Archiv für den Monat: August 2021

Geisterspuk und Elfentanz      

 

Das „Phantastische“ ist ein heikler Fall. Zurecht weist Elisabetta Fava zu Beginn ihres Buches darauf hin, dass es sich einer eindeutigen Definition entziehe Phantastisch sei alles, was verstöre und befremde, was nicht mit den gewöhnlichen Denkkategorien vereinbar sei, was unverständlich, unerklärlich bleibe und gegen die Regeln des gesunden Verstandes verstoße, so liest man.  Nicht zu verwechseln mit dem Wunderbaren, das einem begegnet, wenn man das Übernatürliche erkenne, jenseits der Täuschung, die das Phantastische zum puren Trick degradiere.

Seien wir ehrlich: Das Bedürfnis nach dem Phantastischen ist eine uralte, quasi metaphysische Konstante menschlichen Denkens und Wahrnehmens, aber auch menschlicher Kreativität im Künstlerischen wie im Religiösen.

Der Großmeister der mittelalterlichen Phantastik und ein nachhaltiger Initiator phantastischen Malens war Hieronymus Bosch, aber es gibt auch in der Musik des Barocks bereits Komponisten, die immer wieder phantastische, bizarre Momente in ihre Kompositionen einflochten. Man denke nur an Jean-Férie Rebels „Les Elements“, aber auch an die vielen Zauberszenen in der barocken Oper.

Doch die große Stunde des Phantastischen in der Literatur, im Theater, in der nonverbalen Musik wie in der Oper kam im 19. Jahrhundert. Zuvor deckte sich das Phantastische weitgehend mit dem Wunderbaren. Der Manierismus lebte davon. Wann genau diese Verwandlung des Wunderbaren zum Phantastischen geschah, weiß auch die Autorin nicht, gesteht sie. Um sich nicht aufs Glatteis zu begeben, beschränkt sie sich daher von vornherein aufs 19. Jahrhundert und auf Deutschland, wo das Phantastische ein großes, weit verbreitetes Thema wurde. Aber schon Mozarts „Zauberflöte“, mehr noch dessen „Don Giovanni“ waren, man liest viel darüber in diesem klugen Buch, wegweisende Paradebeispiele der Entstehung von etwas Neuem:  Dämonen und Feen, Geister und übernatürliche Erscheinungen des Jenseitigen bevölkern plötzlich die Bühne, auch Halluzinationen und Alpträume. Sie befriedigen das neue metaphysisch-psychologische Gruselbedürfnis des Publikums.

Der Traum ist es, der das Tor zwischen zwei Welten öffnet. Bestes Beispiel ist das Werk Richard Wagners. Ihm widmet die Autorin viel Aufmerksamkeit. ausführlich untersucht sie Wagners frühe Opern, aber auch seine reifen Musikdramen. „Was Lohengrin betrifft, kann man nicht umhin, über die außerordentliche Klangerfindung zu sprechen, die Wagner hier zum ersten Mal vorstellt: das leise Tremolo der (in Gruppen geteilten) Violinen-mit Dämpfer – evoziert die weißen Federn des Schwans, aber auch das wunderbare Licht des Grals und lässt uns daher eine überirdische Welt erahnen, das Präludium beginnt mit einem körperlosen Klang, den die Flageolettöne von vier Soloviolinen hervorbringen; ein nie zuvor gehörter, übermenschlicher, schwebender Kang.“ Viele ähnlich konkrete Beispiele musikalischer Phantastik nennt die Autorin, der es darum geht, so etwas wie eine „Grammatik des Phantastischen“ zu erstellen.

Elisabetta Favas zentrale Einsicht: „Für den Romantiker ist die Phantastik der Riss in der bekannten Welt, die dauerhafte Kapazität zu träumen, etwas zu fürchten, das über die Grenzen der Immanenz und der Alltäglichkeit hinausführt.“

Ziel ihrer Untersuchung ist es, darzustellen, „wie die Musik bewusst phantastische Themen behandelt und daraus ein erkennbarer, wiederkehrender und dauerhafter Jargon entsteht, der als Gegenstück der literarischen Gestalt des Phantastischen zu würdigen ist,“ die zweifellos von eminenter Bedeutung für die deutsche Literatur ist. Darüber wurde viel geschrieben, nicht aber über die musikalische Phantastik.

Die Autorin gibt zum ersten Mal einen Gesamtüberblick der Verwendung des Phantastischen in der Musik der deutschen Romantik. Ihr Buch entfaltet eine Art musikalisches Panorama, mit Querbezügen zur französischen, italienischen und russischen Literatur. Fava zitiert den Franzosen Charles Nodier, der schon 1830 in der Revue de Paris erkannt hatte „Deutschland ist reicher als jegliches andere Land an dieser Art Schöpfungen“. Er bezog sich vornehmlich aufs Literarische. Elisabetta Favas Interesse gilt hingegen der Beantwortung der Frage, ob und wie die deutsche Phantastik auch im musikalischen Gebiet eine ebenso große Rolle wie in der Literatur gespielt hat.  Ihr Buch bejaht diese Frage eindrucksvoll, die Lektüre lohnt unbedingt.

Das Buch ist die von der Autorin (gelegentlich etwas holperig) ins Deutsche übersetzte, ursprünglich italienisch abgefasste Dissertation, die der Universität Bern vorgelegt wurde. Dennoch eine gut lesbare wissenschaftliche Fleißarbeit, die mit Literaturverzeichnis und nützlichem Namensregister ein respektables, konkurrenzloses Nachschlagewerk zum Thema musikalischen Geisterspuks und Elfentanzes geworden ist (Elisabetta Fava: Geisterspuk und Elfentanz – Musikalische Phantastik im Deutschland des frühen 19. JahrhundertsKönigshausen & Neumann 2021, 384 S, ISBN: 978-3-8260-7361-8). Dieter David Scholz

 

Hochsinnliche Oper des Frühbarock

 

Königinnen und Abenteurerinnen sind beliebte Gestalten in der Opernwelt – und die antike Königin Semiramis war sogar beides. Kein Wunder, dass die Geschichten, die sich um sie ranken, zu den meistvertonten der Musikgeschichte gehören. Jetzt ist eine frühe französische Version der Semiramis-Oper erschienen. Diese Sémiramis ist eine Tragédie Ballet aus dem Jahr 1718 von André Destouches, einem originellen und visionären Hofkomponisten in Versailles – leider oft vergessen zwischen Lully und Rameau.

Bei der Aufnahme handelt es ich um eine vorzügliche Interpration, initiiert vom Ensemble Les Ombres. Am Pult stand Sylvain Sartre und es ist atemberaubend zu hören, wie er die Vielseitigkeit der Partitur herauskehrt. Trotz exzellenter Gesangs-Solisten sind die Instrumentalisten hier die Helden: Vom trommelfellerschüttenden Pomp der Massenszenen bis zu kammermusikalisch fein schattierten Tänzen und Rezitativen erlebt man eine weitgefächerte Palette an Klängen. Eine der sinnlichsten Frühbarock-Opern seit langem auf dem CD-Markt (André Destouches: „Sémiramis“ mit Éléonore Pancrazi, Emmanuelle de Negri, Mathias Vidal, Thibault de Damas | Choeur du Concert Spirituel | Les Ombres | Sylvain Sartre, Leitung; 2 CD Château de Versailles Spectacles; CVS 038 mit einem vorzüglichen Booklet in drei Sprachen, auch deutsch; Rez. 04. 08. 2021). Matthias Käther

Kronprinz Franz Lehárs – Paul Abraham

 

Paul Abraham war einer der originellsten, rebellischsten und frechsten Operetten­komponisten im Übergang von der Weimarer Republik zum Dritten Reich. Seine Musik spiegelt die Eu­phorie, die Hoffnungen, aber auch die Brüche dieser Zeit. Vergnügliches, Schmissiges, Pi­kantes, Frivoles mischt sich mit Nostalgie, mit ungarisch-österreichisch-berlinerischem Lo­kal­kolorit, aber auch mit amerikanischem Jazz. Zurecht wertet der Operetten-Spezialist Kevin Clarke vom Operetta Research Center: „Das Besondere an Paul Abrahams Operetten ist der Klang, diese Klangfarben, diese Klanggewalt, dieser Rausch, den er entwickelt, das ist natürlich der typi­sche Klangrausch der späten Zwanziger-, frühen Dreißigerjahre in der deutschsprachigen Operette, aber mir ist niemand bekannt, von den anderen Operettenkomponisten, der solche Wucht und solchen Drive in der Musik hat.“

Die Liedtexte und Dialoge der Abraham-Operetten sind sarkastisch, ironisch, gewagt und tagesaktuell, oftmals durchzieht sie aber Melancholie. Abraham hatte die besten Librettisten seiner Zeit, Fritz Löhna-Beda und Alfred Grünwald, sie verstanden sich auf feinen Humor der Ausgegrenzten. Und es geht in den Stücken immer darum, wie finden sich Mann und Frau, und wie wird man einander wieder los:

Abrahams Operetten bevölkern Männer von Welt, Parvenüs und Nichtsnutze, Salon­löwen, Damen, Flitt­chen, Femme fatales und Mäuschen. Es sind hinter­sinnige Stücke von Liebesfreud und Liebesleid sowie Irrungen und Wirrungen zwischen den Geschlechtern, wie sie kein anderer so auf die Bühne brachte.

Abrahams Karriere war kometengleich. Vom Nobody aus dem kleinen süd­ungarischen Ort Apatin, kam er 1930 über Budapest nach Ber­lin, stieg er innerhalb von nur drei Jahren zum europaweit bestbezahlten und umjubelten Star-Operet­tenkom­ponisten seiner Zeit auf. Abraham wurde reich, Lud zu Cham­pagner und Kaviar, besaß Limousinen, Butler und Chauffeur, kaufte sich in der noblen Berliner Fasa­nenstrasse eine schlossartige Villa. Doch so steil wie seine Kometenbahn 1930 aufstieg, so steil stürzte sie 1933 ins Nichts. Alles detailliert nachzulesen bei Klaus Waller. Abraham floh über Budapest, Wien, Paris und Havanna nach New York. In den USA konnte er an seine Erfolge in Europa allerdings nicht anknüpfen, er­krank­te an Syphilis, war geistig verwirrt und verbrachte schließlich 10 Jahre – von der Welt ver­gessen – in einer psychiatrischen Klinik. Ein besonders tragischer Fall von deutschem Emigrantentum in den USA, das Klaus Waller ausführlich darstellt

Durch einen Zeitungsartikel im New Yorker „Aufbau“ aufmerksam geworden, überschrieben „Der Komponist im Irrenhaus“ wurde 1956 Paul Abraham auf Betreiben von Freunden, organisiert in einem „Paul-Abraham-Komitee“, vor allem aber auf Initiative des Psychiaters und Neurologen Professor Bürger-Prinz am Eppen­dorfer Klinikum Hamburg nach Europa zurückgeholt. Abraham verbrachte in Ham­burg die letzten 4 Jahre seines Lebens in Hamburg. Der renommierte Professor Bürger-Prinz hatte nach 1945 seine Nazi-Vergangenheit und seine Mitwirkung an Euthanasie-Projekten geleugnet. Das erschütternde Schlusskapitel aus dem Leben Paul Abrahams wird in der zuverlässigen, ungeschönten Biographie von Klaus Waller nicht verschwiegen:

„Der von den Nationalsozialisten verfolgte Paul Abraham wurde nun von einem Arzt behandelt, der im Dritten Reich unter anderem als Richter im ‚Erbgesundheitsgericht‘ tätig war…, Bürger-Prinz konnte der Patient nur Recht sein, denn er war dabei, sich in der Bundesrepublik ein neues Renommee zu verschaffen“ (Waller).

Das Buch von Klaus Waller beschreibt aber auch gewissenhaft die wesentlichen Werke Abrahams, ihre Aufführungsge­schichte und ihre Darsteller, unter denen die Soubrette Rosy Barsoni und der Buffo Oscar Denes, die zu den Lieblingen Abrahams gehörten. Man höre sich nur die historischen Aufnahmen mit diesem Sängerdarstellern an. Unübertroffen bis heute.  Diese vitale, völlig unkitschige, ja angriffslustige Operettentradition wurde von den Nazis beendet, wie Waller verdeutlicht. Klaus Waller spricht es deutlich aus.  Seine Abraham-Biographie enthält darüber hinaus nicht nur einen auf­schlussreichen Beitrag des Arrangeurs Henning Hagedorn über die Rekon­struktion der Partituren Ab­rahams. Viele sind nicht vollständig erhalten. Es gibt auch einen Bericht Anna-Maria Keménys über Ihren Vater Egon Keme­ny, Komponist im Schatten und enger Mitarbeiter Paul Abrahams. –  Abraham stand unter manischem Produktions­zwang. Er schrieb neben unzähligen Ope­retten auch Filmmusiken und Schlager für die Film- und Operetten­größen der Zeit: Gita Alpar, Willy Fritsch, Rita Georg, Marika Rökk, Camilla Horn und Maria Müller.

Die Produktionen des Regisseurs Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin hatten geradezu Signalcharakter für die internationale Wiederentdeckung Abra­hams auf den Theatern. Kosky bricht denn auch in einem Gespräch mit dem Dirigenten und Pia­nisten Adam Benzwi, das im Buch abgedruckt ist, eine Lanze für Abraham als „Sinfoniker der Großstadt“ und macht ungeniert Werbung für sein Haus. Er ist stolz darauf, in den letzten Jahren immerhin vier Operetten Abrahams an der Komischen Oper aufgeführt zu haben: Dschainah. Das Mädchen aus dem Tanzhaus, Roxy und ihr Wunderteam, Ball im Savoy und Die Blume von Hawaii.

So wie Barrie Kosky mit seinen Inszenierungen an der Komischen Oper, trägt auch das Buch von Klaus Waller zur Wiederentdeckung Paul Abrahams bei, der im Gegensatz zu Franz Lehar, (der ihn seinen „Kronprinzen“ nannte), im allge­meinen Bewusstsein nicht mehr vor­handen ist. Wallers Buch ist mit fabelhaftem Bildmaterial ausgestattet, darunter viele bewegende Foto-Raritäten. Ein Buch, das nicht nur außerordentlich informativ ist, sondern den Leser neugierig macht auf Paul Abraham und seine Musik (Klaus Waller: Paul Abraham. Der tragische König der Jazz-Operette, Starfruit publications, 384 Seiten, ISBN 978-3-922895-44-2). Dieter David Scholz

 

Barocke Schätze aus Versailles

 

In der Serie Château de Versailles erschienen zwei Werke des französischen Barock – Lullys Tragédie en musique Cadmus et Hermione von 1673 (aufgenommen im November 2019) und Rameaus Opéra-ballet Les Indes Galantes von 1761 (aufgenommen im November 2019 und Juni 2020).

Erstere Einspielung (auf zwei CDs/CVS037) wird geleitet von Vincent Dumestre am Pult des Orchestre du Poème Harmonique, das er 1998 gegründet hatte. Lullys Musik vereint Chöre, Tänze, Symphonien, Märsche und Fanfaren in einem steten Wechsel von Galanterie und Wucht. Obwohl im Stil einer tragédie komponiert, verzichtete Lully nicht auf komische, aus der comédie-ballet übernommene Elemente. Diese sind den Nebenfiguren vorbehalten – Hermiones Vertrauten Charite und Aglante sowie Arbas, dem Diener des Cadmus. Dumestre vereint diese unterschiedlichen Aspekte zu einem effektvollen Klangkosmos.

Lully hatte das Libretto dem bekannten Tragödiendichter Philippe Quinault anvertraut, der der eigentlichen Handlung gemäß der Tradition einen dem König gewidmeten Prologue vorangestellt hatte. Hier treten Nymphen und Hirten auf, deren Spiele vom Neid gestört werden, der die gewaltige Schlange Python herbei ruft, die jedoch schnell vom Licht der Sonne niedergestreckt wird. Danach folgt die Liebesgeschichte zwischen dem Prinzen Cadmus, der die Stadt Theben gründete, und Hermione, Tochter von Mars und Venus, die nach vielen Heldentaten des Cadmus im 5. Akt mit beider prachtvoller Hochzeit endet.

Die männliche Titelrolle singt der Bariton Thomas Dolié mit warmer, resonanzreicher Stimme. Cadmus’ ergreifender Abschied im 2. Akt, „Je vais partir, belle Hermione“, stellt eines von Lullys schönsten Rezitativen dar und der Sänger gestaltet es so bewegend, dass es zu einem Höhepunkt des gesamten Werkes wird. Auch die vielen schmerzlichen Szenen angesichts des vermeintlichen Verlustes von Hermione formt der Sänger derart verinnerlicht, dass diese zutiefst bewegen. Seinen Diener Arbas singt Lisandro Abadie mit munterer Tongebung. Adéle Charvet ist die Hermione, deren lieblicher, von Flöten umspielter Auftritt („Cet aimable séjour“) von der Sopranistin mit leuchtender Stimme delikat ausgebreitet wird. Im Dialog mit Cadmus und ihrem nachfolgenden Solo „Amour“ im 2. Akt berührt sie mit verinnerlichtem Vortrag. Auch Marine Lafdal-Franc als Aglante und Eva Zaïcik als Charite verfügen über angenehme Sopranstimmen.

Im Prologue hat der Charaktertenor Benoit-Joseph Meier einen effektvollen, von Windmaschinen untermalten Auftritt als L’Envie. Der Counter Nicholas Scott ist als Dieu Châmpetre zu hören, später gibt er Hermiones Nourrice, die schon in der Premiere von einem Haute-Contre interpretiert wurde, mit charaktervoller Zeichnung. Der Bassist Guilhem Worms als Le Grand Sacrificateur hat einen spektakulären Auftritt im 3. Akt, begleitet von pompösem Marsch und machtvollem Chorgesang (Ensemble Aeses, einstudiert von Mathieu Romano). Zu nennen sind noch Brenda Poupard als energische Junon und anmutiger Amour sowie Virgile Ancely mit resolutem Bassbariton als Draco und Mars.  (Rez. 3. 8. 2021)

 

Mehr als 60 Jahre nach Lullys Werk,1735, kam das von Rameau zur Premiere – die vorliegende Einspielung unter dem jungen Dirigenten Valentin Tournet am Pult des Ensembles La Chapelle Harmonique auf zwei CDs (CVS031) nutzt jedoch die Fassung von 1761, die noch zu Lebzeiten des Komponisten entstand. Mit Les Indes Galantes erneuerte der Komponist das Genre Opéra-ballet, indem er exotische Völker und deren Liebeskonflikte auf die Bühne brachte. Gezeigt werden in drei Entrées ein großmütiger Türke, Inkas in Peru und tanzende Wilde in Louisiana. Wie üblich in diesem Genre gibt es einen Prologue, der junge Liebende aus vier Nationen Europas zeigt. Der Kontinent will auf den Frieden verzichten, um der Kriegsgöttin Bellone, Schwester des Gottes Mars, zu folgen. Mit einer pompösen Ouverture beginnt das Werk in feierlicher Manier. Auch die Tänze (Airs pour deux Polonais, Menuets pour la suite d’Hébé) sind von gewichtiger Substanz. Die tragenden Figuren sind die Göttin der Jugend Hébé (Ana Quintans mit leuchtendem Sopran von bohrender Intensität), die Kriegsgöttin Bellone (überraschend der Bassist Edwin Crossley-Mercer mit auftrumpfender stimmlicher Gebärde) und L’Amour (Julie Roset mit munterem Sopran).

Das Entrée I, „Les Incas du Pérou“, handelt von der peruanischen Prinzessin Phani und dem spanischen Offizier Don Carlos, die ineinander verliebt sind. Auch der Sonnenpriester Huascar liebt Phani und löst ein Erdbeben aus, weil die Prinzessin sich ihm verweigert, begeht schließlich Selbstmord ob seiner Chancenlosigkeit. Höhepunkt dieses Teiles ist die feierliche Adoration du Soleil (Sonnenanbetung), aber auch das entfesselte Tremblement de terre ist von starker Wirkung.

Das Entrée II, „Le Turc généreux“, macht mit Émilie, Sklavin des Großvisirs Osman, bekannt, die von ihm begehrt wird, ihrerseits aber ihrem Geliebten Valère treu bleibt. Als Osman die Liebenden überrascht, verzeiht er ihnen großmütig. In den lebhaften Tänzen für die amerikanischen Sklaven nutzte Rameau exotische Motive, Höhepunkt ist aber die Sturmszene.

Das Entrée III, „Les Sauvages“, eingeführt bei der ersten Wiederaufnahme des Werkes 1736, führt in die Wälder Amerikas, wo in einer Zeremonie der Bund der Indianerin Zima mit Adario. dem Truppenanführer der wilden Nation, gefeiert wird. Dieser hat zwei andere Bewerber besiegt – den Franzosen Damon und den Spanier Don Alvar. In diesem Teil ragen der rhythmisch reizvolle Tanz der Sauvages (Wilden) und die abschließende Chaconne als Höhepunkte heraus.

In der Besetzung finden sich mit Emmanuelle de Negri und Mathias Vidal zwei renommierte Interpreten des französischen Barockrepertoires. Die Sopranistin singt zuerst die Phani und bezaubert in deren Auftritts-Air „Viens Hymen“ mit lieblichen Tönen. Im Entrée II ist sie die Émilie und klingt hier zunächst verschattet und melancholisch. Dann aber fährt sie die Stimme in einer Sturmszene („Vaste emptrs de mers“), wo auch der Choeur einen großen Moment hat, mächtig auf. In der Ariette „Régnez, Amour“ besticht sie mit Jubeltönen.

Der Tenor ist mit klangvoller Stimme und fabelhafter Diktion als Valère, Don Carlos und Damon zu hören. In Valères Air „Hâtez-vous de vous embarquer“ beeindruckt er mit ungestümer Tongebung, in Damons „La terre, les cieux“ und „Les époux les plus soupçonneux“ mit  Verve und beherzten Spitzentönen. Mit dieser Partie singt er sich souverän an die Spitze der Besetzung.

Ana Quintans, die schon im Prologue als Hébé zu hören war, singt die Zima mit Kultur. Besonders in ihrer prunkvollen Ariette vor dem Finale, „Régnez, plaisirs et jeux“, entfaltet sie vokalen Zauber.

Alexandre Duhamel ist der Huascar mit profundem, zuweilen auch dröhnendem Bass, der in seinem Air „Obéissons sans balancer“ prahlerisch auftrumpft. In „Clair flambeau du monde“ ist er zurückhaltender und mehr um Linie bemüht.

Edwin Crossley-Mercer als Don Alvar und der lyrische Bariton Guillaume Andrieux als Osman sowie Adario komplettieren die Besetzung. Letzterer interpretiert Adarios Air „Rivaux de mes exploits“ mit nobler Linie. Valentin Tournet, der die Musik in ihrer erhabenen Größe grandios entfaltet hat, ist es vorbehalten, mit der pompösen Chaconne im Finale noch einen Höhepunkt zu setzen. Die beiden Aufnahmen bieten einen aufschlussreichen Vergleich über das Schaffen der beiden französischen Großmeister des Barock (Rez. 3. 8. 2021). Bernd Hoppe

Zwischen Barock und Brexit

John Gays Ballad Opera von 1728  The Beggar’s Opera gilt als eine der ersten musikalischen Komödien. Der Komponist verwob brillant klassische und populäre musikalische Motive zu einer satirischen Legende mit Londoner Dieben, Zuhältern und Huren in den Hauptrollen.

OPUS ARTE bringt nun auf einer Blu-ray Disc eine neue Version des Stückes von Regisseur Robert Carsen und Dramaturg Ian Burton heraus, die im April 2018 im Pariser Théâtre des Bouffes du Nord zur Aufführung kam (OABD7283 D). Deren hoher musikalischer Rang ergibt sich durch die Mitwirkung von Musikern des renommierten Ensembles Les Arts Florissants unter William Christie. Bühnenbildner James Brandily und Kostümdesignerin Petra Reinhardt siedeln die Geschichte ganz im Heute an, lassen sie in einer Szenerie aus aufgestapelten Pappkartons spielen, wo Obdachlose in Hoodies hausen. Sie singen und agieren auch tänzerisch. Rebecca Howells Choreografie ist deutlich inspiriert vom Break Dance und Hip-Hop. Mitten in diesem Ambiente des Elends und der Trostlosigkeit sitzen die Musiker und der Dirigent. Er bringt Gays Musik in ihrer Mischung aus klassischen Themen und populären Weisen mit rasantem Schwung zu fetziger Wirkung.

Mit Ohren betäubendem Lärm und Sirenengeheul beginnt das Spektakel – eine Razzia der Polizei ist zu befürchten. Schnell müssen sich die Gauner aus ihren Pappen schälen. Ihr Chef Mr. Peachum in Gestalt von Robert Burt ist ein gewiefter Typ, der wie alle anderen Sängerdarsteller von Carsen/Burton aktualisierte Sprechtexte aufsagen darf, die politische Skandale unserer Tage entlarven und parodieren, Die Frau an seiner Seite, Mrs. Peachum alias Beverley Klein, steuert ordinäre Töne bei. Kate Better ist eine sexy Polly, die in ihrem Song „Turtle Dove“ einen angenehmen Sopran hören lässt. Der von ihr ersehnte Gatte, Macheath, ist mit Benjamin Purkiss ungewöhnlich jung und smart besetzt, aber der Sänger kann auch cool und fies sein. Fünf extravagant gekleidete und flott die Beine werfende Escort-Girls begleiten ihn. Sie animieren ihn zu einem auftrumpfenden Song, der die Freuden des Lebens preist. Die herrlich deftige Wirtin Diana (Beverley Klein in einer Doppelrolle) lallt dazu. Einen resoluten Auftritt hat Olivia Brereton als Lucy, die Macheath im Gefängnis besucht und dort von ihm ein Eheversprechen erhält. Als dazu noch Polly erscheint und sich als rechtmäßige Gattin ausgibt, kommt es zu heftigen, von den beiden Damen köstlich ausgespielten Konfusionen. Emma Kate Nelson als Jenny ist die Kühle Blonde mit flötenden Soprantönen.

Am Ende winselt Macheath angesichts des Galgenstricks, der über ihm baumelt. Schon läutet die Glocke und nicht weniger als vier Damen wollen sich von ihm verabschieden, da kommt die Eilmeldung vom Rücktritt der Premierministerin (!). Alle bekommen einen Posten und die Gaunergeschäfte beginnen von vorn. Die so vergnügliche wie fulminante Aufführung wird vom Publikum gebührend bejubelt. Bernd Hoppe

Giuseppe Giacomini

 

Der italienische Tenor Giuseppe Giacomini (7. September 1940 in Veggiano – 28. Juli 2021 in Agordo) ist gestorben. Er galt als der beste Otello-Darsteller des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er sang für die königliche Familie in London und für Michail Gorbatschow in Moskau. 1992 wurde er, aufgrund seiner Verdienste an der Wiener Staatsoper, zum österreichischen Kammersänger ernannt.
Giacomini studierte bei Vladimiro Badiali, Elena Ceriati und Marcello del Monaco. Er war in Gesangswettbewerben erfolgreich und debütierte 1966 in Vercelli in Puccinis Madama Butterfly. Innerhalb kürzester Zeit trat er in ganz Italien auf, 1970 debütierte er in Berlin und es folgten Auslandsverpflichtungen in Lissabon, Barcelona und München. In Italien gastierte er an allen bedeutenden Opernhäusern, darunter La Scala in Mailand, die Oper in Roma und das Teatro Regio in Turin.

1976 debütierte er an der Metropolitan Opera von New York und im Palais Garnier in Paris, wo er in den Folgejahren in Verdis Macbeth und dessen Don Carlo reüssierte, als Canio in Pagliacci und als Cavaradossi in Tosca. 1977 debütierte er als Johnson in Puccinis La fanciulla del West an der Wiener Staatsoper und blieb diesem Haus bis ins Jahr 2000 verbunden. Er sang in Wien elf Rollen, alle aus seinem italienischen Kernrepertoire, darunter dreimal den Pollione in Bellinis Norma, elfmal die Titelpartie in Andrea Chénier und jeweils 13-mal den Canio und den Radames in Aida. 1992 wurde ihm im Haus am Ring der Titel Kammersänger verliehen.

1980 sang er erstmalig am Royal Opera House Covent Garden in London, er sollte in den 1990er Jahren regelmäßig dort auftreten. Über 20 Jahre lang war er in der Arena von Verona verpflichtet.

Im Laufe seiner Karriere trat Giacomini in den größten Opernhäusern der Welt auf. Er wird von Opernkennern wie Alan Blyth – neben Ramón Vinay (in den 1940er Jahren) und Mario Del Monaco (in den 1950er und 1960er Jahren) – als bester Sängerdarsteller des Verdi’schen Otello angesehen. Den Radames übernahm er in einer historischen Produktion in Kairo. 1988 sang er anlässlich der Eröffnung der Olympischen Spiele in Seoul den Kalaf in Puccinis Turandot. Seinen 60. Geburtstag feierte er als Cavaradossi in London. 2010 tourte er mit dem Shanghai Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Muhai Tang durch China.

Aufnahmen: Es gibt einige Live-Mitschnitte von Opernaufführungen sowie Studioproduktionen – Norma mit Renata Scotto (1979), Manon Lescaut mit Raina Kabaivanska (1984), La forza del destino mit Leontyne Price (1984 aus der Metropolitan Opera), Cavalleria rusticana mit Jessye Norman (1990), Il tabarro mit Mirella Freni (1991), Tosca mit Carol Vaness (1993) und Otello mit Margaret Price (1997). (Quelle Wikipedia/ Foto oben: Giuseppe Giacomini als Puccinis Rodolfo/ Historical Tenors)

Schwere Kost

 

Die kompletten Opern und Fragmente von Modest Mussorgsky auf siebzehn CDs? Wer sich ein wenig auskennt im Werk des russischen Komponisten, rechnet nach. Nach einem Blick ins Booklet beantwortet sich die Frage rasch. Bei Profil Edition Günter Hänssler wurden die mehr oder weniger vollendeten Werke jeweils in den Instrumentierungen von Nikolai Rimsky-Korsakov und von Dmitry Shostakovich berücksichtigt. Das erklärt den Umfang der neuen Edition (PH21002). Mussorgsky starb 1881 mit nur dreiundvierzig Jahren an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit. Gemeinsam mit Rimsky, Alexander Borodin, Mili Balakirev und César Cui gehörte er zur so genannten Gruppe der Fünf – auch als „Das mächtige Häuflein“ bekannt. Sie hatten sich 1862 in Sankt Petersburg zusammengetan und wollten die nationalrussische Musik in der Nachfolge von Michail Glinka fördern. Anders als der weitgereiste Tschaikowski strebten sie keine Orientierung an westliche Vorbilder an, lehnte sie sogar entschieden ab. Diese doppelte Abgrenzung – die geopolitische und die künstlerische – hat sich auch in den Einspielungen als unverwechselbares Klangbild niedergeschlagen. Für die historischen gilt dies noch mehr als für jene, die der Gegenwart näher sind. Als sich die Sowjetunion auflöste, endete auch die Abschottung. Sänger und Dirigenten vor allem der jüngeren Generation kamen zunehmend mit westlichen Erfahrungen und Kollegen in Berührung. Dadurch änderte sich auch der Interpretationsstil. Mussorgsky klingt heute anders als früher.

Für die Aufnahmen gilt das noch nicht. Sie sind zwischen 1946 und 1963 entstanden. Wie Lothar Brandt im Booklet vermerkt, sei buchstäblich keines seiner Bühnenwerke in einer von ihm fertiggestellten geschweige denn autorisierten Version überliefert. Seine musiktheoretischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen. Was er wusste, hatte er sich mehr oder weniger selbst beigebracht – und nicht im Studium. Das sei ganz im Sinne von Balakirev gewesen, der als „so etwas wie der Chef-Ideologe und künstlerische Vordenker des Mächtigen Häufleins“ galt. Durchgesetzt haben sich die Bühnenwerke Mussorgsky letztlich erst durch Bearbeitungen. Boris Godunov war das einzige Werk, das noch zu Lebzeiten des Komponisten 1874 in St. Petersburg auf die Bühne kam. Es ist in mehreren Fassungen überliefert. Brandt: „Schon der Uraufführungs-Dirigent Edouard Napravnik hatte bereits bei der Premiere für zahlreiche Kürzungen und Umstellungen gesorgt.“ Der 1839 geborene und 1916 gestorbene Napravnik war selbst ein bedeutender Komponist, der auch Opern – darunter Dubrovsky nach Puschkin – schuf. Die Edition wird mit diesem Werk in der Instrumentierung von Rimsky-Korsakov, der als einziger der Fünfergruppe eine akademische Ausbildung besaß, eröffnet. In die Studioproduktion von 1948 mit Chor und Orchester des Bolshoi-Theaters in Moskau sind allerdings zusätzlich künstlerische Eingriffe durch den Komponisten Mikhail Ippolitov-Ivanov und den Dirigenten Nikolai Golovanov eingeflossen. Die Fassungsgeschichte wird dadurch nicht übersichtlicher. Obwohl sich im Westen frühere Mitschnitte erhalten – so aus der Met – darf die Moskauer Aufnahme für sich beanspruchen, in ihrer Zeit die bislang kompletteste gewesen zu sein. Für ihr Alter klingt sie erstaunlich gut.

Maria Maksakova in „Snegurochka“/ Wikipeia engl.

Die Stimmen treten ungemein präsent hervor. Nur, wenn Blech und Chor mit den charakteristischen hohen Sopranen gleichzeitig zum Einsatz kommen, wird die Wiedergabe etwas eng und nähert sich der Übersteuerung, ein Manko, welches der Einspielung genauso in anderen Ausgaben anhaftet. Solche Einwendungen sind vergessen, wenn Mark Reizen als Boris auftritt – der stimmgewaltige legitime Nachfolger von Fedor Chaliapin, der in der Sammlung mit einer eigenen Bonus-CD bedacht wird, die berühmten Londoner Live-Aufnahmen von 1928 inklusive. Er ist der unumstrittene Star der Einspielung, durch ihn wurde sie legendär. Am Ruhm haben aber auch Maxim Mikhailov als Pimen sowie die Tenöre Georgy Nelepp als Gregory – der falsche Dmitri – und Ivan Kozlovsky als einfältiger Narr, der den Zaren einen Mörder nennt, Anteil. Wie auf den meisten anderen sowjetischen Schallplatten hinterlassen die Männer den wesentlich stärkeren Eindruck als die Sängerinnen. Maria Maksakova nimmt man die Entschlossenheit, selbst Zarin werden zu wollen ehr ab als die Liebebekundungen, mit denen sie Dmitri umgarnt. In der von Shostakovich instrumentierten Version, der der Ruf vorausgeht, sehr nahe am originalen Klavierauszug zu sein, singt Boris Shtokolv die Titelpartie. Er war ein gefeierter Star am Mariinsky-Theater als Petersburg noch Leningrad hieß. Mitgeschnitten wurde sie 1960 als Vorstellung an diesem Haus, woran die Nebengeräusche einschließlich Souffleur keinen Zweifel aufkommen lassen. Umso mehr Eindruck macht Shtokolv, der es in seiner Stimmgewalt mit Reizen durchaus aufnehmen kann, im Vergleich mit diesem der Partie aber gewisse gestalterische Feinheiten schuldig bleibt. Dirigent ist Sergey Yeltsin, der auch mit Eltsin transkribiert wird.

Wie schon in der Rimsky-Korsakov-Edition von Hänssler bleibt der genaue Zugang zu den Werken für Westeuropäer, die des Russischen nicht mächtig sind, schwierig. Es gibt zwar Richtlinien für die Umschrift. Sie werden aber nicht immer konsequent angewendet. In der DDR, wo Russisch in der Schule ein Pflichtfach war, galten andere Regeln als im Westen. Unterschiede in der Transliteration wirken auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung fort. Die Neuerscheinung offenbar diese Schwierigkeiten. Als salomonische Löschung wurde deshalb weitgehend Englisch für das Booklet gewählt, eine Praxis, die sich allgemein eingebürgert hat. Alle Titel, Personenzuordnungen und kurzen Szenenbeschreibungen für die vielen Tracks wurden entsprechend übersetzt. Alternativ gibt es Inhaltangaben nach Art eines Opernführer und Erklärungen zu den einzelnen Titeln von Lothar Brandt auch in Deutsch. Der Textbeginn der einzelnen Szenen wurde phonetisch erfasst, so dass man beim Hören nicht ganz die Orientierung verliert. Diese Besprechung hält sich an die Schreibweise des Booklets.

Der große russische Bass Mark Reizen singt mit 74 Jahren Romanzen von Tschaikowsky in einem Film-Clipp der Firma VAI..

Die Aufnahmen von Khovanshchina liegen zeitlich ebenfalls auseinander. Beide entstanden in Moskau im Studio, Rimskys Version 1953, für die Shostakovich-Alternative, die als Soundtrack für eine Verfilmung diente, begannen 1959. Reizen ist beide Male Dosifey, das Haupt der Altgläubigen, die sich gegen eine Kirchenreform im 17. Jahrhundert wenden und die überlieferten Bräuche pflegen, weshalb sie verfolgt werden. In die komplizierten politischen Auseinandersetzungen um Macht und Vorherrschaft eingeflochten ist die Liebe zwischen Fürst Andrei Khovansky, dem Sohn des Anführers der Strelizen, einer Palastwache, aus der sich die erste mächtige Berufsarmee rekrutierte, und der Altgläubigen Marfa. Bereits 1946, als Khovanshchina erstmals in der Sowjetunion auf Platten gelangte, war Reizen als Dosifey, der eine seiner Glanzrollen war, dabei. Seine Ausstrahlung prägte auch beide von Tradition getragene Einspielungen der Edition, obwohl in der späteren mit Evgeny Swetlanov ein vergleichsweise junger Dirigent am Pult wirkte. 1953 steht als Marfa wieder die berühmte Maksakova an der Seite von Alexei Bolshakov als Andrei auf dem Besetzungszettel. 1959 singen und spielen in der Verfilmung Kira Leonova und Anton Grogoriev. Mussorgsky arbeitete bis zu seinem Tod an dem Werk und hinterließ einen bis auf wenige Szenen fast vollständigen Klavierauszug.

Fjodor Schaljapin, Gemälde von Boris Michailowitsch Kustodijew 1922/ Wiki engl.

Die komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy geht auf die gleichnamige Erzählung von Gogol zurück. Erst zum 30. Todestag des Komponisten kam die szenische Uraufführung mit Klavierbegleitung zustande. Es folgten etliche Versuche, das hinterlassene Material für die Bühne spielbar zu machen. Hänssler greift auf die Fassung des Musikwissenschaftlers Paul (Pavel) Lamm von 1931 zurück, die der Komponist Wissarion Shebalin orchestriert. Sie wurde 1955 mit Chor und Orchester der Slowenischen Nationaloper Ljubljana eingespielt. Warum ausgerechnet dort und nicht in der Sowjetunion, bleibt rätselhaft, zumal das einstige Jugoslawien wegen seiner eigenständigen Politik im Kreml auf der Feindesliste stand. Durch eine Übernahme der Produktion von Philips noch auf Schallplatte wurde das Werk auch im Westen besser bekannt nachdem es bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren Aufführungen in Monte-Carlo, Barcelona, Brüssel, New York, London und Stockholm gab. An der Komischen Oper Berlin wurde sie 1948 gespielt. Nur bruchstückhaft ist Die Heirat ebenfalls nach Gogol überliefert. 1934 ergänzte Mikhail Ippolitiv-Ivanov das Fragment mit eigener Musik. In dieser Form findet es sich mit einer Spieldauer von fast siebenundfünfzig Minuten in der Edition. Die Aufnahme entstand 1952 beim Moskauer Rundfunk unter der Leitung von Alexej Kovalev. Kurz nach seinem Erscheinen des Romans Salambo von Gustave Flaubert entwarf Mussorgski 1883 das Libretto für seine gleichnamige Oper. Schauplatz ist Karthago. Obwohl er sich drei Jahre damit beschäftigte liegen nur sechs Nummern vor, die in unterschiedlichen Aufnahmen aus den fünfziger Jahren in die Sammlung einflossen. Bereits 1939 ging Maria Maksakova für die Chorkantate Joshua, die auf dem Gesang der libyschen Krieger beruht, ins Studio. Rüdiger Winter

Heldin mit schlankem Pathos

 

Ein „Ersatzwunder“ sei diese CD-Aufnahme, heißt es im Begleittext zu der Pentatone-Aufnahme des Fidelio (2 CD PTC 5186 880). Nach der Corona bedingten Absage des Livekonzertes im Frühjahr 2020 mit der Dresdner Philharmonie fanden sich Marek Janowski und alle Mitwirkenden schließlich doch noch zwei Monate später in Dresden ein, um die Oper bei Wahrung der Abstandregelungen unter Studiobedingungen aufzunehmen; die später hinzugefügten Chorpassagen sind bei Studioaufnahmen keine Ausnahme. Unter zeitgeschichtlich aufgewühlten Voraussetzungen, aber dennoch in einer Ausnahmesituation, fand im November 1989 eine andere Dresdner Fidelio-Einspielung statt, als Bernard Haitink die Staatskapelle für das damalige Philips-Label dirigierte. Für die Ouvertüre benötigt der durchgehend flott dirigierende und auf ein hurtiges Vorandrängen achtende Janowski, der für Pentatone bereits den Freischütz, Hänsel und Gretel, Cavalleria rusticana und die Missa Solemnis aufgenommen hat, fast die identische Zeit wie Haitink. Während Haitink dem Drama Tiefe und Dringlichkeit verleiht, scheint Janowski bei allem Schwung und Energie, teilweise auch theatralischer Brisanz, mit den sauber artikulierenden Dresdner Philharmonikern doch nicht einen ähnlich packenden Gesamteindruck zu erreichen. Erst in der Kerkerszene fallen Studiosteifheit und Distanziertheit ab. Insbesondere die anfänglichen Singspielszenen huschen fast ein wenig gehetzt vorüber, wobei sich Christina Landshammer als Marzelline und Cornel Frey als Jaquino mit ihrem kecken Gezänk souverän behaupten. Von dieser Lustspielschablone löst sich Georg Zeppenfelds gar nicht biedersinniger, fast nobler Rocco. Die Sprechtexte, von Katharina Wagner (und Daniel Weber) behutsam gekürzt, wirken allerdings der Raumwirkung nicht richtig integriert, wie Leonores gewispertes „Ich habe Mut und Stärke“, das nicht auf Lise Davidsens großartige Leistung vorausweist, auch ihr Sprechtext im Anschluss an „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ gerät mehr als verhalten. Davidsen singt mit schlankem Pathos, mit Leidenschaft und Gefühl, man merkt, dass ihr die Partie, die sie kurz zuvor in London gesungen hatte, gut liegt, die Mittellage ist reich und ausdrucksvoll, die Höhe leicht und dennoch rund, die verhaltenen Passagen besitzen Gewicht und Intensität und die Koloraturen sind sicher. Sie hätte einen ebenbürtigen Partner verdient, was im Duett spürbar wird, wo dieser neben Davidsens Jubeltönen kaum eine Chance hat, wenngleich Christian Elsner, immerhin rund zwanzig Jahre älter als seine Leonore, mit mittlerweile spröder Stimme den Florestan mehr als achtbar und mit lyrischer Emphase singt. Ein bezwingendes, mit dieser Wucht nicht erwartetes Charakterporträt kreiert Johannes Martin Kränzle als Pizarro; als einzigem gelingt es ihm, den Sprechtext als Vorbereitung zu seiner Arie („Ha! Ha! Ha! Welch ein Augenblick!“ mit dem MDR-Rundfunkchor, während die weiteren Chorpassagen vom Sächsischen Staatsopernchor Dresden gesungen werden) quasi zwischen den Zähnen hervorzupressen und ohne vokale Übertreibungen und mit immer noch erstaunlich standfestem Bariton eine Szene zu dominieren. Luxuriös, wie es einer Studioaufnahme ansteht, die Besetzung des Don Fernando mit Günther Gröissböck. Es bleibt Davidsens Fidelio.  Rolf Fath

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Frühlingsweihe

 

Die Aufführung an der Opéra de Paris habe ich als eine ganz wunderbare in Erinnerung. Toll, dass es sie jetzt auf DVD gibt (BelAir BAC186), zeigt sie doch auch, zu was solch ein „wohlausgestattetes Haus“ in szenischer wie musikalischer Hinsicht in der Lage ist. Zudem ist Rimsky-Korsakows 1882 am Mariinsky-Theater uraufgeführte Snegurotschka oder Schneeflöckchen, zu dem er sich durch Ostrowskis gleichnamiges Märchendrama von 1873 inspirieren ließ, nicht gut auf Tonträgern vertreten. Und die Inszenierung des ausgewiesenen Rimsky-Korsakow-Regisseurs Dmitri Tcherniakov – nach der Zarenbraut und der Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch – ist ein weiteres Plus und ist Garant dafür, dass trotz beträchtlicher Aufführungsdauer (2 DVDs) niemals Langeweile aufkommt. Schneeflöckchen ist die Tochter von der Frühlingsfee und Vater Frost. Und wie der Schnee in der Sonne schmilzt, hat der Sonnengott Jarilo Snegurotschka zum Tode verurteilt, sobald sie sich in einen irdischen Menschen verliebt. Dies geschieht so unausweichlich, wie der Sommer auf den Frühling folgt und endet mit einem gewaltigen und großen Hymnus auf die Sonne. Doch davor hat Rimsky-Korsakow eine große Frühlingsfeier gerückt und eine personalreiche, märchenhaft verschlungene Handlung im „Land der Berendäer in prähistorischer Zeit“ um den Hirten Lel, den Kaufmann Mizguir, die junge Braut Kupava, den idealistisch guten Zaren Berendei, den Faschingspopanz, Waldgeister, Spielleute und Bojaren. Viel naiv Märchenhaftes ist darin, auch Mythologisches, Mystisch-Heidnisches, Christliches und Orthodoxes, wie häufig bei Rimsky-Korsakow. Tcherniakov hat – in Personalunion als Regisseur und Ausstatter (Kostüme von Elena Zaytseva) – dafür plastische, sinnliche Bilder gefunden, die eine historische Epoche mit einer postsozialistischen Gegenwart verbinden und die Märchenepisoden natürlich einbetten. Die Erscheinung der in einem Ballettsaal mit der Allüre einer Diva aus alten Zeiten residierenden Frühlingsfee (kraftvoll, darstellerisch und gesanglich mit großer Autorität: Elena Manistina) ist solch ein fesselndes Bild. Sie gebietet über eine große Schar von als Tiere kostümierte Eleven, wodurch die Märchenszene mit den singenden und tanzenden Vögeln eine realistische Grundlage erhält. Snegurotschka, ausgehfertig zum Schlittschuhlaufen, schaut staunend zu; Väterchen Frost (der damals 70jährige Vladimir Ognovenko ist immer noch von großer Ausstrahlung) kommt im Burberry-Trench hinzu. Die Eltern einigen sich darauf, ihre Tochter, von der Sonne verborgen, in den Wald zu den Menschen nach Berendei zu schicken. Diesen Wald hat Tcherniakov so suggestiv und magisch wie überhaupt auf einer Bühne nur möglich geschaffen. In kleinen Datschen haust ein fröhliches, blumenbekränztes, hippiemäßig und folkloristisch gekleidetes Aussteigervölkchen unter Führung eines grauzopfigen Anführers (einen Sänger mit diesem besonderen hohen Charaktertenor wie Maxim Paster muss man erst einmal finden), der sich unter sein Volk mischt und alten Zeiten nachhängt. Man tanzt viel und löffelt an Campingtischen von Plastikgeschirr. Snegurotschka wurde vor dem Hirten Lel gewarnt. Klar, dass sie sich in den selbstgefälligen Blonden verguckt, der wenig Interesse an ihr zeigt; bei Tcherniakov wurde die Altpartie des Hirten erstmals mit dem Countertenor Yuriy Mynenko besetzt, der der Figur etwas gläsern-geheimnisvolles verleiht. Gewaltige Bilder, im Detail liebesvoll ausgepinselt: Frühlingsfeuer mit dem Fastnachtspopanz (immerhin Franz Hawlata in der kurzen Episodenrolle, Genreszenen mit den in Wohnwagen wohnenden Pflegeeltern (Carole Wilson und Vasily Gorshkov), Auftritt des brutalen Mizguir (Thomas Johannes Mayer), der bei Snegurotschkas Anblick seine Verlobte Kupava einfach links liegen lässt, was die fast hochdramatisch blühende Martina Serafin wirklich nicht verdient hat, eine Männerchorprobe als Huldigung an den Zaren: immer pralles, kraftvolles Theater, bei dem die Hymne auf die Natur zu einer Huldigung wunderbaren Operntheaters und der Entdeckung einer schönen Oper gerät. In sämigen Breitwandsound trägt das Orchestre de L’ Opera National de Paris unter dem Paris-Debütanten Mikhail Tatarnikov zum opulenten Gelingen bei. Der Chor klang wie direkt aus Russland importiert. Und Snegurotschka? Aida Garifullina kann uns durch ihren strahlenden, gut fokussierten zart-schönen Sopran faszinieren, der der Zerbrechlichkeit der Snegurotschka, die am Ende dahinschmilzt, vollkommen gerecht wird. Rolf Fath

 

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