Archiv für den Monat: Januar 2020

Nadezda Kniplová

 

Sie war eine echte Hochdramatische. Ihr standen unerschöpfliche stimmliche Reserven zur Verfügung. Und sie besaß eine stählerne Höhe. Die Partien des Fachs machten ihr nicht die geringste Mühe. Wenn da nicht die Sprache gewesen wäre, die deutsche Sprache! Die nämlich stand der am 18. April 1932 in Ostrava geborenen tschechischen Sängerin Nadezda Kniplová oft im Wege. Vor allem dann, wenn sie Wagner sang. Und der stand nun einmal im Mittelpunkt ihres Wirkens. Bereits als Ortrud hatte sie nach gründlicher Ausbildung am Prager Konservatorium und etlichen anderen Stationen am Nationaltheater der Stadt debütiert.

Prag erwies sich als Sprungbrett in internationalen Musikzentren. Für die letzte von drei Vorstellungen der Walküre, mit der 1967 die Salzburger Osterfestspiele ins Leben gerufen wurden, holte Herbert von Karajan die Kniplová als Brünnhilde. Bei der Reprise im folgenden Jahr war sie auch dabei. 1968 ging sie als Brünnhilde zudem ins Studio. Hans Swarovsky nahm den kompletten Ring des Nibelungen auf. Das Orchester setzte sich aus Mitgliedern der Tschechischen Philharmonie und des Orchesters des Prager Nationaltheaters zusammen. Zuletzt war dieser Ring bei Hänssler neu herausgegeben worden. Sammler schätzen die Klarheit und technische Prägnanz, mit der die Stimmen eingefangen wurden. Im Falle der Kniplová und auch des Siegfrieds von Gerald McKee treten dadurch die in der sprachlichen Gestaltung liegenden stimmlichen Defizite umso deutlicher hervor. Den zweiten Ring mit Nadezda Kniplová als Brünnhilde nahm Wolfgang Sawallisch ebenfalls 1968 bei der RAI in Rom auf. Er wurde von Myto veröffentlicht. Ihr messerscharfes, unliebenswürdiges Timbre war Geschmackssache. Man hörte sie immer heraus.

Berühmt wurde die Sopranistin aber auch durch Partien in ihrer Muttersprache. Im vom Charles Mackerras dirigierten Zyklus von Janácek-Opern bei der Decca ist sie die Kabanicha in der Katja Kabanova. Bei der EMI und bei Supraphon entstanden im Abstand von zehn Jahren, nämlich 1968 und 1978, weitere Einspielungen der Jenufa. Beide Male singt sie die Kostelnicka. Prominent besetzt ist sie bei Einspielungen der Smetana-Opern Dalibor (Milada) und Libuse (Titelrolle) in Prag. Im Katalog von Supraphon finden sich zudem das War Requiem von Britten und einige Solo-Recitals mit den Wesendonck-Liedern und dem separat eingespieltem Schlussgesang der Brünnhilde aus der Götterdämmerung. Am 14. Januar 2020 starb Nadezda Kniplová, die nach ihrem Bühnenabschied als Gesangspädagogin wirkte, im Alter von 87 Jahren in ihrer Geburtsstadt. R.W.

Von Heiligen und Nonnen

 

Es war ein großer Tag für Piacenza. Zu Ehren der vor 800 Jahren verstorbenen Heiligen Franca da Vitalta gelangte im Frühjahr 2018 im Kloster Benedettino di San Raimondo, wo sie bestattet wurde, das vierteilige Oratorium zur Uraufführung, das die Geschichte der Benediktiner-Nonne erzählt, die als Kind in das Kloster San Siro eintrat und mit 24 Jahren Äbtissin von San Sisto wurde. Das Werk, das ein Stück immer noch lebendiger Stadtgeschichte präsentiert, wurde anschließend in der Renaissance-Kirche San Sisto aufgenommen (Tactus TC 991601), für deren Hochaltar übrigens Raffael seine in Dresden hängende Sixtinische Madonna malte. Mit ihrer Anhängerin Carenzia Visconti führte Franca im Zisterzienserkloster von Rapallo ein von absoluter Strenge geprägtes religiöses Leben und begründete mit der finanziellen Unterstützung der Visconti als dessen erste Äbtissin das Kloster in Montelana, dessen Gemeinde sich schließlich bei Pittolo niederließ, wo sie bald darauf starb. 1273 wurde sie heiliggesprochen. Francas Glaubenskämpfe und Ringen mit den Schwestern und ihr heute noch im religiösen Leben von Piacenza gegenwärtiger Kultus bildete der 25jährige in Piacenza geborene und als Organist und Komponist tätige Federico Perotti auf mehreren Zeitebenen ab: Francas Lebenszeit in den Dialogen zwischen Franca, Carenzia und Binia – die Sopranistinnen Carlotta Colombo und Anna Piroli und die Mezzosopranistin Cristina Calzolari – die im 17. Jahrhundert einsetzende biografische Beschäftigung mit der Heiligen, in der der Bassbariton Renato Cadel die Rolle des Historikers Pier Maria Campi einnimmt, und letztlich außerhalb der eigentlichen Handlungsstränge der vom Chor, Coro Vox Silva, illustrierte Fluss der Zeit. Ebenso geschickt mischt der junge Komponist im Sinn seines Lehrers Salvatore Sciarrino die musikalischen Stile und Ebenen von gregorianischen und Renaissance-Mustern und direkten Zitaten, die er in ein Netzt meditativer Passagen mit Anklängen bis an die Minimalmusic einbindet, und die neben folkloristischen und volkstümlichen Weisen Perottis Werk eine Stimmigkeit verleihen, die sicherlich bei den Aufführungen in Piacenza zwingender ausfiel als auf der von ihm geleiteten CD, wo das Oratorium etwas sperrig wirkt.

 

Santa Franca da Vilalta/ Mosteiro de Arouca/ Wikidata

Eine andere Nonne stellt uns die aus Südossetien stammende Sopranistin Veronika Dzhioeva auf Ritorna Vincitor! (Delos DE 3575) vor. Angelicas „Senza mamma“ gehört zu den Höhenpunkten dieser Auswahl, die von Verdi (Lady, Amelia, Aida, beide Leonoren) über Puccini (Tosca, Butterfly) bis zur Adriana Lecouvreur und Maddalena reicht, da sie die zu Herzen gehende Verzweiflung der Nonne mit emotionaler Kraft und schönen Schattierungen, mit einer zarten, aber dennoch kraftvollen Stimme umsetzt. Ansonsten wirkt diese von Constantin Orbelian mit dem Kaunas City Symphony Orchestra wie stets animierend und sängerfreundlich begleitete Folge von Arien als das, was sie sein soll, eine Visitenkarte, auf der die einzelnen Arien noch nicht sauber aufpoliert und ausgedeutet sind, manches sehr vielversprechend angedeutet wird, es ihrer Tosca einfach an Temperament fehlt. Hart ist der Wechsel von der Lady zur Adriana, erste ein recht pauschaler Kraftakt, clean wie alles von Dzhioeva, die zweite in den Pianopassagen von großer Klangfülle und dabei beherrschter Sensibilität. Von den Verdi-Ausschnitten überzeugen am meisten die Amelia und vor allem die Aida, die sie in Nowosibirsk und Helsinki gesungen hat und demnächst in Kiel und Zürich vorstellen wird; mit Erstaunen sieht man auf Operabase, dass sie 2014 in Hamburg auch Violetta gesungen hat – ihre Jaroslawa 2012 ebenfalls in Hamburg dürfte einer der ersten Auftritte im Westen gewesen sein – , was die leichte und gute Höhe in „Tacea la notte“ erklärt.

 

Auch in Hamburg war ab den 1990er Jahren die chinesische Mezzosopranistin Ning Liang als Rosina, Dorabella oder Maddalena zu hören. Liang ist eine nicht unrenommierte Sängerin, deren Verpflichtungen vom Octavian 1993 an der Met bis zu La Cieca im Frühjahr 2019 in Brüssel reichen. Liang Ning sings operatic Arias by Mozart and Gounod and chinese classics (Marco Polo 8.225825) zeigt diese Spannweite nicht, stammt von 1984 aus Peking, wirkt wie der Abschlussabend einer Hochschulabsolventin und wurde tatsächlich in der „Hall of the Central Conservatory“, immerhin mit dem Orchestra of the Central Opera (unter Zheng Xiaoying), aufgenommen. Liang singt Sextus und Vitellia, Gounods Stéphano und Siébel; die sechs chinesischen Volkslieder dürften für Freunde chinesischer Musik den Repertoirewert dieser CD heben.

 

Musikalischer Ortswechsel: An American Song Book legt Melody Moore vor. Darin finden sich im Unterschied zu den im Great American Songbook versammelten ewigen Songs der amerikanischen Unterhaltungsmusik 31 Lieder der Klassiker Samuel Barber, Carlisle Floyd, Aaron Copland und Gordon Getty. Im Beiheft der wie immer bei Pentatone gut ausgestatteten CD (PTC 5186770) werden Stimmen zitiert, die die amerikanische Sopranistin mit Tebaldi und Tucci vergleichen, wird ebenfalls erwähnt, dass ihre Karriere einen Sprung machte, als sie 2012 in Los Angeles nach dem ersten Akt für Gheorghiu als Tosca einsprang. Bereits seit der Jahrtausendwende konzentriert sich Moores Karriere auf Süd- und Nordamerika, wo sie von Marguerite bis demnächst Elektra ein weites Fach bewältigt. Moore zeigt sich durchgehend als kluge und sorgfältige Interpretin dieser Lieder und Zyklen, deren Texte sie klar, präzise und mit intellektueller Schärfe und einem in allen Lagen präsenten, natürlich anspringenden, nicht unbedingt individuellem Sopran und intensiver Höhe zum Klingen bringt, seien es die einst von Leontyne Price 1953 uraufgeführten Hermit Songs von Barber, Floyds fünf von Phyllis Curtin kreierte Lieder The Mystery von 1959, die erst posthum veröffentlichten impressionistisch-spätromantischen gefärbten Four Early Songs von Copland oder der erst jüngst, 2018, uraufgeführten Zyklus These Strangers von Jake Heggie mit Gedichten von Emily Dickinson, Walt Whitman und Martin Niemöller („Als die Kommunisten holten“, hier als „I did not speak out“). Pentatone pflegt intensiv den 1933 geborenen Gordon Getty. Mit ihrer patenten Professionalität und der kompetenten Begleitung von Bradley Moore bringt Moore u.a. eine Arie aus Gettys Oper Goodbye, Mr. Chips sowie mehrere Lieder, darunter stimmungsvolle Arrangements von „Deep River“ und dem bittersüßen „Danny Boy“, zur Wirkung.  Rolf Fath

 

Bewegend (und auch von Nonnen gelegentlich gesungen)  ist das Requiem op. 9 von Maurice Duruflé (1902-1986), das in einer vorzüglichen Aufnahme durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati beim Label LINN erschienen ist. Wie in dem Requiem von Gabriel Fauré, das sich Duruflé zum Vorbild nahm, und dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms stehen weniger das Jüngste Gericht und die Schrecken der Hölle, sondern Trost und Hoffnung auf ewiges Leben im Vordergrund. Das Requiem hat eine etwas bizarre Entstehungsgeschichte: 1941 erhielt Duruflé von dem kollabierenden Vichy-Regime den Auftrag, ein Orchesterstück, eine sinfonische Dichtung, zu komponieren. Aus nicht mehr bekannten Gründen, möglicherweise zum Gedenken an die Unzahl von Toten des Weltkriegs, entschloss er sich jedoch, ein Requiem für Chor und Orchester zu schreiben, an dem er noch arbeitete, als die Vichy-Regierung 1944 zusammenbrach. Zu Allerheiligen 1947 wurde das Requiem in der Fassung für Mezzosopran- und Bariton-Soli, gemischten Chor, Orchester und Orgel uraufgeführt. Im Zentrum des Werks steht die Bitte Pie Jesu, die wie bei Fauré von einer solistischen Frauenstimme gesungen wird. Ursprünglich war wie im Deutschen Requiem von Brahms auch ein Solo-Bariton vorgesehen, doch hat Duruflé später geäußert, dass er einstimmigen Gesang des Chor-Basses für diese Passagen bevorzuge. So geschieht es auch bei der vorliegenden Aufnahme. Wunderbar ausgewogen zeigt sich der von Gijs Leenars einstudierte, ausgezeichnete Rundfunkchor Berlin, der in allen Teilen des Werks die ineinander verwobenen Melodiebögen im Stil der gregorianischen Themen (Duruflé) ausdrucksstark nachzeichnet. Das anrührende Pie Jesu gestaltet Magdalena Kozená mit angemessen ruhiger Führung ihres farbenreichen Mezzos. Insgesamt imponiert die souveräne Beherrschung der vielschichtigen Partitur durch das in allen Instrumentengruppen kompetente Symphonie-Orchester Berlin unter seinem Chefdirigenten Robin Ticciati, dem es in besonderer Weise gelingt, die vielfältige Farbigkeit des bedeutenden geistlichen Werks herauszuarbeiten. Das gilt in gleichem Maße für die dem Requiem vorangestellten, um 1900 entstandenen Nocturnes von Claude Debussy, die sich mit ihrem Rückgriff auf gregorianische Elemente und auch wegen der impressionistischen Vokalisen in Sirènes gut eignen, auf einer CD gemeinsam mit dem Requiem veröffentlicht zu werden (LINN CKD 623). Gerhard Eckels

Roussets neue Barockperle

 

Schier unüberschaubar ist die Anzahl der Einspielungen von Opern des französischen Barock mit dem Dirigenten Christophe Rousset und seinem Ensemble Les Talens Lyriques. Jetzt legt Aparté mit dieser Besetzung auf zwei CDs und mit einem informativ ausgestatteten Booklet (in Französisch und Englisch) eine im Juli 2019 in Paris entstandene Aufnahme von Lullys Tragédie en musique Isis vor (AP216).

Das Werk in einem Prolog und fünf Akten entstand nach Cadmus et Hermione, Alceste, Thésée und Atys als des Komponisten fünfte Tragédie in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Philippe Quinault und wurde 1677 im Château de Saint-Germain-en-Laye uraufgeführt. Einige Szenen von Lullys Komposition haben auch andere Tonsetzer beeinflusst, so der Chor der Bewohner der Eisregion im 4. Akt („L’hiver qui nous tormente“), welcher Purcell für seinen Chor der Cold People in King Arthur inspirierte, oder das Terzett der drei Parzen am Ende des 4. Aktes („Le fil de la vie“), das Rameau als Vorbild für die Furienszene in Hippolyte et Aricie diente.

Im Prologue versammeln sich die Götter Ruhm (La Renommée), Neptun und Apollo sowie die Musen, um Feierlichkeiten für König Louis XIV. vorzubereiten, welche von Frieden, Freude und Vergnügen handeln. Entsprechend heiter ist der musikalische Charakter zu Beginn. Mit der Ouverture sorgt Rousset für einen festlichen Einstieg mit gravitätischen Akkorden und der erste Chor wird von pompösen Bläserklängen begleitet. In den Préludes und Airs pour les muses sind aber auch filigrane Klanggeflechte von kammermusikalischer Delikatesse zu hören. Im 1. Akt, der mit einem getragenen Ritournelle beginnt, sieht man den unglücklichen Hierax (Aimery Lefèvre mit klangvollem Bariton), der glaubt, dass die ihm als Gattin versprochene Nymphe Io, Tochter des Flusses Inachus, ihn nicht mehr liebt. Ève-Maud Hubeaux, die im Juni 2019 im konzertanten Hamlet an der Deutschen Oper als Gertrude reüssiert hatte (und mit einem absolut ravissanten Abendkleid mit freiem Rücken sprachlos machte), singt sie mit energischer Tongebung und  substanzreichem Mezzo. Hierax’ Freund Pirante (Cyril Auvity mit feinem Tenor)  versucht ihn aufzumuntern, denn Göttin Juno sei auf seiner Seite. Io vertraut sich ihrer Vertrauten, der Nymphe Mycène (Bénedicte Tauran mit resoluter Strenge, später auch keifend als Junon), an, denn sie wurde vom Götterboten Mercure (charaktervoll-exaltiert: Fabien Hyon) informiert, dass Jupiter in sie verliebt sei. Dieser erscheint höchstpersönlich, um zu verkünden, dass er der Erde Segen und Frieden bringen wolle. Edwin Crossley-Mercer singt ihn mit gebührender Bass-Autorität, nachdem das Orchester seinen Auftritt mit einem majestätischen Marsch eingeleitet hatte.

Zu Beginn des 2. Aktes zeigt er sich Io in ganzer Pracht. Die Erde hat er in Wolken gehüllt, um sein Treffen mit ihr vor den Augen seiner eifersüchtigen Gattin Junon zu verbergen. Io teilt ihm mit, mit Hierax verlobt zu sein, und widersteht ihm. Iris, Götterbotin und Junons Vertraute (sinnlich: Ambroisine Bré), kommt mit dieser, während Jupiter Io folgt. Später bittet ihn Junon, ob sie eine Nymphe in ihren Hofstaat aufnehmen dürfe. Es ist Io, die von Hébé (Ambroisine Bré) und den Nymphen willkommen geheißen wird.

Im 3. Akt hat Junon Io, die der Göttin Eifersucht befürchtet, der Aufsicht von Argus (Philippe Estèphe mit sonorem Bassbariton) anvertraut, der selbst Hierax den Zutritt zu ihr verwehrt. Syrinx und Nymphen kommen mit dem als Schäfer verkleideten Mercure, der Argus verkündet, dass Pan (Edwin Crossley-Mercer) ein festliches Divertissement zu Ehren der Nymphe Syrinx (Ambroisine Bré) geben will. Pan erklärt dieser seine Liebe, doch sie zieht es vor, frei zu bleiben, und flieht vor ihm. Diese „Oper in der Oper“ mit einer Reihe von munteren Tänzen diente in Wahrheit dazu, Argus in den Schlaf zu wiegen und Io zu befreien. Hierax verhindert das, weckt Argus und beide rufen Junon um Hilfe an. Mercure tötet Argus mit seinem Zauberstab und  verwandelt Hierax in einen Raubvogel, der davon fliegt. Junon erscheint in ihrem Triumphwagen, erweckt Argus wieder zum Leben und verwandelt ihn in einen Pfau. Aus der Tiefe der Hölle beruft sie eine Furie, Io zu bestrafen.

Erstarrt in der Kälte, klagen die Menschen zu Beginn des 4. Aktes („L’hiver qui nous tormente“). Die Furie (Cyril Auvity) weidet sich an ihrem Leid, wandelt die Eiseskälte gar in Gluthitze. An Ambossen arbeiten Schmiede, inmitten der Flammen erscheint Io, versucht vergeblich, die Furie zu bewegen, erklimmt einen Felsen und stürzt sich in den See. Sie bittet die Parzen mit ihrem Gefolge – Krieg, Gewalt, Krankheit, Feuer, Flut –, die sich in einem stürmischen Chor vereinen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch diese verfügen, dass einzig Junon darüber entscheiden könne.

Io taucht aus dem See auf, bittet Jupiter um das Ende ihrer Qualen („Terminez mes tourments“ als schmerzliche Klage). Bewegt von ihrem Los, steigt er vom Himmel herab, muss ihr aber verkünden, dass er sich Junons Willen nicht widersetzen könne. Die Göttin erscheint und verlangt von Jupiter den Verzicht auf Io. Er stimmt ein und Junon sendet die Furie zurück in die Hölle. Io ist erlöst von ihren Prüfungen und wird unter dem Namen Isis in den Rang der Unsterblichen erhoben. Die Götter steigen herab und nehmen sie auf („Venez, divinité nouvelle“), während das Volk der Ägypter ihr einen Altar baut und sie als Göttin anerkennt. Mit zwei festlichen Airs pour les Égyptiens und dem feierlichen Chor „Isis est immortelle“ endet das Werk als eine weitere Perle in Roussets barocker Sammlung. Bernd Hoppe

Giorgio Merighi

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode des italienischen Tenors Giorgio Merighi, der namentlich in (West-)Berlin, Wien und München in den großen italienischen Partien seines Fachs zu hören war – sowohl in den tenore di grazia- wie auch den spinto-Rollen. Seine elegante Erscheinung der langen Beine und des schönen Profils wie auch sein engagiertes Spiel ließen ihn in seinen diversen Partien stets eine rollengerechte Präsenz finden. Vor allem als Puccinis Des Grieux habe ich ihn so in Erinnerung, die Höhe vielleicht eine Spur zu eng-nasal, aber im Ganzen kraftvoll, nie stentoral, reich an Farben und eben hochengagiert in seiner Rolle. Seine Auftritte gehörten wie die seiner Kollegen Tagliavini, Luchetti oder auch Cossutta zu den Highlights meiner italienischen Abende an der Deutschen Oper Berlin jener Jahre – was waren wir doch reich an Tenören damals. Nachstehend ein Auszug aus dem bewährten und unersetzbaren Kutsch-Riemens Großen Sängerlexikon. G. H.

 

Merighi, Giorgio, Tenor (* 20.2.1939 Denore bei Ferrara, + 12. Januar 2020 Jesi); erhielt seine Ausbildung am Conservatorio Rossini von Pesaro durch Melocchi, Frau Raggi Valentini und Leodino Ferri. Er debütierte 1962 beim Festival von Spoleto als Riccardo in Verdis »Maskenball«. 1968 Sieger im internationalen Gesangwettbewerb von Bilbao. Es kam nun zu einer erfolgreichen Karriere an den führenden italienischen Operntheatern, u.a. an der Mailänder Scala, an den Opernhäusern von Rom, Palermo, Neapel, Triest, Turin, Genua, bei den Festspielen in den Thermen des Caracalla in Rom, in der Arena von Verona (1974) und beim Maggio musicale von Florenz. Weitere Gastspiele an der Deutschen Oper Berlin, an den Staatsopern von Wien, Hamburg, München (1987) und Stuttgart, in Brüssel, Lyon, Bordeaux, Marseille und Monte Carlo, am Teatro Liceo Barcelona, am Teatro San Carlos Lissabon, in Genf, Amsterdam, Frankfurt a.M., Düsseldorf-Duisburg (Deutsche Oper am Rhein) und Nizza. Er trat als Gast bei den Festspielen von Macerata (1968, 1971-72) und an der San Francisco Opera auf (1974). 1971 und 1974 zu Gast an der Covent Garden Oper London. 1978 Debüt an der Metropolitan Oper New York als Manrico im »Troubadour«. Er sang 1984 in Genf den Pollione in Bellinis »Norma«, 1985 bei den Festspielen von Wiesba  den den Herzog im »Rigoletto«. 1989 hörte man ihn an der Metropolitan Oper als Luigi in Puccinis »Il Tabarro«, 1988 (und 1996) am Teatro Massimo Palermo als Maurizio in »Adriana Lecouvreur« von Cilea, 1992 beim Puccini Festival in Torre del Lago als Cavaradossi, 1993 bei den Festspielen in den Thermen des Caracalla in Rom als Radames. Im italienischen Fernsehen gestaltete er den Pinkerton in einer Aufnahme von Puccinis »Madame Butterfly«, den er dann auch 1993 in Hamburg sang. 1995 trug er (konzertant) in Montpellier den Pollione in »Norma« als Partner von Alessandra Marc vor, 1995 bei den Festspielen von Verona den Turiddu in »Cavalleria rusticana«, ebenfalls 1995 an der Deutschen Oper Berlin den Andrea Chénier von Giordano, 1996 am Teatro Massimo Palermo den Maurizio in »Adriana Lecouvreur« von Cilea, 1996 in der Arena von Verona den Isamele im »Nabucco« von Verdi. Großer Interpret, vor allem des italienischen Repertoires

Schallplatten: RAI, MRF (Mitschnitt einer Aufführung von Meyerbeers »Robert le Diable« vom Maggio musicale Fiorentino 1968), Melodram (»Fra Diavolo« von Auber von 1965).

[Nachtrag] Merighi, Giorgio; sein US-Debüt erfolgte 1970 in Dallas als Luigi in Puccinis »Il Tabarro«, an der Covent Garden Oper London 1971 als Riccardo in Verdis »Ballo in maschera«. 1972 war er an der Oper von Chicago als Alfredo in »La Traviata« und als Rodolfo in »La Bohème« anzutreffen. 1997 gastierte er am Opernhaus von Toulouse als Luigi in »Il Tabarro«, bei den Festspielen in der Arena von Verona als Macduff in Verdis »Macbeth«, an der Oper von Monte Carlo als Gabriele Adorno in Verdis »Simon Boccanegra«. 1998 trat er an der New Yorker Metropolitan Oper als Radames in »Aida« auf, 1999 am Teatro Comunale Modena als Lefebvre in »Madame Sans-Gêne« von Giordano (mit Mirella Freni in der Titelrolle)[Lexikon: Merighi, Giorgio. Großes Sängerlexikon, S. 16306 (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 514) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto: Giorgio Merighi als Manrico/ Il trovatore an der Met/ Met Opera Archive)

Grétrys „Raoul Barbe Bleue“

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Blaubart – das düstere Märchen von Charles Perrault war vermutlich die erste Geschichte der Weltliteratur, die einen Serienmörder zum Helden hatte. Vertont wurde sie mehrmals erfolgreich – die bekanntesten Bühnenversionen stammen von Jacques Offenbach und Bela Bartók. Nun ist eine weitere auf CD erscheinen – Raoul Barbe Bleue von Grétry aus dem Jahre 1789, dem Beginn der Französischen Revolution, dem Sturz des Adels und der gewaltsamen Herrschaft des Volkes – was für ein bedeutsames Jahr!. Matthias Käther berichtet  von der neuen Aufnahme bei Aparté und David LeMarrec geht danach ins Detail über die Oper selbst und ihren geschichtlichen Kontext.

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Zuerst aber Matthias Käther mit einem enthusiastischen Einstieg. André Ernest Modeste Grétry ist eigentlich kein Lieblingskomponist von mir. Seine Musik ist quirlig, elegant, spritzig, aber seine Opern schnurren für mich oft nach einer kurzatmigen Formel ab, die heute nicht mehr so gut funktioniert wie vor 250 Jahren. Und er hat in den meisten Werken weder Glucks und Salieris Spürnase für Innovationen noch Paisiellos oder Mozarts Fähigkeit, auch alberne Situationen tief auszuloten.

Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. Immer wieder tauchen in letzter Zeit Opern auf, die Risse in meinem negativen Grétry-Bild entstehen lassen. Werke, die völlig aus dem Rahmen fallen und in keine Schublade passen – dazu gehört neben der überwältigend schönen Caravane du Caire (1783) auch diese kleine Entdeckung. Raoul ist eine der letzten bedeutenden Opern des Ancien Régimes überhaupt, uraufgeführt in Paris im März 1789, also nur 4 Monate vor der Revolution. Und hier kündigt sich das Erdbeben schon deutlich an. Verblüffend ist die Ernsthaftigkeit der Musik – das Schauerstück wurde über weite Strecken eben nicht tändelnd-ironisch verpackt, sondern ist ziemlich düster. Viel (und zu Recht) bewundert wurde zum Beispiel das Terzett im dritten Akt. Der Suspense ist aufs höchste gesteigert, im Orchester hört man die nahenden rettenden Truppen, die der armen Isaure zu Hilfe kommen, und der Zuschauer nagt an den Fingernägeln und fragt sich – schaffen sie es? Hitchcock im 18. Jahrhundert.

Eng am Originalstoff: Sicher – diese kleine Kammeroper kann es nicht mit dem Symbolgehalt und orchestralen Gewicht von Offenbach, Bartók und Dukas aufnehmen. Doch ein großer Pluspunkt für Grétry und ein wichtiger Grund, das Werk zu retten, ist die Originaltreue der Vorlage – kein anderer Komponist ist so nahe am Perrault.  Isaure, die ihrem Geliebten Vergy Treue geschworen hat, bricht sie, weil sie vom Ritter Blaubart verführt wird, sie heiratet ihn, dann gibt es die berühmte Aufforderung, dass sie in seiner Abwesenheit auf der Burg eine bestimmte Tür nicht öffnen darf. Das tut sie natürlich und entdeckt die toten Exfrauen, hier übrigens auf drei reduziert. Dann kommt Blaubart im dritten Akt zurück, und dann gibt es richtig Stress, aber – und das ist eine kleine typisch buffoneske Opern-Änderung – Ex-Geliebter Vergy hat sich als weitere Frau verkleidet und auf die Burg geschlichen und rettet seine Isaura.

Gretrys Oper „Raoul Barbe-Bleue“/ Szene aus der eben auch bei Aparté festgehaltenen Produktion der Norwegischen Oper Trondheim 2018/ Foto Havik Skjaerseth

Operneinstand von Martin Wåhlberg: Ich muss gestehen, diese Aufnahme – meines Wissens die offzielle Ersteinspielung auf CD – hat mich kalt erwischt, ich kenne weder Sänger, Ensemble oder Dirigenten. Doch das Label ist vertrauenswürdig: Aparté, eine sehr verdienstvolle Firma, gerade, was Musik des 18. Jahrhunderts angeht. (Von dort kommen auch zwei gefeierte französische Salieri-Opern unter Christophe Rousset.) In diesem Fall ist bei einem kleinen Barockfestival in Selbu/Norwegen mitgeschnitten worden – mit exzellenten französischen Gastsängern und einem einheimischen Orchester, dem Orkester Nord Trondheim. Und hier zeigt sich, gute Interpretationen französischer Opern können auch mal aus Skandinavien kommen; hier gibt es rundherum nicht das kleinste bisschen zu meckern. Idiomatische Sänger, ein zupackendes, vor Vitalität fast berstendes Orchester auf historischen Instrumenten. Dies ist die erste Operneinspielung des Dirigenten Martin Wåhlberg, und nach diesem furiosen Einstand kann man nur hoffen, dass es nicht die letzte bleibt (Gretry: Raoul Barbe Bleue; mit Chantal Santon Jeffery | Francois Rougier | Matthieu Lecroart | Orkester Nord | Martin Wåhlberg, 2 CD Aparté AP 214). Matthias Käther

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Gretry „Raoul Barbe-Bleue“: der Komponist (1741 – 1813) in einer Plastik von Jean-Baptist Stouf 1804, heute im Metropolitan Museum of Art / Wikiwand

Nun also David LeMarrec zu Raoul Barbe-Bleu, eine Opéra-comique von 1789. „Und würden ihn seine Vasallen verlieren, sie alle würden es mit Freudenfeuern feiern.“ Osman (3. Akt, 1. Szene): Jüngste Wiederbelebungen der Werke von Grétry führten zu einer Neubewertung der Natur seiner Hinterlassenschaft. Mittels Bühnendarbietungen und Aufnahmen kommen allmählich einige ziemlich unerwartete Elemente in den Stücken eines Komponisten ans Licht, der ein Favorit von Königin Marie-Antoinette war und berühmt für seine im familiären Umfeld aufgeführten Opéras-comiques. Céphale & Procris etwa antizipiert die musikalische Sprache Glucks, dessen erste französische Oper noch nicht einmal in Paris präsentiert worden war; in Andromache, einer Adaption der gleichnamigen Tragödie von Racine,beinhalten die Rezitative der Heldin systematisch einen kleinen Chor für Blasinstrumente; und sein Guillaume Tell, ein für die Familienerziehung konzipiertes Drama, hat einen Text mit einigen überraschend kecken Anspielungen.

Raoul Barbe-Bleu kann ebenfalls mit Überraschungen aufwarten. Das Genre der Opéra-comique geht auf die Vaudeville-Komödien und opernhaften Parodien der Pariser Jahrmarktstheater zurück, denen es untersagt war, Stücke zu präsentieren, in denen durchgängig gesungen wurde (d. h. gesungene Rezitative beinhalteten), was als Vorrecht der Pariser Oper galt. Aufgrund dessen wurden leichte, moralische Stücke, die aus gesprochenen Dialogen, vermischt mit Arien, bestanden, ihre Spezialität; Stücke, in denen die Gutherzigkeit des einfachen Volkes belohnt wurde.

Zwischen den 1750er und 1790er Jahren war Michel-Jean Sedaine der bedeutendste und einflussreichste Librettist der Opéras-comiques; er verfertigte Texte für Philidor, Monsigny und Grétry. Bekannt für seinen Naturalismus, adaptierte er sehr gekonnt die Veränderung, welche die Opéra-comique während der 1760er erfasste, als sie einiges an Satire verlor und offener wurde für die Schärfe und das Pathos, das dieser Periode gemein war. Ein gutes Beispiel ist Le Déserteur, 1769 geschrieben für Monsigny, wo ein unschuldiger junger Mann, der Opfer eines grausamen Scherzes wurde, sich selbst im Gefängnis wiederfindet, wo er seiner Familie vor seiner Hinrichtung Lebewohl sagen muss.

Gretrys „Raoul Barbe-Bleue“ am Théâtre Saint Dizier/ Szene/ Foto Claude Morel

Sedaines Raoul Barbe-Bleu basiert weitgehend auf Perraults Fassung (veröffentlicht 1698), aber mit zwei bedeutenden Unterschieden: Zum einen in der Juwelenszene des ersten Aktes, wo Isaures Standhaftigkeit – sie hat Vergy ihre Treue versprochen – wankt, als sie durch die Geschenke in Versuchung gebracht wird, die ihr Raoul de Carmantans offeriert, ein reicher Edelmann mit der unschönen Angewohnheit, seine Ehefrauen zu ermorden; zum anderen in der absurden Verkleidung – als Isaues verstorbene Schwester namens Anne, wie in Perraults Erzählung –, derer sich Vergy bedient, um Raouls Schloss zu betreten, um mit Isaure zusammen zu sein, die jetzt mit dem Mörder verheiratet ist.
Der Name Vergy wurde wahrscheinlich dem mittelalterlichen Ritterroman La Châtelaine de Vergy entlehnt, während manche Elemente der Handlung aus Le Roman du châtelain de Coucy & de la dame de Fayel zurückgehen: das Auftreten des tugendhaften Liebhabers im Schloss seiner Dame (abgesehen von Perrault) und die schauerliche Grausamkeit der Rache des eifersüchtigen Ehemanns (der das Herz des Geliebten seiner Frau zum Mahl bereitet), was an den Horror der Frauen erinnert, denen Blaubart die Kehle durchschneidet. Diese beiden Themen, beliebt in der Literatur vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, inspirierte viele Tragödien in den 1770er Jahren: Baculard d’Arnauds Fayel, Dormont de Belloys Gabrielle de Vergy, letztere parodiert durch d’Imbert et d’Ussieux als Gabrielle de Passy. De Belloys Text präsentierte weiterhin eine Besonderheit durch die Benutzung des Namens Vergy bei gleichzeitiger Verwendung des Sujets des Chatelain de Coucy und der Herrin von Fayel.

„Blue-Beard“: Illustration von Walter Crane/ Wikipedia

Die bizarre Natur des Gegenstands war in der Tat das, was das zeitgenössische Publikum am meisten überraschte. Gleichwohl feierte die Oper am 2. März 1789 ihre Premiere, wurde wohlwollend aufgenommen und erfuhr trotz Regimewechseln Wiederaufführungen bis Juli 1818, in den deutschsprachigen Ländern Europas, wo sie besonders populär war, gar bis 1840 (Wien). Insbesondere der Mercure de France zeigte sich kritisch gegenüber der Verwegenheit des Stoffes und seines Scheiterns, den Vorgaben des Théâtre-Italien gerecht zu werden, welche die Aufführung von Tragödien untersagten. In der Tat ist der Tonfall, abgesehen von der Juwelenarie des ersten Aktes und Vergys Vermutung hinsichtlich der Identität von Isaures verblichener Schwester, insgesamt ernst und dreht sich um Fragen von Leben und Tod, Versprechungen, Vertrauen und Blutrache. Der erste Akt handelt von Verzicht: Isaure und Vergy wollen heiraten, aber werden mit einem großen Hindernis konfrontiert: um das Schicksal ihrer beider Familien steht es nicht zum Besten. Um ihre Familie zufriedenzustellen, stimmt Isaure zu, sich Raoul de Carmantans, einem vermögenden, aber unwirschen Verehrer, zu präsentieren. Sie verweigert sich Raouls Heiratsantrag ohne der Zustimmung von Vergy: Er muss sie zuerst von ihrem Versprechen entbinden. Am Ende fügen sich die Liebenden dem Unvermeidlichen. Der zweite Akt ist sogar noch düsterer und beinhaltet die Entdeckung der ermordeten Ehefrauen (abseits der Bühne). Dann, im dritten Akt, erklärt der erboste Raoul, dass Isaure wegen ihres Ungehorsams augenblicklich sterben soll (wir erkennen seine zunehmende Ungeduld während der wenigen Minuten, die er ihr vor ihrem Tode zum Beten gibt). Schließlich wird Raoul auf der Bühne von einem seiner vormaligen Schwiegerväter getötet. Solche Gewalt und derartige Fragen waren im Théâtre-Italien wirklich unangebracht, welches sich seinerzeit im ersten Salle Favart befand; sie gehörten auf die Bühne der Pariser Oper.

Auf der anderen Seite kritisierte die Correspondance littéraire des Barons von Grimm die Handlung der Oper wegen fehlender Noblesse aufgrund der absurden Elemente und der Brutalität, lobte allerdings die Ambition und Vielfältigkeit von Grétrys Musik. Allgemein hoben die Kritiken jener Zeit die Neuartigkeit des Werkes und seine dramatische Wirkung hervor, zeigten sich aber verwirrt aufgrund seiner Natur, die sich keinem der existierenden Genres zuordnen ließ.

Gretrys Oper „Raoul Barbe-Bleue“/ Szene aus der eben auch bei Aparté festgehaltenen Produktion der Norwegischen Oper Trondheim 2018/ Foto Havik Skjaerseth

Für Theatergänger, die das Stück nach 1789 sahen, war es schwierig, der veränderten Wahrnehmung der Aristokratie nicht Rechnung zu tragen. In der traditionellen Opéra-comique ist der Seigneur häufig ein Verführer einfacher Mädchen, doch den Tod eines Erzbösewichts auf der Bühne zu zeigen, überschritt die Grenzen, was man allgemein für dem Genre angemessen erachtete. Gewiss ist Raoul ein monströser Charakter (selbst ohne einen blauen Bart), doch der Aspekt der volkstümlichen Opposition zu seinem tyrannischen Regiment, vom Missfallen seiner Untertanen, die – so Osman – seinen Untergang feiern würden („Si ses vassaux le perdaient, ils feraient tous des feux de joie“) bis hin zum finalen Jubelchor („Ce tyran exécrable, ce monstre abominable, expire sous nos coups“), wurde von den Zensoren mit erstaunlicher Ruhe durchgewunken. Opernpublikationen erfreuten sich seinerzeit großer Freiheit. In Beaumarchais‘ Tarare zum Beispiel, 1787 von Salieri vertont, erklärt die Natur, dass die einzigen, die an die Überlegenheit der Aristokratie glaubten, die Aristokraten selbst seien, und am Ende stirbt der Tyrann Atar, gestürzt durch eine Revolte des Volkes, eines gewaltsamen Todes. Auch dieses Werk wurde von der Zensur nicht beanstandet, so dass sich der Schöpfer nicht gezwungen sah, ein alternatives Ende zu kreieren, in welchem das Leben des Monarchen verschont wird.

Obschon die Zensoren Raoul Barbe-Bleue 1789 durchkommen ließen, bleib der darin enthaltene politische Stil nicht unbemerkt und führte bei der 1794 erfolgten Pariser Wiederaufnahme durch Sedaine zu einer Abänderung des Librettos. Aufgrund eines Einspruches aus Lyon wurde die Erwähnung von Isaures Krone gestrichen, genauso wie alle Bezüge zum Feudalismus. So spielt die Oper nun in einer Welt des Adels, in der gewöhnliche Menschen keine Rolle spielen. Das Schicksal Raouls erscheint nun nicht mehr als Folge einer kollektiven Gerechtigkeit, sondern als Ergebnis des Rechts zur Vergeltung. Interessanterweise trägt die Kritik zu Raoul Barbe-Bleue in Grimms Correspondance littéraire vom April 1789 den Titel „Quelques aperçus sur les causes de la Révolution actuelle“ („Einige Erkenntnisse zu den Gründen der derzeitigen Revolution“).

Freilich war dies nicht der vorherrschenden Tonfall in den Opéras-comiques Anno 1789. Der große Erfolg dieses Jahres war Nicolas Dalayracs Les deux petits Savoyards zu einem Libretto von Marsollier: ein einaktiges Drama, das sich vielfach der Mundart bedient, in welchem zwei vaterlose kleine Savoyarden-Jungen ein spärliches Leben auf den Jahrmärkten fristen, wo sie ihr zahmes Murmeltier präsentieren. Unerwartet nimmt sie Verseuil, ein reicher Landbesitzer, der einen Großteil seines Lebens in Amerika Geld gemacht hatte, bevor er nach Frankreich zwecks der Suche nach seinem Bruder zurückkehrte, unter seine Fittiche. Die Knaben besitzen ein Portrait ihres Vaters und es stellt sich heraus, dass Verneuil ihr Onkel ist. Versöhnung der sozialen Klassen, Lokalkolorit, einfaches Volk, angemessene Empfindungen, das traditionelle Happy End: das Repertoire war nicht ausschließlich dergestalt, doch blieb dieser tränenreiche moralische Stil beim Publikum allseits populär.

Grétrys Musik behält hier die Schlichtheit des klassischen Stiles bei. Ein Beobachteter gab folgende Bericht ab: „Das furchtbare Thema von Raoul Barbe-Bleue beinhaltet nicht den melodiösen Gesang, den man so häufig in Monsieur Grétrys Werken findet; doch hat dieser großartige Komponist seiner Musik einen düsteren, wilden Charakter aufgedrückt, der gleichermaßen seinen guten Geschmack und sein Fingerspitzengefühl beweist. […] Generell ist dieses weniger bekannte und aufgrund seiner weniger ausgeprägten Melodik weniger populäre Werk für den Kenner eine Wohltat, welcher darin die herbe Schönheit erkennt, die es beabsichtigt zu präsentieren.“

Gretry „Raoul Barbe-Bleue“: der Autor David LeMarrec/ fr. LinkedIn.com

Das „Turm-Trio“ des dritten Aktes, das drei durch Distanz voneinander getrennte Personen einbezieht, ist das Stück, das die Vorstellungskraft des damaligen Publikums am meisten bewegte. Die Situation zeigt zunächst extremes Pathos mit Isaures Bitten, unterbrochen durch die schrecklichen Schreie von Raoul, außer Sichtweite in einer verbotenen Kammer. Die Textmalerei, die kurz darauf für das Erscheinen der rachsüchtigen Reiter aufscheint, hat ebenfalls eine starke Wirkung. Die Staubwolke („un nuage de poussière, qui d’èlève de la terre“) wird heraufbeschworen mittels punktierter Rhythmen der Bratschen, verdoppelt durch die Fagotte, sodann durch Triller von beiden, bevor schließlich sämtliche Bassinstrumente einstimmen, um das Herannahen der Berittenen mit dem Stampfen der Pferdehufe zu repräsentieren – eine kunstvolle Vorbereitung des Ausgangs.

Das darauffolgende Orchesterstück („simphonie“) ist ebenfalls ziemlich ungewöhnlich und profitiert von Sedaines sehr detaillierten Bühnenanweisungen: Die Türen werden eingeschlagen, die Hinrichtung unterbrochen, einer der trauernden Väter duelliert sich mit Raoul und das Monster wird schließlich getötet. Währenddessen erzeugt Grétry – die Regeln des klassischen Orchesters respektierend und ihre expressive Qualität herausstellend – eine fesselnde Atmosphäre, in welcher man das Einschlagen der Türen  hört und man der Spannung des Kampfes und der drohenden Gefahr gewahr wird.

Gretrys Oper „Raoul Barbe-Bleue“/ Szene aus der eben auch bei Aparté festgehaltenen Produktion der Norwegischen Oper Trondheim 2018/ Foto Havik Skjaerseth

Im Allgemeinen sind die musikalischen Nummern sehr willkürlich in das Werk als Ganzes integriert, ein Umstand, der Raoul Barbe-Bleue von den übrigen Opéras-comiques der Zeit unterscheidet. Ein gutes Beispiel hierfür ist die scène des dritten Aktes, die Raouls Rückkehr darstellt, nachdem seine junge Frau seine Befehle missachtete: Eine Serie von voll ausgeschriebenen Rezitativen voller schöner Gesangsmelodien und orchestraler Kontraste wie in einem Finale von Mozart. Ein weiteres Exempel ist Isaures Arie im zweiten Akt, welche sich von der Melancholie über ihre verlorene Liebe („Vergy, ton souvenir“) zu den Qualen der Neugier („Mais de lieu solitaire …“) bewegt, begleitet von bedeutungsvollen Spiralen der Violinen,  dann ohne Unterbrechung zu der Auffindung der Leichen in der Kammer übergeht („Dieux! Qu’ai-je vu! que de sang, que d’horreur!“), sich bei letzterer eines epischen (potentiell parodistischen) Tons bedienend, der in überspitzter Weise an Gluck gemahnt (d. h. an den eröffnenden Sturm in Iphigénie en Tauride). Romantik, Bedächtigkeit und eine dramatische Explosion folgen einander in einer einzelnen Arie, eine Form, die einzig dem Plot folgt, keinem vordefinierten Muster.

Heutige Hörer mögen auch einige von Grétrys Innovationen bemerken, die seinerzeit nicht so offensichtlich waren, wie etwa das Duett am Ende des ersten Aktes, in welchem Vergy Isaure vom Versprechen löst, ihn zu heiraten („Ah! je vous rends, charmante Isaure, les serments que vous m’avez faits“). Die Liebenden singen abwechselnd im leuchtenden Dur, während Vergys plötzlich danebengestellte Wehklage in einem grimmigen Moll aufscheint. Dieser Vorgang ist im zweiten Teil von Isaures Arie im zweiten Akt sogar noch auffälliger („Vergy, ton souvenir“) und drückt die Pein der Neugierde aus, in welcher Dur und Moll einander abwechseln, ohne dass die Phrasen gestört würden.

Daniel Hauser hat mal wieder für uns aus dem Englischen übersetzt – danke Daniel.

Zuletzt seien die raffinierten Details erwähnt, die in Grétrys Oper auftauchen: Ein paar Arien im concertato-Stil (mit instrumentaler Gegenmelodie) und textmalerische Effekte, darunter einige, die später von anderen Komponisten adaptiert wurden (die schluchzende Furcht des alten Dieners Osman kam später in Meyerbeers Le Pardon de Ploërmel beim Charakter des Corentin vor). Und Grétry nahm sich auch in besonderer Weise der melodischen Linien der tieferen Stimmen an. Tatsächlich zeigte er sich in seinen Kompositionen sehr inspiriert, was Baritonstimmen anbelangte. Céphale in Céphale & Procris und Guesler in Guillaume Tell haben beide grandiose Arien, und im vorliegenden Fall hat Raoul unzweifelhaft die am meisten berührenden Zeilen, so in der Arie des ersten Aktes „Venez régner en souveraine“ und im Duett des zweiten Aktes mit Osman „Je te trouve bien pitoyable“; desweiteren erscheint die Musik, die in letzterem seine Worte „Si j’en croyais mon transport“ begleitet, ebenfalls als Hauptthema in der Ouvertüre sowie in der „simphonie“, die das Duell und seinen Tod begleitet. David LeMarrec/ Übersetzung ins Deutsche: Daniel Hauser

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Den vorliegenden Artikel von David LeMarrec entnahmen wir mit Dank dem üppigen Booklet zur neuen Ausgabe der Oper bei Aparté; Foto oben Teaser von der Twitterseite der Norwegischen Oper Trondheim,  wo die Aufnahme im November 2018 für Aparté gemacht wurde. Dank auch an Birgit Niemeyer/forartists für ihre liebenswürdige Hilfe. Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Barockes Füllhorn

 

Gleich drei Counter-Stars sind auf einer Neuausgabe von Erato versammelt, die sich dem Schaffen des italienischen Komponisten Luigi Rossi widmet, der von 1597 bis 1653 lebte (0190295372309, 3 CDs). Aus seinen zwei Opern und mehr als 300 Kantaten, welche heute zumeist vergessen sind, hat Christina Pluhar eine Auswahl getroffen und zwischen 2005 und 2019 mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata aufgenommen. Die Ausgabe, die nicht weniger als 21 Weltpremieren aufweist, ist untergliedert in die Abschnitte La Lyra d’Orfeo und die zweiteilige Arpa Davidica. Prominente Solistin des ersten Stückes ist die französische Sopranistin Veronique Gens – neben ihrem Einsatz für das französische Repertoire eine ausgewiesene Spezialistin der Barockmusik. Die Aufnahmen dafür  erfolgten bereits im Jahre 2005, doch konnten sie wegen eines Rechtsstreites zunächst nicht veröffentlicht werden. Nach Beilegung des Konfliktes entschloss sich die Dirigentin und Harfenistin, nach weiteren Werken Rossis zu suchen, der auch Harfenist war, weshalb ihm Pluhars große Liebe gehört. Aus ihren Bemühungen resultierten 2019 die beiden Alben Arpa Davidica, in denen sie neben der Sopranistin Céline Scheen und der Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli die drei Counter Philippe Jaroussky, Jakub Józef Orlinski und Valer Sabadus besetzte.

Der erste Teil trägt den Titel La Lyra d’Orfeo deshalb, weil sich eine von Rossis beiden Opern Orfeo nennt. Sie wurde uraufgeführt in Paris, wohin Rossi 1646 gegangen war. Daraus singt Gens drei Szenen: Euridices „A l’imperio d’Amore“ und „Mio ben“ sowie des Titelhelden„Lasciate Averno“. Ihr Vortrag ist geprägt von kultivierter Tongebung und Feinsinnigkeit im Ausdruck.

Aus Rossis zweiter Oper Il palazzo incanto (Uraufführung: 1642 in Rom) erklingen eine lyrisch empfindsame Szene zwischen Pittura und Rivi,„Vaghi rivi“, sowie zwei instrumentale Beiträge (der Ballo di fantasmi und ein  Ritornello), in denen das Ensemble L’Arpeggiata mit farbigem und akzentreichem Spiel erfreut. Die Auswahl auf der ersten CD wird ergänzt durch weitere Instrumentalstücke (eine Sinfonia von Giovanni Felice Sances und„Dormite, begl’occhi“ aus Orfeo), einige Arien aus Kantaten und das ausgedehnte, leidvolle  Lamento di Arione „Al soave spirar“.

Die CDs 2 und 3 sind den beiden Teilen von L’Arpa Davidica vorbehalten. Da hört man weitere Ausschnitte aus Il palazzo incanto und Orfeo. Zudem gibt es die Lamenti der Olimpia und der Erminia sowie weitere Kantaten-Arien. Gleich die erste, „Dopo lungo penare“, ist eine Besonderheit – zum einen, weil sie von heiterem Charakter ist (eine Seltenheit bei Rossi), zum anderen, weil sie einige Worte enthält, die gesprochen werden sollen. Orlinski singt sie kokett und bindet die gesprochenen Laute geschickt in die Gesangslinie ein. Es folgt Jaroussky mit „M’uccidete begl’occhi“, das den gebührend klagenden Ton aufweist. Danach verbindet er seine Stimme harmonisch mit dem Sopran in „Ai sospiri“ – auch diese Arie ist von  schmerzlichem Charakter. Dann stellt Orlinski mit einer Canzonetta, „Da cielo cader“, ein Werk von Marco Marazzoli (1602 – 1662) vor, bringt später noch mit „Dimmi sogno pittore“ eine anonyme Komposition zu Gehör. Seine Stimme ist auch hier sinnlich, weich und ausgeglichen. Dritter Counter ist Sabadus mit der Arie „Gelosia ch’a poco a poco“, die vom Orchester mit erregten Figuren eingeleitet wird, was der Solist mit eben solchen Koloraturketten fortsetzt. Die Mezzosopranistin stellt sich mit zwei Titeln vor – der Arie „Sol per breve momento“ aus Il palazzo incanto und dem Lamento di Olimpia,  lässt eine obertonreiche, androgyn wirkende Stimme hören. Von heiter-tänzerischem Charakter ist das abschließende Instrumentalstück, „L’Avignone“ aus Il palazzo incanto, bevor der zweite Teil der Arpa Davidica mit der Arie „Quando spiega la notte“ anhebt, die Scheen mit nobler Empfindung vorträgt. Nochmals sind die beiden Counter Orlinski und Sabadus vertreten – ersterer mit der schwermütigen Arie „Io piangea presso d’un rio“, der zweite mit Orfeos „Lagrime, dove sete“ von gleichfalls schmerzlichem Charakter. Der Schluss ist der Initiatorin und Leiterin dieses aufwändigen Projektes vorbehalten: Christina Pluhar spielt die Passacaille del seigneur Luigi an der Harfe.

Rossis Kompositionen sind Ausdruck des galanten Stils und spiegeln den Geschmack wider, der in den Pariser Salons vorherrschte. Seine  Musik erklang aber auch in der Bibliothek des Königs, in den Privatkonzerten des Adels und in den Aufführungen der Académie Royale de Musique. Die informative Erato-Ausgabe, deren Cover Domenico Zampieris berühmtes Gemälde von König David mit der Harfe (heute im Schloss von Versailles) schmückt, bietet eine willkommene Gelegenheit, das Schaffen dieses Komponisten in seiner grandiosen Fülle und Vielfalt zu entdecken. Bernd Hoppe

Die Stimme flexibel halten

 

Wer Jacquelyn Wagner in den jugendlich-dramatischen Partien des deutschen Fachs hört, kann sich an einer wunderbar aufblühenden Stimme mit klar strahlendem Kern erfreuen, die außerordentlich sauber geführt wird. Ende des Jahres gab die Sopranistin ihr gefeiertes Rollendebüt als Elsa in Lohengrin in Salzburg, unter Christian Thielemann sorgte sie 2019 ebenfalls in Salzburg als Eva in Die Meistersinger von Nürnberg für Furore, eine Rolle, die sie auch schon an der Mailänder Scala sang. Neben den großen jugendlich-dramatischen Rollen Wagners und Strauss steht die Sängerin auch regelmäßig in Mozartpartien wie Donna Anna und Fiordiligi auf der Bühne und im Februar folgt sogar ihr Debüt in einer Händelrolle, als Alcina in einer Neuinszenierung an der Deutschen Oper am Rhein. Zum Jahresende trat  sie in ihrer Wahlheimat Berlin als Rosalinde in Rolando Villazóns Inszenierung von Die Fledermaus an der Deutschen Oper auf. Dort begann sie ihre Karriere vor ihrer internationalen Laufbahn als Ensemblemitglied und ist vielen Opernbesuchern noch als wunderbare Figaro-Contessa, Pamina oder Traviata in Erinnerung. Dieter Schaffensberger  sprach mit der Sängerin, die ihre internationalen Erfolge als Arabella, Marschallin, Fidelio-Leonore, Elsa und Eva hoffentlich bald auch in Berlin wird wiederholen können.

 

 

Jacquelyn Wagner, hier als Rosalinde (in der Garderobe)/ Foto JW

Sie kehren nach längerer Abwesenheit an die Deutsche Oper Berlin zurück, diesmal als Rosalinde in „Die Fledermaus“. Was ist es für ein Gefühl, wieder an dem Haus aufzutreten, von dem aus Sie Ihre mittlerweile große Weltkarriere begonnen haben? Ich weiß nicht, ob ich es eine “Weltkarriere” nennen würde, aber ich freue mich riesig, an die Deutsche Oper zurückzukehren. Für mich ist es wie nach Hause zu kommen. Ich habe meine Karriere dort begonnen, und ich bin so vielen Leuten an der Oper für immer dankbar für alles, was ich dort erlebt und gelernt habe. So viele Mitarbeiter sind Freunde von uns, und wieder da zu sein ist das beste Geschenk, das ich zu Weihnachten bekommen konnte!

Sie haben Ihr Repertoire seit Ihrer Zeit im Ensemble der Deutschen Oper Berlin enorm erweitert. Mit Christian Thielemann haben Sie bei den Salzburger Osterfestspielen die Eva  gesungen, letzten Monat haben Sie als Elsa debütiert. Auch die Arabella, Agathe und Fidelio-Leonore gehört zu Ihrem Repertoire. Gibt es auch in Berlin auf zukünftige Auftritte im jugenlich-dramatischen deutschen Sopranfach? Das weiß ich im Moment ehrlich gesagt nicht. Wir probieren etwas zu organisieren, und ich hoffe sehr, dass es klappt!

Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit einem DER großen Wagnerdirigenten wie Thielemann beschreiben? Ich habe es schon zu vielen gesagt: Es ist eine echte Ehre, mit ihm zu arbeiten. Er hat eine natürliche Musikalität und spürt, was das Orchester und Sänger/innen brauchen, und führt einen zauberhaft durch den Abend! Es ist ein Luxus mit ihm zu singen!

Welche neuen Rollen stehen im deutschen Fach in den nächsten Jahren an? Nichts in der näheren Zukunft. Ich mache bald wieder einen Rosenkavalier, und freue mich sehr auf die Marschallin!

Ein wichtiger Dirigent ist für Sie auch Philippe Jordan, unter dessen musikalischer Leitung Sie an der Pariser Oper diese Spielzeit sowohl als Fiordiligi als auch als Donna Anna auftreten werden…. Das stimmt. Ich singe auch ein Beethoven Konzert mit ihm in Wien am 11. Januar mit den Wiener Symphonikern, und es wird ein schönes Erlebnis sein!! Ich freue mich jedes Mal mit Maestro Jordan zu arbeiten. Wir verstehen uns gut und ich freue mich sehr für ihn, dass er diese tolle neue Stelle in Wien bekommen hat und bin mir sicher, dass er die Staatsoper als Musikdirektor super führen wird!

Jacquelyn Wagner/ Foto Harald Hoffmann

Mozart kann neben dem deutschen jugendlich-dramatischen Fach als weiterer großer Pfeiler Ihres Repertoires bezeichnet werden. Man könnte denken, dass es schwierig sei, in einer Saison sowohl Wagner- als auch Mozartrollen zu singen. Was sind die technischen Herausforderungen, beides „unter einen Hut“ zu bekommen?  Mozart ist tatsächlich immer noch ein wichtiger Teil meines Repertoires. Wichtig nicht nur für die  Technik, sondern auch die Musikalität. Für das dramatische Fach braucht man viel Kraft, Volumen, und trotzdem noch einen schönen Klang! Bei Mozart hört man alles. Man kann sich nicht im Orchester verstecken und muss extrem präzise sein, da die Orchestrierung viel leichter ist. Der Wechsel zwischen schwerem und “leichtem” Mozart ist interessant, und hilft mir, meine Stimme flexibel und (ich hoffe) schön zu halten.

Gibt es Traumrollen, die Sie bisher noch nicht gesungen haben? Alles von Richard Strauss ist für mich ein Traum. Ich habe noch nicht Daphne und Gräfin (Capriccio) gesungen, aber jedes Mal wenn ich Arabella und Rosenkavalier singe ist das für mich ein Traum!

Auf CD bei Capriccio ist gerade Ihre bemerkenswerte Euryanthe, eine Liveaufnahme aus dem Theater an der Wien, erschienen. Auffallend ist, mit welcher Leichtigkeit Sie diese ja fast schon „unsingbare“ Rolle bewältigen. Was können Sie uns über die Rolle und das Projekt in Wien erzählen? Euryanthe ist eine wunderbare Oper, die viel zu selten gespielt wird. Christof Loy hat eine hochsensible und intuitive Inszenierung geschaffen, und wir hatten so viel Freiheit, die Charakteren darzustellen. Ich finde die Rolle nicht “unsingbar”, Weber hat nur Emotionen aufgeschrieben. Euryanthe ist eine Frau mit einem puren und vertrauensvollen Herz, und ist das Opfer von Eifersucht und Verrat. Am Ende überdauert die Liebe und auch wenn die Geschichte einige unkonventionelle Wendungen hat ist es immer noch eine Liebesgeschichte. Diese Frau zu verkörpern war ein sehr schönes Erlebnis. Ein so schönes, dass ich hoffe sie bald wieder singen zu dürfen.

Sie leben mit ihrem Mann, dem spanischen Dirigenten Martín Baeza-Rubio in Berlin, sind aber wahrscheinlich beide die meiste Zeit über auf Reisen. Wie bringt man Privatleben mit einem solchen „Jetsetleben“ in Einklang? Es ist auf jeden Fall nie langweilig! Wir genießen unsere wenige Zeit zusammen, und versuchen das Leben so normal zu halten wie möglich. Wir waren diese Weihnachten zuhause in Berlin. Das letzte Mal, dass wir Weihnachten hier feiern konnten war vor 7 Jahren. Es ist ein Traum hier zu sein!

Jacquelyn Wagner/ Foto Harald Hoffmann

Wie kamen Sie auf den Beruf Opernsänger? Wo haben Sie studiert und wie kamen Sie nach Deutschland? Schon als ich ganz jung war habe ich immer im “opera style” gesungen. Mein Vater ist Hornist, und hat 35 Jahre im Detroit Symphony Orchestra gespielt. Jetzt ist er Professor an der Michigan State University. Ich bin meinen Eltern so dankbar, weil sie wussten, was sie mit meinem Interesse für Musik machen sollten und eine super Lehrerin für mich gefunden haben, Edith Diggory. Ich habe 8 Jahre mit ihr studiert (4 Jahre Privat, und 4 Jahre für mein Bachelor Abschluss an der Oakland University). Danach bin ich nach New York, an die Manhatten School of Music für meinen Master, und gleich danach nach Deutschland mit einem Fulbright Stipendium (dafür hatte mich beworben, nachdem ich von Edith Diggory dazu ermutigt wurde). Gleich danach hatte ich ein Stipendium an der Deutschen Oper Berlin gekriegt, und danach auch zwei Jahre Festengagement erhalten. Deutschland ist jetzt mein Zuhause, und ich bin immer dankbar, dass ich hier arbeiten und leben darf! (Foto oben Harald Hoffmann; alle Fotos sind Eigentum der Sängerin)

Starke Frauen – very british

 

Und weiter geht’s mit britischer Frauenpower: Unlängst berichtete operalounge ausführlich über das neue Label Retrospect Opera, über die Oper The Boatswain’s Mate und deren Komponistin Ethel Smyth (1858-1944). Nun wurde nachgelegt und die vom Lontano Ensemble unter Odaline de la Martinez im November 2018 aufgenommene Kurzoper Fête Galante mit dem Untertitel A Dance Dream herausgebracht. Das rund 45-minütige, 1923 entstandene Werk entführt in die Welt der Commedia dell’arte und, wie es das Libretto selbst beschreibt, in einen „Watteau-Garten im Mondschein“. Es beginnt zeremoniell: Eine Sarabande wird von Gästen einschließlich einer Commedia-dell’arte-Truppe bei einem höfischen Fest vor König und Königin getanzt. Es folgt eine vom Chor begleitete Musette, während der ein Maskierter das zu Boden gefallene Taschentuch der Königin aufhebt; die wiederholte Sarabande beendet den Tanz.  Nun wird von einem als Harlekin, Pántalon, Pierrot und Columbine verkleideten Gesangsquartett ein Puppen-Spiel aufgeführt, dem sich verwirrende Verwechslungen anschließen, an denen der unbekannte Maskierte, der – als Pierrot verkleidet – der Liebhaber der Königin ist, Colombine, Pierrot sowie Königin und König beteiligt sind. Alles endet tödlich: Da Pierrot die Königin und ihren Liebhaber nicht verraten will, ersticht er sich selbst, um zu vermeiden gehängt zu werden. Wenn die anfängliche Musette kurz wieder anklingt, sieht man Pierrots leblosen Körper an einem Balken baumeln.

Dieser überraschend dramatisch endende „Dance Dream“ ist mit einer Musik versehen, die gekonnt mehrere Stilarten aufweist, von tänzerischen Barock-Passagen über neoklassische Liebes-Duette bis zu spätromantischer Dramatik am tragischen Schluss. Wie bereits bei der Einspielung der Komischen Oper The Boatswain’s Mate leitet Odaline de la Martinez das 17-köpfige Lontano-Ensemble, das die instrumentalen Anforderungen souverän erfüllt; der kleine Chor, eher ein Vokalensemble, singt erfreulich klangausgewogen. Die Stimmen der Gesangssolisten passen gut zueinander, von Felix Kemp mit geradezu belkantistisch geführtem Bariton als Pierrot und Charmian Bedford als klarstimmiger Colombine über die lyrischen Tenöre Mark Milhofer („Lover“) und Alessandro Fisher (Harlekin) bis zu dem Königspaar, der Mezzosopranistin Carolyn Dobbin und dem Bariton Simon Wallfisch.

Die CD enthält außerdem das ca. 20-minütige Melodram nach der Märchen-Erzählung von Oscar Wilde The Happy Prince von Liza Lehmann (1862-1918). Die englische Komponistin trat in den Jahren 1884 bis 1893 als Sängerin auf, u.a. gemeinsam mit Joseph Joachim oder Clara Schumann, die sie bei Liedern ihres Mannes Robert begleitete. In der Folgezeit wendete sie sich dem Komponieren zu; es entstanden vor allem Lieder und Liedzyklen, aber auch Schauspielmusiken. 1911 wurde sie erste Präsidentin der Society of Women Musicians; in ihren letzten Lebensjahren war sie beliebte Professorin für Gesang an der Guildhall School of Music. Das Melodram The Happy Prince besteht aus der differenzierend von der großen Felicity Lott gesprochenen Erzählung, der sparsam illustrierende Klangfetzen am Klavier (Valerie Langfield) unterlegt sind.

Schließlich wird die CD vervollständigt durch 1939 vom Light Symphony Orchestra unter Adrian Boult aufgenommene kurze Ausschnitte aus Fête Galante, The Boatswain’s Mate und Entente Cordiale von Ethel Smyth. Insgesamt liegen hier lohnende Einspielungen von hierzulande kaum bekannten Werken von der britischen Insel vor (Retrospect Opera RO007).   Gerhard Eckels

Harry Kupfer

 

Der bedeutende deutsche Regisseur Harry Kupfer ist tot. Die Komische Oper Berlin schreibt: Wir trauern um Harry Kupfer: Der Tod von Harry Kupfer erfüllt das Ensemble der Komischen Oper Berlin mit großer Trauer. Harry Kupfer war von 1981 bis 2002 Chefregisseur des Hauses und kehrte mit seiner Inszenierung von Händels Poros, die im März dieses Jahres Premiere feierte, erstmals seit 2002 wieder an das Opernhaus an der Behrenstraße zurück. Poros war seine letzte Regiearbeit.

Barrie Kosky, Intendant und Chefregisseur: »Kaum eine andere Künstlerpersönlichkeit war der Komischen Oper Berlin künstlerisch und emotional so tief verbunden wie Harry Kupfer. Seine außerordentlichen künstlerischen Instinkte, sein virtuoses Regiehandwerk, seine leidenschaftliche Art zu kommuni-zieren, seine große Liebe zu Detail und Rhythmus und nicht zuletzt sein einzigartiger, wunderbarer Humor machten ihn zu einem der außergewöhnlichsten und einflussreichsten Musiktheater-Regisseure der vergangenen 60 Jahre. Die Komische Oper Berlin war seine künstlerische Heimat und er wird im Geiste und in unseren Erinnerungen immer bei uns sein. Wir sind zutiefst traurig über den Tod von ‚unserem‘ Harry und senden seiner Familie unser Beileid.

Auf mich persönlich hat kein anderer Regisseur während meines Studiums einen ver-gleichbaren Einfluss gehabt wie Harry Kupfer. Als junger, naiver Student aus Australien sah ich in den 1980er Jahren mehr als ein Dutzend Kupfer-Inszenierungen in Deutschland und im Rest der Welt. Sie haben einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, den ich bis heute in mir trage.« Harry Kupfer starb am 30. Dezember 2019 in Berlin.

 

Und die tüchtige Wikipedia schreibt: Harry Alfred Robert Kupfer (* 12. August 1935 in Berlin; † 30. Dezember 2019 ebenda[1]) begann seine Karriere in den 1950er Jahren in der DDR. Zunächst studierte er von 1953 bis 1957 Theaterwissenschaft an der Theaterhochschule Leipzig. Danach ging er als Regieassistent ans Landestheater Halle und debütierte dort 1958 mit seiner Inszenierung von Antonín Dvořáks Rusalka. Von 1958 bis 1962 war er Oberspielleiter der Oper am Stralsunder Theater. Die gleiche Funktion erfüllte er von 1962 bis 1966 in Karl-Marx-Stadt unter Operndirektor Carl Riha. Es folgten Engagements von 1966 bis 1972 als Operndirektor am Nationaltheater Weimar und in derselben Funktion von 1972 bis 1981 am Staatstheater Dresden. In die Dresdner Zeit fallen viele wichtige Regiearbeiten Kupfers, mit denen er international bekannt wurde (darunter Schönbergs Moses und Aron und mehrere Uraufführungen von Werken Udo Zimmermanns). 1971 inszenierte er erstmals an der Berliner Staatsoper: Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Seine erste Arbeit im Ausland war 1973 Elektra von Richard Strauss am Opernhaus Graz.

Von 1977 bis 1981 hatte Harry Kupfer eine Professur an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden inne. 1981 wurde ihm die künstlerische Leitung („Chefregisseur“) der Komischen Oper in Berlin übertragen. Hier avancierte er zu einem der profiliertesten Opernregisseure Europas und inszenierte unter anderem einen viel beachteten Mozart-Zyklus. 2002 verabschiedete er sich mit der Inszenierung von Benjamin Brittens Oper The Turn of the Screw von der Komischen Oper. Kupfer erhielt für die Inszenierung den Bayerischen Theaterpreis.

Harry Kupfer hat in seiner Laufbahn mehr als 175 Inszenierungen erarbeitet; insbesondere Strauss, Wagner und Mozart gehörten zum Kernrepertoire seines Schaffens. Neben seinem Wirken in Weimar, Dresden und Berlin gastierte er noch zu Zeiten der DDR in Graz, Kopenhagen, Amsterdam, Cardiff, London, Wien, Salzburg, Barcelona, San Francisco, Moskau, Zürich und auch in Westdeutschland. Bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen inszenierte er 1978 den Fliegenden Holländer und 1988 den Ring des Nibelungen. Gemeinsam mit dem Komponisten Krzysztof Penderecki schrieb er das Libretto zu dessen Oper Die schwarze Maske (nach Gerhart Hauptmann) und inszenierte die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 1986. Auch in der Sparte Musical war Harry Kupfer erfolgreich. So inszenierte er 1992 das Musical Elisabeth im Theater an der Wien. Am Gran Teatre del Liceu Barcelona inszenierte Kupfer von 2003 bis 2004 erneut Wagners Ring und wurde dafür zum „Besten Regisseur“ gewählt.[2] Zu Kupfers jüngsten Regiearbeiten zählt Der Rosenkavalier, den er 2014 für die Salzburger Festspiele erarbeitete.[3] 2016 wurde die Inszenierung an der Mailänder Scala gezeigt.[4] Seine letzte Inszenierung war im Frühjahr 2019 Händels Poro an der Komischen Oper.[5]

Harry Kupfer arbeitete mit zahlreichen bedeutenden Dirigenten zusammen, darunter Claudio Abbado, Wolfgang Rennert, Gerd Albrecht, Hans Vonk, Herbert Blomstedt, Daniel Barenboim, Rolf Reuter, Sebastian Weigle, Colin Davis, Simone Young und Zubin Mehta. Zu den mit Kupfer arbeitenden Szenografen gehörten u. a. Reinhart Zimmermann, Peter Sykora, Valeri Lewenthal, Wilfried Werz, Hans Schavernoch und Frank Philipp Schlößmann.

Kupfer war Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, der Freien Akademie der Künste Hamburg und Professor an der Berliner Musikhochschule. 2004 wurde er auf Vorschlag von Staatsopernintendant a. D. Hans Pischner zum ordentlichen Ehrenmitglied der Europäischen Kulturwerkstatt (EKW) Berlin-Wien berufen.

Kupfer war mit der Sopranistin und Gesangspädagogin Marianne Fischer-Kupfer (1922–2008) verheiratet; beider Tochter ist die Schauspielerin Kristiane Kupfer (* 1960). Harry Kupfer starb Ende 2019 nach längerer Krankheit im Alter von 84 Jahren (Foto Komische Oper Berlin/ Monika Rittershaus)

Mit Gefühl

 

Die Schweizer Sopranistin Regina Mühlemann legt bei Sony ein Album mit dem Titel Lieder der Heimat vor, welches neben Kompositionen von Franz Schubert auch viele von unbekannten Tonsetzern enthält (19075983042). Ihr Bestreben war, Titel aus dem Themenkreis Heimat, Natur, Wandern, Abschied und Sehnsucht auszuwählen und darüber hinaus die vier Schweizer Landessprachen zu berücksichtigen.

Bei der im Sommer 2019 in Zürich produzierten Aufnahme wirken prominente Instrumentalisten mit – so der Soloklarinettist der Wiener Philharmoniker Daniel Ottensamer, der die Sopranistin im einleitenden „Der Hirt auf dem Felsen“ delikat begleitet. Die Sängerin mit ihrem feinen lyrischen Sopran, der sich mittlerweile von der Papagena zur Pamina weiterentwickelt hat, trifft die Stimmung des Stückes sehr überzeugend. Der Vortrag hat Duft und zarte Melancholie, die Stimme leuchtet in der Höhe und bewältigt exponierte Töne sowie den Koloraturjubel des letzten Teils, „Der Frühling will kommen“, mühelos.

Es folgen zwei weitere Lieder Schuberts: „Im Frühling“ in leiser Wehmut und „Der Knabe“ in lebhafter Munterkeit, was die Interpretin im Ausdruck entsprechend zu differenzieren weiß.

Später erklingt von Schubert noch „Auf dem Strom“, in welchem Konstantin Timokhine auf dem Naturhorn begleitet. Es wurde 1828, im Todesjahr des Komponisten, in einem Wiener Privatkonzert erstmals gespielt. Der ernste Ausdruck des Stückes ist für die Interpretin eine Herausforderung, die sie an Grenzen führt.

Von den Kompositionen aus der Heimat der Sängerin nehmen jene von Wilhelm Baumgartner einen breiten Raum ein. Überdauert hat das melodische „Noch sind die Tage der Rosen“ von 1857, womit die „4 Lieder“ op. 24 beginnen. Aus den Robert Schumann gewidmeten „Sechs kleinen Liedern“ op. 10 erklingen „Du bist wie eine Blume“ und „Ein Stündlein wohl vor Tag“, die im Stil dem Widmungsträger ähneln und von Mühlemann mit poetischer Zartheit gesungen werden. Ein weiterer Zyklus ist gleichfalls „Sechs kleine Lieder“ betitelt (op. 4) und der früh verstorbenen Wagner-Sängerin Fanny Hünerwadel gewidmet. Mit„An den Abendstern“ aus „Grüsse aus den Bergen“ op. 19 beendet Mühlemann sehr empfindsam diese Gruppe, der eine Komposition von Othmar Schoeck folgt, der zu den bekanntesten Schweizer Tonsetzern zählt: „In der Fremde“ (aus „Sechs Lieder“ op. 15).

Richard Flury war Musiklehrer und Dirigent in Solothurn und widmete die Miniatur „Wandern mit Dir“ aus „29 Lieder“ der berühmten Schweizer Schauspielerin Maria Schell. Die Innigkeit dieses Stückes trifft Mühlemann genau. Der in Baden geborene und in Zürich gestorbene Emil Frey beginnt seine „Vier Lieder“ op. 49 mit „Junges Mädchen in den Bergen“. Mühlemanns Sopran entfaltet sich hier in schönem Fluss. Richard Langer lebte in Biel und starb in Bern, „Fünf Lieder in Schweizermundart“ hinterlassend, aus denen Regina Mühlemann das „Edelwyss“ ausgewählt hat. Der zarten Blüte entspricht die ätherische Stimme mit ihrem schwebenden Höhenglanz. Dazu passen das volkstümliche „Guggisberglied“ aus der „Sammlung von Schweizer Kuhreihen und Volksliedern“ und Friedrich Nigglis „Plange“ aus „Schwyzer Liedli“ op. 10.

Für den französischen Sprachraum stehen zwei Stücke der in Genf geborenen Marguerite Roesgen-Champion aus ihrem Zyklus „Poétique du ciel“: „Cette étoile perdue“ und „Une jeune fille parle“. Sie zeigen impressionistische Einflüsse, erinnern an Debussy und Ravel, bringen einen farbigen Tupfer auf Mühlemanns vokaler  Palette. Italienisches wird vertreten von Schuberts melancholischer  „La pastorella al prato“ und Rossinis heiterer„La pastorella dell’alpi“ aus den „Soirées musicales“ – quasi stellvertretend in Ermangelung einer Komposition aus dem Tessin.

Regina Mühlemanns langjährige Liedbegleiterin Tatiana Korsunskaya ist ihr auch hier eine feinfühlige und inspirierende Begleiterin, die darüber hinaus in Franz Liszts „Au lac de Wallenstadt“ aus „Années de Pèlerinage: Première annèe – Suisse“ auch solistisch brillieren kann. Bernd Hoppe

Klassik-Streaming Deluxe

 

Seit ich vor einigen Jahren mich auf die Seite der Naxos Music Library verirrte (als Gast, für jeweils 15 Minuten probieren), höre ich seitdem fast nur noch diese – alle Naxos-Aufnahmen sind hier versammelt mit einer hochinformativen Neuheiten-Vorschau auf den ersten Seiten, dazu kommen – weil Naxos einen so umfangreichen Vertrieb für andere Labels macht (Capriccio, Sterling, Oehms, Orfeo und viele, viele, viele andere mehr: eine Übersicht der vielen Firmen findet sich hier) – eine schier unendliche Auswahl an CD-Angeboten, dass man Tage oder Jahre in dieser klugen Bibliothek verbringen kann. Denn das ist das Besondere und vor allem der Unterschied zu anderen Musik-Streaming-Platformen: die Information. In vielen Fällen bekommt man nicht nur die Tracks und die Covers mit dazu, sondern eben auch die Booklets, also die ganze CD. Das ist gegenüber Spotify, Quobuz, youtube oder anderen Streamings ein ganz entscheidender Vorteil, wo man nur die schnöden Tracks und kaum zusätzliche Info bekommt.

Gründer und Inhaber von Naxos: Klaus Heymann, den wir von operalounge.de zu seinem 80. Geburtstag und zum 30. Jubiläum der Firma Naxos mit einem Porträt würdigten/ Foto Emily Chu

Das Tolle an der NML ist auch, dass sich inzwischen physisch gestrichene CDs hier als nur-digitale wiederfinden, so die wunderbare Alceste Glucks unter Leibowitz (nur Covers und Musik), und eben viele, die sich nicht mehr im Katalog der Labels finden (es wird ja immer schneller gestrichen, was nicht gut verkauft wird). In sofern ist dies wirklich eine Archiv-Bibliothek auch der vergangenen Schätze. Und wo finden sich gleich vier oder fünf Benvenuto Crellinis oder Christus-se am Ölberg (wobei irritierender Weise sich nur für Testkunden auch Warner Aufnahmen 15-Minuten-Probe-hören lassen, während Abonnenten diese zwar in der Suchfunktion sehen, aber keinen Zugang bekommen – ein PR-Trailer von Warner bei Naxos? Seltsam.)  Was mich in der alten Maske störte war das etwas mühsame Einschalten des Flashplayers, um eine kontinuierliche Wiedergabe zu haben, sonst hangelte man sich von Einzeltitel zu Einzeltitel, und Flashplayer wird nicht von allen Browsern (Chrome) unterstützt, ich habe deshalb drei in Betrieb. Aber nun gibt’s in der neuen Version einen neuen Player, der auf Knopfdruck das Ganze abspielt oder je nach Häkchensetzen eben Einzeltitel. Downloaden jedoch ist nicht, was sowohl ökonomisch wie rechtlich verständlich ist (wenngleich der Kenner …). Aber darüber hinaus ist dies eine der fündigsten und leicht handhabbaren Platformen, die ich kenne, nicht wirklich monatlich teuer (im Rahmen der Mitbewerber) und sehr leicht handhabbar in sensationellem Sound (320 kbs). Ich möchte meine Mitgliedschaft nicht missen. Nachstehend ein Text zum neuen Gewand der Naxos Music Library von Naxos selbst. Alles Wichtige steht da. G. H.

 

Naxos Music Library: Seltenes ebenso wie Populäres findet sich ungebremst bei Naxos

Der älteste Musikstreamingservice der Welt ist nicht etwa Spotify oder Napster, sondern die Naxos Music Library (www.nml3.naxosmusiclibrary.com). Es ist bemerkenswert, dass ein auf ‚klassische Musik‘ spezialisiertes Digitalangebot in den früher 2000er Jahren den Grundstein gelegt hat für das, was für den Musikkonsum im 21. Jahrhundert zum Maßstab werden könnte.

Ein Neustart ist immer ein guter Anlass, für einen kurzen Moment Revue passieren zu lassen: Was geschah bisher und was erwartet uns. Die Naxos Music Library hat sich neu erfunden, ohne aber die bewährten und klugen Prinzipien aus der Entstehungszeit über Bord zu werfen. Die NML in ihrer neuen Version „3“ vereint das bisherige Konzept und entwickelt es weiter.

Das Konzept: Kernstück des Konzepts ist eine einheitliche, professionell strukturierte Musikdatenbank, in die alle Daten zu Alben akribisch und mit großer Sorgfalt eingepflegt werden. In diesen Zeiten ist zu betonen, dass die Erfassungsprozesse weiterhin von Personen, ja sogar gelernten Musikwissenschaftlern (!), durchgeführt werden und nicht etwa von ungelerntem Personal oder gar von Maschinen.

Das Geniale an der NML ist die Verknüpfung zwischen Musikdatenbank und verfügbaren Einspielungen, die per Streamingverfahren sofort gehört werden können. Als Nutzer hat man direkten Zugriff auf den gesamten Bestand. Man muss nicht mehr tage- oder wochenlang auf einen vielleicht auch nur physisch verfügbaren Tonträger warten, um gesuchte Musik hören zu können. Im Prinzip ist die NML ein klingendes Nachschlagewerk, eine tönende Musikenzyklopädie des Digitalzeitalters, vollumfänglich von A-Z.

Der Mehrwert der Naxos Music Library besteht vor allem darin, als Recherche-Werkzeug überragende Dienste zu leisten, die weltweit ihresgleichen suchen. Mit der Stichwortsuche, der Erweiterten Suche (Recherche mittels Kombination von Parametern) und der A-Z-Register (Musiker, Komponisten, Musiklabels) sind drei Rechercheoptionen vorhanden, die mehr ermöglichen als die Recherche „Auf gut Glück!“.

Naxos Music Library: Von den wichtigen Aufnahmen der internationalen Festivals auf dem Naxos-Label ganz zu schweigen ...

Ein anderer Punkt ist die Tatsache, dass zwar „Naxos“ im Namen steht, aber nicht „nur“ Naxos inhaltlich drin ist. Über die Jahre hat sich die Naxos Music Library zu einem labelübergreifenden Portal entwickelt. Inhalte von über 850 großen und kleinen Plattenfirmen sind in der NML zu finden, so dass aktuell über 2,2 Millionen Tracks von 148.000 Aufnahmen in CD-Länge den Bestand ausmachen. Die NML ist ein Vollsortiment für alle Gattungen, natürlich inklusive Opernrepertoire, das die ganze Bandbreite der klassischen Musikwelt abdeckt. Lücken sind nur noch da zu finden, wo Rechteinhaber weiterhin Schwierigkeiten damit haben, sich dem Streamingkonzept zu öffnen.

Die NML versteht sich als digitale Bildungsressource. Hier kann sich der Nutzer umfassend mit der Welt der klassischen Musik beschäftigen und in die ganze Klangdichte der Musikgeschichte eintauchen und auf Entdeckungsreise gehen. Die meisten Nutzer der NML loggen sich über einen NML-Zugang einer Bildungsinstitution ein z.B. an einer Universität oder Hochschule. Aber auch immer mehr öffentliche Bibliotheken bieten die NML als E-Ressource an und ermöglichen so einen Zugang zur klassischen Musik für alle Bevölkerungsschichten und Personen jeden Alters.

Grundsätzlich kann natürlich jeder Musikinteressierte die NML nutzen. Vorrangig sind es aber die „Music Professionals“, die aufgrund ihrer Suchanfragen vermutlich den größten Erkenntnisgewinn für sich verzeichnen können. Zu diesen Musikexperten zählt die NML Musikprofessoren, -lehrer, -studenten und -schüler, Orchestermusiker, Chormitglieder … kurzum alle, die aus beruflichem oder aus einfachem Interesse Lust auf klassische Musik haben.

Was ist neu? Das Layout, die Oberfläche, das Design – es wirkt frisch und zeitgemäß. Wer bisher noch keine Berührungspunkte mit der NML hatte, kann sich die bewährte Version weiterhin parallel anschauen und wird sich an das Internet von vor 20 Jahren erinnert fühlen. Irgendwann erreicht aber jede Webtechnologie eine Grenze, die einen kompletten Neustart erfordert. Bei der NML ist man offenbar bei der Planung des Relaunch behutsam und mit Augenmaß vorgegangen. Schließlich will man wohl die bisherigen Nutzer mit einem radikalen Umbau nicht vor den Kopf stoßen und natürlich auch neue Nutzer gewinnen.

Naxos Music Library: Selbst die alte „Alceste“ von Gluck unter Leibowitz gibt´s hier...

Beides scheint möglich, denn die oft beschworene ‚Usability‘ (Benutzerfreundlichkeit) hat auf jeden Fall dazu gewonnen. Die Browserversion der NML ist jetzt responsive, d.h. sie passt sich der Größe des Bildschirms an, mit dem man die NML nutzt (PC, Laptop, Tablet). Bei der Verwendung eines Smartphones ist als Alternative zur Browserversion die NML-App für die Betriebssysteme iOS und Android zu empfehlen.

Auf die eine oder andere Bewährungsprobe wurde so mancher Nutzer bei der bisherigen Version der NML gestellt, wenn es um die Geschwindigkeit beim Aufbau der Webseite ging. Die Recherchen dauerten überdurchschnittlich lange Zeit und einzelne Unterseiten, wie die von Komponisten mit vielen Werken, brauchten beinahe eine kleine Ewigkeit, um vollständig angezeigt zu werden. Geduldsproben gehören nun anscheinend der Vergangenheit an. Die Schnelligkeit bei der Navigation auf der Seite ist so gut, wie man sie sich nur wünschen kann, so dass man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann: Recherchen, Hören und Lesen (u.a. Werkbeschreibungen, Booklettexte).

Der neue Player der NML ist jetzt in die Webseite integriert und kann ganz smart angezeigt und wieder vorborgen werden. Früher öffnete sich ein Popup-Fenster, das zwangläufig den Bildschirm verstopfte. Das Abspielen von Einzeltracks oder gesamten Werken auf einem Album ist weiterhin per Auswahl (Häkchen setzen) möglich und dann per Klick auf den Play-Button. Neuerdings kann man aber auch einfach auf den Play-Button klicken ohne Vorauswahl. Dann wird das komplette Album abgespielt und in der neuen ‚Warteschlange‘ aufgeführt. Zu ihr können weitere Tracks von anderen Alben hinzugefügt werden über das entsprechende Symbol in der Funktionsleiste unter dem Play-Button. Dort befindet sich auch die Möglichkeit Tracks zu einer Playlist hinzuzufügen oder zu favorisieren.

Zusätzlich zu dem gigantischen und tief erschlossenen Bestand an Alben gibt es eine Reihe weiterer interessanter Inhalte, die unter dem Menüpunkt „Materialien“ zu finden sind. Dort gibt es u.a. Einführungen in die wichtigsten musikalischen Epochen, ein Musikwörterbuch, ein Gehörbildungsprogramm, Werkanalysen und Zugang zu einem neuen Portal namens Naxos Musicology, eine Plattform, die für den Austausch aktueller musikwissenschaftlicher Forschung dienen soll. Für uns Opernliebhaber hat die NML Opern-Libretti und -handlungen gesammelt.

Viele Preise für Naxos: Die Geigerin und Inhaber-Gattin Takako Nishizaki und Klaus Heymann/ © Emily Chu/ Naxos

Abonnementsmodelle: Bei der NML haben Institutionen als auch Einzelpersonen die Auswahl zwischen Abonnements. Dabei spielen vor allem bei Institutionen verschiedene Faktoren eine Rolle, die schlussendlich für den Preis ausschlaggebend sind. Als Serviceleistung gibt es weltweit NML-Repräsentanten, die sich darum kümmern, dass eine Institution das perfekt auf sie zugeschnittene Abonnement bekommt. Auch Einzelpersonen können sich an die Kontaktpersonen wenden und müssen ein Abonnement nicht zwingend online abschließen. Institutionen können ausschließlich Jahresabonnements erwerben. Einzelpersonen haben die Wahl zwischen Monats- oder Jahresabonnements.

Ein Hauptunterschied zwischen den Abonnementsvarianten ist die Klangqualität, die zur Auswahl steht: Premium oder Standard. Die NML verwendet das digitale Audioformat AAC mit der Kompressionsrate 320 kbit/s (Premium) und 128 kbit/s (Standard).

Fazit: Alles in allem hält die NML für Klassikfreunde ein hochspannendes Webportal bereit, das mit seinen Standard- und Nischenrepertoires eine schier unendliche musikalische Landschaft bietet, die zum Entdecken einlädt. Einen Testzugang für mindestens 30 Tage kann bei einem NML-Repräsentanten von Naxos beantragt werden. In Deutschland ist dies René Zühlke (rz@naxos.de, /  08121 25007-45).

 

Nützliche Links: 

Startseite Naxos Music Library 3 (NML 3  )

PDF „NML 3 – Einführung und Überblick“ / 

Informationswebseite: „Naxos Online Libraries“. / 

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