Mehr als „Ombra mai fu“

 

Serse ist Georg Friedrich Händels drittletzte Oper und ein vielfältiges Werk, geprägt vom Wechsel zwischen Arien, Arietten und Ariosen, dazu gibt es drei kurze Duette und einen eigenständigen Chor. Von den über 30 Arien sind mehr als 20 einteilig und folgen nicht der Dacapo-Form. Die aus dieser Struktur folgenden schnellen und kontrastierenden Wechsel mit teilweisem Miniaturcharakter stammen aus der venezianischen Oper und bieten kurzweiliges Vergnügen. Das originale Libretto zu Serse von Nicolò Minato wurde in einer Vertonung Cavallis 1655 in der Lagunenstadt aufgeführt, ein „Ombra mai fu“ findet sich bereits hier. Eine stark überarbeitete Fassung des Textbuchs durch Silvio Stampiglia  vertonte Giovanni Battista Bononcini für Rom 1694, erneut mit einem „Ombra mai fu“, das eine grobe Ähnlichkeit mit Händels berühmter Vertonung hat. Dafür gibt es einen naheliegenden Grund: aus einer Abschrift von Bononcinis Partitur entlehnte sich Händel musikalische Anregungen für einige Werke, sein 1738 gespielter Serse beruht auf Bononcinis Motivfragmenten und dem historischen Vorläufer, den Text adaptierte und kürzte Händel vermutlich selber. Die verworrene Handlung lässt sich kaum nacherzählen, der persische König Xerxes (Serse) ist zwar verlobt mit Amastre, will aber plötzlich Romilda heiraten, die bereits mit Xerxes Bruder Arsamene verbunden ist, in den wiederum auch Romildas Schwester Atalanta verliebt ist. Es gibt die üblichen Irrungen und Wirrungen und ein lieto fine aus heiterem Himmel. Serse ist ein Dramma per musica mit humorvollen Szenen, musikalisch liebevollen Porträts, einem sprunghaften Tyrann und einem komischen Diener – der barocke Heroismus der Herrscherfigur kann ironisch gebrochen werden, Serse ist dann eine Tragibuffo.

Im Herbst 2017 soll es stehende Ovationen in der Opéra Royal zu Versailles für eine konzertante Aufführung von Serse gegeben haben. Die Deutsche Grammophon hatte eine glückliche Hand, als sie diese Besetzung im Januar 2018 zu einer Aufnahme in der Villa San Fermo im italienischen Lonigo bei Vicenza im Veneto versammelte. Es handelt sich um die erste Gesamteinspielung mit einem Countertenor in der Titelrolle. 1728 hatte Händel mit Caffarelli einen Starkastraten zur Verfügung und entsprechend groß und schwierig gestaltete er die Titelfigur, Franco Fagioli verleiht Serses Stimmungsschwankungen nun seine Stimme und das mit Bravour. „Ombra mai fu“ zu Beginn ist voller geschmeidiger Wärme und samtiger Klangfarbe (es bietet sich übrigens ein Vergleich an, Fagioli hat auf seiner Anfang 2018 erschienen CD mit Händel-Arien mit gleichem Orchester dieses Stück getragener interpretiert. Auch „Crude furie“ ist dort enthalten). Die drei großen Dacapo-Arien sind alle vorbildlich gelungen, ob nun in „Piu che penso alle fiamme“ oder „Bramate d’amar“, Fagioli präsentiert seine Kombination aus Technik und Ausdruck, virtuos und charakteristisch mit geerdetem Timbre und stets verführerisch. Das entfesselte „Crude furie“ ist für Fagioli ein Bravourstück, dessen Spannweite zwischen tiefen und hohen Tönen mit schwindelerregender Stimmakrobatik in rasantem Tempo aktuell kein anderer so überzeugend meistert. Als Romilda hat man mit Inga Kalna eine große, voluminöse Stimme gewählt, stimmig im Ausdruck, technisch tadellos, und doch zu Beginn ein wenig gewöhnungsbedürftig, denn ihre Klangfarbe ist reif und erwachsen, kaum jugendlich und damit fast schon zu souverän für die gebeutelte Protagonistin. Die beiden Hosenrollen sind mit Vivica Genaux und Delphine Galou besetzt. Genaux ist technisch noch immer überzeugend und souverän in der Gestaltung, wie sie bspw. „Or che siete, speranze, tradite“ vor Erregung vibrieren läßt, hat Klasse. Delphine Galou hat sich über das letzte Jahrzehnt zu einer der gefragtesten Contralto-Stimmen im Barock-Repertoire entwickelt, ihre Stimme ist klar, geradeaus und gefühlvoll, souverän meistert sie die Koloraturen in „Saprà delle mie offese“. Und auch mit Francesca Aspromonte als Atalanta hat man eine attraktive Stimme, die man in einer größeren Rolle zu hören wünscht. Beachtenswert gut sind ebenfalls die beiden Bässe, Andrea Mastroni als profunder Ariodate und insbesondere Biagio Pizzuti in der Partie des Elviro besitzt eine wohlklingende Stimme mit Statur und Verwandlungsfähigkeit, die Buffo-Partie zu Beginn des zweiten Akts interpretiert er derb komisch. Die 12 Chorsänger (jede Stimmlage dreifach) der Cantica Symphonia passen sich tadellos ein. Neben Streichern und Continuo erfordert Serse Fagott, Trompete und doppelt besetzte Flöten, Oboen und Hörner. Dirigent Maxim Emelyanychev und das mit 25 Instrumenten besetzte Il Pomo d’Oro verleihen der Partitur nuancierte Dynamik, man musiziert expressiv und energisch vorwärtsdrängend, stets animiert und engagiert, oft mit Vehemenz und Entschiedenheit. Man schwelgt, ohne betulich zu werden, manch traurige und schmachtende Stelle kann man vielleicht noch größer betonen, aber im Gesamteindruck ergibt sich ein homogener Eindruck. Die Aufnahmetechnik überzeugt, der dichte Klang der Aufnahme ist sehr gut, die Ouvertüre springt ins Ohr, die Balance zwischen Gesang und Musik wirkt optimal. Die Deutsche Grammophon präsentiert eine herausragend gut gelungene und hochwertig homogene Neueinspielung, die Freude bereitet. Ein wenig mehr Mühe und Sorgfalt hätte man dennoch erwarten können. Für viele ist Serse eine Oper von Händel oder Haendel, für die DG handelt es sich um ein Werk von Handel. Wieso ein deutsches Label George Frideric statt Georg Friedrich schreiben muss, mag man vielleicht noch mit kommerziellen Gründen erklären. Das lediglich zweisprachige Beiheft ist neben Englisch auch in Deutsch, das Libretto neben dem Original allerdings nur in Englisch und nicht in Deutsch verfügbar. Als Aufnahmezeitpunkt wird  11/2018 angegeben, gemeint ist wahrscheinlich Januar 2018 (3 CD, Deutsche Grammophon, DG 483578). Marcus Budwitius