Archiv für den Monat: Dezember 2018

Dobrzynskis Oper „Monbar“

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Eine Piraten-Oper von 1863 aus Polen? Unser östliches Nachbarland ist nicht gerade für seine Seefahrer-Vergangenheit bekannt, wenngleich natürlich die Ostesee Zugang zu den Weltmeeren bietet. Aber eigentlich sind wir an vaterländische Themen in der Literatur und Musik im Polen jener Jahre gewöhnt, das ja fast immer unter Fremdherrschaft litt und mehr als dreigeteilt seine Geschicke erdulden musste. Vielleicht ist es dieses Grundgefühl, das eine Oper hervorbringt, in der der Titelvertreter ein Anti-Held ist, ein von Emotionen zerrissener Pirat, der am Schluss der Oper die Tochter seiner Widersachers im Meer ertränken will und dabei selber erstochen in den Fluten versinkt. Vielleicht ist es auch nur blankes Entertainment, das uns mit dieser Oper auf das Libretto von Ludwik Paprocki nach der Novelle von Carl Franz van der Velde begegnet.

Musikalisch ist hier beste Romantik zu hören. Große Chöre, programmatische Meeresidylle und Sturmesbrausen, effektvolle Solopassagen und ein wunderbares Liebesduett, dazu die Titelfigur stark umrissen in tenoraler Pracht (bemerkenswert, einen Tenor für diese negative Figur zu wählen).

Ignacy Feliks Dobrzyński, Komponist des „Monbar“/ Wiki.pl

Ignacy Feliks Dobrzyński zeigt sich hier von seiner besten Seite in dieser seiner einzigen vollendeten Oper, die Lukasz Borowicz, der operalounge.de-Lesern kein Unbekannter ist, als Eröffnung der Konzertsaison beim Polnischen Radio Warschau 2010 vorstellte – eine Ausgrabung, die zum Glück den Weg auf eine gut ausgestattete CD gefunden hat (keine westliche Übersetzung des Librettos!) und die polnische Oper von einer anderen, exotischen, sehnsuchtsvollen Seite in Zeiten von politischer Unterdrückung zeigt (wie ja auch Monisuzkos Paria eine andere, weitere Welt öffnete – Irena Poniatowska spricht von einer „unterdrückten, inneren Romantik“). Eine lohnende Ausgrabung für Freunde der romantischen Oper in der Tat. Deshalb bringen wir nachstehend einen Artikel (ohne Autor) aus dem Booklet zur Aufnahme, die vielleicht etwas schwierig zu erhalten ist (Polskie Radio SA). Daniel Hauser besorgte wieder die Übersetzung. G. H.

 

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Die Geschichte einer vergessenen Oper: Monbar czyli Flibustierowie (Monbar oder die Flibustier) – die erste und einzige vollendete Oper von Ignacy Feliks Dobrzyński (1807-1867) – trug ursprünglich den Titel Korsarz (Der Korsar). Sie wurde zwischen 1836 und 1838 zu einem Libretto von Ludwik Paprocki, einem Freund des Komponisten, geschrieben, basierend auf einer Kurzgeschichte von Carl Franz van der Velde. Eine konzertante Aufführung der Ouvertüre und des Duetts der beiden Hauptfiguren fand bereits 1837 statt, das Finale im darauffolgenden Jahr. Es vergingen indes viele Jahre, bis Dobrzyńskis Werk auf die Opernbühne kam. Fragmente wurden konzertant in Posen (1845), Berlin (1845/46) und Dresden (1847) aufgeführt. Zu den Highlights eines dieser Konzerte in Berlin am 6. August 1845 zählte ein in Korsarenkostüme gekleideter Männerchor; der Bolero wurde als Ballett-Zwischenspiel präsentiert. Trotz wohlwollender Kritiken fand sich niemand, der eine Gesamtproduktion der Oper verantworten wollte. Erst 1860 begannen die Vorbereitungen für die szenische Uraufführung.

1863 veröffentlichte Geberthner & Wolff einen Klavierauszug der Opernpartitur, der vom Komponisten und seinem Sohn Bronislaw Dobrzyński arrangiert worden war. Das Libretto wurde von Seweryna Pruszakowa speziell für die Bühnenaufführung adaptiert. Die Premiere fand schließlich am 10. Jänner 1863 an der Warschauer Oper statt, 25 Jahre nachdem Dobrzyński die Partitur geschrieben hatte. Zur Besetzung gehörten die führenden Solisten dieser Zeit – Bronislawa Dowlakowska, Maria Gruszczyriska, Jozefa Chodowiecka-Hess, Jan Koehler, Wilhelm Troschel, Leon Borkowski und Franciszek Cieslweski (sie sangen auch bei den ersten Aufführungen der Opern von Stanislaw Moniuszko). Gerade zwölf Tage nach der Uraufführung brach der Januaraufstand gegen die Zarenherrschaft in Kongresspolen aus und die Aufführungen mussten eingestellt werden.

Die Oper wurde seither nicht mehr gespielt. Die Ouvertüre war das einzige erhaltene Fragment des Werkes. Die Orchesterparts wurden höchstwahrscheinlich während des Brandes der Warschauer Oper 1939 mit der gesamten Musikbibliothek oder im Warschauer Aufstand von 1944 zerstört. Glücklicherweise hat sich das Autograph der Oper in der Sammlung der Warschauer Musikgesellschaft WTM erhalten. Ein Klavierauszug der Partitur in hervorragendem Zustand befindet sich ebenfalls in dieser Kollektion.

Lukasz Borowicz dirigiert beim polnischen Rundfunk/ Foto „Monbar“ Box

Die Idee, Monbar wieder zum Leben zu erwecken, ist einer Initiative von Lukasz Borowicz, dem damaligen künstlerischen Leiter des Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters (heute bei der Philharmonie Posen), zu verdanken. Möglich gemacht wurde das Projekt aufgrund der Unterstützung des polnischen Rundfunksenders Radio Polen 2 und des Nationalen Audiovisuellen Institutes. Tomasz Moscicki, Theaterkritiker und Photograph, hat beinahe eintausend Photographien des Autograph-Manuskriptes angefertigt, welches als Quellenmaterial für Boguslaw Tabaka diente, der die 650-seitige Partitur editierte und das Orchestermaterial zusammenstellte. Dank des Engagements eines großen Teams und des Entgegenkommens von Anna Malewicz-Madey, der Vorsitzenden der Warschauer Musikgesellschaft, ist Ignacy Feliks Dobrzyńskis Monbar oder die Filibustier wieder in das Opernrepertoire zurückgekehrt und füllt damit eine Lücke in der Geschichte der polnischen Musik. Eine im Westen sehr schwierig zu besorgende CD folgte diesen Bemühungen.

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Zum Komponisten: Ignacy Feliks Dobrzyński, geboren am 25. Februar 1807 in Romanow, Wolhynien, war Komponist, Dirigent, Pianist und Pädagoge; er starb am 9. Oktober 1867 in Warschau. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei seinem Vater Ignacy, einem Geiger, Komponisten und Dirigenten. 1825 begann er in Warschau sein Studium bei Jozef Elsner, zunächst im Privatunterricht und anschließend als Schüler der Musikhochschule von 1826 bis 1828.

Dobrzyński schrieb seine ersten Kompositionen zunächst in Winnitsa. Den Großteil seines Lebens verbrachte er jedoch in Warschau, wo er komponierte, lehrte, Musikgruppen organisierte und nach Unterstützung für von ihm selbst geleitete Sinfoniekonzerte suchte. Seine Fähigkeiten als Klavierlehrer waren seinerzeit weithin anerkannt und seine Szkola na fortepian (Schule für Klavier) wurde 1845 von Sennewald in Warschau veröffentlicht. Seine Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 15 brachte ihm 1835 den zweiten Platz beim Komponistenwettbewerb in Wien ein; ausgewählte Sätze dieser Sinfonie wurden später in Warschau und Leipzig unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy aufgeführt. 1862 publizierte Sennewald eine Fassung für zwei Klaviere mit der Bezeichnung Sinfonie im charakteristischen Geiste der polnischen Musik.

„Monbar“: der Schriftsteller Carl Franz van der Velde lieferte die Vorlage/ Wiki

Trotz des jugendlichen Alters des Komponisten sind seine Sinfonien ausgereifte und handwerklich einwandfreie Kompositionen, welche die Entwicklung seines künstlerischen Talents darlegen. Sein volles künstlerisches Potential erreichte Dobrzyński in den 1830er Jahren, als er sich Werken verschiedener musikalischer Gattungen widmete: Sinfonien, Ouvertüren, Opern sowie Klavierstücke. Obschon seine Kompositionen im spätklassischen Stile verwurzelt sind, zeigen sie bereits die stilistische Charakteristik der Romantik.

Dobrzyński komponierte zwischen 1836 und 138 seine erste Oper Monbar czyli Flibustierowie (vgl. oben). Von 1841 bis 1843 unterrichtete er Musik am Alexandrinischen Institut für Mädchen. Ab März 1845 reiste er durch Europa, um seine Kompositionen zu präsentieren. Er besuchte Berlin, Leipzig, Dresden, München, Bonn, Frankfurt am Main und Wien. In Berlin blieb er einige Zeit und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer. Während dieser Zeit wurde ihm die Rückkehr nach Polen verboten, weil er einige patriotische Lieder geschrieben hatte, darunter Do matki Polki (Einer polnischen Mutter), basierend auf einem Gedicht von Adam Mickiewicz. Er sollte nicht vor September 1847 nach Warschau zurückkehren.

Im Jahre 1852 wurde Dobrzyński zum Opernintendanten des Teatr Wielki ernannt, eine Position, die er für weniger als ein Jahr innehaben sollte. In den darauffolgenden Jahren dirigierte er das Opernorchester bei Sinfoniekonzerten, unter anderem in der Handelskammer. Im Oktober 1857 organisierte er schließlich das nach ihm benannte Polnische Ignacy-Feliks-Dobrzyński-Orchester, das aus herausragenden Musikern des Teatr Wielki bestand. Der neue Klangkörper gab wöchentliche Konzerte in der Neuen Akademie in der Marszalkoweska-Straße.

Zwischen 1858 und 1860 saß Dobrzyński im Gründungskommitee des Institutes für Musik und wurde Mitglied der Lemberger Musikgesellschaft. Nachdem sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, zog er sich 1860 allmählich aus der Warschauer Musikszene zurück und widmete sich ausschließlich dem Komponieren.

„Monbar“: Wie schön ist doch das Piratenleben: Erroll Flynn war der Inbegriff des Sexy-Piraten der Nachkriegszeit/ Wiki

Ignacy Feliks Dobrzyński war ein Zeitgenosse von Chopin, der sein Leben in Polen verbrachte, wo er mit den Einschränkungen des Musiklebens in Warschau zu kämpfen hatte. Sein Stil ist weniger abenteuerlich als jener Chopins; der Einfluss von John Field wird in seinem jugendlichen Klavierkonzert deutlich, während seine feurige Ouvertüre zu Monbar an Weber erinnert. Seine zweite Sinfonie, die 1834 geschrieben und 1862 revidiert wurde, orientiert sich in jedem Satz an einem polnischen Tanz; diese Aufnahme enthält als Extra einen langsamen Satz, der in der Endfassung verworfen wurde. Die Musik mag vielleicht nicht in jederlei Hinsicht erstklassig sein, doch die Aufführungen sind es, erfassen sie doch sowohl die Leidenschaft als auch den Charme dieses wenig bekannten Komponisten. Übersetzung Daniel Hauser

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Irina Poniatowska schreibt dazu in ihrem Artikel über Chopin und Dobrzýnski: Die Ouvertüre zu Monbar oder die Filibuster, die von Zeit zu Zeit aufgeführt wird, zeugt davon, das Dobrzyński das Kompositionshandwerk sehr gut beherrschte. Sie zeichnet sich durch eine kompakte, plastische Konstruktion und eine interessante Instrumentierung aus. (…) In den Jahren 1845 – 1847 unternahm Dobrzyński eine Tournee nach Deutschland und Österreich, während der der Künstler eigene Werke aufführte. In den Musikkritiken hieß es, er sei ein ausgewiesener Musiker. Seine Instrumentalwerke waren durchaus bekannt, da sie in Leipzig und in Berlin herausgegeben wurden. Man erkannte in der Symphonie caractéristique“  ein nationales Werk mit polnischen Rhythmen wie der Mazurka im 1. Satz und des Krakowiaks im Finale. Das Werk wurde sehr hoch eingeschätzt. Die Instrumentierung Dobrzyńskis wurde gelobt, desgleichen die zwei Streichquintette und Fragmente aus der Oper Monbar. Die Tournee brachte Dobrzyński keine größeren materiellen Vorteile, er hatte sein Leben lang mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Später, nach der Zeit, in der er Direktor des Großen Theaters war (Teatr Wielki 1852 – 1855), begann er die Musik zu der dramatisierten Fassung von Konrad Wallenrod zu schreiben, ohne sie aber zu beenden, sowie zum Drama Die Burggrafen von Victor Hugo, von der nur die Ouvertüre und einige Fragmente existieren.

Ignacy Feliks Dobrzyńskis „Monbar“ in der Aufnahme des polnischen Rundfunks Warschau unter Lukas

In Polen war die Lage sehr schwierig. In die Zeit, in der Dobrzyński lebte, fallen beide Aufstände, der Novemberaufstand im Jahre 1830 und der Januaraufstand im Jahre 1863, die vor allem im Königtum Polen ausgetragen wurden. Es war eine Zeit des politischen und kulturellen Niedergangs. Nach der Niederlage des Novemberaufstands wurden die Warschauer Universität, die Hauptschule für Musik und die Wissenschaftsgesellschaft  geschlossen. 15 % der Einnahmen wurden für den Bau der Zitadelle verwendet, eines Gefängnisses, das zum Symbol der politischen Unterdrückung wurde. Zu jener Zeit setzte die Große Emigration ein, in deren Folge das Land seine bedeutendsten Künstler und politischen Anführer einbüßte. Dobrzyński blieb in Polen, hatte aber keine Mäzene, obwohl er begabt war. Er suchte den Geschmack des Bürgertums zu befriedigen und schrieb Kammermusik, Klavierwerke und Lieder, hatte aber weiterhin den Ehrgeiz, sich durch großformatige Werke auszuzeichnen, für die es in Polen jedoch keine Entwicklungsmöglichkeiten gab. Das Bürgertum gab sich mit sentimental-virtuoser Salonmusik zufrieden, die Musikkritik wiederum verlangte nach nationaler, ideeller Kunst. Um diese betreiben zu können, um sich voller Hingabe dieser Mission, dem Dienst an der Nation zu widmen, stand dem Künstler nur eine Möglichkeit offen, den Lebensunterhalt zu bestreiten: die Erteilung von Unterricht.

Chopin schuf den Nationalstil als neuen Wert, drang in die Tiefe, in das Wesen des Nationalen selbst vor und transformierte es in Klänge, weit entfernt von Polen. Die meisten Komponisten hingegen, die in Polen lebten, unterstrichen, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre engen Bande zur nationalen Tradition, indem sie die volkstümlichen Rhythmen und Melodien ganz einfach stilisierten. Das war damals quasi ein bürgerlicher und künstlerischer Imperativ. Aus diesem Grunde wurde die innerpolnische Romantik „unterdrückte Romantik“ genannt. Dobrzyński offenbarte und entfaltete schon früh sein Talent, doch später stagnierte sein Kompositionsstil. Es gab in Warschau kein festes Orchester, in der Oper wurde fast ausschließlich ausländisches Repertoire aufgeführt. Dobrzyński fehlte es somit an Anreizen, sich schwieriger Aufgaben anzunehmen, d. h. große Formen zu schreiben. Er blieb der Salonmusik, Gelegenheits-Musikstücken sowie der Kammermusik verhaftet, die man leichter aufführen konnte als Orchesterwerke.

 

„Monbar“: Sklavenmarkt in tripolis/ Gustav Boulanger 1882/ Wiki

Irena Poniatowska schreibt zudem zur Situation des polnischen Theaters (bzw. des Teatre Wielki in Warschau) jener Jahre: Im 19. Jahrhundert hatte die Kultur in Polen die Aufgabe, die geistigen Traditionen zu festigen und dem Volk Kraft einzuflößen. Eine wichtige Rolle dabei spielte das Theater als Institution. Nach dem Novemberaufstand von 1831 (gegen die russischen Besatzer)  blieb das Theater das einzige Zentrum der polnischen Kultur. Das Große Theater in Warschau übernahm gewisse Traditionen des früheren Nationaltheaters, das noch in der Regierungszeit des letzten polnischen Königs geschaffen wurde. Aber jetzt wurde es nicht mehr „national“, sondern „groß“ genannt. Errichtet zwar auf Kosten der städtischen Selbstverwaltung, war es Eigentum des polnischen Volkes, aber die zaristischen Behörden überwachten die Gesinnung  der hier betriebenen Kunst. (…) Nach dem Januaraufstand (gegen die russischen Besatzer) von 1863 erfolgte eine noch düsterere Zeit für die polnische Kultur. Der Okkupant rottete alles aus, was polnisch war, es kam zu einer intensiven Russifizierung. Die Regierung sprach sogar für eine Zeit das Verbot von Theaterbesuchen aus. Die Flaute in der künstlerischen Arbeit hielt bis 1865 an. Aber nirgendwo hatte das Theater eine solche Bedeutung wie in Polen, und wohl nirgendwo gab es im Theater ein zahlenmäßig so starkes Publikum. (…)

Im Theater wurden sowohl das polnische Ensemble als auch Gastauftritte italienischer Ensembles gefeiert. Letztere blieben in der Regel zwischen vier und sechs Monaten in der Stadt. Das polnische Ensemble war ein „notwendiges Übel“, da ein Chor und ein Orchester existieren mussten, die den Kern der polnischen und italienischen Inszenierungen bildeten. (…) So wirkte sich die Tätigkeit der italienischen Ensembles beispielsweise hemmend auf die Entwicklung der heimischen Aufführungspraxis aus. (…) Im 19. Jahrhundert forderte man in Polen nicht nur polnische Opern, sondern begrüßte auch enthusiastisch Premieren fremder Werke in polnischer Sprache. (…) 1861 kam es in den Warschauer Straßen im Laufe einer Manifestation zu den ersten Opfern. Als der Zar Warschau besuchte, sollte im Theater eine feierliche Vorstellung gegeben werden, aber diese kam nicht zustande, da eine unbekannte Hand in den Saal eine ätzende Flüssigkeit goss. Künstler, die unter dem Verdacht einer antirussischen Tätigkeit standen, wurden entlassen. (…) In Polen wäre vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt die russische Oper boykottiert worden. Erst die politische Passivität am Ende des 19. Jahrhunderts und die positivistischen Losungen der Zeit milderten die russlandfeindliche Einstellung. Unter diesen ungünstigen Bedingungen kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Großen Theater zu einem echten Aufbruch der nationalen Oper. (…)

Das Publikum des Theaters setzte sich aus 60% Polen, 37% Juden sowie Russen zusammen. Die Russen besuchten das Ballett und gelegentlich ausländische Opern. Die Polen bevorzugten polnische Werke, und die Juden, die die Galerien füllten, kamen nicht, wenn es etwas gab, was die Russen interessierte, die Russen wiederum erschienen nicht zu Opern, die von Juden bevorzugt wurden, und die Polen missachteten mitunter den Geschmack sowohl der Russen als auch manchmal der Juden. Die Logen und die Stühle blieben oft leer, dafür waren die Galerie und der oberste Rang überfüllt. Die Organisation der Spielzeiten im Großen Theater verweist auf eine totale Dominanz des fremden Repertoires. Die Abhängigkeit der künstlerischen Leitung von der Politik der Regierung destabilisierte jegliche Pläne. Die Direktion der Regierungstheater schloss Verträge mit jedem durchreisenden Künstler, in aller Eile wurden Vorstellungen vorbereitet, die Frequenz war schlecht, das Defizit vergrößerte sich. Es herrschten Zufälligkeit und eine Missachtung des polnischen Ensembles.

„Monbar“: die Musikwissenschaftlerin Irena Poniatowsky, Autorin des Beitrags/ OBA

Seit Ende der vierziger Jahre dominierten im Repertoire die Werke von Verdi, vorerst italienisch aufgeführt, später einige von ihnen in polnischer Sprache Dann wurden auch Werke der lyrischen französischen Oper aufgeführt sowie der Veristen, Wagners Opern kamen erst ziemlich spät (…). Es ist charakteristisch, dass die erste russische Oper erst 1897 in Warschau aufgeführt wurde, es war Jolanthe von Tschaikowsky. (aus: Irena Poniatowska, Das Große Theater in Warschau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das nationale Opernrepertoire; mit Dank an die Autorin. Irena Poniatowska ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin in Polen, die ihren Aufsatz „Dobrzyński und Chopin. Stilistische Ähnlichkeiten und Unterschiede“ im Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie in Wien in Band 3/ 2010-2012/ Wien 2012 veröffentlichte, woraus wir den vorstehenden Auszug mit sehr freundlicher Genehmigung der Autorin übernehmen.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Robert Dumé

 

Der 1941 in Nizza geborene französische Tenor Robert Dumé ist am Wochende des 9. Dezember 2018 gestorben.  1970 aus dem Pariser Konservatorium kommend wurde er bald darauf an die Pariser Oper engagiert, wo er in dem meisten Aufführungen der Ära Liebermann in kleinen Rollen mitwirkte, insbesondere als Nathanael in“Les Contes d’Hoffmann“ (in der Chéreau-Inszenierung von 1974-1980), als Majordomus bei Faninal im „Rosenkavalier“(in der Inszenierung von Ezio Frigerio von 1976 bis 1981). In den 80-iger Jahren steigt er auf: Laca bei der Wiederaufnahme von Jenufa, Schuiski in Boris Godounov, Macduff in Macbeth, Aegisth in Elektra. Bei der Eröffnung der Bastille-Oper war er Don Curzio in der Wiederaufnahme der  Strehler-Inszenierung von Le nozze di Figaro von1991 bis 1994. Außerhalb der Hauptstadt und im Ausland  verkörperte er anspruchsvollere Rollen (Florestan im Fidelio, die Titelrolle in Lohengrin). 1992 wurde er zum Gesangsprofessor am Pariser Conservatoire ernannt, unter anderem war der Bassbariton Paul Gay sein Schüler. (Quelle: Forumopera/ Foto dr)

Zum zweiten

 

1999 brachte Cecilia Bartoli bei ihrer Stammfirma Decca ein Vivaldi-Album mit mehreren Weltersteinspielungen heraus, das eine ganze Serie von Recitals einleitete, die speziell einem Komponisten (Gluck, Scarlatti u.a.) gewidmet waren und viele Entdeckungen offerierten. Nun, nach fast 20 Jahren, widmet sich die Sängerin erneut dem Werk des venezianischen Komponisten und stellt auf ihrer neuen CD (Decca 483 475) zehn Arien aus seinen Opern vor, die sich auf Vivaldi I nicht finden.

Der Schwerpunkt dieser Auswahl liegt eher auf lyrisch-getragenen Arien, welche den gereiften Ausdruck der Interpretin zeigen. Zu Beginn allerdings gibt es mit einer Arie der Zanaida aus dem Argippo von 1730 noch ein Beispiel für Bartolis erregten Gesang, der sich geradezu in wildem Fauchen, Keifen und Zischen äußert. Das Ensemble Matheus unter Jean-Christophe Spinosi liefert dafür die klangliche Folie mit aufgewühlten Akkorden voller Temperament und Energie. Es ist aber auch ein idealer Partner für die schwebenden, entrückten Gefühlsäußerungen durch das delikate Spiel mit feinen Soli der Instrumente, wie man es in der folgenden Arie des Ruggiero, „Sol da te“ aus dem Orlando furioso von 1714 vernehmen kann, die von der Soloflöte lieblich umspielt wird. Bartoli besticht hier mit schmeichelndem Gesang und superb ziselierten Ornamenten. Aus derselben Oper erklingt noch die Arie des Astolfo „Ah fuggi rapido“, die wiederum einen ungestümen Zornesbruch schildert und mit  entsprechend furioser Attacke geboten wird. Virtuos und rasant laufen die Koloraturgirlanden ab – ein Markenzeichen der Sängerin und von unverminderter Meisterschaft. Il Giustino von 1724 ist die einzige Oper, die sich schon auf Vivaldi I fand, allerdings nicht die hier ausgewählte Arie des Anastasio, „Vedrò con mio diletto“, die ganz verinnerlicht und in exquisiter Phrasierung ertönt, begleitet von leise pochenden Akkorden des Orchesters, das zu den international führenden Ensembles der Alte-Musik-Szene zählt und mit der Künstlerin schon mehrfach öffentlich aufgetreten ist. Spinosi selbst begleitet sie in der folgenden Arie der Titelheldin aus La Silvia („Quell’ augellin che canta“) mit der Solovioline und sie bezaubert mit so anmutigem wie bravourösem Gesang, der den eines Vögelchens imitiert. Betörend ist die folgende Arie des Caio aus Ottone in villa von 1713, welche in ergreifenden Tönen die unverbrüchliche Treue preist. Rosanes Arie „Solo quella guancia“ aus La verità in cimento (1720) ist mit ihrem koketten, plappernden Duktus ein schöner Kontrast und Bartoli tupft die Töne mit höchster Kunstfertigkeit.

Perseos „Sivente il sole“ aus Andromeda liberata (1726) ist wieder ein bewegendes Stück, bei dem die Sängerin die Stimme ganz zurücknimmt, schweben lässt wie ein  Hauch und mit zärtlichen abbellimenti ausschmückt. Danach sorgt der kämpferische Ruf des Lucio „Combatta un gentil cor“ aus Tito Manlio (1719) unter auftrumpfendem Trompetengeschmetter und energischem Koloraturfuror wieder für ein heroisches Element, bevor die Anthologie mit Cesares wiegendem „Se mai senti“ aus dem späten Catone in Utica (1737) berührend und höchst kunstvoll endet. Cecilia Bartoli hat sich mit dieser Ausgabe, deren Veröffentlichung im Rahmen von 30 Years Bartoli Decca erfolgt, zu ihrem Jubiläum ein wunderbares Geschenk gemacht. Bernd Hoppe

Exklusiv und elitär war gestern

 

Ja, ich habe gelacht, sehr sogar. Und das gleich auf der ersten Seite des Buchs Wagner-Vereine und Wagnerianer heute von Elfi Vornberg (Königshausen & Neumann, 297 Seiten). Denn da steht: „Der Richard-Wagner-Verband International e.V. steckt in der Krise. Der einstige Exportschlager mit dem Gütesiegel ‚Made in Bayreuth‘ verbucht Rekordverluste bei den Mitgliederzahlen: Engagierten sich im Jahr 2003 noch 37.000 Mitglieder weltweit in einem Wagner-Verein, waren es Ende 2015 nur noch 21.830.“ Das entspricht einem Rückgang von 41 Prozent innerhalb von zwölf Jahren. Das wirft Fragen auf: „Hat das Werk Richard Wagners an Bedeutung verloren? Strahlen Entwicklungen am Grünen Hügel – wie Wolfgang Wagners Tod, die Ernennung der neuen Festspielleiterin Katharina Wagner, Regie-Skandale mit Frank Castorf und Jonathan Meese oder die neu geregelte Kartenvergabe durch Eingreifen des Bundesrechnungshofes – auf den Verein ab? Oder steckt das Vereinswesen als solches mit Überalterungstendenzen und Imageproblemen im digitalen Zeitalter in einer Krise?“

Die erste Frage beantwortet die Autorin gleich negativ, denn die Flut von Wagner-Aufführungen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zeugt davon, dass der „Mythos Wagner“ nach wie vor gut funktioniert und nichts von seiner Attraktivität und Aktualität verloren hat. Weswegen Elfi Vornberg auf 297 Seiten den anderen Fragen nachgeht. Sie hat insgesamt 522 Vereinsmitglieder für diese Studie befragt aus drei verschiedenen Wagner-Vereinen in drei Ländern: in Deutschland, den USA und in Japan. Was sie dabei herausgefunden hat, ist frappierend. Und ich muss gestehen, dass mein inneres Gelächter fast durchs ganze Buch weiterging.  (Und das sage ich als jemand, der Wagners Musik durchaus und wiederholt verfallen kann.)

„Wagner-Vereine und Wagnerianer heute“ im Verlag Königshausen & Neumann

So stellt sich heraus, dass die Japaner – die im Ländervergleich über ihren Wagner-Verband am häufigsten an Bayreuth-Karten gekommen sind – sich „auf das Ereignis“ intensiver als alle anderen vorbereiten: „Sie widmen sich vermehrt tiefgehenden Analysen der Kunst Wagners und investieren mit dem Studium von Partituren und wissenschaftlichen Aufsätzen viel Zeit in ihr Hobby. Sie dringen sogar durch die detaillierte Beschäftigung mit deutschen Philosophen tiefer in die Materie ein und erarbeiten sich akribisch das Thema Wagner.“ Laut Vornberg unterscheidet das die japanischen Wagnerianer von den deutschen. Denn für die ist die praktizierte Fan-Liebe vor allem eine „soziale Demonstration“, die einen „Prestigegewinn und soziale Abgrenzungsmechanismen“ bietet. Für Mitglieder der deutschen Wagner-Vereine ist der Bayreuth-Besuch zu 30 Prozent ein gesellschaftliches Ereignis, bei den Japanern sind es nur 15 Prozent: „Das ‚Erlebnis Bayreuth‘ wird als Akt der Selbstinszenierung wahrgenommen, der gleichzeitig als Statusgewinn und damit als Schließungskriterium nach außen hin dient.“ Das gilt auch für die USA, wo ebenfalls ein Prestige- und Statusgewinn angestrebt wird „durch das als exklusiv und elitär geltende Hobby“.

Im Vergleich sind die Amerikaner „Wagner-Pilger im großen Stil“ und reisen als regelmäßige „Wagner-Kosmopoliten“ am häufigsten. Ziel ihrer Reisen ist meist Europa, was erstaunlich ist, weil viele Befragte angaben, die hiesigen Tendenzen des modernen Regietheaters als „Eurotrash“ rundum abzulehnen. Amerikanische Wagnerianer wollen, laut Umfrage, am liebsten „historische Inszenierungen mit historischen Kostümen und Bühnenbild“. (Ach ja.)

In Deutschland wiederum stellt sich heraus, dass die Wagnerianer aus den Wagner-Vereinen nicht als solche bezeichnet werden möchten. In den USA lehnten die meisten den Begriff „Wagnerianer“ aus „Gründen der Bescheidenheit“ ab („man fühlt sich nicht würdig, belesen oder kenntnisreich genug, diesen ‚Titel‘ zu tragen“), während in Deutschland der Begriff zu viel „Nähe zum Fanatismus“ ausstrahlt. Die deutschen Befragten sagten auch, dass die „negativen Klischees über den Wagnerianer“ sie abschrecken sich selbst so zu bezeichnen, ebenso die „nationalsozialistisch behaftete Vergangenheit der Familie Wagner“.

Im Schlusskapitel berichtet Vornberg, dass das „überwiegend konservativ-traditionell ausgerichtete Klientel“ des Internationalen Richard Wagner Verbands durch die allgemeine Öffnung der Festspiele einen „herben Einschnitt im Erleben der Bayreuther Festspiele“ durchgemacht hat: „Denn ihr begehrtes Objekt verliert damit an Wert und das knappe Kulturgut an Exklusivität.“

Jahrelang lebte der Mythos Bayreuth vom Kampf um die Karten. Inzwischen hat sich da eine andere „Normalität“ eingestellt, so dass für viele Vereinsmitglieder das „Fluidum Bayreuth“ nicht mehr stimmt. Und für den Personenkult, den viele Mitglieder betreiben, ist es auch vorbei mit dem „Erbcharisma“ der „Königsfamilie am Grünen Hügel“.

All die Statements und Auswertungen zu lesen ist faszinierend. Ich habe gleich fünf Bücher als Weihnachtsgeschenke für meine diversen Wagnerianer-Freunde bestellt. Ob sie über die Statistiken und Schlussfolgerungen von Elfi Vornberg auch so lachen werden wie ich, weiß ich nicht. Aber ein bisschen Staub aufwirbeln tut im Fall Wagner immer gut – und bei Wagnerianern, die sich nicht so nennen wollen, es aber bis in die Haarwurzeln sind, tut es doppelt gut (Foto oben: Richard Wagner ist noch immer allgegenwärtig – als Büste im Park – Foto: Winter). Kevin Clarke

Von Elfen, Nixen und anderen

 

Den mittleren Teil der CD-Trilogie Dimensionen, gesungen von Marlis Petersen, am Klavier begleitet von Camillo Radicke, gibt es nun unter dem Titel Anderswelt, wo mit nach Welt, der uns umgebenden Wirklichkeit, das Reich der Elfen, Nixen, Wichtelmänner und anderer Geister gemeint ist. Aus steht nun noch die Innenwelt, damit der Zyklus vollendet wird.

Naturverbundenheit, ja Beseelung der Natur und die Gattung Lied gehören eng zusammen und beides zur Romantik, der Reaktion auf Rationalität, Fortschrittsglauben und Technisierung. So stammen die meisten Texte aus dieser literarischen Epoche, sie  interessierten durchaus aber auch Komponisten späterer Zeiten. Den Elfen und Nixen, also den Luft- und Wassergeistern, gelten die meisten Beiträge, dazu kommen die sagenhaften Gestalten aus Skandinavien. Der Bekanntheitsgrad eines Stücks war augenscheinlich nicht ausschlaggebend für die Wahl durch die beiden Künstler, eher wurden zwar früheren Generationen vertraute, heute aber eher vergessene oder belächelte Komponisten mit aufgenommen wie Christian Sinding (sein Frühlingsrauschen spielten höhere Töchter rauf und runter am Klavier) oder Carl Loewe, dessen Balladen, man denke nur an Die Uhr, äußerst populär waren. Beide sind mit je zwei Liedern vertreten, Brahms und Hugo Wolf nur mit je einem.

Sängerin und Komponist sind wohl ohne Wenn und Aber tief in die Welt der Geister eingetaucht, wovon die vielen Fotos im Booklet zeugen. Die sieht man sie als Nöck und Nixe bis zum Kinn im Wasser treiben, werden Blätterwerk und Baumstamm liebend gekost, auf moosbedeckten Felsen herumgekraxelt.

Es beginnt mit Hans Pfitzners Lockung, für das die Sopranstimme einen wie verwundert erscheinenden Klang annimmt, Waldeinsamkeit wird besonders bedeutsam gesungen, schwül und verlockend schlüpfrig klingt die zweite Strophe, und nicht nur dieser Text stammt von Eichendorf, dem liebenswertesten Vertreter der deutschen Romantik. Petersen legt viel Dramatik in den Schluss von Hans Sommers Lore im Nachen, wählt einen kindlichen Ton für Mit einer Wasserlilie, der in Einsame Nixe von Hermann Reutter deren „süße(n) kristallene(n) Stimme“ wiederzugeben scheint. Interessant wird die CD auch dadurch, dass viele unbekannte Lieder hier für viele Hörer sicherlich zum ersten Mal erklingen. Dazu gehört heute auch Loewes Der Nöck, dessen balladenhafter Aufbau die Stimme zu mehr Dramatik herausfordert. Keck und humorvoll wird Sindings Ich fürcht‘ nit Gespenster gesungen, in dem das Klavier eher als die Stimme trunken von der Schönheit des Nachtweibs zu sein scheint. In Harald Genzmers Stimmen im  Strom scheint der Sopran am Schluss unendlich zu gleiten, in Regers Mainacht das Aufblühen der Natur nachzuvollziehen. Damit wären wir bereits bei den Elfen, für die auch Bruno Walther ein Lied komponiert hat, das mit silbrigem „Mondesglanz“ verführt. Derselbe Text von Eichendorff wurde auch von Julius Weismann vertont, und sein Lied ist tändelnder, was die Stimme geschickt umsetzt.

Es folgen die Nordlichter, in denen Marlis Petersen in Sindings Majnat Wehmut und Grauen in einen Aufschrei münden lässt. Mit schöner Getragenheit wird in Kilpinens Berggeist der Schluss gestaltet, das bekannteste Lied der CD dürfte Wolfs Elfe auf einen Text von Mörike sein, in dem der Sopran den Kontrast zwischen Wächter und Elfe hübsch herausarbeitet. Mit feiner Leichtigkeit, wir sind zu den Elfen zurückgekehrt, wird von Friedrich Gulda der Eichendorff-Text, den auch Walther vertonte, in Musik gesetzt und von Marlis Petersen gesungen. Unheimlich und betont abgehackt schildert der Sopran die Tod bringende Begegnung mit den Elfen in Schrekers Spuk. Jede der vielen Elfen in Herman Zumpes Liederseelen erhält von der Sängerin ein unverwechselbares vokales Gesicht, Zemlinskys Und hat der Tag all seine Qual wird nicht so pathetisch gesungen, wie der Text es nahelegt, das Klavier betont dazu den Schreitrhythmus. Eine hochinteressante Auswahl, die das Gespanntsein auf den dritten Teil des Zyklus noch wachsen lässt (SM 294). Ingrid Wanja    

Zu sanft und höflich

 

Französische Romantik ist gerade wieder sehr angesagt in der Opernwelt- und auffallend viele Sänger widmen in letzter Zeit ihre Solo-Alben dieser Epoche. Jetzt ist eine Arien-CD eines jungen französischen Tenors beim Label Alpha erschienen: Julien Behr.

Es gibt heute viel stilsicherere Sänger in diesem schwierigen Repertoire als noch vor 30 Jahren, und das ist nicht nur Verdienst der Sänger selbst, sondern auch das der Hochschulen, Konservatorien und Lehrer, die den jungen Künstlern ein präziseres sensibles Stilgefühl für die französische Epoche des 19. Jahrhunderts vermittelt haben. Julien Behr profitiert von dieser neuen Auffassung. Man spürt, dass er sich bemüht, die Stücke genauso zu artikulieren, wie es einst das entsprechende Haus der Premiere vorschrieb; Brust und Kopfstimme werden wohlkalkuliert und werkgetreu eingesetzt, nichts bleibt dem billigen Effekt überlassen, alles atmet Vernunft.

Zu sanft und zu höflich: Behr hat keine Stimme, dessen Strahlkraft den Hörer in die Knie zwingt; die Höhen sind keine Großereignisse, wenn auch technisch sauber. Er ist ein exzellenter lyrischer Mozart-Tenor, der sich das leichtere (leicht im stilistischen, nicht im energetischen Sinne) französische Tenorfach erschlossen hat. Ein intelligenter Sänger, der sich jedoch den Partien zuweilen auf Zehenspitzen nähert und elegant, aber vorsichtig durch das Repertoire Gounods, Bizets, Messagers und Delibes‘ tänzelt, fast wie ein schüchterner Besucher in einer Ausstellung alter Glasbläserkunst, der sich fürchtet, bei zu impulsiven Bewegungen die Exponate zu zerstören.

Doch so fragil ist die französische Oper des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nun auch wieder nicht. Auf der CD mag alles durchhörbar, sauber und samtig klingen – mir ist es unterm Strich zu sanft und höflich. Vergeblich wartet man auf den großen Moment , wo der Solist ausbricht, aufbegehrt, echte Leidenschaft zeigt. Stilgefühl ist dann am Ende doch nicht alles.

Exquisit ausgewählt wie auch interpretiert: Es begleitet das renommierte Orchester der Oper in Lyon, eins der besten Opernorchester der Welt; am Pult steht der relativ junger Dirigent Pierre Bleuse, der hier aber überraschenderweise weniger durch jugendliches Feuer glänzt als durch laszive Sinnlichkeit. Schön, dass hier die Lyoner hier in drei reinen Orchesterstücken zeigen dürfen, was sie können, alle drei Piecen sind sowohl exquisit ausgewählt wie auch interpretiert, darunter auch die berühmte Habanera von Emmanuel Chabrier (Confidence, mit Julien Behr (Gesang), Orchestre de l’Opera National de Lyon, Pierre Bleuse (Leitung), Alpha 8732528). Matthias Käther

Syrakus zum Dritten

 

Der am 3. Dezember 1820 auf dem Höhepunkt seines Schaffens als vorletzte seiner neapoliantischen Opern am Teatro San Carlo uraufgeführte Maometto Secondo gehört zu Rossinis ambitioniertesten Werken. Später glättete er für Aufführungen in Venedig bzw. Paris einige der avanciertesten Passagen. So enthält die Fassung, die zwei Jahre später in Venedig zur Aufführung kam, eine umfangreiche, zehnminütige Ouvertüre und ein lieto finale. Interessanterweise gelangte im gleichen Jahr, als Rossinis vor dem Hintergrund des Kriegs zwischen Türken und Venezianern spielende Liebesgeschichte uraufgeführt wurde, am San Carlo mit Spontinis Fernando Cortez eine ähnlich unmögliche Liebe zwischen dem europäischen Eroberer und der aztekischen Prinzessin Amazily auf die Bühne. Isabella Colbran sang die Amazily und später auch Anna, die Tochter des Statthalters in der venezianischen Kolonie in Griechenland, die sich in den ihr unbekannten türkischen Sultan Mohammed verliebt.

Naxos gestattet sich und seinen Hörern den Luxus, alle drei Maometto-Opern Rossinis in Aufführungen von Rossini in Wildbad zu erleben: Aus dem Jahr 2002 stammt die revidierte Fassung des Maometto II. für Venedig 1822 (mit Denis Sedov, Anna-Rita Gemmabella und Luisa Islam-Ali-Zade. 8.660149-51), 2010 spielte man in Bad Wildbad die ins Korinth des Jahres 1820 verlegte französische Umarbeitung Le siège de Corinthe (mit Lorenzo Regazzo, Majella Cullagh und Michael Spyres, 8.660329-30) und nun erschien Maometto II. in der Urfassung von 1820 (8.660444-46). Es handelt sich um einen Mitschnitt der drei Aufführungen aus dem Juli des Vorjahres. Gespielt wird, wie in der Aufführung von der Garsington Opera (AV 2312), die kritische Edition von Hans Schellevis. Ein Dokument. Mit allem Bühnen-Gelaufe und -Gerenne, inklusive Applaus und einiger Unzulänglichkeiten, klanglichen und instrumentalen Unausgewogenheiten, doch das fällt bei der Leidenschaft, mit der sich unter Antonino Foglianis energischer und herrlich befeuernder Leitung alle – die Virtuosi Brunenses und der Camerata Bach-Chor aus Ponznan – in den Freiheitskampf stürzen, nicht weiter ins Gewicht. Ohne Einleitung oder Sinfonia stürzt sich auch Rossini in das Geschehen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und entfacht dichte und ausladende Szenen und eine gewaltige musikalische Architektur, die von Innen zu glühen scheinen. Elisa Balbo, die im Wildbader Kurhaus zwar kompetent, doch nicht erfüllt klang, wirkt als Anna auf den CDs dunkler, gewichtiger, sehr achtsam in den kleinen Noten und mit hart energischer Strahlkraft. Mert Süngüs Tenor ist anfangs nicht sehr klangvoll, denn er ist weniger Anwalt gestalteter Rezitative, die flach ausfallen, als arioser Enflammiertheit, wo er, wie im ausgedehnten Terzettone seine Muskeln spielen lassen kann und seinem strahlenden Tenor auch empfindsame Zwischentöne verleiht. Victoria Yarovaya gibt mit hell schlanken Mezzoklang einen patenten General Calbo, fundiert in der Tiefe, strahlend in der Höhe. Der am Konservatorium in Pesaro ausgebildete Mirco Palazzi singt die Titelrolle mit profundem Bassbariton, mit der federnden Geläufigkeit, wie sie die rassigen Läufe seiner Auftrittsarie verlangen, und im Duett mit Anna im Mittelakt auch mit sanfter Verführungskunst, die Anna Faszination verständlich macht. Auffallend in den beiden kleinen Partien des Selimo und Condulmiero Patrick Kabongo Mubenga (Naxos 3 CD 8.660149-51) Rolf Fath

Ordentlich

 

Angeblich soll Domenico Cimarosa über 100 Opern geschrieben haben. Fest steht: Nur eine hat im Repertoire wirklich überlebt – „Die heimliche Ehe“. Seine zweitbeliebteste Oper war zu Lebzeiten des Komponisten der Einakter L’impresario in angustie. Brilliant classics (95746) hat die kleine Oper jetzt aus der Versenkung geholt.

Es gibt zwei wichtige Gründe, warum diese Oper Musikgeschichte geschrieben hat. Zum einen ist sie eine der besten und bissigsten Parodien auf den Opernbetrieb selbst, eine boshafte Farce auf die chaotischen Zustände an italienischen Bühnen. Zum anderen hat das Werk vor allem in Deutschland einst Ruhm eingefahren, weil Goethe höchstselbst die Oper geliebt hat. Er hat sie auf seiner Italienreise gesehen und dann eine eigene deutsche Fassung für Weimar angefertigt, zusammen mit seinem Schwager Vulpius. Danach war sie in der Goethe/Vulpius-Fassung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr erfolgreich.

Hier nun liegt das italienische Original von 1787 vor. Die Handlung ist ziemlich konfus für eine so kurze Buffa: Gezeigt werden zwei Primadonnen im Streit. Ein Librettist und ein Komponist sind beide in sie verliebt (eine milde Vorahnung auf Capriccio von Strauss). Allerdings macht der Operndirektor auch einer Avancen. Zwischendurch wird eine Oper geprobt,

Frühere Einspielungen: Die Oper ist keine Novität für den Liebhaber komischer klassischer Werke. Unschlagbar ist die um Cimarosas Opernproben-Kantate erweiterte deutsche Fassung mit Reiner Süß und Peter Schreier (Warum ist die eigentlich nie auf CD erschienen?). Lustig, wenn auch wenig stilsicher ist der Opern-Mitschnitt aus den Sechzigern mit Sesto Bruscantini. Die letzte Aufnahme kam 2001 unter Fabio Maestri bei Bongiovanni heraus. Sie wurde bei einem kleinen niederländischen Belcanto-Festival aufgenommen. Eine sehr anständige Einspielung, die durchaus auf Augenhöhe ist mit der jetzigen, mit zwei gewichtigen Nachteilen: Bongiovanni ist eine Mini-Firma von geringer Reichweite und entsprechend teuer. Brilliant classics ist erfreulich preiswert und international sehr präsent.

Schön, aber perfekt klingt anders: An dieser ersten Studioaufnahme gibt es wenig zu monieren, aber echter Grund zum Jubeln ist auch nicht gegeben. Zu hören sind durch die Bank unbekanntere Stimmen, die den Cimarosa-Ton perfekt treffen. Carlo Torriani als Operndirektor steht Angelo Romero in der früheren Aufnahme in nichts nach. Die beiden Sopranistinnen Paola Cigna und Lavinia Bini haben die Leichtigkeit in den Höhen und die Spielfreude, die das Werk braucht. Und auch über die restlichen Interpreten lässt sich nicht meckern. Einzig das Orchester unter Aldo Salvagno könnte etwas moussierender sein.

Das große Ärgernis ist das Mailänder Studio, in dem das Werk aufgenommen wurde: Viel zu hallig, hervorragend geeignet für Kirchenmusik. Aber ein flotter komischer Einakter lebt von trockenerer Atmosphäre und kleinen Räumen. So klingt alles eher oratorisch und zäh. Man führt ja aus gutem Grund Pergolesis „Serva Padrona“ nicht in der Arena von Verona auf (mit Carlo Torriano, Marco Filippo Romano, Paola Cigna, Lavinia Bini; Orchestra Bruno Maderna di Fordi; Aldo Salvagno). Matthias Käther

Una Adalgisa rossiniana

 

Am liebsten würde man gleich selbst in die schmucke Jurte einziehen, die Bühnenbildner Robert Jones für Norma auf die Bühne der MET (2017) gestellt hat, denn sie ist mit allem versehen, was man sich in Küche, Schlafgemach und Wohnbereich zu gallischen Zeiten nur vorstellen kann, allein die vielseitigen Küchengeräte, aber auch ein Webstuhl zeugen von dem relativen Wohlleben, dessen sich die Priesterin erfreuen konnte. Kein Wunder, dass es der römische Feldherr Pollione doch recht lange bei ihr aushielt. Streng genommen ist Norma ja eine recht unsympathische Figur, die ihr Volk an der Nase herumführt und es in den Krieg hetzt oder zum Frieden ermahnt, je nachdem wie gerade ihre Beziehung zu ihrem Liebhaber sich gestaltet. Auch in Erwägung zu ziehen, die unschuldige Adalgisa wider besseres Wissen des Verbrechens anzuklagen, das sie selbst begangen hat, nur um die Qualen des Ungetreuen zu erhöhen, ist kein sympathischer Zug. So tut Regisseur David McVicar gut daran, sie während des Vorspiels zum 2. Akt zärtlich mit den Kindern umgehen zu lassen. Zum Glück kratzt sie am Schluss noch die Kurve und bekennt ihre Schuld.

Ist der erste Teil des zweiten Akts geradezu naturalistisch angelegt, so ist die Bühne für die Szenen im Freien eher leicht stilisiert und damit belacantotauglicher, das Auge wird nicht allzu sehr mit der Erkundung von Details beschäftigt, sondern der Besucher der Oper kann sich ganz der Musik widmen. Die ist bei dem belcantoerfahrenen Carlo Rizzi 2017 gut aufgehoben, der mit viel Drive für die Chorszenen aber auch für Sphärenklänge (Harfe!) in der Sinfonia sorgt.

Die Frage, ob Mezzo oder Sopran für die Adalgisa, braucht sich nicht zu stellen, denn Joyce Di Donato singt Partien beider Stimmlagen, und so bereitet ihr auch diese keinerlei Problem. Befremdlich sind nur die kurzen Haare in der auf historische Glaubwürdigkeit setzenden Produktion, vokal ist sie wunderbar bereits in den Rezitativen, die Stimme ist reich an Farben und geschmeidig wie zu der Zeit, als sie mit Rossini unterwegs war. Zudem man hat man nie das Gefühl, dass hier L’art pour l’art getrieben wird, sondern der Gesang ist im Rahmen des im Belcanto Erlaubten expressiv. Anna Netrebko wäre vielleicht die adäquatere Partnerin gewesen, nun singt Sondra Radvanovsky die Priesterin mit sehr feinen Piani, in der Höhe manchmal schrill, aber insgesamt mit sehr anständiger „Casta Diva“ und als Partnerin in den beiden großen Duetten selbst in den Presto-Teilen durchaus angemessen. Ein von Anfang an auch gegenüber Adalgisa sehr grimmiger Pollione ist Joseph Calleja mit bruchlosem, schön timbriertem Tenor, der durch kluge Karriereplanung des Sängers ohne Einbußen an Schmelz und Geschmeidigkeit ins Spintofach gewachsen ist. Einen etwas dumpf klingenden Oroveso gibt Matthew Rose, der die letzte Szene ergreifend spielt. Einen überraschend angenehmen Tenor für die kleine Partie des Flavio hat Adam Diegel, eine aktiv ins Geschehen eingreifende Clotilde mit hübscher Stimme ist Michelle Bradley. Die beiden Kinder sind auch im realen Leben Brüder. Am Schluss gibt es einen Scheiterhaufen, der beinahe schon den kürzlichen Waldbrand in Kalifornien vorwegnimmt (Erato DVD 019028562875). Ingrid Wanja   

Ohne Happy End

 

Unbestritten: Schwanensee ist das Ballett der Ballette. Auch unter den drei großen Gattungsvertretern, die Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponiert hat, überragt es die beiden anderen, Dornröschen und den Nussknacker, zumindest in seiner Ballettfassung (bei den berühmten Suiten wäre Der Nussknacker wohl indes der Sieger). An bedeutenden Einspielungen besteht wahrlich kein Mangel, sowohl bei genuin russischen als auch bei westlichen Produktionen. Zuvörderst muss hier ganz gewiss und in diesem Falle ganz besonders die 1988 noch in der Sowjetunion entstandene Aufnahme des Balletts unter Jewgeni Swetlanow genannt werden. Dies bereits aus dem einfachen Grunde, weil sich nun, drei Jahrzehnte später, dasselbe Orchester, das mittlerweile sogar nach seinem bedeutendsten Leiter benannt ist, abermals an dieses Werk heranwagt.

Es lohnt sich, zumindest einen kurzen Blick auf die Orchestergeschichte zu werfen. 1936 gegründet, erlangte der ursprünglich Staatliches Sinfonieorchester der UdSSR genannte Klangkörper in der langen Amtszeit unter Swetlanow (1965-2000) Weltruhm. Die Einspielungen für das offizielle Staatslabel Melodija sind Legion. Swetlanows Genius überstrahlte letztlich auch seinen unschönen Abgang (er wurde vom damaligen russischen Kultusminister gefeuert, weil er angeblich zu viel Zeit mit ausländischen Orchestern verbrachte), denn 2005 ehrte man den mittlerweile Verstorbenen, indem man das offiziell machte, was davor schon in aller Munde war: Es wurde nun auch ganz formell zum Swetlanow-Orchester. Diese kurze Vorgeschichte ist nötig, stellt sich Vladimir Jurowski, seit 2011 Chefdirigent, doch damit in eine Reihe mit dem großen Vorgänger. Übrigens geht Jurowski im informativen Begleittext durchaus auf dessen Einspielung ein, bescheinigt ihr allerdings „schwierige Studio-Bedingungen der Sowjetunion“ und begründet somit seine Präferenz eines Mitschnitts von Live-Konzerten (entstanden im Rachmaninow-Saal von Philharmonia 2 in Moskau im Februar 2017 und im Februar 2018). Pentatone folgte ihm hierin, und es darf bereits jetzt vorangestellt werden: Das Ergebnis gibt ihnen Recht (PTC 5186 640).

Was unterscheidet diese Neueinspielung nun aber so fundamental von ihren Vorläufern? Neben dem wirklich ausgezeichneten, ungemein detailreichen und insofern neue Maßstäbe setzenden Klang ist es vor allen Dingen die Wahl der Urfassung von 1877, die seinerzeit als katastrophaler Flop für den Komponisten in einem Fiasko endete. Üblicherweise wurde von der Tonträgerindustrie dann auch die erst 1895, also nach Tschaikowskis Tod, neu arrangierte Fassung von Marius Petipa und Lew Iwanow eingespielt. Dabei kam es nicht nur zu Tempoanpassungen, die sich der Choreographie unterordnen mussten, sondern auch zu Verschiebungen, Kürzungen und gar Strichen. Der in der Erstfassung sehr ausgeprägt vorhandene sinfonische Charakter des Werkes wurde gleichsam relativiert. Tatsächlich mag diese Urversion als musikalische Untermalung eines szenisch aufgeführten Balletts zwar Schwächen gehabt haben, doch ist dies zugleich isoliert betrachtet andererseits ihre Stärke, erscheint sie doch dem Zuhörer nun eher wie eine lange Sinfonie, wie Jurowski feststellt. Als reine (SA)CD-Einspielung erweist sich dies jedenfalls wirklich als ein Segen, ist der musikalische Fluss doch nicht choreographischen Erwägungen unterworfen.

Ein Happy End gibt es in dieser Fassung mitnichten, wodurch sie vermutlich auch gar nicht erst ins sowjetische Bild gepasst hätte, wäre sie denn je gespielt worden. Dort liebte man das triumphale Finale mit der überhöhenden Schlussapotheose, wie man es in der mittlerweile legendären Inszenierung des Bolschoi-Theaters anhand eines bereits in Farbe gedrehten Filmes aus dem Jahre 1957 noch heute bestaunen kann. Das Ballett wurde seinerzeit freilich gnadenlos zusammengestrichen, wenn auch die damals noch blutjunge und für sich einnehmende Maja Plissezkaja über diese Einschränkung hinwegtrösten mag. Am Pult stand übrigens Juri Fajer, der zwischen 1923 und 1963 Chefdirigent der Ballettaufführungen des Bolschoi-Theaters war und dessen pathosgetränkte, vollblutige Interpretation Maßstäbe gesetzt hat. So kurios es anmuten mag, aber in gewisser Weise tritt Jurowski in seine Fußstapfen, denn ich muss bekennen, den Schwanensee orchestral selten derart überzeugend gehört zu haben, Fassungsfrage hin oder her. Das spieltechnische Niveau des Swetlanow-Orchesters ist schlechterdings phänomenal. Jurowski erzielt einen schon verloren geglaubten sowjetisch anmutenden Klang mit zuweilen markerschütterndem Blech und besonderer Betonung der Bässe, und das, ohne dass es jemals vordergründig oder gar vulgär herüberkäme. Seine Tempi sind in sich schlüssig und zeugen von dem von ihm postulierten betont sinfonischen Werkzugang.

Die Gesamtspielzeit der beiden CDs beträgt knapp 152 Minuten, wobei direkte Vergleiche mit anderen Aufnahmen aufgrund der unterschiedlichen Fassungen schwierig bis unmöglich sind. Es fällt schwer, hier einzelne Passagen besonders zu würdigen, doch gelingt gerade „der wohl magischste Moment des Werkes“ (wie Jörg Peter Urbach im Beiheft schreibt), womit selbstredend das Finale gemeint ist, in Jurowskis Lesart dermaßen bezwingend, dass man geneigt ist, diese Einspielung sogar jener von Swetlanow selbst vorzuziehen. Womit selbst der legendäre Namensgeber des Orchesters nunmehr seinen Meister gefunden hätte. Daniel Hauser