Von Anfang an wie ein nicht integrierbarer Fremdling wirkt der peruanische Tenor Juan Diego Flórez in der Zürcher Inszenierung von Massenets Werther, wenn er das Haus des Amtmanns in Wetzlar betritt. Bühnenbildner Klaus Grünberg hat ein Einheitsbühnenbild geschaffen: ein großer Raum ganz aus lichtem Holz mit Wandschränken, Borden und vielen Türen, nicht unfreundlich, aber doch einengend und nicht immer dem Willen der Bewohner gehorchend, wenn diese das Haus verlassen wollen. Einmal versucht Werther der Enge und seinem Gefühlsüberschwang zu entkommen, indem er einige Dielen aus dem Boden reißt, Charlotte gelingt es nicht, die Tür zu öffnen, um zu dem sterbenden Werther zu eilen, er fällt ihr blutend, noch das Pistol in der Hand, durch dieselbe entgegen, und erst während der Sterbeszene heben sich die Wände und gegen den Blick auf Schneefall, Sternenhimmel und wohl auch einen dahinziehenden Erdball frei. Ein altes Ehepaar, wohl Charlotte und Werther bei einem möglichen glücklichen Ausgang der Geschichte, umtanzt die beiden mit dem Kopfputz, den sie auf dem Ball trugen, wobei fraglich ist, ob Werthers Charakter ihn fähig zum männlichen Teil eines Philemon- und- Baucis-Glücks machen würde. Die Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist also einerseits hochsymbolisch, zum anderen werden einige Szenen ins Sarkastisch-Groteske, ja Abstoßende gewendet, wenn im zweiten Akt einer Alten von den beiden Junggesellen gewaltsam Alkohol eingeflößt wird oder den anderen armen Betagten die von Charlotte servierten Tortenstücke entrissen werden. Zur dem dem German trash zugeneigten Teil der Inszenierung gehören auf jeden Fall auch die ausgewählt hässlichen Kostüme von Silke Willrett. Zwar erwartet man nicht unbedingt das berühmte schlichte weiße Kleid mit rotem Gürtelband, aber das Ungetüm von rosafarbenem Rüschenkleid ist eine Beleidigung für den Geschmack von Charlotte, und auch Sophie hat die grässliche Kombination von Leopardenmantel mit grellgrüngestreiftem Pullover plus grell rot kariertem Rock nicht verdient. Verschont bleibt allerding Werther, der im weißem Hemd und schwarzer Hose auftritt, die in der Goethezeit zum Modehit avancierte gelbe Weste gibt es nicht, wohl aber dieses Gelb in allen Gewändern der Kinderschar. Ist dieser Teil der Optik ein erhebliches Manko der Produktion, so ist die Personenregie, insbesondere für die Titelfigur eine so feine wie ausgefeilte, und der Tenor zeigt bei seiner Repertoireerweiterung, die Aufnahme entstand im Frühjahr 2017, nach dem französischen Orpheus und dem Roméo, dass er anders als bei seinem Duca, auf dem richtigem Weg ist. Hoffmann und der Massenet-Des-Grieux sollen folgen. Die Stimme ist dunkler und tragfähiger geworden und kann sich auch gegenüber dem reichen Orchestersound durchsetzen.
Keine bekannten Sängerstars sind neben dem Startenor zu erleben, und doch fällt keiner der Mitwirkenden ihm gegenüber ab. Anna Stéphany ist eine schlanke, mädchenhafte Charlotte, die in dieser Produktion zur gleichberechtigtem Heldin neben der Titelfigur wird, mit einem leidenschaftlich ausgetragenen Kampf zwischen Neigung und Pflicht, dargeboten von einem hellen, leichten, gut tragfähigen und geschmeidigen Mezzosopran. Keine Soubrette, sondern eine beherzte Sophie mit schönen lyrischen Mitteln ist Mélissa Petit. Oft als bebrillter Langweiler dargestellt, wird Albert hier mit Audun Iversen zum durchaus attraktiven, auch menschlich ansprechenden, weil mitempfindenden und -leidenden Dritten im unglücklichen Bunde und ist zudem mit einem kernigen Bariton begabt. Auch Le Bailli hat in der Darstellung durch Cheyne Davidson sympathische Züge. Die Karikatur ist den allerdings dazu herausfordernden Nebenpersonen vorbehalten. Cornelius Meister weiß das Orchester des Zürcher Opernhauses sowohl im Ausmalen der Stimmungen in zarten Pastellfarben wie im schneidenden Aufbrausen des dramatischen Aplombs sicher und einfühlsam zu führen. Abgesehen von einigen optischen Auswüchsen, die aber die Hauptpersonen kaum tangieren, ist das eine sehens-, vor allem aber hörenswerte Aufnahme (Accentus Music ACC 10427). Ingrid Wanja