Archiv für den Monat: November 2018

So in Love…

 

Als Roberto Alagna vor Jahren mit seiner damaligen Gattin Angela Gheorghiu Duett-CDs einspielte, passten beide Stimmen perfekt zusammen, befanden sich in einem ähnlichen Zustand der Reife. Inzwischen steht sein Debüt als Otello bevor, seine jetzige Frau Aleksandra Kurzak sang bis vor kurzem noch Lucias und Norinas, peilt inzwischen allerdings auch die Butterfly an (und verhob sich etwas an der Rachel vor kurzem in München). Auf der gemeinsamen CD mit dem Titel Puccini in Love ist auch das Liebesduett aus der „japanischen“ Oper und lässt beim Hörer den Eindruck entstehen, dass für sie die Partie zu früh kommt, für ihn der Pinkerton eigentlich bereits zu den Akten gelegt zu sein scheint. Zartheit und Verletzbarkeit des Schmetterlings sind wohl selten so eindrucksvoll zu hören wie hier, aber man denkt natürlich auch an den zweiten und dritten Akt und die Anforderungen, die er an die Mittellage des Soprans stellt, um die es bei der Sängerin noch nicht gut bestellt ist. Der Tenor überzeugt in diesem Track durch das zärtlich- leidenschaftliche Drängen in der dramatisch gewordenen Stimme.

Die CD beginnt mit dem Duett Tosca-Cavaradossi aus dem ersten Akt, in dem sich ebenfalls stärker zeigt, dass die Partie noch nicht die des Soprans ist, der mit zarten Mario-Rufen beginnt, angenehm in den Parlandoteilen klingt und sicher in der Höhe ist, der man allerdings in dieser ein üppigeres Aufblühen wünscht und die in den dramatischen Ausbrüchen, die des Tenors Stärken sind, fast keifend klingt.

Zweimal ist Manon Lescaut vertreten, die als schüchternes junges Mädchen des ersten Akts in der Kurzak eine gute Interpretin gefunden hat, in der des zweiten Akts jedoch verführerische Farben vermissen lässt, allein durch feine Piani nicht überzeugen kann. Da ist vieles zu sehr gesäuselt, die Höhe sicher, aber zu flach ausfallend. Des Grieux, der Otello Puccinis, ist natürlich ganz Alagnas Sache mit einer in allen Lagen gleich gefärbten und gleich präsenten Stimme und einem markanten Nell’occhio tuo io leggo il mio destin…

Auch Magda und Ruggero aus La Rondine begegnen uns in doppelter Ausführung, und es gilt Ähnliches. Im zweiten Akt, in dem sie das junge Mädchen spielt, kann die Sopranistin mit leichter Emission der Stimme überzeugen, als reife Verzichtübende ist sie weniger überzeugend. Dramatisch gestaltet hingegen Alagna die Verzweiflung des Verlassenen.

Aus La Bohéme ist der Schluss des ersten Akts zu hören, in dem Alagna galant auf das C verzichtet und so der Gattin die Möglichkeit für einen wunderschönen Acuto gibt. Davor allerdings ist sie neben ihm wenig zu hören, man denkt unwillkürlich an eine Musetta, weniger an eine Mimi.

Noch weniger als eine Mimi ist der Sopran bereits eine Minnie, während sich der Tenor in der Fanciulla del West ganz in seinem Element befindet. Besser harmonieren die Stimmen im ersten Teil von Il Tabarro in der Schilderung der schönen Tage in É ben altro il mio sogno.

Riccardo Frizza ist ein erfahrener Dirigent im italienischen Fach, und auch an der Sinfonia Varsovia ist nichts auszusetzen, aber insgesamt ist wohl diese CD eher ein Liebesbeweis Alagnas für die noch nicht so berühmte Gattin als eine reife, künstlerisch hoch befriedigende Leistung (Sony 19075879232). Ingrid Wanja

 

Zu neuen Ufern

 

Von Anfang an wie ein nicht integrierbarer Fremdling wirkt der peruanische Tenor Juan Diego Flórez in der Zürcher Inszenierung von Massenets Werther, wenn er das Haus des Amtmanns in Wetzlar betritt. Bühnenbildner Klaus Grünberg hat ein Einheitsbühnenbild geschaffen: ein großer Raum ganz aus lichtem Holz mit  Wandschränken, Borden und vielen Türen, nicht unfreundlich, aber doch einengend und nicht immer dem Willen der Bewohner gehorchend, wenn diese das Haus verlassen wollen. Einmal versucht Werther der Enge und seinem Gefühlsüberschwang zu entkommen, indem er einige Dielen aus dem Boden reißt, Charlotte gelingt es nicht, die Tür zu öffnen, um zu dem sterbenden Werther zu eilen, er fällt ihr blutend, noch das Pistol in der Hand, durch dieselbe entgegen, und erst während der Sterbeszene heben sich die Wände und gegen den Blick auf Schneefall, Sternenhimmel und wohl auch einen dahinziehenden Erdball frei. Ein altes Ehepaar, wohl Charlotte und Werther bei einem möglichen glücklichen Ausgang der Geschichte, umtanzt die beiden mit dem Kopfputz, den sie auf dem Ball trugen, wobei fraglich ist, ob Werthers Charakter ihn fähig zum männlichen Teil eines Philemon- und- Baucis-Glücks machen würde. Die Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist also einerseits hochsymbolisch, zum anderen werden einige Szenen ins Sarkastisch-Groteske, ja Abstoßende gewendet, wenn im zweiten Akt einer Alten von den beiden Junggesellen gewaltsam Alkohol eingeflößt wird oder den anderen armen Betagten die von Charlotte servierten Tortenstücke entrissen werden. Zur dem dem German trash zugeneigten Teil der Inszenierung gehören auf jeden Fall auch die ausgewählt hässlichen Kostüme von Silke Willrett. Zwar erwartet man nicht unbedingt das berühmte schlichte weiße Kleid mit rotem Gürtelband, aber das Ungetüm von rosafarbenem Rüschenkleid ist eine Beleidigung für den Geschmack von Charlotte, und auch Sophie hat die grässliche Kombination von Leopardenmantel mit grellgrüngestreiftem Pullover plus grell rot kariertem Rock nicht verdient. Verschont bleibt allerding Werther, der im weißem Hemd und schwarzer Hose auftritt, die in der Goethezeit zum Modehit avancierte gelbe Weste gibt es nicht, wohl aber dieses Gelb in allen Gewändern der Kinderschar. Ist dieser Teil der Optik ein erhebliches Manko der Produktion, so ist die Personenregie, insbesondere für die Titelfigur eine so feine wie ausgefeilte, und der Tenor zeigt bei seiner Repertoireerweiterung, die Aufnahme entstand im Frühjahr 2017, nach dem französischen Orpheus und dem Roméo, dass er anders als bei seinem Duca, auf dem richtigem Weg ist. Hoffmann und der Massenet-Des-Grieux sollen folgen. Die Stimme ist dunkler und tragfähiger geworden und kann sich auch gegenüber dem reichen Orchestersound durchsetzen.

Keine bekannten Sängerstars sind neben dem Startenor zu erleben, und doch fällt keiner der Mitwirkenden ihm gegenüber ab. Anna Stéphany ist eine schlanke, mädchenhafte Charlotte, die in dieser Produktion zur gleichberechtigtem Heldin neben der Titelfigur wird, mit einem leidenschaftlich ausgetragenen Kampf zwischen Neigung und Pflicht, dargeboten von einem hellen, leichten, gut tragfähigen und geschmeidigen Mezzosopran. Keine Soubrette, sondern eine beherzte Sophie mit schönen lyrischen Mitteln ist Mélissa Petit. Oft als bebrillter Langweiler dargestellt, wird Albert hier mit Audun Iversen zum durchaus attraktiven, auch menschlich ansprechenden, weil mitempfindenden und -leidenden Dritten im unglücklichen Bunde und ist zudem mit einem kernigen Bariton begabt. Auch Le Bailli hat in der Darstellung durch Cheyne Davidson sympathische Züge. Die Karikatur ist den allerdings dazu herausfordernden Nebenpersonen vorbehalten. Cornelius Meister weiß das Orchester des Zürcher Opernhauses sowohl im Ausmalen der Stimmungen in zarten Pastellfarben wie im schneidenden Aufbrausen des dramatischen Aplombs sicher und einfühlsam zu führen. Abgesehen von einigen optischen Auswüchsen, die aber die Hauptpersonen kaum tangieren, ist das eine sehens-, vor allem aber hörenswerte Aufnahme (Accentus Music ACC 10427). Ingrid Wanja    

Mehr als „Ombra mai fu“

 

Serse ist Georg Friedrich Händels drittletzte Oper und ein vielfältiges Werk, geprägt vom Wechsel zwischen Arien, Arietten und Ariosen, dazu gibt es drei kurze Duette und einen eigenständigen Chor. Von den über 30 Arien sind mehr als 20 einteilig und folgen nicht der Dacapo-Form. Die aus dieser Struktur folgenden schnellen und kontrastierenden Wechsel mit teilweisem Miniaturcharakter stammen aus der venezianischen Oper und bieten kurzweiliges Vergnügen. Das originale Libretto zu Serse von Nicolò Minato wurde in einer Vertonung Cavallis 1655 in der Lagunenstadt aufgeführt, ein „Ombra mai fu“ findet sich bereits hier. Eine stark überarbeitete Fassung des Textbuchs durch Silvio Stampiglia  vertonte Giovanni Battista Bononcini für Rom 1694, erneut mit einem „Ombra mai fu“, das eine grobe Ähnlichkeit mit Händels berühmter Vertonung hat. Dafür gibt es einen naheliegenden Grund: aus einer Abschrift von Bononcinis Partitur entlehnte sich Händel musikalische Anregungen für einige Werke, sein 1738 gespielter Serse beruht auf Bononcinis Motivfragmenten und dem historischen Vorläufer, den Text adaptierte und kürzte Händel vermutlich selber. Die verworrene Handlung lässt sich kaum nacherzählen, der persische König Xerxes (Serse) ist zwar verlobt mit Amastre, will aber plötzlich Romilda heiraten, die bereits mit Xerxes Bruder Arsamene verbunden ist, in den wiederum auch Romildas Schwester Atalanta verliebt ist. Es gibt die üblichen Irrungen und Wirrungen und ein lieto fine aus heiterem Himmel. Serse ist ein Dramma per musica mit humorvollen Szenen, musikalisch liebevollen Porträts, einem sprunghaften Tyrann und einem komischen Diener – der barocke Heroismus der Herrscherfigur kann ironisch gebrochen werden, Serse ist dann eine Tragibuffo.

Im Herbst 2017 soll es stehende Ovationen in der Opéra Royal zu Versailles für eine konzertante Aufführung von Serse gegeben haben. Die Deutsche Grammophon hatte eine glückliche Hand, als sie diese Besetzung im Januar 2018 zu einer Aufnahme in der Villa San Fermo im italienischen Lonigo bei Vicenza im Veneto versammelte. Es handelt sich um die erste Gesamteinspielung mit einem Countertenor in der Titelrolle. 1728 hatte Händel mit Caffarelli einen Starkastraten zur Verfügung und entsprechend groß und schwierig gestaltete er die Titelfigur, Franco Fagioli verleiht Serses Stimmungsschwankungen nun seine Stimme und das mit Bravour. „Ombra mai fu“ zu Beginn ist voller geschmeidiger Wärme und samtiger Klangfarbe (es bietet sich übrigens ein Vergleich an, Fagioli hat auf seiner Anfang 2018 erschienen CD mit Händel-Arien mit gleichem Orchester dieses Stück getragener interpretiert. Auch „Crude furie“ ist dort enthalten). Die drei großen Dacapo-Arien sind alle vorbildlich gelungen, ob nun in „Piu che penso alle fiamme“ oder „Bramate d’amar“, Fagioli präsentiert seine Kombination aus Technik und Ausdruck, virtuos und charakteristisch mit geerdetem Timbre und stets verführerisch. Das entfesselte „Crude furie“ ist für Fagioli ein Bravourstück, dessen Spannweite zwischen tiefen und hohen Tönen mit schwindelerregender Stimmakrobatik in rasantem Tempo aktuell kein anderer so überzeugend meistert. Als Romilda hat man mit Inga Kalna eine große, voluminöse Stimme gewählt, stimmig im Ausdruck, technisch tadellos, und doch zu Beginn ein wenig gewöhnungsbedürftig, denn ihre Klangfarbe ist reif und erwachsen, kaum jugendlich und damit fast schon zu souverän für die gebeutelte Protagonistin. Die beiden Hosenrollen sind mit Vivica Genaux und Delphine Galou besetzt. Genaux ist technisch noch immer überzeugend und souverän in der Gestaltung, wie sie bspw. „Or che siete, speranze, tradite“ vor Erregung vibrieren läßt, hat Klasse. Delphine Galou hat sich über das letzte Jahrzehnt zu einer der gefragtesten Contralto-Stimmen im Barock-Repertoire entwickelt, ihre Stimme ist klar, geradeaus und gefühlvoll, souverän meistert sie die Koloraturen in „Saprà delle mie offese“. Und auch mit Francesca Aspromonte als Atalanta hat man eine attraktive Stimme, die man in einer größeren Rolle zu hören wünscht. Beachtenswert gut sind ebenfalls die beiden Bässe, Andrea Mastroni als profunder Ariodate und insbesondere Biagio Pizzuti in der Partie des Elviro besitzt eine wohlklingende Stimme mit Statur und Verwandlungsfähigkeit, die Buffo-Partie zu Beginn des zweiten Akts interpretiert er derb komisch. Die 12 Chorsänger (jede Stimmlage dreifach) der Cantica Symphonia passen sich tadellos ein. Neben Streichern und Continuo erfordert Serse Fagott, Trompete und doppelt besetzte Flöten, Oboen und Hörner. Dirigent Maxim Emelyanychev und das mit 25 Instrumenten besetzte Il Pomo d’Oro verleihen der Partitur nuancierte Dynamik, man musiziert expressiv und energisch vorwärtsdrängend, stets animiert und engagiert, oft mit Vehemenz und Entschiedenheit. Man schwelgt, ohne betulich zu werden, manch traurige und schmachtende Stelle kann man vielleicht noch größer betonen, aber im Gesamteindruck ergibt sich ein homogener Eindruck. Die Aufnahmetechnik überzeugt, der dichte Klang der Aufnahme ist sehr gut, die Ouvertüre springt ins Ohr, die Balance zwischen Gesang und Musik wirkt optimal. Die Deutsche Grammophon präsentiert eine herausragend gut gelungene und hochwertig homogene Neueinspielung, die Freude bereitet. Ein wenig mehr Mühe und Sorgfalt hätte man dennoch erwarten können. Für viele ist Serse eine Oper von Händel oder Haendel, für die DG handelt es sich um ein Werk von Handel. Wieso ein deutsches Label George Frideric statt Georg Friedrich schreiben muss, mag man vielleicht noch mit kommerziellen Gründen erklären. Das lediglich zweisprachige Beiheft ist neben Englisch auch in Deutsch, das Libretto neben dem Original allerdings nur in Englisch und nicht in Deutsch verfügbar. Als Aufnahmezeitpunkt wird  11/2018 angegeben, gemeint ist wahrscheinlich Januar 2018 (3 CD, Deutsche Grammophon, DG 483578). Marcus Budwitius

Eugen d’Alberts „Revolutionshochzeit“

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Eugen d’Albert ist heute nur noch – wenn überhaupt – durch seine Oper Tiefland bekannt, wenig gespielt, ein paar Mal aufgenommen und in Ausschnitten noch ab und zu im Radio gesendet. Das ist eine Ungerechtigkeit, denn d’Albert (Eugène Francis Charles d’Albert, kurz Eugen d’Albert (10. April 1864 in Glasgow –  3. März 1932 in Riga) zählte vor dem Kriege zu den am meisten gespielten Komponisten, schon wegen des Tieflands, das so gut wie alle großen Sänger im Repertoire hatten und das an jeder deutschsprachigen Bühne lief. Aber auch andere Opern von ihm, wie Die schwarze Orchidee oder Der Rubin/Der Stier von Toledo finden sich bis zum Krieg auf den Listen der beliebten Stücke. Und dann Schluss.

„Revolutionshochzeit“: Eugen d’Albert, um 1900/ Wikipedia

Es war da schon eine Sensation, dass das Theater Eisenach (nicht gerade die Met) 1994 mit d´Alberts Revolutionshochzeit herauskam, die älteren Kinogängern vielleicht noch wegen der zahlreichen Verfilmungen der Story oder wegen des Theaterstücks in Erinnerung war. Kurz nach der Wende machte sich also halb Berlin – ich auch – auf die Reise nach der Stadt an der Wartburg. Und Produktion (der Uraufführung in Leipzig 1919 nachempfunden) wie Wiedergabe rissen den Besucher vom Sitz. Die aufregenden Farben im Orchester, der gelungene Wechsel zwischen Parlando und großem Singen, die geschickte Anlage des Librettos und der ganze mitreißende Fluss des Dramas ließen erstaunen. Warum also wird diese Oper nie aufgeführt? Statt der x-ten Tosca oder Butterfly? Man rätselt. Um so wichtiger scheint uns als operalounge.de-Anwälte für das Besondere deshalb ein Artikel zur Oper von dem Mann, der dieses Wagnis in Eisenach einging, der Dirigent Harke de Roos, dem wir für das Nachstehende danken. G. H.

 

Nun also Harke de Roos: Was für ein ewiges Thema sind Liebesbeziehungen unter dem Schatten der vielen Unruhen in Europa – ob nun in moderner oder historischer Zeit ein vielbearbeitetes Sujet. Und was für ein allumfassender Europäer war doch Eugen d’Albert! Der Vater wohnte zeitlebens in Großbritannien, war aber ein Franzose italienischer Abstammung, der Großvater – und dies ist nicht ohne Interesse in Bezug auf die „Revolutionshochzeit“ – Napoleons Adjutant!

Nur scheint die väterliche Erbanlage für Eugen d’Albert bei weitem nicht so wichtig gewesen zu sein wie die deutsche Abstammung der Mutter: Bereits als junger Mann zog der immens begabte Eugen nach Thüringen (daher die erfolgreichen Bestrebungen, die Revolutionshochzeit am Landestheater Eisenach 1994 aufzuführen), um von dort aus die Eroberung des deutschen Kulturraumes anzustreben. Nirgendwo taucht in d’AIberts Biographie der Vater oder das Geburtsland Schottland je wieder auf, lediglich die für die Schotten sprichwörtliche Beziehung zum Geld scheint er im Reisegepäck behalten zu haben. Die „Wahlväter“, die geistigen Vorbilder, waren Liszt und Wagner; Nachfolger von beiden wollte er in einem werden. Hätte er sich auf eine der beiden Ambitionen beschränkt, so wäre sein Erfolg gewiss dauerhafter geblieben. Immerhin galt er um die Jahrhundertwende als der weltbeste Konzertpianist und der legitime Nachfolger des legendären Liszt. Zwanzig Jahre später war dieser Führungsanspruch stark umstritten, aber zu diesem Zeitpunkt wurde er von mehreren Kritikern als der bedeutendste deutschsprachige Opernkomponist betrachtet. Damit trieben diese d’Albert förmlich in den Ring zum Zweikampf mit Richard Strauss, der für sich die Führungsrolle beanspruchte und keinen Rivalen neben sich duldete.

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„Revolutionshochzeit“: Szene aus der Aufführung in Eisenach 1994/ Foto Theater Eisenach

Rivalen: Es war von vornherein ein ungleicher Wettstreit. Zwar hat Strauss nicht mehr Opern als d’Albert komponiert, und ebenso wenig hatten diese, wie beim Kontrahenten, alle die gleiche Qualität. Jedoch war Strauss im Großen und Ganzen stilsicherer als d’Albert, er verfügte über die besseren Librettisten, und seine Orchestrationskunst konnte von niemandem übertroffen werden. Überdies war Strauss, der waschechte Deutsche, schottischer noch als die schottischsten Schotten, ein „Industrieritter“, wie Gustav Mahler zu sagen pflegte, denn er verstand sich bestens auf den Verkauf und Vertrieb seiner Kompositionen. Ein außerordentlich stabiles Eheleben unterstützte den Wirkungskreis seiner musikalischen Tätigkeiten. dagegen immer auf’s neue durch zwei gewaltige Kräfte in Frage gestellt, und zwar durch die eigene faszinierende Wirkung auf Frauen sowie die Anziehungskraft, welche die Frauen auf ihn ausübten. Zu jedem Zeitpunkt konnte es passieren, daß eine neue Liebe wie eine Naturkatastrophe in seinen Lebenslauf einbrach und sein bisheriges Dasein bis auf die Grundfesten zerrüttete. Langjährige Freundschaften, wertvolle Geschäftsverbindungen und das überaus geliebte Geld wurden bei Ausbruch dieser Naturgewalten ebenso in Mitleidenschaft gezogen wie d’Alberts Ansehen in der Öffentlichkeit. An der Seite der achten Gefährtin starb er 68jährig in Riga an den Folgen der Aufregung über die misslungene Scheidung von hn der sechsten, ein unwürdiges Ende eines Lebens, das im Zeichen

„Revolutionshochzeit“: Szene aus der Uraufführung in Leipzig 1919/ Foto Sammlung HDR

der Musik gestanden hatte.

Vermächtnis: Kurz vor seinem Tod hatte d’Albert, der um sein Scheitern wusste und schwer darunter litt, seine Partituren der Berliner Akademie der Künste vermacht mit der dringenden Bitte, sich für seine vernachlässigten Geisteskinder einzusetzen. Bis heute sind sie dort nicht angekommen. Im erschütternden Testament erklärt er, dass er nur Richard Strauss für kompetent hält, den Wert seiner Opern richtig zu erkennen und deren Pflege fachgerecht zu übernehmen. Dennoch sollte man „den nicht bemühen“, was wohl als Kapitulationserklärung angesichts des Rivalen aufzufassen ist, vor dem Mann, der ihm einst, aus Anlass der Uraufführung von d’Alberts erster Oper (Der Rubin) geschrieben hatte: „Opern“ schreiben ist nicht schwer, sie aufzuführen dagegen sehr! “

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Verborgene Stärken: Die vergessenen Opern brauchen den Vergleich mit dem Opernschaffen des siegenden Rivalen keineswegs zu scheuen, und dabei wollen wir den Rang von Richard Strauss mitnichten abstreiten. Gerade in den vermeintlichen Schwächen d’Alberts stecken verborgene Stärken. Richtig ist, daß d’AIbert sich ungenierter als Strauss der Einfälle anderer Komponisten bediente, nur wäre es verfehlt anzunehmen, dies wäre die Folge mangelnder Persönlichkeit. Die Kraft und Eigenart d’AIberts liegen gerade in seiner Gabe, sich in die Haut anderer versetzen zu können, in seiner Bereitschaft, auf die Sprache der Mitmenschen einzugehen und überhaupt im Offensein für tausendundeinen Einfluss.

Kein zweiter deutscher Komponist fand auf solch leichte Art Zugang zur spanischen Folklore (Der Stier von Olivera zu den bretonischen Volksweisen Liebesketten, zum Jazz (Die schwarze Orchidee) oder zum französischen Impressionismus (wie zum Beispiel in der Hommage an Ravel, der Aschenputtel-Suite). Auch in der Revolutionshochzeit trifft man auf liebevolle Anklänge an das Oeuvre von Wagner, Puccini, Tschaikowsky und Humperdinck, welche eine entwaffnende Naivität verraten. Jedoch fehlt es nicht an der eigenen unverwechselbaren Handschrift, wie wir sie aus dem Tiefland kennen.

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„Revolutionshochzeit“: Fritz Kortner in der Verfilmung der Vorlage 1938/ OBA

Musikalische Malereien: Bei der Behandlung der Orchesterinstrumente steht ihm oft sein eigenes glänzendes pianistisches Können im Wege, nur ist dies eher ein spieltechnisches denn ein musikalisches Problem. Natürlich wird die vielfältige Palette des spätromantischen Orchesterapparates auch von ihm voll ausgeschöpft. Allerdings ist er in der Behandlung der Gesangsstimmen „italienischer“ als Strauss: Sorgfältiger als sein übermächtiger Rivale achtet er darauf, dass die Orchesterinstrumente die gesungenen Linien nicht überdecken. Wie im Schaffen von Strauss gibt es in der Revolutionshochzeit eine reichhaltige Abwechslung von äußerlich-theatralischen Effekten und verinnerlichten Passagen. Auf großartige Weise werden die Protagonisten in Tönen geschildert. Der in Etiketten erstarrte Adlige wird von einer Auslese an Menuetten charakterisiert, die ihresgleichen in der Opernliteratursucht. D’Albert zeigt Sympathie für den oberflächlichen Marquis, der gerade durch seine Oberflächlichkeit der tödlichen Gefahr entkommt, und schenkt ihm, als er seinen Abschiedsbrief an die Mutter schreibt, eine wunderbare, mitleidsvolle Musik. Aber auch Marc-Arron, der Revolutionär bäuerlicher Herkunft, bekommt eine eigene, außerordentlich warme Begleitung im Orchester. Unübertroffen das Tongemälde für die weibliche Hauptperson, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Liebe konfrontiert wird, was sie in die Katastrophe treibt. Hier wird der Frauenkenner zum Großmeister der musikalischen Charakterisierungskunst.

Von ganz besonderer Art ist das gewaltige Vorspiel zum dritten Akt. Die Liebesnacht erscheint hier nicht so sehr sinnlich-irdisch als eher sublimiert und mit einem Hauch von Mythologie. Auch die Form stimmt: Auf kluge Weise sind die Motive miteinander verbunden und tragen zur architektonischen Einheit des Ganzen bei. Die Harmonik der Oper setzt die Chromatik von den Strauss-0pern Salome und Elektra fort, vermeidet jedoch jede Atonalität. Die allergrößte Stärke des Werkes liegt zweifellos in der Schilderung des Seelendramas: Die Musik folgt den Stimmungen auf dem Fuß ist stürmisch, verklärt melancholisch, gewalttätig, leidenschaftlich liebend, erfasst all das, was große Musik auszudrücken hat: die wechselnden Geschicke der menschlichen Seele und die schlüssige Erzählung ihrer Leidensgeschichte. Harke de Roos

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„Revolutionshochzeit“: Hans Lissmann sang 1919 in der Uraufführung/ Foto Krugmann

Der Librettist Ferdinand Lion (11. August 1883 in Mülhausen/Elsass21. Januar 1965 in Kilchberg (bei Zürich): Lion studierte in Straßburg, München und Heidelberg Geschichte und Philosophie. In Paris, wo er sich mit Andre Gide befreundete, begann er seine schriftstellerische Laufbahn und war während des 1. Weltkrieges auch als Journalist tätig. 1917 lernte er in München Thomas Mann kennen und wurde ein Freund der Familie. Nach Kriegsende blieb er in Deutschland. In Frankreich hatte ihn der Verdacht, Leitartikler der deutschfreundlichen „Gazette des Ardennes“ gewesen zu sein, für kurze Zeit ins Gefängnis gebracht. Lion wurde Lektor im Berliner Verlagshaus  Ulllstein und lernte spätestens zu dieser Zeit Alfred Döblin kennen. Aus Deutschland wurde der Jude Lion 1933 vertrieben, worauf er in die Schweiz emigrierte, zunächst nach Zürich. Doch auch dort blieb er nicht lange. In einem Nachruf auf ihn heißt es: ,,Er besaß einen Koffer als einzigen Hausrat. Er reiste nicht ab, er verschwand, und er kam nicht an, er tauchte wieder auf“. Lion hat sich einem historischen Zugriff seiner Person gegenüber weitgehend zu entziehen vermocht und in seinem \Verk dafür ein geradezu universalistisches Spektrum an Veröffentlichungen hinterlassen. Er war sowohl Dichter als auch Literaturwissenschaftler, Historiker, Staatsdenker und Philosoph. Neben den Libretti für Eugen d’Alberts Opern Revolutionshochzeit und Der Golem stammt von ihm auch das Libretto für Paul Hindemiths Oper Cardillac. Darüber hinaus verfasste Lion in den zwanziger Jahren auch Lustspiele. Seine Komödie Zwischen Indien und Amerika war im Berliner Theater am Schiffbauerdamm angenommen und einstudiert, als einen Monat zuvor für dreißig Aufführungen das Stück eines jungen Augsburgers gezeigt wurde. Es hieß Die Dreigroschenoper, sein Autor Bertolt Brecht, und dessen Erfolg überrollte das angesetzte Lustspiel. Der Komödienschreiber trat darauf zugunsten des Essayisten Lion zurück. Letzterer schrieb unter anderem literaturwissenschaftliche und politische Abhandlungen und Biographien über seinen Freund Thomas Mann. Kathrin Singer

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„Revolutionshochzeit“: Gösta Ekman spielte 1928 in der schwedischen Verfilmung von „Revolutionsbröllup“/ Künstlerpostkarte/  Terra Film/ Sammlung HDR

Die Volage von Sophus Michaelis (14. Mai 1865 in Odense/Dänemark28. Januar 1932 in Kopenhagen). Sein Vater war deutsch, seine Mutter spanischer Abstammung. 1884 begann Michaelis ein Studium in Odense mit Französisch als Hauptfach. Der Musik- und Theaterbegeisterte hatte seine ersten Erfolge und künstlerisch eigenständigen Leistungen auf dem Gebiet der Lyrik; seinen Romanen, vor allem aber seinen wenigen Schauspielen, wird von der Literaturkritik daher gewöhnlich nicht ganz zu Recht nur un te rgeordn ete Bedeutung beigemessen. Seinen größten und weit über die Grenzen Dänemarks hinausreichenden Publikumserfolg verdankt der Autor dennoch letztlich einem Drama, nämlich der Revolutionshochzeit (Revolutionsbryllup, 1906). Es wurde im Verlauf von wenigen Jahren in sechs Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt (1909 dänisch, 1912 deutsch, 1915 dänischer Tonfilm, 1928 deutscher Tonfilm als Die große Liebe/A. W. Sandberg mit Gösta Ekberg, 1938 deutscher Tonfilm mit Brigitte Horney). Dazu kamen viele Aufführungen des Stückes auch in Deutschland, so am Berliner Komödienhaus. Die Uraufführung der Oper war am 26. Oktober 1919 am Neuen Stadttheater Leipzig.  Sophus Michaelis wirkte von 1896 bis 1898 als Redakteur und veröffentlichte Kritiken zu Literatur, Kunst, Musik und Theater. 1915 übernahm er die Leitung des dänischen Schriftstellerverbandes. Michaelis machte sich auch als Übersetzer einen Namen, so übertrug er vor allem Werke Goethes, Flauberts (Salammbo) und Eschenbachs (Parzival) ins Dänische. Seinen literarischen Durchbruch erreichte er mit seinem Gedichtband Sonnenblumen. Aufenthalte im Ausland, so in Ägypten, Amerika, Japan und China, beeinflussten sein lyrisches Schaffen. Außerdem vermochte er es, ,,in Wörter zu malen“ – Michaelis ließ sich von den Bildern berühmter Maler wie Rembrandt, Tizian, Verocchio und des dänischen Künstlers Vilhelm Hammershold zu Gedichten inspirieren. Kathrin Singer

 

Der Dirigent, Autor und Musikwissenschaftler Harke de Roos, Autor des Artikels/ Foto Harke de Roos

(Die obenstehenden Texte entnahmen wir mit Dank an Harke de Roos und an Kathrin Singer mit kleinen Änderungen dem Programmheft zur modernen und bislang einzigen (Erst-)Aufführung des Werkes am Theater Eisenach 1994, die damals von der Initiative des dortigen musikalischen Leiters, des Dirigenten Harke de Roos, getragen wurde, der seinen Artikel  ebendort veröffentlichte. Die Revolutionshochzeit wurde in Eisenach 1994 mit Ingeborg Zwitzsers, Kai Konrad, Thomas Enders, Günther Köbrich sowie Jeanette Ender/ Sonja Müller unter Harke de Roos‘ Leitung in der Produktion von Andreas Basler aufgeführt. In der Leipziger Uraufführung 1919 sangen unter der musikalischen Leitung von Otto Loose Aline Sanden, Hans Lißmann, Rudolf Jäger, Walter Soomer u. a.; musikalische Dokumente sind von dieser Oper m. W. nicht existent; Harke de Roos lebt heute in Graz und kann auf eine lange und erfolgreiche Karriere zurückblicken. Zur Handlung und zum Komponisten gibt es Artikel bei Wikipedia, zu Harke de Roos s. seine website. Abbildung oben: „Französische Revolution“ von Jose Pimentel-Vazque. G. H.)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Bemerkenswertes  CD-Debüt

 

Ein noch  ganz am Beginn einer Karriere stehender möglicher künftiger Stern am Opernhimmel scheint die belgische Sopranistin Iris Hendrickx zu sein, von der es eine CD mit bekannten und weniger bekannten Arien aus französischen Opern zu bestaunen gibt, denn verwunderlich ist, dass eine solche Stimme noch nicht den Weg auf die Bühne gefunden hat, wenigstens gibt es keinerlei Eintrag in der doch sonst bestens informierten Internetseite Operabase. Auch das höchst knapp gehaltene Booklet weiß zwar von den Stücken, aus denen die Arien sind, zu berichten, nichts aber über die Interpretin. Google präsentiert immerhin einige Fotos einer sehr hübschen, empfindsam aussehenden Blondine, die auch optisch sehr gut in die Rollen passen könnte, die sie zumindest jeweils mit einer Arie auf ihrer CD verkörpert.

Die erste davon ist die Marguerite von Gounod, die sie nicht mit der Juwelenarie präsentiert, sondern mit Il ne revaint pas, wozu das von einem Hauch von Melancholie umflorte Timbre der Stimme, die trotzdem zu leuchten versteht, besonders gut passt. Die feinen Farben der Stimme korrespondieren mit denen des Orchesters, der Vortrag ist voll sanfter Trauer, die Emission der Stimme ist angenehm leicht und der Intervallsprung gelingt gut. Das Französisch, die Artikulation der jungen Künstlerin sind das/die denkbar beste. Auch für ihre Darstellung der Juliette wählt sie nicht die lebensfrohe erste Arie, sondern Amour, ranime mon courage, obwohl man ihr auch, so leichtgängig und hell leuchtend ist der Sopran, den jugendlichen Übermut zutrauen kann.  Zu den dem Opernbesucher vertrauten Arien gehört auch die der Micaela aus Bizets Carmen, die mit feinem Vibrato gesungen wird und die besonders mädchenhaft lyrisch klingt. Offenbachs Antonia singt Iris Hendrickx mit zärtlicher Innigkeit, die Zerbrechlichkeit der Figur in ihrem Gesang betonend.

Viel Gefühl für Rhythmus zeigt die Sängerin in der chansonhaften Arie der Amanda aus Poulenc Leocadia. Nicht einmal in guten Opernführern ist Saint-Saens Henri VIII. zu finden, aus dem der Abschied der Catherine Je ne te reverrai jamais…stammt, dem man einen höheren Bekanntheitsgrad zutraut, wenn er so einfühlsam mit schwebenden Piani gesungen wird, die wie ein Verlöschen bereits vor dem eigentlichen Ende klingen. Auch für Debussys Lia aus L’Enfant Prodigue hat der Sopran gut tragende Pianissimi. Aus Lalos Fiesque stammt die Arie Une femme viendra, die verträumt naiv klingt, und bei deren Hören nicht zum ersten Mal auffällt, dass Iris Hendrickx jeder Figur etwas Charakteristisches, Besonderes mitzugeben hat.

Sie kann sich glücklich schätzen, einen in diesem Fach so erfahrenen Begleiter wie Patrick Fournillier mit dem Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi, an dessen Sitz die CD 2017  auch entstand, zur Seite gehabt zu haben. Das Erscheinen der jungen Sängerin auf den Opernbühnen dürfte nur eine Frage der Zeit oder der Entdeckerfreude der Theater sein (Centaur 3670). Ingrid Wanja

„Karajan – Glücksfall meines Lebens“

 

Die Karriere des Tenors Reiner Goldberg, Jahrgang 1938 und lange Jahre Startenor der Berliner Staatsoper, begann 1967 in Dresden. Seine Markenzeichen waren das leuchtende Timbre, die glänzende Tonhöhe und die intensiver Gestaltungskraft. International bekannt wurde er schlagartig als Parsifal. Die Erato-Aufnahme von 1981 war der Soundtrack zum Film, den Hans-Jürgen Syberberg nach dem letzten Werk Wagners drehte. Danach folten viele internationale Gastspiele und Opernaufnahmen. Selbst heute ist er noch in kleineren Partien zu bewjundern. Mit Rainer Goldberg Goldberg sprach Michael Stange. R. W.

 

Ein paar Worte zum Beginn ihrer Laufbahn. Ich bin im Oberlausitzer Bergland in Crostau in der Nähe von Bautzen geboren worden. In unserer Gegend waren die Menschen sehr arm. Musik hat mich schon als Kind begeistert. In unserer Kirche haben wir eine Orgel, die im 16. Jahrhundert von dem berühmten Orgelbauer Gottfried Silbermann gebaut wurde. So lange ich mich erinnern kann, habe ich Stunden in der Kirche zugebracht und der Orgel zugehört. Mein Vater spielte neben seiner Arbeit Trompete. Seine Brüder waren auch sehr musikalisch, sein Bruder Otto spielte Posaune am Stadttheater Bautzen und der Bruder Rudolf Klavier. Ich war auch sehr früh Mitglied in einem Posaunenchor, wo ich zuerst Waldhorn und dann Trompete spielte. Mein erstes Opernerlebnis war der Don Giovanni in Dresden 1955. Musik und Aufführung haben auf mich einen unglaublichen Eindruck gemacht. Don Giovanni war Arno Schellenberg und Leporello sang Theo Adam. Mit unserem Posaunenchor haben wir zu einem Geburtstag gespielt. Einer der Gäste sagte: „Mensch Reiner, sing doch was.“ Ich sang „O sole mio“ auf Deutsch, und die Gäste waren aus dem Häuschen. Damit waren die Würfel für mich gefallen.

Arno Schellenberg war Ihr Lehrer in der Musikhochschule. Meine stimmliche Ausbildung hat aber sehr lange gedauert. Große Schwierigkeiten machte die Atemtechnik. Die ersten Jahre ging es überhaupt nicht voran. Ich wollte aufhören. Mit einem Mal sah ich im Fernsehen einen Meisterkurs Gesang mit dem berühmten Kavaliersbariton der dreißiger Jahre Willy Domgraf-Fassbaender. Er erklärte seinen Schülern: „Ihr müsst locker sein, bis in die Zehenspitzen. Ruhe in den Körper und in den Atem bringen.“ Ich hatte das so noch nie gehört. Es klang einfach, den Mund locker und unverkrampft lassen, und die Stimme mit dem Atem führen. Nach einigem Probieren zu Hause gelang es mir, und plötzlich ging die Stimme wie eine Rakete in die Höhe.

 

In dieser New Yorker Produktion der Deutschen Grammophon sang Reiner Goldberg den Siegfried. Der erste Anlauf auf die Rolle war 1983 in Bayreuth nicht zustande gekommen/ daraus oben ein Ausschnitt/ Foto Met Opera Archive/ DG.

Sie schätzen Aufnahmen von Sängern der Vergangenheit. Gerade für das Erlernen der Atemtechnik ist das Hören alter Schallplatten unglaublich wichtig, weil diese Sänger davon viel mehr verstanden als wir heute. Ich spiele meinen Schülerinnen zum Beispiel Platten von Elisabeth Rethberg vor. Bei Ihrer Aufnahme der Arie „L’amerò saro costante“ aus Il re pastore hört man, wo sie den Atem setzt. Sie macht das so geschickt, dass sie dadurch die Schwierigkeiten der Arie viel besser meistert und sich nicht überanstrengt. Das ist für eine wortdeutliche und technisch gute Interpretation wichtig.

 

Was waren Ihre ersten Rollen in Radebeul und Dresden? Im Jahr 1965 neigte sich meine Ausbildung dem Ende entgegen, und ich wollte mich in Radebeul vorstellen. Ich wurde engagiert und debütierte als 1. Geharnischter in der Zauberflöte. Nun war ich ganz kurz im Ensemble als der Erste Tenor kündigte. Daher wurde ich gefragt, ob ich im Sommer auf der Felsenbühne Rathen den Simon im Bettelstudent singen kann. Das habe ich natürlich gemacht. Nach der ersten Vorstellung habe ich mich wie Caruso gefühlt. Das ging dann so weiter mit Puccinis Mantel bis zum Max im Freischütz. So kam es zum Gastspiel als Max in Dresden, wo ich seit 1969 gastweise und seit 1972 fest engagiert wurde. Hinzu kam im gleichen Jahr (Ost-)Berlin.

 

An der Spitze der Staatsoper stand Hans Pischner. Der war ein Theatermann der alten Schule. Er kannte jedes seiner Ensemblemitglieder ganz genau, gab ihnen Tipps für die weitere Entwicklung, wusste wo er sie einsetzen und wie er sie fördern konnte und schuf eine familiäre gute Atmosphäre. Er hielt zu Regisseurinnen wie Ruth Berghaus, von denen er überzeugt war, und zu seinen Sängerinnen und Sängern. Er hatte sehr konkrete und praktische Ideen, was er machen wollte und wie er seine Ziele umsetzen konnte, ohne sich den Staat zum Feind zu machen. Pischner liebte Webers Oberon. Bald nachdem ich in Berlin anfing, sagte er mir, dass er mich als Hüon wolle. Kurz nach seinem hundertsten Geburtstag habe ich Pischner noch einmal getroffen, und er hat mich sofort erkannt, mich umarmt und gerufen: „Ach mein Hüon.“ Im Wagnerfach hat er mich auch gesehen, aber er hat mir geraten, mir viel Zeit zu lassen und mich in Ruhe darauf vorzubereiten.

 

„Mit dem Aaron habe ich vielleicht einen Weltrekord erreicht. Diese Rolle habe ich mindestens 59mal gesungen“, so Goldberg. Moses und Aron wurde noch in der DDR unter Herbert Kegel eingespielt.

Den Siegmund sangen Sie um 1972 in Dresden. Haben Sie sich mit Rollenvorgängern wie Ernst Gruber oder anderen ausgetauscht? Das war ein Zufall, weil ein Kollege ausgefallen war. Damals lag mir die Rolle ein wenig zu tief, und ich fand sie auch zu dramatisch. Aber die Vorstellungen mussten ja stattfinden, und so habe ich das dreimal gemacht. Komischerweise war das nach dem Freischütz auf Anstellung in Dresden meine zweite Rolle. Dazu muss ich eine Geschichte erzählen, weil Sie Ernst Gruber ansprechen. Ich habe die Walküre das erste Mal in Dresden 1959 gehört. Mein Onkel hatte Karten besorgt, Ernst Gruber – den ich noch heute sehr bewundere – sang den Siegmund und es war das zweite oder dritte Mal, dass ich eine ganze Oper hörte. Es war auch mein erster Wagner. Nun wurde ich im ersten Akt ein wenig unruhig, weil es mir zu lange dauerte und im zweiten Akt bin ich eingeschlafen. Meine Einstellung hat sich natürlich später gewandelt, aber denken muss ich an dieses erste Wagner-Erlebnis sehr oft. Seltsamerweise bin ich Ernst Gruber nur einmal Mitte der siebziger Jahre begegnet. Wir stellten uns mit großem Brimborium und gegenseitigen Respektbezeugungen einander in der Kantine der Staatsoper vor. Dann erzählte ich ihm aber die Geschichte meiner ersten Walküre mit ihm, wir haben Tränen gelacht.

 

Der große Schritt ins Wagnerfach war 1978 der Tannhäuser in Dresden mit Harry Kupfer. Diese Rolle hatten Sie länger als die berühmten Tenöre der dreißiger Jahre Max Lorenz und Lauritz Melchior im Repertoire. Da muss man sich doch nur die Noten ansehen, wieviel Piano und Pianissimo dort drin steht. Natürlich kommen auch Stellen, wo es richtig losgeht. Davon lebt ja die Musik, von den Kontrasten. Den Tannhäuser kann man stimmlich als Fortsetzung des Max oder Stolzing anlegen. Man darf keinesfalls brüllen, sondern muss in der Gesangslinie bleiben und die dramatischen Ausbrüche entsprechend gestalten. Dann erschließt sich auch das Spannungsfeld der Rolle und das Leiden des Tannhäuser an seiner Zerrissenheit. Letztlich habe ich meine ursprüngliche Gesangslinie im Tannhäuser nie verlassen, aber auch von meinem Metall und der Durchschlagskraft in der Höhe profitiert. Die Stimme muss mitmachen. Ich brauchte viel Zeit, um die Rolle zu verinnerlichen und sie weiter zu entwickeln. Insofern ist das erste Mal nur ein Versuch. Man steht am Fuße des Berges und braucht lange zum Gipfel. Man braucht aber auch gute Partner, um eine stimmige Gesamtleistung zu erreichen. Meine Stimme wurde über die Jahre runder und dunkler. Trotzdem habe ich weiter lyrische Rollen auf der Bühne und im Rundfunk gesungen und bin auch den Oratorien treu geblieben. Mit dem Tannhäuser bin ich um die Welt gereist. Die Rolle habe ich in Ungarn, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland Russland, den USA und anderswo unzählige Male gesungen. Diese Partie war sicher eine der Rollen meines Lebens.

 

Partien von Wagner, Beethoven und Weber versammelt diese Schallplatte, die noch von der DDR-Firma Eterna produziert wurde und auch im Westen erschien.

In den achtziger Jahren begann die große internationale Karriere. Mein erstes Auslandsgastspiel war im Frühling 1973 mit Bergs Wozzeck in Paris. Ich hatte den Tambourmajor erst in einigen Vorstellungen gesungen, aber die Rolle lag mir sehr gut. Das war natürlich eine riesige Sache. Als DDR- Bürger drei Wochen in Paris, das hätte ich nie zu träumen gewagt. Ich habe dort viermal den Tambourmajor gesungen. Als ich das erste Mal in Berlin die Rolle singen sollte, mussten wir für mich im Fundus ein Kostüm suchen. Zunächst fanden und fanden wir nichts. Auf einmal kam die Kostümbildnerin mit einer Jacke. Oben drin fand sich ein Name. Max Lorenz, der hatte das Tambourkostüm auch schon getragen. Nun erbte der kleine Goldberg von Lorenz Rolle und Kostüm, und das habe ich als sehr gutes Omen angesehen, das sich auch bewahrheitete. Den Tambourmajor habe ich noch 34 Jahre später in Barcelona gesungen. Für meine weitere Karriere waren zwei Gastspiele in Italien und England besonders wichtig. In Perugia habe ich 1980 Rienzi gesungen. Im Jahr davor sang ich mit Edda Moser dort in Beethovens Leonore. Wir kannten uns, weil ich auch in der drei Jahre zuvor entstandenen einer Plattenproduktion mitgewirkt habe. Als ich dort also den Florestan sang, hat ihr das so gut gefallen, dass sie mir sagte: „Sie haben so eine schöne Stimme. Ich muss das dem Karajan erzählen, der soll Sie mal anhören.“ Etwas ähnliches passierte mir in London. Ich sang in Covent Garden den Stolzing in den Meistersingern 1982 gemeinsam mit Lucia Popp. Wir haben so gut harmoniert, dass sie mich Bernhard Haitink empfahl und wir gemeinsam in München die Daphne aufnahmen.

 

In Salzburg wirkten Sie 1982 unter Karajan im Fliegenden Holländer als Erik mit. Herbert von Karajan war einer der Glücksfälle meines Lebens. Wir kamen sehr gut zu recht. Wenn ich mit ihm allein war, war er wie ein alter gütiger Vater. Ich bin wirklich froh und dankbar, dass ich das erleben durfte. Ich wurde eingeladen in die Philharmonie nach Berlin, weil Karajan sich wohl auf den Rat von Edda Moser selbst ein Bild von meiner Stimme machen wollte. Ich sang ihm also einiges aus dem Holländer vor und Christian Thielemann, der damals sein Assistent war, begleitete. Irgendwann wurde Karajan unruhig und kam auf die Bühne. „Singen Sie mir doch einmal die Romerzählung.“ Thielemann kannte das natürlich alles auswendig und begleitete bis mich Karajan bei der Stelle: “ … ein Engel hatte ach den übermütigen“ unterbrach: „Herr Goldberg, stellen Sie sich mal vor, ein Eeengel.“ Das wiederholte ich, und er kam dann zu mir, legte seine Hand auf meinen Arm und sagte: „Na Herr Goldberg, wollen wir es miteinander versuchen?“ Seine gütige Art hat mich fast erschlagen. Ich konnte kaum sprechen vor Freude.

 

„Lucia Popp hatte die Seele in der Stimme und ist für mich eine der schönsten deutschen Stimmen.“ Reiner Goldberg erinnert sich gern an die Zusammenarbeit mit der Sängerin bei dieser Produktion.

Sie wurden ja früh für Bayreuth engagiert. Meine ersten Kontakte mit Bayreuth waren 1981 das Vorsingen bei Georg Solti für den Siegfried im 1983 geplanten Ring. Auch Wolfgang Wagner war anwesend und Solti kam auf die Bühne und fragte: „Wollen Sie mein Siegfried sein?“ Er liebte meine Stimme und hat auch später noch gesagt: „Der Goldberg hat mir Proben gesungen, da ist mir das Herz aufgegangen.“ Die Rolle funktionierte musikalisch sehr gut. Schwierig war es mit Peter Hall, dessen Regieanweisungen ich wegen der Sprachbarriere oft nicht so schnell umsetzen konnte, wie er sich das wünschte. Hinzu kam, dass das Bühnenbild für den Siegfried durch einen Wasserteich sehr ungünstig war und ich darin während der Proben öfter ausgerutscht bin. Stimmlich war bis zur Hauptprobe alles in Ordnung. Den Siegfried hatte ich mir auch mit Soltis Hilfe so gut erarbeitet, dass ich fest überzeugt war, der Herausforderung des Rollendebuts in Bayreuth gewachsen zu sein. Leider bekam ich aber, wie auch in anderen wichtigen Momenten meiner Karriere, eine Halsentzündung und wurde in der Generalprobe heiser. So musste ich den dritten und vierten Akt der Generalprobe heiser durchsingen. Das hat bei Wolfgang Wagner und Solti zu so großer Nervosität geführt, dass sie mich hinauswarfen, obwohl ich bis zur Premiere wieder fit gewesen wäre und ihnen das auch gesagt habe. Über diesem Bayreuther Ring 1983 lag nun in vielerlei Hinsicht ein Fluch. Die Effekte, die sich Peter Hall ausgedacht hatte, funktionierten oder wirkten nicht. Solti ist erheblich mit den Musikern bei den Proben aneinander geraten.

 

Mit Wolfgang Wagner und Bayreuth ging es aber weiter? Nur zwei Jahre später inszenierte er in Dresden die Meistersinger, und wir trafen uns wieder. Natürlich war ich immer noch wütend, aber die Zusammenarbeit klappte gut, und ich war gut bei Stimme. Wolfgang Wagner war ein sehr herzlicher Mensch und ein wandelndes Lexikon. In Dresden setzte er sich nach den Proben in der Kantine oft zu uns, und er konnte auf jede Frage spannende Antworten geben. Nach dem Bayreuth-Debakel habe ich zwei Jahre später im Frühjahr 1985 Gelegenheit gehabt, als Siegfried in Barcelona zu debütieren. Das ging sehr gut, und das habe ich ihm natürlich erzählt. Da wurde er hellhörig. Wenig später erhielt ich eine Einladung nach West-Berlin, um ihm und Daniel Barenboim im Theater des Westens für den Bayreuther Ring 1988 vorzusingen. In seiner grantigen Art sagte er: „Keine Zugaben. Können Sie mir den Tannhäuser und den Stolzing 1986 covern?“ Natürlich war ich noch sehr böse, aber mich reizte auch die Herausforderung. Also habe ich zugesagt. In den ersten zwei Wochen war ich in Bayreuth. Ich hatte meine Eltern mitgenommen. Ein Einspringen in Bayreuth war nicht nötig, und wir fuhren zurück in die DDR. Plötzlich kam dann aber der Anruf: „Kommen Sie schnell, Sie müssen morgen den Tannhäuser singen.“ Ich fuhr rasch nach Bayreuth, hatte aber noch keine Probe mit Giuseppe Sinopoli gehabt. Der hatte am Abend meines Eintreffens auch keine Zeit, so dass wir uns erst 90 Minuten vor der Vorstellung zur ersten Probe trafen. Sinopoli war ein wunderbarer Musiker, aber er hatte eigene Vorstellungen. Wir haben also vor jedem Akt die Rolle des Tannhäuser in der Pause durchgenommen. An jenem Abend habe ich den Tannhäuser also zweimal gesungen, aber dafür einen Riesenapplaus erhalten. Nach der Vorstellung kam Wolfgang Wagner mit einem riesigen Blumenstrauß auf die Bühne und sagte zu mir: „Reiner, wir betrachten das jetzt mal als reinigendes Gewitter.“ Damit beerdigten wir unseren alten Krach. 1987 habe ich dann in Bayreuth den Stolzing in den Meistersingern gesungen. Im Jahr 1988 folgten Stolzing und Siegfried in Götterdämmerung und 1989 beide Siegfriede und Tannhäuser.

 

Leidenschaftlicher Streiter für die Oper: Reiner Goldberg in einer Diskussionsrunde. Foto Youtube

Kommen wir zu Richard Strauss. Die zentralen Partien waren für mich der Bacchus in Adriane, der Kaiser in Frau ohne Schatten und später der Herodes. Begonnen hatte es Ende der siebziger Jahre in Berlin mit der Frau ohne Schatten. Ziemlich bald kam 1983 die Bitte, in einer konzertanten Aufführung des Guntram unter Eve Queler in New York mitzuwirken. Sie war eine der ersten sehr berühmten Dirigentinnen in den USA und brachte mit ihrem Orchester immer konzertant seltene Opernwerke heraus. Wir haben noch 1992 gemeinsam Rienzi gemacht. Eine weitere wichtige Partie war der Apollo in Daphne mit Lucia Popp, die wir unter Bernhard Haitink in München aufgenommen haben. Lucia Popp hatte die Seele in der Stimme und ist für mich eine der schönsten deutschen Stimmen. Eine der Strauss-Opern, die mich musikalisch stark begeistert haben, ist Die Liebe der Danae. Die haben wir 1984 in Paris gemacht. Der Herodes ist eine Partie, die mich besonders lange begleitet hat und die ich auch auf CD eingesungen habe. Musikalisch sind die Rauschhaftigkeit und der Glanz der Musik von Richard Strauss für mich immer ein Erlebnis gewesen. Mit seinen Werken bin ich in unbekannteren Partien und in Glanzrollen um die Welt gereist, und die Aufführungen sind mit einer Vielzahl glücklicher Erinnerungen verbunden.

 

Sie beherrschen ein Repertoire von mehr als 70 großen Rollen in Oper, Operette und Konzert. Partien wie Lohengrin 1997 haben Sie vom Blatt, in Italienisch oder Englisch gesungen. Woher kommt diese Fähigkeiten zur Aneignung eines so vielfältigen Repertoires? Mir ist es schon ganz früh leicht gefallen, mir Musik vom Gehör, von den Noten und vom Wort anzueignen. Viele Rollen wie Guntram, Apollo oder Rienzi habe ich gelernt, weil ich die Musik geliebt habe. Oft war klar, dass es sich um ein einmaliges Konzert handelt. Auch dort ist das Lernen der Partie aber ein wichtiger Teil des Übens des Umgangs und des Verinnerlichens von Musik. Die Möglichkeit, die Noten während der Vorstellung vom Blatt zu singen macht es leichter, ein Stück zu singen. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle ist aber trotzdem nötig. Opern auf der Bühne zu singen wie Moses und Aaron, erfordert natürlich viel mehr Vorbereitung. Allein der schwierige Text und dann der Ausdruck. Besonders im Schlussdialog von Moses und Aaron. Das ist so schwer. Mit dem Aaron habe ich vielleicht einen Weltrekord erreicht. Diese Rolle habe ich mindestens 59mal gesungen. Das Werk wurde in Japan mit Siegfried Vogel und mir 1994 erstmals halbszenisch aufgeführt. Das war unglaublich. Der japanische Dirigent Kazuyoshi Akiyama dirigierte das, als ob es „Hänschen klein“ sei. Die japanischen Sänger und der Chor haben das mit unglaublicher Hingabe und Schönheit gemacht. Den Lohengrin hatte ich bereits Anfang der achtziger Jahre studiert. Ich konnte die Rolle vollständig vom Blatt singen und bin aber nie gefragt worden, die Partie auf der Bühne zu singen. Dann ergab es sich 1997, dass der Lohengrin der Premiere in Berlin krank geworden war und ich vier Tage vorher gebeten wurde, die Rolle von der Seite zu singen. Dazu war ich gern bereit und das hat gut funktioniert. Den Lohengrin habe ich dann auch 2002 auf der Bühne in Turin gesungen. Bei Peter Grimes haben mich einfach die Rolle und das Schicksal interessiert. Ich spreche ja kein Englisch und musste alles phonetisch lernen, aber es hat gut geklappt und viel Arbeit erfordert. Es war aber auch eine tolle Produktion mit Philippe Jordan in Graz. Am schwersten erschien mir das Studium des Siegfried. Nach dem Rienzi in Perugia 1980 und dem Vorsingen bei Herbert von Karajan war mir klar – und meine Agentin hat mich auch darauf hingewiesen -, dass bald dicke Brocken kommen könnten. Also habe ich mir nach dem Parsifal und dem Vorsingen bei Solti auch die Noten vom Siegfried angesehen und mit meinem Korrepetitor hineingerochen. Nach dem ersten Schreck über die Flut der Noten, die Länge der Rolle und die Schwierigkeiten der Partie habe ich sie wieder weggelegt. Dann hat mich die Rolle aber nicht mehr los gelassen. Sie ist musikalisch so vielfältig. Ich habe sie dann bald darauf intensiv studiert. Diese Dramatik des ersten Akts, die Poesie des Waldwebens und auch Siegfrieds Lernen der Furcht im dritten Akt ließen mich nicht mehr los und haben mich emotional unglaublich stark berührt. Später habe ich den Siegfried unter James Levine 1988 bis 89 in New York eingespielt und auf der Bühne häufig gesungen.

 

Entspannt und gelassen: Reiner Goldberg privat. Foto: Wikipedia

Ihnen gelingt es, Emotionen im Tonfall widerzuspiegeln. In den zerrissenen Partien wie Tannhäuser, Pedro, Max und Herodes wirken Sie am stärksten. Ich kann das nicht genau erklären. Bei vielen Rollen habe ich mich natürlich sehr intensiv mit dem Text auseinander gesetzt. Beim Moses sind mir bei den Proben viele Lichter aufgegangen, und wir haben das mit Harry Kupfer intensivst erarbeitet. Ähnlich war es mit dem Tannhäuser. Das haben wir lange daran gefeilt und über die Perspektiven der Rolle diskutiert. Im Tannhäuser war ich so tief drin, dass ich nicht mehr gemerkt habe, was Realität und was Bühne ist und während vieler Aufführungen unglaublich gelitten. In vielen Situationen des Zweifelns oder der Unsicherheit habe ich mich an eigene Erlebnisse erinnert. Das gilt auch für den Pedro im Tiefland. Als er Martha sieht und sich fragt, ob er ihr wohl gefallen wird, ist das wie im dem richtigen Leben. Das hatte ich dann auch im Kopf. Der Herodes ist ja nur vordergründig ein geiler alter Mann. Er ist aber auch in seiner Todesfurcht Opfer seiner Angst und seiner Krankheit. Harry Kupfer war für mich ein Segen, weil wir eigentlich alle wichtigen Rollen einmal oder mehrfach intensiv in langen Proben und Gesprächen erarbeitet haben. Er ist unglaublich sensibel und kann die Dinge, die ihn bei seiner jeweiligen Deutung bewegen, phantastisch darstellen. Das hat mir bei meinen Interpretationen sehr geholfen, weil die Darstellung auf der Bühne aus dem inneren des Künstlers kommen muss, um gut zu wirken. Gleichzeitig konnte ich, obwohl ich ja Tenor bin, mit eigenen Ideen kommen und die wurden, wenn sie uns beiden plausibel erschienen, umgesetzt. Der Text ist von zentraler Bedeutung. Der Sänger muss verstanden werden. Schon in der Hochschule, aber später auch bei Harry Kupfer hieß es: „Erzähle den Leuten das Stück.“ Das geht natürlich nur über den Text und die Musik. An der Wortdeutlichkeit zu arbeiten, ist ein entscheidender Punkt. Nur dann können sich Wort und Musik verbinden und die nötige dramatische Wirkung vermitteln. Auch für das Publikum ist das doch von entscheidender Bedeutung. Je mehr es den Text versteht und je überzeugender die Darstellung ist, desto mehr kleben die Zuschauer an den Lippen des Sängers. Michael Stange (Das im Original wesentlich längere Interview erschien zuerst im April 2018 auf der Website des Kulturmagazins Ioco und wurde für operalounge.de stark gekürzt. Red. Rüdiger Winter; wir danken Michael Stange für den Abdruck.)

 

Das große Foto oben zeigt Reiner Goldberg als Siegfried in einem Ausschnitt des Covers der Plattenproduktion der Deutschen Grammophon. Sie erregte damals großes Aufsehen bei Publikum und Kritik und ist noch immer im Handel. Für die Fans des Heldentenors gilt sie als eine seiner zentralen Aufnahmen.  

Tolle Besetzung, aber was für eine Optik….

 

Die Me too-Bewegung kann Susanna in der Inszenierung von Mozarts Le Nozze di Figaro durch Jürgen Flimm von 2015 nicht für sich in Anspruch nehmen, dazu sind die Kostüme und Utensilien auf der Bühne des Schillertheaters, Ausweichquartier der Staatsoper Unter den Linden für sieben Jahre, zu modern. Noch viel weiter entfernt aber sind sie von der Ausübung des ius primae noctis. So befindet sich der Zuschauer einmal mehr in der unglücklichen Lage, die Figuren und ihre Probleme nicht ernst nehmen zu können, ist dem Stück der revolutionäre Atem, der es umwehte, ausgeblasen und stattdessen eine Farce à la Feydeau in Augenschein zu nehmen. Eine bunte Gesellschaft bricht für einen Tagesausflug in ein am Meer gelegenes, ziemlich ramponiertes Ferienhaus (Bühne Magdalena Gut) ein, vor dem für den letzten Akt eine Düne mit Umkleidekabine platziert ist, umrundet bereits zur Ouvertüre wie auch später immer wieder den Orchestergraben und hat sich offensichtlich atemlose Turbulenz zum Ziel gesetzt. Abenteuerlich und zum Teil die Personen der Lächerlichkeit preisgebend sind die Kostüme von Ursula Kudna, allein die Marcellina von Katharina Kammerloher kann sich über mondänes Weißes freuen, während die ohnehin mollige Contessa von Dorothea Röschmann den gesamten Abend in unvorteilhaften Pluderhosen bestreiten muss. Eine wüste Phantasie tobt sich ausgerechnet bei den Kostümen des Chors der Landmädchen aus. Die Produktion dürfte besonders dem Teil des Publikums gefallen, der sich wenig aus der Musik macht und durch action um jeden Preis unterhalten werden möchte.

Mit Knickerbocker, Fliege, Brille und akkuratem Haarscheitel wurde der Figaro von Lauri Vasar ausgestattet, der sich recht trottelig aufführt und eher zur lächerlichen als die Handlungsfäden souverän führenden Figur wird. Seine Stimme ist zwar angenehm dunkel gefärbt , klingt in der Tiefe allerdings eher matt als präsent. Eher eine Despina als eine Susanna ist Anna Prohaska, trotz der Unschuldskleidung von weißen Söckchen und Handschuhen eher lasziv als charmant und eher affektiert als romantisch in der Rosenarie. Zumindest zur Aufnahmezeit war der Sopran der einer Soubrette, klangen die Rezitative piepsig, erblühte die Rosenarie nicht, sondern blieb eher Knospe.

Vokal reich beschenkt wird man dagegen vom „hohen“ Paar. Dorothea Röschmanns Contessa kann durch das wunderschöne Timbre, den stilsicheren Mozartgesang, den sie unbeirrt trotz des Gewimmels während ihrer ersten Arie darbietet, wahrlich betören, der Conte von Ildebrando D’Arcangelo bietet fast schon zu viel an stimmlicher Pracht, macht sein Già vinta la causa zu einem der Höhepunkte der Aufnahme. Darstellerisch scheint es ihm nichts auszumachen, dass ihn die Regie zur lächerlichen Figur deformiert, die von einem selbstverschuldeten Missgeschick ins nächste taumelt.

Die ganz große Entdeckung dieser Nozze war und ist allerdings der Cherubino von Marianne Crebassa, die seitdem gerade auch mit dieser Rolle bereits eine Weltkarriere gestartet hat. Ihre beiden Arien sind erfüllt von stürmischer Erotik durch eine farbige, geschmeidige Mezzostimme von schönem Leuchten und durch ein unbekümmert natürlich wirkendes Spiel.

Etwas Mühe, die musikalische Contenance zu wahren hat Katharina Kammerloher, der man ihre Arie gelassen hatte, während die des Basilio von Florian Hoffmann gestrichen worden war. Recht hohl und streckenweise verhuscht klingt das Vendetta des Bartolo von Otto Katzenmeier, Olaf Bär und Peter Maus (In bewundernswürdiger szenischer Langlebigkeit) von der Deutschen Oper zeigten viel Präsenz als Antonio und Don Curzio, Sónia Grané ist eine in jeder Hinsicht anmutig-aparte Barbarina.

Gustavo Dudamel atmet mit den Sängern, bietet viel mehr Mozart, als die Bühne wahrhaben will, und lässt durch sein Wirken manches in der Optik erträglicher erscheinen, als es ist (Blu-ray ACC 20366/ veröff. 2018): Ingrid Wanja

Schwelgerische Unverbindlichkeit

 

Wenigen Opern des frühen 20. Jahrhunderts ist es gelungen, ins Repertoire zurückzukehren, wenn sie nicht sofort zündeten. Doch ein Werk scheint gerade vom Geheimtipp zum dauerhaften Überraschungserfolg zu mausern: Erich Wolfgang Korngolds Wunder der Heliane. Erst vor wenigen Monaten hier in Berlin an der Deutschen Oper eine kleine Sensation, ist die Oper nun auch bei Naxos auf CD erschienen in einer Einspielung aus Freiburg.

Vielleicht ist  es die schwelgerische Unverbindlichkeit, die in ihrem extatischen Symbolismus an Straussens Frau ohne Schatten erinnert, Schuld am neuerlichen Erfolg – der Text ist absolut zahnlos und leicht verrückt – aber vielleicht war genau das eine gute Projektionsfläche für Korngolds über weite Strecken meditativ-opiatische Musik.

In den letzten Jahren begann ein erstaunlicher Aufstieg dieses Werks von 1927 – steigende Aufführungszahlen sind seit 2010 belegt, aber ab 2017 und 18 gab es einen regelrechten Boom – Antwerpen, Wien, Berlin und Freiburg. Die konzertante Serie in Freiburg ist jetzt mitgeschnitten worden und auf die CD gekommen – in einer durchaus soliden Einspielung.

Dies ist nicht die erste Gesamtaufnahme: Es gab bei der Decca in den Neunzigern schon eine Einspielung; damals zündete das Werk nicht besonders, vielleicht, weil auch da zwar die kleinen Rollen grandios besetzt waren, (etwa mit dem jungen René Pape und dem alten Nicolai Gedda) aber der Tenor sehr zu wünschen übrig ließ und Anna Tomowa Sintow schon bessere Tage gesehen hatte, als sie die Titelpartie einsang. Insofern war eine Neuaufnahme durchaus wünschenswert.

Unbefriedigende Sänger – glanzvolles Orchester: Auch diesmal bin ich mit den Sängern nicht glücklich –  man braucht nicht viele, genaugenommen drei, da es eine Dreiecksgeschichte ist, plus einen guten Mezzo für eine große Nebenrolle – aber die haben Aufgaben, die sich durchaus mit denen der großen Monumentalopern von Strauss und Schreker vergleichen lassen; das ist schon die Preislage von Frau ohne Schatten und  den Gezeichneten. Und da versagen die Stimmen, vor allem was die unbedingt erforderliche Schönheit und Klarheit in den Höhen angeht.

Physisch/rein akustisch sind Ian Storey als Fremder und Annemarie Kremer als Heliane durchaus in der Lage, das zu singen, aber diese seltsame Mischung aus Dekandenz und Kraft in Korngolds Stil muss man exakt und sinnlich zelebrieren. Hier klingt vieles verschwurbelt, grell in den Höhen und mulschig in der Deklamation, und das legt sich wie Mehltau auf das Werk. (Nicht dass es dem Werk schadet, wenn man den Text nicht versteht, aber ein wenig mehr Schärfe in den deutschen Konsonanten wäre der Komposition schon dienlich gewesen.)

Das ist umso bedauerlicher, da Fabrice Bollon der viel spannendere Dirigent ist als damals John Mauceri. Bollon hat es geschafft, aus Freiburg innerhalb weniger Jahre ein Zentrum für Opern der frühen Moderne zu machen, er hat mit einigen Werken Discographie-Geschichte geschrieben, sicher gibt es keine bessere (offizielle) Gesamtaufnahme der Königin von Saba von Goldmark, er führt ein großartiges Orchester in Freiburg, und fast immer ist er bisher auch von zufriedenstellenden Sängern umgeben gewesen. Diesmal nicht. Was am seidigen, irisierenden Klang der Instrumentierung nichts ändert – dank Bollon und den Freiburgern ist das Ganze dann letztendlich doch kein Fehlkauf (Erich Korngold: Das Wunder der Heliane; mit Annemarie Kremer, Aris Argigis, Ian Storey; Nuttaporn Thammathi, Frank van Hove, Opernchor des Theater Freiburg, Philharmonisches Orchester Freiburg, Fabrice Bollon; Naxos 2 CD 8.660410-12). Matthias Käther

Tenoraler Höhenflieger

 

Auf dem Decca-Label ist der mexikanische Tenor Javier Camarena bereits seit dem Jahr 2011 vertreten. Er gehörte bei zwei Rossini-Produktionen des Opernhauses Zürich zur Besetzung, welche von der Plattenfirma als DVDs veröffentlicht wurden. Im Otello sang er die Partie des Rodrigo, dessen Arie im 2. Akt sich später als Zitat im Duetto buffo di due gatti wiederfinden sollte, im Comte Ory sogar die Titelrolle. Es war also an der Zeit, den auf vielen Bühnen erfolgreichen Sänger in einem Soloalbum zu präsentieren. Der Titel dieser attraktiven, sehr aufwändig ausgestatteten Ausgabe ist Contrabandista (28948339587). Dahinter verbirgt sich eine Hommage an den legendären spanischen Tenor Manuel García, der auch komponiert hat und von 1775 bis 1832 lebte. Einige Arien aus seinen Werken finden sich in dieser Anthologie, darunter natürlich die des Poeta, „Yo que soy contrabandista“, aus El poeta calculista, welche dem Album den Titel gab. Sie beginnt sehr reizvoll im Flamenco-Rhythmus, verlangt dem Sänger Temperament und virtuose Triller ab, am Ende sogar noch einen hohen Ton in der Counterlage. Daraus folgt später noch das muntere „Formaré mi plan con cuidado“ Und es gibt sogar drei Weltpremieren mit „Cara gitana“ aus El gitano por amor, „Vous dont l’image toujours chère“ aus La Mort du Tasse und „O ciel! De ma juste furie“ aus Florestan ou Le Conseil des dix. „Cara gitana“ ist der furiose Auftakt der CD mit erregten Streicherfiguren im Rezitativ. Die Arie selbst ist von kantablem Fluss; Camarena singt sie mit entsprechend lyrischer Kultur und stimmt hier schon sichere Töne in der Extremhöhe an. Ganz in der italienischen Tradition steht eine Cabaletta am Schluss der Nummer („Cuando mi padre“), in welcher er seine Virtuosität demonstrieren kann. „Vous dont l’image toujours chère“ beschreibt Torquato Tassos Tod im 3. Akt der Oper – ein entsprechend introvertiertes Stück, in welchem die Stimme des Tenors besonders weich klingt. „O ciel! De ma juste furie“ ist scheinbar eine Rachearie, die sich im Charakter allerdings eher buffonesk gibt und dem Interpreten plappernde Geläufigkeit und herzhaftes Gelächter abverlangt.

Natürlich darf Rossini nicht fehlen in einer Anthologie, die einem Großmeister des Gesanges gewidmet ist, der in mehreren Rossini-Rollen reüssierte und sogar in den Uraufführungen der Elisabetta, regina d’Inghilterra neben Isabella Colbran und des Barbiere di Siviglia als Almaviva mitwirkte. Dessen große Arie im 2. Akt, „Cessa di più resistere“, ist von immenser Schwierigkeit, so dass sie von den Interpreten in Aufführungen oft gestrichen wird. Das Motiv des letzten Teiles, „Ah il più lieto“, findet sich später im Schlussrondo der Angelina in La Cenerentola wieder. Camarena demonstriert hier seine Eloquenz in der Stimmführung und reiche Phantasie in den Verzierungen. Auch Ramiros Arie „Sì, ritrovarla io giuro“ aus der  Cenerentola ist eine Bravournummer, in der Camarena stratosphärische Raketen abschießen, aber auch mit Passagen von schwärmerischer Lyrik überzeugen kann. Als Abschluss der Programmfolge hat Camarena eine Arie des männlichen Titelhelden aus dem seltenen Dramma serio per musica Ricciardo e Zoraide gewählt (welches in diesem Sommer das Rossini Opera Festival in Pesaro mit Juan Diego Flórez in dieser Partie eröffnete). Die Arie  verlangt in ihrem mit vertrackten Koloraturen gespickten Schlussteil („Qual sarà mai la gioia“) dem Interpreten allerhöchste Virtuosität ab und Camarena erweist sich hier als meisterhaft in der Beherrschung des vokalen Zierwerks. Schließlich gibt es in der Rossini-Abteilung noch eine Besonderheit, nämlich ein ausgedehntes Duett aus Armida zwischen der Titelheldin  und dem Ritter Rinaldo. Cecilia Bartoli ist seine Partnerin, nähert sich damit nicht nur erstmals dieser exponierten Sopranrolle, sondern hat den Tenor bei der Erarbeitung seiner CD auch künstlerisch beraten und damit eine neue Serie der Decca, Mentored by Bartoli, eröffnet. Nach den schwelgerischen Zwiegesängen „Amor… (Possente nome!)“ und „Vacilla a quegli accnti“ geht das Duett in einen jubelnden Schlussteil über („Cara, per te quest’anima“), in welchem sich die Stimmen ekstatisch verschlingen.

Ergänzt wird das Programm durch eine Arie aus der Feder von Niccolò Zingarelli. Sie stammt aus Giulietta e Romeo (das nahezu vergessene Werk kam vor zwei Jahren bei den Salzburger Pfingstfestspielen zur Aufführung) und wird gesungen von Giuliettas Vater Everardo im 1. Akt. In ihrem erregten, aufgewühlten Duktus widerspiegelt sie dessen Hassgefühle gegenüber Romeo als dem vermeintlichen Verführer seiner Tochter. Camarena erweist sich souverän sowohl in der Beherrschung des rasenden Tempos als auch der eingelegten effektvollen Spitzentöne.

Begleitet wird Javier Camarena vom Ensemble Les Musiciens du Prince – Monaco, das unter Gianluca Capuano auf historischen Instrumenten musiziert und dem Solisten ein inspirierender Partner ist. Bernd Hoppe

Feliks Nowowiejskis  „Baltische Legende“

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Vor kurzem stellten wir die Vertonung des Sienkiewicz-Romans Quo vadis durch Feliks Nowowiejski vor, die bemerkenswerter Weise gleich auf zwei neuen Aufnahmen zu erleben ist (cpo und Dux – die Dux-Einspielung sogar mit ihrem originalen deutschen Libretto). Nun gab es im Dezember 2017 eine weitere Oper Nowowiejskis, nämlich die Baltische Legende (Legenda Baltyku), der wesentlich weniger national-katholisch geprägt ist und sich wie Dvoráks Rusalka alter Mythen oder Märchen bedient, in diesem Falle sogar und wieder aus dem deutschen  Sagenschatz der Meereswesen. Damit auch – heute gewollt oder ungewollt – auf die Studienzeit Nowowiejskis in Berlin zurückführend. Berlin war damals nach dem Leipzig der Mendelssohn-Zeit das europäische Musikzentrum neben Paris. Viele der späteren Erfolgskomponisten namentlich des Ostens haben hier studiert, von Moniuszko bis Rubinstein. Und selbst Tschaikowski liebte beide Städte und war viel in Berlin.

Das deutsche (!) Libretto zur Baltischen Legende stammt von Wilhelm Szalay-Groele und wurde für die Aufführungen in Posen in der späten polnischen Übersetzung von  K. Jeżewska gegeben  – eine Aktion, die man als Deutscher bedauern mag, die aber namentlich in den grenznahen Gebieten immer noch für Überempfindlichkeit der Polen im Umgang mit ihrem deutschen Erbe spricht.

Feliks Nowowiejski/ Wiki

Die Oper von F. Nowowiejski wurde am 28. November 1924 in Posen uraufgeführt, dann in Lemberg (1927), Kattowitz (1928) und Warschau (1937), alle diese ganz sicher in Deutsch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in einer Fassung von  4 Akten auf von K. Jeżewska erstelltes Libretto in Posen/ Poznań (1955 in Zeiten des sehr Kalten Krieges) und Breslau  (1960) wieder aufgenommen (ein deutsches Libretto war noch bis vor kurzem undenkbar und scheint es für eine Aufführung in Posen heute immer noch zu sein). Einige musikalische Einfälle der Musik dazu wurden vor dem Ersten Weltkrieg skizziert. Es gibt die Legende, die von den Söhnen des Komponisten bestritten wird, dass die Oper ursprünglich eine deutsche  sein sollte, mit dem Titel Der Kompass. Nowowiejski  skizzierte die Oper (in einer früheren Version mit dem Titel  Castelletto ) in Amalfi, und diese  Fragmente wurden in der  späteren Legende verwendet.

Nun hat das Teatre Wielki von Posen im Dezember 2017 diese Oper wiederbelebt. Tadeusz Kozłowski dirigierte, Robert Bondara hatte die Regie in der Ausstattung von Julia Skrzynecka und Martyna Kander. In den Hauptrollen sangen Pavlo Tolstoy/ Doman, Wioletta Chodowicz/ Bogna, Magdalena Wilczyńska-Goś/ Svatava, Robert Gierlach/ Lubor, Aleksander Teliga/ Mestvin, Karol Bochański/ Sambor und viele mehr. Bemerkenswerter und dankbarer Weise vermittelte der Video-Stream von der Premiere auf operavision einen guten Eindruck von der folkloristisch und sehr gegenständlich gehaltenen Produktion.

Da auch diese Oper eine Beziehung zu Deutschland hat und da die Oper ja ein deutsches Libretto besitzt) und damit von übernationalem Interesse ist, bringen wir im Folgenden einen Aufsatz des renommierten Musikwissenschaftlers Marcin Gmys aus dem Programmheft zur Aufführung, Ein Lob an das Opernhaus, ein zweisprachiges (polnisch-englisches) Programmheft anzubieten und Dank an den Autor sowie an das liebenswürdige Pressebüro des Teatre Wielki Posen; die Übersetzung besorgte wieder Daniel Hauser. G. H.

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Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“/ Szene/ Foto Bartek Barczyk Poznań Opera House

Entstehung: Feliks Nowowiejski (1877-1946) begann die Arbeit an Der Kompass, einem Vorläufer der Baltischen Legende, während oder kurz nach der Rückkehr von seinem ersten Stipendium in Europa, wo er beispielsweise Italien besuchte. In diesem Zusammenhang komponierte er Quo Vadis und entwarf die Partituren zweier großer sinfonischer Dichtungen – Beatrice (nach Dante) und Nina und Pergolesi. (Während seiner Studien erhielt er zweimal das Meyerbeer-Stipendium in Höhe von 4.500 Reichsmark, die höchste finanzielle Zuwendung für Studenten zur Zeit Kaiser Wilhelms II., mit deren Erhalt der Besuch der musikalischen Zentren Europas verpflichtend verbunden war.) Der Komponist präsentierte ein Fragment seiner Oper – die Szene des Urteils – während eines seiner 1906 stattfindenden Konzerte in Warschau und erhielt positiven Zuspruch. Das weitere Schicksal dieser Oper war für lange Zeit unbekannt, obwohl Nowowiejskis Familie und sogar der Komponist selbst darauf beharrten, dass das Werk nicht vollendet worden sei. Gleichwohl hat mittlerweile Iwona Fokt, die prominenteste Biographin Nowowiejskis, anhand neu entdeckter Quellen nachzuweisen versucht, dass die Partitur von Der Kompass spätestens am Ausklang des Ersten Weltkriegs komplettiert wurde. Den Krieg verbrachte der Komponist nach seinem Rückzug als Direktor der Krakauer Musikgesellschaft die meiste Zeit über in Berlin. Der Autor von Die Rota warb 1915 um die Aufführung seines Werkes, doch aus unbekannten Gründen kam es nicht dazu. Es ist ebenfalls bekannt, dass der Komponist in der Spielzeit 1921/22 eine Aufführung des deutschsprachigen Werkes in Posen plante, was indes ebenfalls fehlschlug. Die Idee, die zweiaktige deutsche Meeresoper einzubetten in die Realität der italienischen Renaissance als Ausgangspunkt für eine polnischsprachige Oper mit Meeresbezug, wurde dann verwirklicht – vermutlich, wie der Komponist betont, das erste Werk in der Geschichte des polnischen Musiktheaters, welches das Meer als zentrales Thema der gesamten Handlung hat.

Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“: der Autor Marcin Gmys/ Polski Radio

Der Dämon der Abänderungen: Obschon die derzeitige Premiere der Baltischen Legende von Feliks Nowowiejski in Posen stattfindet, werden wir nicht die Rekonstruktion der Posener Welterstaufführung von 1924 hören, sondern – wie es scheint – die final zusammengestellte Version von 1938. Sie wurde von Nowowiejski nach der vierten Premiere seines Werkes in Warschau geschaffen, vermutlich bereits mit Gedanken an die Spielzeit 1939/40, die mit einer neuen Produktion der Baltischen Legende am Opernhaus Posen eingeweiht werden sollte (trotz der bereits fortgeschrittenen Proben für dieses Ereignis im September 1939 kam es aus naheliegenden Gründen nicht dazu). Die Solisten, der Chor und das Orchester des Großen Theaters Posen werden die Baltische Legende basierend auf der 2017 vom Polnischen Musikverlagshaus herausgebrachten neuen Edition der Partitur aufführen. Unter dessen Schirmherrschaft wird seit April 2016 die Partitur der nächsten Version von Quo Vadis vom Verlagskommitee der Werke von Feliks Nowowiejski vorbereitet. In dieser Situation kann man sogar soweit gehen und sagen, dass am 10. Dezember 2017 im Großen Theater Posen die Weltpremiere der Finalversion der Baltischen Legende stattfinden wird.

An diesem Punkt könnte man sich fragen, wieso wir nicht die Fassung von 1924 rekonstruierten. Der Grund ist denkbar einfach: Obwohl eine solche Variante der Partitur anhand der Existenz einer detaillierten Diskussion des Werkes, reichhaltig erläutert mit Notenmaterial im Handbuch zur Legende von 1924, möglich wäre, müsste der ontologische Status dieser Partitur aufgrund des Umfangs moderner Kompositionseinflüsse doch zweifelhaft bleiben.

An dieser Stelle sollten wir ebenfalls die Frage beantworten, weshalb nicht die 1959 veröffentlichte, scheinbar elementare und endgültige Version benutzt wurde. Diese wurde auf Betreiben der beiden ältesten Söhne des Komponisten, Feliks Maria und Kazimierz Nowowiejski, vom Polnischen Musikverlagshaus veröffentlicht und beinhaltet eine exklusive Edition von neun nummerierten Kopien der Partitur der Baltischen Legende, welche als Basis der sehr populären Nachkriegsproduktion diente. Euphemistisch ausgedrückt, hat diese Publikation – trotz der unbestreitbar edlen Absichten der Söhne – wenig mit einer kritischen Quellenedition gemein. (…)

Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“/ Szene/ Foto Bartek Barczyk Poznań Opera House

Wieviel Legende ist in der Legende? Feliks Nowowiejski selbst schrieb, dass Die Baltische Legende „einige unwesentliche Bruchstücke“ der Proto-Legende, eben der Oper namens Der Kompass, enthalte. Diese These ist nur partiell wahr. Das Manuskript der beiden genannten Akte enthält ein paar Stellen, in denen älterer Text (manchmal ohne Zweifel auf Deutsch) entweder mit einer Rasierklinge zerkratzt oder mit Tinte vorsichtig überschrieben und mit neuem polnischen Text versehen wurde. Andererseits wäre die Behauptung, dass die gesamte Legende eine Adaption (Musikwissenschaftler würden sagen: Kontrafaktur) des deutschsprachigen Vorläufers sei, viel zu ungerechtfertigt gegenüber dem Komponisten. Aufgrund einer zurückhaltenden Annahme könnte man konstatieren, dass Nowowiejski in etwa fünfzig Prozent des existierenden musikalischen Materials des Kompasses in die Legende „kopierte“. Hierbei handelt es sich – und das ist hervorzuheben – um vorsichtige Schätzungen, weil es oftmals schwierig ist zu entscheiden, ob wir Blätter der Originalversion des Kompasses oder seiner nachträglichen Modifikationen vor uns haben. Deswegen können Streichungen oder Tintenwischer nicht immer automatisch als der Versuch gedeutet werden, das deutsche Original auszulöschen. Man sollte augenblicklich mit der oben zitierten Ansicht des Komponisten übereinstimmen, dass die Übertragung von Teilen eines älteren Werkes in ein neues nichts Außergewöhnliches oder gar Verwerfliches darstellt. Tatsächlich bedienten sich Komponisten wie Händel oder Rossini immer dann einer solcher Vorgehensweise, wenn die Notwendigkeit es verlangte. Manchmal geschah dies aus Zeitmangel, manchmal aus temporärem Mangel an kreativer Inspiration. Zuweilen lag gar die Absicht dahinter, mehrstufige semantische Palimpseste zu schaffen.

Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“- Szene aus der Produktion von 1955 am Teatri Wielki in Posen/ Scena z opery Feliksa Nowowiejskiego „Legenda Bałtyku“ wystawionej w Operze Poznańskiej (obecnie Teatr Wielki w Poznaniu)

Im Zirkel der Spätromantik: Aus der musikalischen Perspektive betrachtet, ist Die Baltische Legende ein Werk, das in der Gemütslage der typischen dichterischen Stimmung der Spätromantik zu verorten ist. Erzählte man jemandem, der bewandert ist in den musikalischen Trends des 19. Jahrhunderts, aber völlig unvertraut mit Opernmusik oder ihrer Geschichte, dass die Partitur von Nowowiejski an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert komponiert wurde, gäbe es vermutlich keinen Widerspruch. Auf eine Weise könnte man annehmen, dass die erste – und bis heute die einzige existierende, voll instrumentalisierte – Oper von Nowowiejski anachronistisch gewesen sei, um mindestens ein Vierteljahrhundert verspätet. Trotzdem hat dieser Fakt aus unserer gegenwärtigen Perspektive wenig Bedeutung und verdient das Werk unter den polnischen Opern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine sehr ausdrucksstarke Komposition sicherlich eine gründliche Erkundung (der große Erfolg von Nowowiejskis Legende wurde nur noch vom großen Hit Eros und Psyche von Ludomir Rozycki übertroffen).

Stilistisch ist Die Baltische Legende zwischen den Musikdramen von Wagner und der Opernsprache von Puccini mit ihrer charakteristischen Verdoppelung der Gesangslinie durch Bögen zu verorten (für den letzteren Fall steht Domans Arie – einst im Repertoire von Jan Kiepura und gegenwärtig unter anderem gesungen von Piotr Beczala – „Liebst du mich, Mädchen“, das bekannteste Stück aus der Legende, manchmal gar als die schönste Tenorarie in der Geschichte der polnischen Oper bezeichnet). Wir werden dort gleichwohl unzählige weitere Anspielungen finden. Wir sollten d’accord gehen mit Swiniarski, der in Juratas Tanz im zweiten Akt einen Hinweis auf den berühmten Tanz der Anitra aus Peer Gynt von Grieg erkennen will. Das Hornthema zu Beginn des zweiten Ballettakts, das ein umgewandeltes Motiv der Legende ist, stellt eindeutige Assoziationen zum Marschthema beim Erwachen der Natur in der „dionysischen“ dritten Sinfonie von Mahler dar, die Nowowiejski in Krakau vor dem Ersten Weltkrieg dirigierte. (…)

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Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“/ Final-Szene/ Foto Bartek Barczyk Poznań Opera House

Der Schatten Wagners – Leitmotive: Die gesamte Erzählung basiert geschickt – hier kann den Kritiken der Legende nicht widersprochen werden – auf einem Netzwerk von neun Leitmotiven. Ihnen sind – wie bei Wagner – zuweilen bestimmte Ideen zugewiesen (so das lyrische „Legendenmotiv“ zu Beginn und Ende oder das „Motiv der versunkenen Veneta“, das einen metaphysischen Schauder erzeugt mit dem plötzlichen „dämonischen“ Fall der großen Septime aus der Zeit der „mephistophelischen“ Kompositionen von Franz Liszt), aber in der Regel begleiten sie individuelle Charaktere: Der Protagonist der Oper – Doman – wird mit zwei quasi-wagnerischen Motiven verbunden: Das eine, erkennbar nach der Einleitung des ersten Akts, definiert ihn als einen Fischer (und mag mit dem Fliegenden Holländer in Verbindung gebracht werden), das zweite beschreibt ihn als eine furchtlose Person (dieses Leitmotiv ist ähnlich dem Ring-Motiv in Nibelheim im Rheingold – was keine nichtssagende Analogie sein muss, steigt  Doman doch wie Wotan in die Tiefe, wenngleich in diesem Falle Unterwasser). Zudem lassen sich Doman zwei weitere Motive zuordnen, die einzig in den Akten II und III vorkommen. Es handelt sich um die Liebesmotive in Bezug auf Bogna, die sich von seiner berühmten Arie im ersten Akt ableiten.

Wagner gleich, verbindet Nowowiejski die Motive manchmal in sinnträchtiger und symbolischer Weise. Sowohl das Leitmotiv von Veneta als auch das archaischen Gott-Perun-Motiv verlaufen in parallelen Quinten (die „Gebetsszene“ zu Beginn des dritten Akts eröffnend). Perun war in der Hintergrundgeschichte der Oper der spiritus movens des großen Unglücks von Jurata, die dafür bestraft wurde, weil sie es gewagt hatte, einen einfachen und sterblichen Fischer zu lieben. Beide Motive, Veneta und Perun, basieren auf demselben Rhythmus, wo einzelne Viertelnoten mit zwei Achteln verflochten werden.

Das melodiöse Motiv der Bogna, manchmal in der Form eines Violinsolos, ist auffällig in der Partitur der Legende. Es beschreibt perfekt die lyrische Persönlichkeit dieser Heldin, die trotz aller Widrigkeiten bedingungslos loyal ist und fortwährend zitternd angesichts des Schicksals ihres Geliebten (es ist erwähnenswert, dass dieses Motiv ursprünglich die Basis der Orgel-Meditation von Nowowiejski war, für die er 1911 den Preis im Komponistenwettbewerb in Arras erhielt). (…)

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Feliks Nowowiejski: „Legenda Bałtyku“/ Szene/ Foto Bartek Barczyk Poznań Opera House

Auf dem Weg zur musikalischen Avantgarde: Gibt man eine heutige Einschätzung der Baltischen Legende ab – in einem breiteren Kontext des gesamten Werkes des Autors von Die Rota –, sollte man sich bewusst sein, dass dieses Werk zum ersten Mal vor 93 Jahren aufgeführt wurde und dass es augenscheinlich nicht zu den seinerzeitigen Trends der Avantgarde passte. Nowowiejski kümmerte sich indes nie darum, „trendig“ zu erscheinen. Die originale Baltische Legende von 1924, die – wenn es um das musikalische Material geht – eine gründliche überarbeitete Variation von Der Kompass darstellt, wurde nicht nachträglich – in den sukzessiven Stadien, markiert durch die Jahre 1927, 1928, 1937 und 1938 – stilistisch abgeändert.

Im Gegenteil. Nowowiejski vergewisserte sich, dass das Werk konsistent der Neoromantik (oder: dem Jungen Polen) verhaftet blieb. Deswegen hat die Oper natürliche Bezüge zu Wagner (am ausgeprägtesten), Puccini und Mahler (wichtig) und Grieg (marginal). Als er die Legende in den 1930er Jahren verbesserte, arbeitete Feliks Nowowiejski bereits unter anderem am Liederzyklus Rosen für Safo, am Cellokonzert sowie an zwei orchestralen Sinfonien (Nr. 2 Werk und Rhythmus und Nr. 3 Sieben Farben für Iris). Hier handelte es sich um Werke, die ihn – was die heutige Musikwissenschaft nach wie vor nicht offen zugeben will – zu einem der progressivsten polnischen Komponisten der letzten Jahre der Zwischenkriegszeit machen. Schon deswegen hatte es Nowowiejski nicht nötig, seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen stilistischen Trends in einer Partitur zu offenbaren, deren erste Skizzen zurückgingen auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. Marcin Gmys (Übersetzung Daniel Hauser)

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Marcin Gmys ist habilitierter Musikwissenschaftler, Professor für Musikwissenschaft an der Adam-Mickiewicz-Universität und Musikpublizist. Seine Interessen umfassen die Theorie und Geschichte des Operntheaters vom 19. bis 21. Jahrhundert, zeitgenössische Musik, Aufführung von Klaviermusik und die Werke von Komponisten des Jungen Polen. Seit 2011 ist er Chefredakteur des Magazins Res Facta Nova. Er arbeitet kontinuierlich mit dem Großen Theater – Nationaloper, dem Nationalen Fryderyk-Chopin-Institut und dem Zeszyty Literackie-Magazin zusammen.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Kein Weltniveau

 

Eine alles in allem schöne traditionelle Produktion von Madama Butterfly gibt es aus Covent Garden aus dem Jahre 2017 (2018 veröffentlicht) mit dem leicht stilisiertem Bühnenbild von Christian Fenouillat, den der gute Geschmack nur am Schluss verlässt, wenn er das Bäumchen vor Butterflys Haus alle Blüten abschütteln lässt oder wenn zum Blütenduett die Wände in Dauerbewegung sind. Die Kostüme von Agostino Cavalca sind abgesehen von dem für die Braut mit überdimensionalem Kopfputz hübsch anzusehen, bieten allerdings der Regie von Moshe Leiser auch die Möglichkeit, die Protagonistin zwar nicht den Sterbenden Schwan, aber mit weiten Ärmeln den sterbenden Schmetterling aufführen zu lassen. Schön ist die Idee, den zweiten Akt als den Ablauf eines Tages zu inszenieren, den Hintergrund der jeweiligen Situation anpassen zu lassen.

Natürlich dirigiert Antonio Pappano das italienische Repertoire in London, und er beginnt betont schnell und nervös, als wenn bereits die Eingangsszene mit der Hausbesichtigung tragisch umflort einher kommt. Im Verlauf der Vorstellung erweist er sich jedoch als der erfahrene Sängerbegleiter, als den man ihn kennt, und dass man die Lautstärke oft regulieren muss, liegt nicht an ihm, sondern an der Technik.

Die Titelpartie dürfte für Ermonela Jaho, die auch noch im Belcantofach tätig ist, eine Grenzpartie sein. Ihren Auftritt kann sie mit einem wunderschönen Spitzenton krönen, aber die für die Partie unverzichtbare präsente Mittellage ist weniger entwickelt. Im Liebesduett hat sie wunderbar zarte, lyrische Passagen, erweist sich als eine Meisterin des Piano. Die Optik der an sich attraktiven Sängerin leidet darunter, dass sie permanent beim Singen die Stirn in tiefe Falten legt, außerdem ist sie offensichtlich für das weit entfernt sitzende Publikum im Saal, nicht aber den mit Nahaufnahmen beglückten Zuschauer am Fernsehschirm geschminkt. Echte Tränen und ein kontrastreich gesungenes Un bel di vedremo, nach dem sie während des Publikumsbeifalls lächelnd aus der Rolle fällt, bleiben  außerdem im Gedächtnis des Zuschauers. Eine reife, mütterliche Suzuki mit zunächst angenehm rundem, warmem Mezzosopran mit sehr schöner Tiefe ist Elizabeth DeShong, deren Stimmer allerdings unter Druck überfordert klingt. Recht ansehnlich ist der Pinkerton von Marcelo Puente, sein Tenor allerdings enttäuscht, denn er ist zwar dunkel getönt und verfügt über eine sichere Höhe, klingt aber herb, hart und wenig geschmeidig. Das Fiorito asil erscheint wie ausgetrocknet, die Hohlheit der Gesten dazu könnte allerdings ein Regieeinfall zur Charakterisierung des leichtsinnigen Amerikaners sein. Sehr engagiert und anrührend gibt Scott Hendricks den Sharpless, singt dazu mit auch nicht gerade italienisch klingendem, aber in allen Lagen zuverlässigem, solidem Bariton. Die personifizierte Fiesheit ist rollengerecht und mit scharfem Charaktertenor Carlo Bosi. Yuriy Yurchuk ist ein ungewohnt dunkelstimmiger Yamadori, Jeremy White nur mäßig eindrucksvoll als Onkel Bonze. Der Summchor ist fein einstudiert vom Ex-Berliner William Spaulding. Das Publikum jubelt am Ende – Butterfly verfehlt auch bei nicht außergewöhnlicher Leistung der Mitwirkenden ihre Wirkung nicht (Opus arte BD7244D). Ingrid Wanja

Sakrales in Ersteinspielungen

 

Beim Durchforschen der Archive lassen sich immer noch Schätze heben, vor allem unter den Nebenwerken, der Recherche-Aufwand wird allerdings größer. Andrea Buccarella, seines Zeichens Organist, Cembalist und Dirigent, stand vor einem Rätsel, als er auf eine Sequenza de‘ Morti von Gennaro Manna (1715-1779) stieß, die sich erst als teilweise ähnlich und identisch mit einem Dies Irae des älteren Domenico Sarro (1679-1744) erwies, und dann ein Manuskript von Mannas Onkel Franceso Feo (1691-1761) fand, das eine andere Version dieses Dies Irae enthielt. Wer hier von wem kopierte, lässt sich bisher nicht nachvollziehen. Buccarella  war von der gefälligen Vielfalt der Partitur Mannas berechtigterweise so angetan, dass er sie nun als Ersteinspielung vorlegt. Das Abchordis Ensemble besteht aus drei Violinen, Cello, Kontrabass, Fagott, Laute, Orgel und zwei Hörnern, Dirigent Andrea Buccarella ist am Cembalo, das Ergebnis ist virtuos musiziert und mit sehr gutem Klang. Das zehnsätzige titelgebende Dies Irae ist für vier Stimmen komponiert, vor allem der Sopran von Marie Lys ist einnehmend, Maria Chiara Gallo (Mezzosopran), Luca Cervoni (Tenor) und Antonio Masotti (Bass) interpretieren das Werk ohne Manierismen mit schlichter Eindrücklichkeit und in homogener Qualität. Eine weitere Ersteinspielung ist die originelle Mottete O mundi infelix vita!, für die Gennaro Manna ein  obligates Fagott vorschreibt, das sich virtuos und effektvoll präsentieren kann und mit dem Gesangssolisten gleichberechtigt in Dialog tritt. Der Bassist Salvo Vitale hat Stimmumfang und Beweglichkeit, um mit Fagottist Giovanni Battista Graziado die gemeinsamen Passagen spannend zu gestalten. Als Ergänzung des Dies Irae fügte Buccarella zwei weitere Stücke neapolitanischer Komponisten hinzu. Das Trio op.1 Nr.6 von Aniello Santangelo (1710-1771) für zwei Violinen und Basso continuo, ein kurzes viersätziges Werk zwischen Allegro und Larghetto, ist ebenfalls eine Ersteinspielung. Das Concerto di Fagotto solo von Ferdinando Lizio (1728-1778) gibt erneut dem Fagottisten die Chance, seine Virtuosität unter Beweis zu stellen. Eine CD mit Raritäten und Nebenwerken, die hier allerdings so engagiert interpretiert werden, dass man gerne zuhört (1 CD, aufgenommen 2016, erschienen 2018, deutsche harmonia mundi, dhm 19075814543)

 

Bianca Maria Medea (ca. 1661-1733) war eine komponierende Nonne in lombardischen Pavia, im Jahr 1691 veröffentliche ein Verleger in Bologna die einzigen bekannten Werke von ihr: zwölf Motetten (für 1, 2, 3 und 4 Stimmen), begleitet von Basso Continuo und Orgel. Drei Motetten wurden bereits einzeln eingespielt, als Ersteinspielung sind nun die übrigen neun unter dem Titel Lacrimae Amare erschienen. Die geistlichen Motetten sind nicht liturgisch, die lateinischen Texte sind laut Beiheft in italienischer Betonung gesetzt, Latein war wohl nicht die Stärke der Nonne. Die Motetten sind als persönliche und oft direkte Ansprache an Maria bzw. Jesus gerichtet, es geht um Verzicht weltlicher Freuden, Fürbitten und Liebe zu Gott. Die Partien sind für Musiker und Sänger gleichermaßen anspruchsvoll, die ursprünglich für Frauen- und Männerstimmen gesetzten Motetten wurden hier als Klostermusik von einem Frauenchor eingespielt.  Die Cappella Artemisia unter der Leitung von Candace Smith interpretiert diese Musik mit acht Musikern und neun Sängerinnen, die sich die Stimmen aufteilen, man versuchte möglichst abwechslungsreich zu kombinieren, der Klang mag etwas hallig sein, ansonsten hat man hier ein schönes und sehr spezielles Beispiel für die Musik des italienischen Konvents um 1700, die mit einer gefälligen Mischung aus  Flehen, Sehnen und Innigkeit Trost und Zuversicht vermittelte. (aufgenommen 2017, erschienen 2018, Brilliant 95736)



Orazio Colombano (ca.1554-ca.1595) kam 1579 nach Vercelli in Piemont östlich von Turin, wo der junge Franziskaner in den kommenden zwei Jahren die musikalischen Geschicke der Kirche verantwortete. Ein erfolgreicher Karrierestart, der Colombano zu Anstellungen in prestigereichen Kirchenstandorten wie Mailand, Padua, Brescia, Urbino und Venedig verhalf. Colombano veröffentlichte von Vercelli aus seine liturgischen  Psalmen für sechs Stimmen Harmonia super vespertinos omnium solemnitatum psalmos sex vocibus decantanda, die er dem Bischof von Vercelli widmete. Die Psalmen der Vesper-Liturgie komponierte er als Wechselgesänge der vokalen Gruppen auf der Höhe der Zeit, quasi als eine Art Kompendium polyphonen Psalmgesangs. Die vorliegende Aufnahme ist lokalpatriotisch motiviert, die Cappella Musicale Della Cattedrale di Vercelli will das sakrale Erbe von Vercelli zu Gehör bringen, der musikalische Leiter Monsignore Denis Silano hat die Edition der Psalmen selber übernommen, die spezialisierten Sänger sind bei Gottesdiensten in Vercelli aktiv – das Resultat kann sich hören lassen, mit viel Engagement, schönen Stimmen und akustisch mit viel Hall – die Aufnahme erfolgte in einer Kirche in Vercelli- werden hier Colombanos liturgische Gesänge in Ersteinspielung abwechslungsreich zum Leben erweckt (aufgenommen und erschienen 2018, Brilliant 95839). Marcus Budwitius

 Walter Hagen-Groll

Es dürfte immer noch eine Ausnahme sein, dass der Name des Chordirektors genannt wird, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für den Ruf eines großen Opernhauses auszumachen. Im Falle von Walter Hagen-Groll war es jedoch selbstverständlich, dass sein Name im gleichen Atemzug mit den Chefdirigenten und Intendanten genannt wurde, die der Deutschen Oper Berlin in der Zeit nach 1961 zu weltweitem Ansehen verhalfen. Denn fast ein Vierteljahrhundert lang leitete Hagen-Groll nicht nur diesen damals größten Opernchor Europas, sondern machte aus den 120 Sängern und Sängerinnen ein Kollektiv, das mit seinem Ausdrucksspektrum die Möglichkeiten eines Opernchores erweiterte und damit den Chor als gleichberechtigten Partner von Sängern und Orchester etablierte. Durch  das Wirken Hagen-Grolls wurde der Chor der Deutschen Oper Berlin nicht nur zum begehrten Partner für Auftritte und Aufnahmeprojekte unter Dirigenten wie Herbert von Karajan, Karl Böhm und Giuseppe Sinopoli, sondern er wurde auch zum Modellfall eines großen Opernchores, dessen Klangkultur bis heute Maßstäbe setzt.

Durch die Kontinuität und Bedeutung seiner künstlerischen Arbeit wurde Walter Hagen-Groll zu einem prägenden Künstler nicht nur der Deutschen Oper Berlin, sondern auch zu einem international geschätzten kulturellen Repräsentanten Westberlins. Seinem Stammhaus blieb er fast seine ganze Laufbahn über treu: 1927 in Chemnitz geboren, trat er sein Amt als Chordirektor der Deutschen Oper Berlin bereits mit 34 Jahren an, wechselte erst 1984 für zwei weitere Jahre an die Wiener Staatsoper und gab sein Wissen ab 1986 auch als Leiter der Chordirigentenklasse am Salzburger Mozarte- um weiter. Er verstarb am 3. November 2018 in Salzburg. Die Deutsche Oper Berlin, deren Ehrenmitglied er war, trauert um einen großen Künstler, dem sie unendlich viel verdankt. Quelle Pressestelle Deutsche Oper Berlin (Foto oben: Walter Hagen-Groll/ Foto © Harry Croner/ DOB)

Walter Hagen-Groll war der Vater der langjährigen und viel vermissten DOB-Presseassistentin  Bettina Raeder. Unser Beileid auch an sie. G. H.