Werkes zu, ein munteres Gleichnis über die Nachtigall und entsprechend virtuos jubilierend. Gwendoline Blondeel mit heller, klarer Stimme erfüllt diesen Anspruch perfekt. Das Air „Giace languente“ in der Deuxième Partie ist von ernster Empfindsamkeit und wird von der Interpretin gleichfalls eindrücklich vorgetragen. Mit „Non mai più“ gehört ihr auch der letzte solistische Beitrag als heiterer Abgesang. Der Mezzo folgt mit dem wiegenden „In quest’onde“  – Lucile Richardot mit ihrer androgyn-strengen Stimme bringt wie stets einen ganz besonderen Reiz in die Sängerriege ein.„Vaga perla“ und „Così sol nell’aurora“ zeigen ihr Vermögen, Koloraturläufe bravourös zu absolvieren. Sopran und Mezzo vereinen sich im tänzerischen Air „Godrem fra noi la pace“ auf das Schönste trotz der unterschiedlichen Eigenheiten beider Stimmen. Auch das Duo „Io qui provo“ in der Deuxième Partie lässt sie in harmonischer Verblendung erklingen (09. 01. 23). Bernd Hoppe

Matteo Beltrami

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Der italienische Dirigent Matteo Beltrami gilt als Experte fürs italienische Fach und hat sich in Deutschland in den letzten Jahren mit Opern Verdis, Puccinis, Bellinis, Donizettis oder Rossinis unter anderem an der Staatsoper Hamburg, der Deutschen Oper Berlin, der Dresdner Semperoper, dem Aalto-Theater Essen und der Staatsoper Hannover etabliert. Zur Zeit leitet er eine Neuproduktion von „La Cenerentola“ an der Oper Köln und teilt mit den Lesern von Opera Lounge spannende Gedanken über Rossinis dramma giocoso. Im Interview mit Christian Glace spricht er außerdem unter anderem über seine Anfänge, seine zukünftigen Projekte, wie er sich einem Werk nähert, seine Zeit als künstlerischer Leiter des Luglio Musicale Trapani und warum Verdi die Liebe seines Lebens ist.

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Wie und wann wurde Ihre Leidenschaft für Musik geboren? Mein Vater wurde kurz nachdem er geheiratet hat zweiter Posaunist am Teatro Comunale in Genua und zog mit meiner Mutter aus Bergamo dorthin. In dieser Stadt hatten sie keine Verwandten, also nahm er mich als Kind immer mit ins Theater. Das Politeama Margherita war riesig… So kam es mir jedenfalls als Kind vor. Garderoben, die jeden Monat mit anderen Kostümen, Perücken und Gegenständen aus allen erdenklichen Epochen gefüllt waren… Schutzschilde, Schwerter, Gewehre, Hüte, Bäume, Kutschen… Kurzum, ein riesiger Vergnügungspark nur für mich! Und dann all diese Musikinstrumente, die in den Garderoben so unterschiedlich aussahen. Die verschiedene Sprachen zu sprechen schienen und die sich dann auf der Bühne wie von Zauberhand in perfekter Harmonie miteinander unterhielten… Es gab keinen „Urknall“ für meine Leidenschaft, es war einfach so, dass ich seit ich ein Baby war nicht nur Luft, sondern auch Musik geatmet habe!

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Warum haben Sie sich dazu entschieden, Dirigent zu werden, statt sich einem Instrument zu widmen? Ich begann im Alter von sechs Jahren Geige zu lernen und machte meinen Abschluss am Konservatorium von Genua. Eines der Pflichtfächer war Orchesterpraxis und ich hatte die Stelle des Assistenten für die zweiten Violinen inne. Nachdem dem Lehrer Maestro Gilberto Serembe von meinem Traum, Dirigieren zu studieren erzählte, unterbrach er eines Tages ohne Vorwarnung eine Probe und lud mich zum Dirigieren ein. Es war Beethovens achte Symphonie. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass mir das Geigenspielen in der Öffentlichkeit viel Stress bereitete, ich mich aber auf dem Podium sehr wohl fühlte. Ich nahm einige Stunden Unterricht bei Maestro Serembe. Mit 20 Jahren hatte ich die erste Gelegenheit, eine Oper zu dirigieren, und ab dem folgenden Tag hängte ich meine Geige an die Wand. Ich habe sie nie wieder in meinem Leben angerührt und habe diese radikale Entscheidung nie bereut.

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Welche Erinnerungen haben Sie an ihre erste Vorstellung? Das war Verdis Trovatore. Eines der schwierigsten Werke für einen Dirigenten. Weniger technisch gesehen, auch wenn es einige unvorhersehbare rhythmische Unterteilungen mit sich bringt. Sondern vielmehr was die künstlerischen Reife angeht, die dieses Werk erfordert, um eine kohärente Interpretation zu liefern. Ich habe also wirklich unbewusst gesündigt, als ich das Stück so jung dirigiert habe. Aber beim Dirigieren fühlte sich mein tiefstes Wesen so frei, Musik zu machen, dass ich keinen Zweifel daran hatte, dass dies mein Beruf sein würde.

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Matteo Beltrami/ Foto Teresa Rothwangl

Zu welchen Komponisten haben Sie die größte Affinität und warum? Obwohl die Figur des Dirigenten in der kollektiven Vorstellung eine sagenumwobene Aura umweht und ihr geradezu übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen werden, sieht die Realität ganz anders aus. Wir widmen einen großen Teil unserer Zeit, unserer Energie und unseres Willens dem Studium der Musik. Selbst wenn wir denken, dass wir uns ausruhen, verarbeiten unsere Gehirnzellen Klänge. Wir bauen mit den Komponisten, deren Musik wir aufführen, echte Beziehungen auf, die oft länger halten als jene, die wir privat führen. Und es sind nicht immer Liebesgeschichten! Wenn ich ein Werk dirigiere, ist es für mich von grundlegender Bedeutung, dass ich so stark davon angezogen werde, dass ein kreativer Prozess freigesetzt wird. Bei manchen Komponisten stellt sich dieses Gefühl nach langem Studium und einer tiefen Auseinandersetzung ein, bei anderen ist es vergleichbar mit einem Blitzeinschlag. Und dann gibt es da noch die große Liebe meines Lebens. Wie schon mehrfach gesagt, ist Giuseppe Verdi für mich ein Beweis für die Existenz Gottes. Sein Werk ist gekennzeichnet von Meilensteinen, von absoluten Meisterwerken, oft sehr unterschiedlich, denen experimentelle Werke folgen, die von großartigen Momenten gekennzeichnet sind, denen weniger gelungene folgen. Wenn man beispielsweise „Il corsaro“ studiert, versteht man, dass das Rigoletto‐Quartett keine glückliche Intuition ist, sondern ein Modell der Perfektion, die der Komponist dank verschiedener früherer Versuche erreicht hat. Deshalb war er ein großartiger Komponist, aber vor allem ein absolutes Genie darin, die Essenz eines Dramas einzufangen, indem er es auf einfache und lineare Weise synthetisiert. Seine Musik erforscht die menschliche Seele, wie es nur wenige andere konnten. Dabei öffnet sie kontinuierlich Türen, durch die Antworten auf die Fragen gesucht werden, die die Menschheit seit jeher beschäftigen. Und je mehr das Studium dieses Giganten vertieft wird, desto mehr steigt die Zahl der Fragen im Vergleich zu den Antworten. Das ist übrigens bei den meisten Genies so, die wie Verdi in die Geschichtsbücher eingegangen sind.

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Bisher haben Sie sich mehr dem Opernrepertoire als dem symphonischen Repertoire verschrieben. Gibt es dafür einen bestimmten Grund? Während meines Studiums habe ich mich immer mit beidem beschäftigt, aber hatte wahrscheinlich eine besondere Leichtigkeit im Lösen der Probleme, mit denen ein Dirigent beim Vorbereitung einer Oper konfrontiert wird. Und das öffnete mir sofort die Türen der Opernhäuser. Darüber hinaus sind sowohl ausländische Orchester als auch Sänger besonders bestrebt, ihre Interpretationen und ihren Stil im italienischen Opernrepertoire des 19. Jahrhunderts zu vertiefen. Vor allem wenn sie erkennen, dass sie es mit einem Dirigenten zu tun haben, der ihnen maßgeblich dabei helfen kann. Erst vor wenigen Tagen stellte mir eine Konzertmeisterin eine konkrete Frage zum „Auftakt“ der Anfangsakkorde vieler Musiknummern von italienischen Belcanto‐Werken.

Als italienischer Dirigent habe ich auch die Pflicht, mich um die richtige Aussprache und das Textverständnis ausländischer Sänger zu kümmern, die oft nur grob die Bedeutung der von ihnen gesungenen Phrasen kennen.

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Wie nähern Sie sich einem Werk, das Sie noch nie dirigiert haben? Wenn es ein im Voraus geplantes Debüt ist, studiere ich immer ein paar Seiten am Tag. Zuerst singe ich alles. Ich brauche das nicht nur, um ein Werk auswendig zu lernen, ich bekomme, indem ich im Laufe der Zeit Dutzende Male denselben Satz singe, eine genaue Vorstellung der musikalischen Intentionen, die ich dann während der Proben von den Interpreten möchte. Manchmal verweile ich bei einem ganzen Satz, oder auch nur bei einem Wort oder einer Silbe. Beispielsweise bei „Pensa che un popolo, vinto, straziato per te soltanto risorger può“ [aus dem dritten Akt von Aida interessiert mich der große melodische Bogen. Deshalb singe ich diese Phrase in einem einzigen Atemzug und stelle mir Verdis Akzent innerhalb eines großen Legatobogens vor. In La Cenerentola müssen die Stiefschwestern einen Akzent auf der Silbe „ve“ von „Ma poi non è un Venere“ singen und hier liegt meine Aufmerksamkeit geradezu chirurgisch auf diesem kleinen Detail.

Nach dem Erlernen der Gesangsstimme konzentriere ich mich auf die Orchestrierung und anders als man meinen könnte, ist da das Auswendiglernen nicht mein Hauptziel. Sicher kenne ich die Partitur, bevor ich auf die Bühne gehe wie meine Westentasche, aber was mich wirklich interessiert ist, das Orchester mit der Gesangsstimme in Beziehung zu setzen. Wann soll das Orchester den Gesang unterstützen? Wann und wie soll es mit ihm in Dialog treten? Wie kann ein bestimmter Moment geschaffen werden, in dem das, was man im Graben hört, in scharfem Kontrast zur Bühne steht? Oder wenn ein einzelnes Instrument die Stimmungen offenbart, die die Protagonisten so sehr zu verbergen versuchen, dass sie sich ihnen gegenüber sogar widersprüchlich verhalten?

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Matteo Beltrami/ Foto wie oben Teresa Rothwangl

Sie waren auch künstlerischer Leiter eines der dynamischsten Theater Italiens, des Luglio Musicale Trapani. Nach welchen Kriterien haben Sie dort den Spielplan gestaltet? Als künstlerischer Leiter habe ich mich als Manager ausprobiert. Die Rolle des Managers ist ein wesentlicher Bestandteil der Theaterwelt und ich habe versucht, anregende Programme anzubieten, teils innovativ, aber immer mit Respekt vor den kulturellen Wurzeln der Oper. Und natürlich musste ich immer darauf achten, Budgets und Budgetbeschränkungen zu respektieren. Ich habe auf ungewöhnlichen Bühnen spielen lassen (Konzerte am Meer bei Sonnenuntergang, Opern in halbszenischer Form in Klöstern, Konzerte in archäologischen Parks, umherziehende Flashmobs durch von Touristen überflutete Straßen der Stadt). Außerdem habe ich neben sehr gefragten Operntiteln Musik des 20. Jahrhunderts viel Raum gegeben und Uraufführungen zeitgenössischer Kompositionen auf die Bühne gebracht.

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In Köln leiten Sie eine Neuinszenierung von „La Cenerentola“. Wie viele Rossini-Opern haben Sie bereits dirigiert? Bevorzugen Sie die opere serie Rossinis oder die opere buffe? Ich ziehe das eine dem anderen nicht vor, aber ich finde, seine komischen Opern, oder noch besser, seine halbernsten (da sie je nach Werk in unterschiedlicher Dosis eine ernste Ader enthalten) sind den ernsten auf keinen Fall unterlegen.

Und das gilt nicht nur für Rossini. Ein Beweis dafür ist, dass sowohl die  Cenerentola, als auch der Barbiere und die Italiana, sowohl Donizettis Don Pasquale als auch Verdis Falstaff allgemein als absolute Meisterwerke gelten.

Für die Cenerentola etwa hatte ich schon immer eine besondere Vorliebe: Es ist ein Werk, das von einer Ader des Wahnsinns und einem manchmal surrealen Humor geprägt ist. Respektlos, inkohärent und erhaben, hat es seine Wurzeln in der Tradition der Commedia dell’arte, scheint aber zu einem gewissen „Absurden Theater“ des 20. Jahrhunderts zu tendieren. Die scheinbar stereotypen Charaktere der Oper (der geizige, mürrische und prahlerische Bassbuffo, die reife, gerechte und weise Protagonistin im Gegensatz zu den perfiden, stumpfen und egoistischen Stiefschwestern, der verliebte Tenor und der Handlanger- und Gaunerbariton) durchbrechen plötzlich die vierte Wand, verlassen quasi die Leinwand wie Tom Baxter in The Purple Rose of Cairo und nehmen ein Eigenleben in der realen Welt an. Rhythmus und Melodie kämpfen ständig miteinander und reißen die Charaktere in einen wirbelnden Tanz. Jeder, außer Angelina, die in all dem die Figur ist, die ein Schiff vor Anker hält, das sonst außer Kontrolle geraten würde. Unnachgiebig in ihren Überzeugungen, ist sie wie ein Samen, der geduldig auf den richtigen Moment wartet, um zu keimen. Auch aus gesanglicher Sicht wartet die Protagonistin mehr als zwei Stunden, bevor sie ihr Können zeigen kann. Aber wenn ihre Zeit kommt, ist es, als ob die Welt anhält und ihr zuhört. Deshalb ist das Erfinden neuer Koloraturen, Variationen und Kadenzen nicht nur eine philologische Praxis, sondern eine dramaturgische Notwendigkeit!

Welche Träume haben Sie? Gibt es ein bestimmtes Werk, das Sie noch nicht dirigiert haben, aber gern einmal leiten würden? Ich habe mehr als 50 Opern dirigiert und hatte so das Glück, schon viele Träume zu realisieren. Einen habe ich aber noch, und das ist, Verdis „Don Carlo“ zu dirigieren. Abgesehen davon, dass es sich um ein Meisterwerk handelt, das ich schon immer dirigieren wollte, war ich diesem Debüt zweimal schon so nahe und am Ende hat es leider nicht funktioniert, weil das Projekt dann doch nicht stattgefunden hat oder ich einfach nicht frei war.

Matteo Beltrami/ Foto Wikipedia

Was sind Ihre nächsten Verpflichtungen? Auf mich wartet ein richtig spannendes erstes Halbjahr 2023. Nach den erfolgreichen Vorstellungen im vergangenen Herbst kehre ich für Traviata nochmals nach Graz zurück. Mehr als drei Jahre nachdem ich das Stück das letzte Mal dirigiert habe, hatte ich bereits bei der Vorstellungsserie diesen Herbst das Glück, dieses Meisterwerk erneut mit einem Orchester zu erarbeiten, mit dem ich eine besondere Verbindung habe. Und das Ergebnis war eine jener Aufführungen, die mich Stolz machen. Anschließend habe ich das Vergnügen, mit La bohème an einem Theater zu arbeiten, an dem ich viele Freunde habe, in Palma de Mallorca. In Piacenza, wo ich mich jetzt auch dank der exquisiten Gastfreundschaft einer besonderen Frau, Cristina Ferrari, der dortigen Generalintendantin und künstlerische Leiterin des Theaters, zu Hause fühle, dirigiere ich Il trovatore und ein Konzert, das großartige Requiem in c-Moll von Cherubini. Schließlich kehre ich mit Lucia di Lammermoor zurück an die Deutsche Oper Berlin.

Anteilnahme und Akribie

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Ein Buch von 670 Seiten über ein Leben von 67 Jahren, da dürfte dem Leser, was Vita und Karriere von Rita Streich betrifft, nichts verborgen und vorenthalten bleiben. Die als Wiener Nachtigall gefeierte Koloratursopranistin hatte selbst vor, eine Autobiographie zu schreiben, und bereits den Titel dazu ausgewählt. Auch ich versteh‘ die feine Kunst sollte sie heißen, und so ist auch das Buch von Claudia Behn betitelt, obwohl Norina aus Donizettis Don Pasquale die Kunst der Verführung und nicht die das Operngesangs meint. Als Untertitel hat die Verfasserin Biographie über die Koloratursopranistin Rita Streich gewählt.

Das Buch ist zunächst einmal chronologisch aufgebaut, beginnend mit den Vorfahren, natürlich besonders die Eltern berücksichtigend, wobei die russische Herkunft der Mutter, die den deutschen Kriegsgefangenen am Ende des 1. Weltkriegs heiratete und für den sibirischen Geburtsort und damit die Fast-Zweisprachigkeit der Sängerin verantwortlich ist. Bereits hier fällt auf, dass den Orten, an denen Streich weilte und sei es nur wenige Monate als Baby, eine große Aufmerksamkeit und viel Platz im Buch eingeräumt wird. Das trifft dann nach dem russischen Geburtsort auch auf Essen und Jena zu, wo die Familie in Deutschland lebte, ehe Rita Streich 1952 in den Westen Deutschlands übersiedelte. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal ihres viel jüngeren Bruders, der aus politischen Gründen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und vom Westen freigekauft worden war. Weniger  dürfte sich der gemeine Leser für das Schicksal der vielen Lehrerinnen, die Streichs Kindheit und Jugend mit prägten, interessieren, es sei denn, es handelt sich um die Gesangslehrerinnen, zu denen Maria Ivogün, Erna Berger und Willi Domgraf Fassbaender gehörten. Ob wichtig oder nicht für die Karriere der Buchheldin, es wird akribisch über Eintragungen in Telefon- oder Adressbüchern berichtet und keine Kritik auch über kleinste Auftritte wird unterschlagen, da ist die Autorin genauso akribisch wie der Gegenstand ihrer Bemühungen. Man darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass das Buch eine „wissenschaftliche Biographie“ ist, aber auch noch die letzte Wurzen einschließlich ihrer Lebensdaten aufzuführen, ist zu viel des Guten für den Leser, der dadurch manchmal den Faden und das Interesse verliert. Da am Schluss jeden Kapitels noch einmal eine Auflistung aller am jeweils abgehandelten Ort wie Berlin oder Wien stattgefundenen Vorstellungen mit allen Einzelheiten existiert, wäre die doppelte Erwähnung überflüssig gewesen, so überflüssig wie die Nennung der Uhrzeiten, zu denen die Vorstellungen stattfanden.

Einige kleine Fehler haben sich übrigens auch eingeschlichen wie die Behauptung, Streich habe die Mignon gesungen, es war sicherlich die Philine, ein Hans Pick „sang“ nicht den Bassa, und auf den Berliner Straßen lagen auch nicht „die Toten und Verschütteten“, denn letztere waren unsichtbar in den Kellern der eingestürzten Häuser. Das Wenige, das auszusetzen ist, mindert kaum den Wert des Buches als schier unerschöpfliche Quelle nicht nur Rita Streich, sondern das gesamte Opernerleben ihrer Zeit betreffend.

Obwohl das wohl nicht die Zielsetzung des Buches ist, gewährt es einen umfassenden Einblick in die Art des Kritikschreibens, das vor einem „leise gerafften Spiel“ nicht zurückschreckt, seltsam betulich wirkt, aber auch mehr Fachkenntnis vermuten lässt als manche heutige Kritik.

Die Königin der Nacht und Zerbinetta sind die Rollen, die Rita Streichs Ruhm begründeten, die aber auch ständig die von manchen Kritikern genährte Angst aufflackern ließen, das Volumen der Stimme könne ihnen nicht genügen.

Neben den Kritiken ist der Briefwechsel mit vielen Zeitgenossen die Quelle, aus der die Verfasserin schöpft. Dazu kommen Auszüge aus den Memoiren anderer Künstler, so wird Tiana Lemnitz mehrfach und ausführlich zitiert. Am unverfälschtesten wohl charakterisiert Christa Ludwig die Soprankollegin.

Rita Streichs Wirken an allen drei Berliner Opernhäusern, in Wien, Salzburg, in den USA, Australien, Japan und in allen musikalischen Gattungen wird akribisch aufgeführt, so von den Liederabenden alle Nummern mitsamt der Opus-Angaben. Gastspielreisen, Einsingen, Lampenfieber, Klavierbegleiter und die beiden ganz Großen unter den Dirigenten, Furtwängler und Karajan sind Thema, leider zu den beiden Letzteren von der Sängerin nichts Erhellendes überliefert. Interessant sind die Ausführungen über die Uraufführung von Heino Erbses „Julietta“ nach Kleists Die Marquise von O. und der Briefwechsel zwischen Komponist und Sängerin während der Entstehung des Werks.

Hin und wieder wird zu auch die  Streich betreffenden Themen zitiert von Zeitgenossen, die nicht unmittelbar etwas mit ihr zu tun hatten. Aber gerade die Ratschläge, die zum Beispiel Gustav Mahler der Sängerin Anna Bahr-Mildenberg gab, hätten auch Rita Streich als Wegweiser dienen können. Deren Charakter scheint ein sehr schillernder gewesen zu sein zwischen Großzügigkeit und Kleinlichkeit schwankend, zwischen Zickigkeit, so gegenüber einigen Begleitern am Klavier, und überbordender Freundlichkeit, zwischen Starallüren und großer Unsicherheit, so wenn sie in einer hübschen Studentin, die zum Umblättern bei einem Liederabend engagiert worden war, eine Rivalin vermutete und deren Entfernung  durchsetzte. Auch als Mutter scheint sie nicht glücklich gewesen zu sein, sondern sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ihren Sohn ins Internat abgeschoben zu haben.

Ein umfangreicher kritischer Apparat und ein vielseitiger Anhang von Repertoire-Verzeichnis, Aufnahmeverzeichnis, Literatur- und Quellenverzeichnis, Abbildungsverzeichnis und –nachweis und Personenverzeichnis vervollständigt das Buch.

Rita Streichs Nachlass, der an die Folkwang Uni Essen, wo sie u.a. lehrte, übergeben worden war, gilt nach einem Brand als verschollen. Das Buch von Claudia Behn könnte eine Entschädigung und ein würdiges Denkmal sein (671 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann 2022; ISBN 978 3 8260 7615 2). Ingrid Wanja