Die kompletten Opern und Fragmente von Modest Mussorgsky auf siebzehn CDs? Wer sich ein wenig auskennt im Werk des russischen Komponisten, rechnet nach. Nach einem Blick ins Booklet beantwortet sich die Frage rasch. Bei Profil Edition Günter Hänssler wurden die mehr oder weniger vollendeten Werke jeweils in den Instrumentierungen von Nikolai Rimsky-Korsakov und von Dmitry Shostakovich berücksichtigt. Das erklärt den Umfang der neuen Edition (PH21002). Mussorgsky starb 1881 mit nur dreiundvierzig Jahren an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit. Gemeinsam mit Rimsky, Alexander Borodin, Mili Balakirev und César Cui gehörte er zur so genannten Gruppe der Fünf – auch als „Das mächtige Häuflein“ bekannt. Sie hatten sich 1862 in Sankt Petersburg zusammengetan und wollten die nationalrussische Musik in der Nachfolge von Michail Glinka fördern. Anders als der weitgereiste Tschaikowski strebten sie keine Orientierung an westliche Vorbilder an, lehnte sie sogar entschieden ab. Diese doppelte Abgrenzung – die geopolitische und die künstlerische – hat sich auch in den Einspielungen als unverwechselbares Klangbild niedergeschlagen. Für die historischen gilt dies noch mehr als für jene, die der Gegenwart näher sind. Als sich die Sowjetunion auflöste, endete auch die Abschottung. Sänger und Dirigenten vor allem der jüngeren Generation kamen zunehmend mit westlichen Erfahrungen und Kollegen in Berührung. Dadurch änderte sich auch der Interpretationsstil. Mussorgsky klingt heute anders als früher.
Für die Aufnahmen gilt das noch nicht. Sie sind zwischen 1946 und 1963 entstanden. Wie Lothar Brandt im Booklet vermerkt, sei buchstäblich keines seiner Bühnenwerke in einer von ihm fertiggestellten geschweige denn autorisierten Version überliefert. Seine musiktheoretischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen. Was er wusste, hatte er sich mehr oder weniger selbst beigebracht – und nicht im Studium. Das sei ganz im Sinne von Balakirev gewesen, der als „so etwas wie der Chef-Ideologe und künstlerische Vordenker des Mächtigen Häufleins“ galt. Durchgesetzt haben sich die Bühnenwerke Mussorgsky letztlich erst durch Bearbeitungen. Boris Godunov war das einzige Werk, das noch zu Lebzeiten des Komponisten 1874 in St. Petersburg auf die Bühne kam. Es ist in mehreren Fassungen überliefert. Brandt: „Schon der Uraufführungs-Dirigent Edouard Napravnik hatte bereits bei der Premiere für zahlreiche Kürzungen und Umstellungen gesorgt.“ Der 1839 geborene und 1916 gestorbene Napravnik war selbst ein bedeutender Komponist, der auch Opern – darunter Dubrovsky nach Puschkin – schuf. Die Edition wird mit diesem Werk in der Instrumentierung von Rimsky-Korsakov, der als einziger der Fünfergruppe eine akademische Ausbildung besaß, eröffnet. In die Studioproduktion von 1948 mit Chor und Orchester des Bolshoi-Theaters in Moskau sind allerdings zusätzlich künstlerische Eingriffe durch den Komponisten Mikhail Ippolitov-Ivanov und den Dirigenten Nikolai Golovanov eingeflossen. Die Fassungsgeschichte wird dadurch nicht übersichtlicher. Obwohl sich im Westen frühere Mitschnitte erhalten – so aus der Met – darf die Moskauer Aufnahme für sich beanspruchen, in ihrer Zeit die bislang kompletteste gewesen zu sein. Für ihr Alter klingt sie erstaunlich gut.
Die Stimmen treten ungemein präsent hervor. Nur, wenn Blech und Chor mit den charakteristischen hohen Sopranen gleichzeitig zum Einsatz kommen, wird die Wiedergabe etwas eng und nähert sich der Übersteuerung, ein Manko, welches der Einspielung genauso in anderen Ausgaben anhaftet. Solche Einwendungen sind vergessen, wenn Mark Reizen als Boris auftritt – der stimmgewaltige legitime Nachfolger von Fedor Chaliapin, der in der Sammlung mit einer eigenen Bonus-CD bedacht wird, die berühmten Londoner Live-Aufnahmen von 1928 inklusive. Er ist der unumstrittene Star der Einspielung, durch ihn wurde sie legendär. Am Ruhm haben aber auch Maxim Mikhailov als Pimen sowie die Tenöre Georgy Nelepp als Gregory – der falsche Dmitri – und Ivan Kozlovsky als einfältiger Narr, der den Zaren einen Mörder nennt, Anteil. Wie auf den meisten anderen sowjetischen Schallplatten hinterlassen die Männer den wesentlich stärkeren Eindruck als die Sängerinnen. Maria Maksakova nimmt man die Entschlossenheit, selbst Zarin werden zu wollen ehr ab als die Liebebekundungen, mit denen sie Dmitri umgarnt. In der von Shostakovich instrumentierten Version, der der Ruf vorausgeht, sehr nahe am originalen Klavierauszug zu sein, singt Boris Shtokolv die Titelpartie. Er war ein gefeierter Star am Mariinsky-Theater als Petersburg noch Leningrad hieß. Mitgeschnitten wurde sie 1960 als Vorstellung an diesem Haus, woran die Nebengeräusche einschließlich Souffleur keinen Zweifel aufkommen lassen. Umso mehr Eindruck macht Shtokolv, der es in seiner Stimmgewalt mit Reizen durchaus aufnehmen kann, im Vergleich mit diesem der Partie aber gewisse gestalterische Feinheiten schuldig bleibt. Dirigent ist Sergey Yeltsin, der auch mit Eltsin transkribiert wird.
Wie schon in der Rimsky-Korsakov-Edition von Hänssler bleibt der genaue Zugang zu den Werken für Westeuropäer, die des Russischen nicht mächtig sind, schwierig. Es gibt zwar Richtlinien für die Umschrift. Sie werden aber nicht immer konsequent angewendet. In der DDR, wo Russisch in der Schule ein Pflichtfach war, galten andere Regeln als im Westen. Unterschiede in der Transliteration wirken auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung fort. Die Neuerscheinung offenbar diese Schwierigkeiten. Als salomonische Löschung wurde deshalb weitgehend Englisch für das Booklet gewählt, eine Praxis, die sich allgemein eingebürgert hat. Alle Titel, Personenzuordnungen und kurzen Szenenbeschreibungen für die vielen Tracks wurden entsprechend übersetzt. Alternativ gibt es Inhaltangaben nach Art eines Opernführer und Erklärungen zu den einzelnen Titeln von Lothar Brandt auch in Deutsch. Der Textbeginn der einzelnen Szenen wurde phonetisch erfasst, so dass man beim Hören nicht ganz die Orientierung verliert. Diese Besprechung hält sich an die Schreibweise des Booklets.
Die Aufnahmen von Khovanshchina liegen zeitlich ebenfalls auseinander. Beide entstanden in Moskau im Studio, Rimskys Version 1953, für die Shostakovich-Alternative, die als Soundtrack für eine Verfilmung diente, begannen 1959. Reizen ist beide Male Dosifey, das Haupt der Altgläubigen, die sich gegen eine Kirchenreform im 17. Jahrhundert wenden und die überlieferten Bräuche pflegen, weshalb sie verfolgt werden. In die komplizierten politischen Auseinandersetzungen um Macht und Vorherrschaft eingeflochten ist die Liebe zwischen Fürst Andrei Khovansky, dem Sohn des Anführers der Strelizen, einer Palastwache, aus der sich die erste mächtige Berufsarmee rekrutierte, und der Altgläubigen Marfa. Bereits 1946, als Khovanshchina erstmals in der Sowjetunion auf Platten gelangte, war Reizen als Dosifey, der eine seiner Glanzrollen war, dabei. Seine Ausstrahlung prägte auch beide von Tradition getragene Einspielungen der Edition, obwohl in der späteren mit Evgeny Swetlanov ein vergleichsweise junger Dirigent am Pult wirkte. 1953 steht als Marfa wieder die berühmte Maksakova an der Seite von Alexei Bolshakov als Andrei auf dem Besetzungszettel. 1959 singen und spielen in der Verfilmung Kira Leonova und Anton Grogoriev. Mussorgsky arbeitete bis zu seinem Tod an dem Werk und hinterließ einen bis auf wenige Szenen fast vollständigen Klavierauszug.
Die komische Oper Der Jahrmarkt von Sorotschinzy geht auf die gleichnamige Erzählung von Gogol zurück. Erst zum 30. Todestag des Komponisten kam die szenische Uraufführung mit Klavierbegleitung zustande. Es folgten etliche Versuche, das hinterlassene Material für die Bühne spielbar zu machen. Hänssler greift auf die Fassung des Musikwissenschaftlers Paul (Pavel) Lamm von 1931 zurück, die der Komponist Wissarion Shebalin orchestriert. Sie wurde 1955 mit Chor und Orchester der Slowenischen Nationaloper Ljubljana eingespielt. Warum ausgerechnet dort und nicht in der Sowjetunion, bleibt rätselhaft, zumal das einstige Jugoslawien wegen seiner eigenständigen Politik im Kreml auf der Feindesliste stand. Durch eine Übernahme der Produktion von Philips noch auf Schallplatte wurde das Werk auch im Westen besser bekannt nachdem es bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren Aufführungen in Monte-Carlo, Barcelona, Brüssel, New York, London und Stockholm gab. An der Komischen Oper Berlin wurde sie 1948 gespielt. Nur bruchstückhaft ist Die Heirat ebenfalls nach Gogol überliefert. 1934 ergänzte Mikhail Ippolitiv-Ivanov das Fragment mit eigener Musik. In dieser Form findet es sich mit einer Spieldauer von fast siebenundfünfzig Minuten in der Edition. Die Aufnahme entstand 1952 beim Moskauer Rundfunk unter der Leitung von Alexej Kovalev. Kurz nach seinem Erscheinen des Romans Salambo von Gustave Flaubert entwarf Mussorgski 1883 das Libretto für seine gleichnamige Oper. Schauplatz ist Karthago. Obwohl er sich drei Jahre damit beschäftigte liegen nur sechs Nummern vor, die in unterschiedlichen Aufnahmen aus den fünfziger Jahren in die Sammlung einflossen. Bereits 1939 ging Maria Maksakova für die Chorkantate Joshua, die auf dem Gesang der libyschen Krieger beruht, ins Studio. Rüdiger Winter