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Eine Piraten-Oper von 1863 aus Polen? Unser östliches Nachbarland ist nicht gerade für seine Seefahrer-Vergangenheit bekannt, wenngleich natürlich die Ostesee Zugang zu den Weltmeeren bietet. Aber eigentlich sind wir an vaterländische Themen in der Literatur und Musik im Polen jener Jahre gewöhnt, das ja fast immer unter Fremdherrschaft litt und mehr als dreigeteilt seine Geschicke erdulden musste. Vielleicht ist es dieses Grundgefühl, das eine Oper hervorbringt, in der der Titelvertreter ein Anti-Held ist, ein von Emotionen zerrissener Pirat, der am Schluss der Oper die Tochter seiner Widersachers im Meer ertränken will und dabei selber erstochen in den Fluten versinkt. Vielleicht ist es auch nur blankes Entertainment, das uns mit dieser Oper auf das Libretto von Ludwik Paprocki nach der Novelle von Carl Franz van der Velde begegnet.
Musikalisch ist hier beste Romantik zu hören. Große Chöre, programmatische Meeresidylle und Sturmesbrausen, effektvolle Solopassagen und ein wunderbares Liebesduett, dazu die Titelfigur stark umrissen in tenoraler Pracht (bemerkenswert, einen Tenor für diese negative Figur zu wählen).
Ignacy Feliks Dobrzyński zeigt sich hier von seiner besten Seite in dieser seiner einzigen vollendeten Oper, die Lukasz Borowicz, der operalounge.de-Lesern kein Unbekannter ist, als Eröffnung der Konzertsaison beim Polnischen Radio Warschau 2010 vorstellte – eine Ausgrabung, die zum Glück den Weg auf eine gut ausgestattete CD gefunden hat (keine westliche Übersetzung des Librettos!) und die polnische Oper von einer anderen, exotischen, sehnsuchtsvollen Seite in Zeiten von politischer Unterdrückung zeigt (wie ja auch Monisuzkos Paria eine andere, weitere Welt öffnete – Irena Poniatowska spricht von einer „unterdrückten, inneren Romantik“). Eine lohnende Ausgrabung für Freunde der romantischen Oper in der Tat. Deshalb bringen wir nachstehend einen Artikel (ohne Autor) aus dem Booklet zur Aufnahme, die vielleicht etwas schwierig zu erhalten ist (Polskie Radio SA). Daniel Hauser besorgte wieder die Übersetzung. G. H.
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Die Geschichte einer vergessenen Oper: Monbar czyli Flibustierowie (Monbar oder die Flibustier) – die erste und einzige vollendete Oper von Ignacy Feliks Dobrzyński (1807-1867) – trug ursprünglich den Titel Korsarz (Der Korsar). Sie wurde zwischen 1836 und 1838 zu einem Libretto von Ludwik Paprocki, einem Freund des Komponisten, geschrieben, basierend auf einer Kurzgeschichte von Carl Franz van der Velde. Eine konzertante Aufführung der Ouvertüre und des Duetts der beiden Hauptfiguren fand bereits 1837 statt, das Finale im darauffolgenden Jahr. Es vergingen indes viele Jahre, bis Dobrzyńskis Werk auf die Opernbühne kam. Fragmente wurden konzertant in Posen (1845), Berlin (1845/46) und Dresden (1847) aufgeführt. Zu den Highlights eines dieser Konzerte in Berlin am 6. August 1845 zählte ein in Korsarenkostüme gekleideter Männerchor; der Bolero wurde als Ballett-Zwischenspiel präsentiert. Trotz wohlwollender Kritiken fand sich niemand, der eine Gesamtproduktion der Oper verantworten wollte. Erst 1860 begannen die Vorbereitungen für die szenische Uraufführung.
1863 veröffentlichte Geberthner & Wolff einen Klavierauszug der Opernpartitur, der vom Komponisten und seinem Sohn Bronislaw Dobrzyński arrangiert worden war. Das Libretto wurde von Seweryna Pruszakowa speziell für die Bühnenaufführung adaptiert. Die Premiere fand schließlich am 10. Jänner 1863 an der Warschauer Oper statt, 25 Jahre nachdem Dobrzyński die Partitur geschrieben hatte. Zur Besetzung gehörten die führenden Solisten dieser Zeit – Bronislawa Dowlakowska, Maria Gruszczyriska, Jozefa Chodowiecka-Hess, Jan Koehler, Wilhelm Troschel, Leon Borkowski und Franciszek Cieslweski (sie sangen auch bei den ersten Aufführungen der Opern von Stanislaw Moniuszko). Gerade zwölf Tage nach der Uraufführung brach der Januaraufstand gegen die Zarenherrschaft in Kongresspolen aus und die Aufführungen mussten eingestellt werden.
Die Oper wurde seither nicht mehr gespielt. Die Ouvertüre war das einzige erhaltene Fragment des Werkes. Die Orchesterparts wurden höchstwahrscheinlich während des Brandes der Warschauer Oper 1939 mit der gesamten Musikbibliothek oder im Warschauer Aufstand von 1944 zerstört. Glücklicherweise hat sich das Autograph der Oper in der Sammlung der Warschauer Musikgesellschaft WTM erhalten. Ein Klavierauszug der Partitur in hervorragendem Zustand befindet sich ebenfalls in dieser Kollektion.
Die Idee, Monbar wieder zum Leben zu erwecken, ist einer Initiative von Lukasz Borowicz, dem damaligen künstlerischen Leiter des Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchesters (heute bei der Philharmonie Posen), zu verdanken. Möglich gemacht wurde das Projekt aufgrund der Unterstützung des polnischen Rundfunksenders Radio Polen 2 und des Nationalen Audiovisuellen Institutes. Tomasz Moscicki, Theaterkritiker und Photograph, hat beinahe eintausend Photographien des Autograph-Manuskriptes angefertigt, welches als Quellenmaterial für Boguslaw Tabaka diente, der die 650-seitige Partitur editierte und das Orchestermaterial zusammenstellte. Dank des Engagements eines großen Teams und des Entgegenkommens von Anna Malewicz-Madey, der Vorsitzenden der Warschauer Musikgesellschaft, ist Ignacy Feliks Dobrzyńskis Monbar oder die Filibustier wieder in das Opernrepertoire zurückgekehrt und füllt damit eine Lücke in der Geschichte der polnischen Musik. Eine im Westen sehr schwierig zu besorgende CD folgte diesen Bemühungen.
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Zum Komponisten: Ignacy Feliks Dobrzyński, geboren am 25. Februar 1807 in Romanow, Wolhynien, war Komponist, Dirigent, Pianist und Pädagoge; er starb am 9. Oktober 1867 in Warschau. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei seinem Vater Ignacy, einem Geiger, Komponisten und Dirigenten. 1825 begann er in Warschau sein Studium bei Jozef Elsner, zunächst im Privatunterricht und anschließend als Schüler der Musikhochschule von 1826 bis 1828.
Dobrzyński schrieb seine ersten Kompositionen zunächst in Winnitsa. Den Großteil seines Lebens verbrachte er jedoch in Warschau, wo er komponierte, lehrte, Musikgruppen organisierte und nach Unterstützung für von ihm selbst geleitete Sinfoniekonzerte suchte. Seine Fähigkeiten als Klavierlehrer waren seinerzeit weithin anerkannt und seine Szkola na fortepian (Schule für Klavier) wurde 1845 von Sennewald in Warschau veröffentlicht. Seine Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 15 brachte ihm 1835 den zweiten Platz beim Komponistenwettbewerb in Wien ein; ausgewählte Sätze dieser Sinfonie wurden später in Warschau und Leipzig unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy aufgeführt. 1862 publizierte Sennewald eine Fassung für zwei Klaviere mit der Bezeichnung Sinfonie im charakteristischen Geiste der polnischen Musik.
Trotz des jugendlichen Alters des Komponisten sind seine Sinfonien ausgereifte und handwerklich einwandfreie Kompositionen, welche die Entwicklung seines künstlerischen Talents darlegen. Sein volles künstlerisches Potential erreichte Dobrzyński in den 1830er Jahren, als er sich Werken verschiedener musikalischer Gattungen widmete: Sinfonien, Ouvertüren, Opern sowie Klavierstücke. Obschon seine Kompositionen im spätklassischen Stile verwurzelt sind, zeigen sie bereits die stilistische Charakteristik der Romantik.
Dobrzyński komponierte zwischen 1836 und 138 seine erste Oper Monbar czyli Flibustierowie (vgl. oben). Von 1841 bis 1843 unterrichtete er Musik am Alexandrinischen Institut für Mädchen. Ab März 1845 reiste er durch Europa, um seine Kompositionen zu präsentieren. Er besuchte Berlin, Leipzig, Dresden, München, Bonn, Frankfurt am Main und Wien. In Berlin blieb er einige Zeit und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer. Während dieser Zeit wurde ihm die Rückkehr nach Polen verboten, weil er einige patriotische Lieder geschrieben hatte, darunter Do matki Polki (Einer polnischen Mutter), basierend auf einem Gedicht von Adam Mickiewicz. Er sollte nicht vor September 1847 nach Warschau zurückkehren.
Im Jahre 1852 wurde Dobrzyński zum Opernintendanten des Teatr Wielki ernannt, eine Position, die er für weniger als ein Jahr innehaben sollte. In den darauffolgenden Jahren dirigierte er das Opernorchester bei Sinfoniekonzerten, unter anderem in der Handelskammer. Im Oktober 1857 organisierte er schließlich das nach ihm benannte Polnische Ignacy-Feliks-Dobrzyński-Orchester, das aus herausragenden Musikern des Teatr Wielki bestand. Der neue Klangkörper gab wöchentliche Konzerte in der Neuen Akademie in der Marszalkoweska-Straße.
Zwischen 1858 und 1860 saß Dobrzyński im Gründungskommitee des Institutes für Musik und wurde Mitglied der Lemberger Musikgesellschaft. Nachdem sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, zog er sich 1860 allmählich aus der Warschauer Musikszene zurück und widmete sich ausschließlich dem Komponieren.
Ignacy Feliks Dobrzyński war ein Zeitgenosse von Chopin, der sein Leben in Polen verbrachte, wo er mit den Einschränkungen des Musiklebens in Warschau zu kämpfen hatte. Sein Stil ist weniger abenteuerlich als jener Chopins; der Einfluss von John Field wird in seinem jugendlichen Klavierkonzert deutlich, während seine feurige Ouvertüre zu Monbar an Weber erinnert. Seine zweite Sinfonie, die 1834 geschrieben und 1862 revidiert wurde, orientiert sich in jedem Satz an einem polnischen Tanz; diese Aufnahme enthält als Extra einen langsamen Satz, der in der Endfassung verworfen wurde. Die Musik mag vielleicht nicht in jederlei Hinsicht erstklassig sein, doch die Aufführungen sind es, erfassen sie doch sowohl die Leidenschaft als auch den Charme dieses wenig bekannten Komponisten. Übersetzung Daniel Hauser
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Irina Poniatowska schreibt dazu in ihrem Artikel über Chopin und Dobrzýnski: Die Ouvertüre zu Monbar oder die Filibuster, die von Zeit zu Zeit aufgeführt wird, zeugt davon, das Dobrzyński das Kompositionshandwerk sehr gut beherrschte. Sie zeichnet sich durch eine kompakte, plastische Konstruktion und eine interessante Instrumentierung aus. (…) In den Jahren 1845 – 1847 unternahm Dobrzyński eine Tournee nach Deutschland und Österreich, während der der Künstler eigene Werke aufführte. In den Musikkritiken hieß es, er sei ein ausgewiesener Musiker. Seine Instrumentalwerke waren durchaus bekannt, da sie in Leipzig und in Berlin herausgegeben wurden. Man erkannte in der Symphonie „caractéristique“ ein nationales Werk mit polnischen Rhythmen wie der Mazurka im 1. Satz und des Krakowiaks im Finale. Das Werk wurde sehr hoch eingeschätzt. Die Instrumentierung Dobrzyńskis wurde gelobt, desgleichen die zwei Streichquintette und Fragmente aus der Oper Monbar. Die Tournee brachte Dobrzyński keine größeren materiellen Vorteile, er hatte sein Leben lang mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Später, nach der Zeit, in der er Direktor des Großen Theaters war (Teatr Wielki 1852 – 1855), begann er die Musik zu der dramatisierten Fassung von Konrad Wallenrod zu schreiben, ohne sie aber zu beenden, sowie zum Drama Die Burggrafen von Victor Hugo, von der nur die Ouvertüre und einige Fragmente existieren.
In Polen war die Lage sehr schwierig. In die Zeit, in der Dobrzyński lebte, fallen beide Aufstände, der Novemberaufstand im Jahre 1830 und der Januaraufstand im Jahre 1863, die vor allem im Königtum Polen ausgetragen wurden. Es war eine Zeit des politischen und kulturellen Niedergangs. Nach der Niederlage des Novemberaufstands wurden die Warschauer Universität, die Hauptschule für Musik und die Wissenschaftsgesellschaft geschlossen. 15 % der Einnahmen wurden für den Bau der Zitadelle verwendet, eines Gefängnisses, das zum Symbol der politischen Unterdrückung wurde. Zu jener Zeit setzte die Große Emigration ein, in deren Folge das Land seine bedeutendsten Künstler und politischen Anführer einbüßte. Dobrzyński blieb in Polen, hatte aber keine Mäzene, obwohl er begabt war. Er suchte den Geschmack des Bürgertums zu befriedigen und schrieb Kammermusik, Klavierwerke und Lieder, hatte aber weiterhin den Ehrgeiz, sich durch großformatige Werke auszuzeichnen, für die es in Polen jedoch keine Entwicklungsmöglichkeiten gab. Das Bürgertum gab sich mit sentimental-virtuoser Salonmusik zufrieden, die Musikkritik wiederum verlangte nach nationaler, ideeller Kunst. Um diese betreiben zu können, um sich voller Hingabe dieser Mission, dem Dienst an der Nation zu widmen, stand dem Künstler nur eine Möglichkeit offen, den Lebensunterhalt zu bestreiten: die Erteilung von Unterricht.
Chopin schuf den Nationalstil als neuen Wert, drang in die Tiefe, in das Wesen des Nationalen selbst vor und transformierte es in Klänge, weit entfernt von Polen. Die meisten Komponisten hingegen, die in Polen lebten, unterstrichen, auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre engen Bande zur nationalen Tradition, indem sie die volkstümlichen Rhythmen und Melodien ganz einfach stilisierten. Das war damals quasi ein bürgerlicher und künstlerischer Imperativ. Aus diesem Grunde wurde die innerpolnische Romantik „unterdrückte Romantik“ genannt. Dobrzyński offenbarte und entfaltete schon früh sein Talent, doch später stagnierte sein Kompositionsstil. Es gab in Warschau kein festes Orchester, in der Oper wurde fast ausschließlich ausländisches Repertoire aufgeführt. Dobrzyński fehlte es somit an Anreizen, sich schwieriger Aufgaben anzunehmen, d. h. große Formen zu schreiben. Er blieb der Salonmusik, Gelegenheits-Musikstücken sowie der Kammermusik verhaftet, die man leichter aufführen konnte als Orchesterwerke.
Irena Poniatowska schreibt zudem zur Situation des polnischen Theaters (bzw. des Teatre Wielki in Warschau) jener Jahre: Im 19. Jahrhundert hatte die Kultur in Polen die Aufgabe, die geistigen Traditionen zu festigen und dem Volk Kraft einzuflößen. Eine wichtige Rolle dabei spielte das Theater als Institution. Nach dem Novemberaufstand von 1831 (gegen die russischen Besatzer) blieb das Theater das einzige Zentrum der polnischen Kultur. Das Große Theater in Warschau übernahm gewisse Traditionen des früheren Nationaltheaters, das noch in der Regierungszeit des letzten polnischen Königs geschaffen wurde. Aber jetzt wurde es nicht mehr „national“, sondern „groß“ genannt. Errichtet zwar auf Kosten der städtischen Selbstverwaltung, war es Eigentum des polnischen Volkes, aber die zaristischen Behörden überwachten die Gesinnung der hier betriebenen Kunst. (…) Nach dem Januaraufstand (gegen die russischen Besatzer) von 1863 erfolgte eine noch düsterere Zeit für die polnische Kultur. Der Okkupant rottete alles aus, was polnisch war, es kam zu einer intensiven Russifizierung. Die Regierung sprach sogar für eine Zeit das Verbot von Theaterbesuchen aus. Die Flaute in der künstlerischen Arbeit hielt bis 1865 an. Aber nirgendwo hatte das Theater eine solche Bedeutung wie in Polen, und wohl nirgendwo gab es im Theater ein zahlenmäßig so starkes Publikum. (…)
Im Theater wurden sowohl das polnische Ensemble als auch Gastauftritte italienischer Ensembles gefeiert. Letztere blieben in der Regel zwischen vier und sechs Monaten in der Stadt. Das polnische Ensemble war ein „notwendiges Übel“, da ein Chor und ein Orchester existieren mussten, die den Kern der polnischen und italienischen Inszenierungen bildeten. (…) So wirkte sich die Tätigkeit der italienischen Ensembles beispielsweise hemmend auf die Entwicklung der heimischen Aufführungspraxis aus. (…) Im 19. Jahrhundert forderte man in Polen nicht nur polnische Opern, sondern begrüßte auch enthusiastisch Premieren fremder Werke in polnischer Sprache. (…) 1861 kam es in den Warschauer Straßen im Laufe einer Manifestation zu den ersten Opfern. Als der Zar Warschau besuchte, sollte im Theater eine feierliche Vorstellung gegeben werden, aber diese kam nicht zustande, da eine unbekannte Hand in den Saal eine ätzende Flüssigkeit goss. Künstler, die unter dem Verdacht einer antirussischen Tätigkeit standen, wurden entlassen. (…) In Polen wäre vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt die russische Oper boykottiert worden. Erst die politische Passivität am Ende des 19. Jahrhunderts und die positivistischen Losungen der Zeit milderten die russlandfeindliche Einstellung. Unter diesen ungünstigen Bedingungen kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Großen Theater zu einem echten Aufbruch der nationalen Oper. (…)
Das Publikum des Theaters setzte sich aus 60% Polen, 37% Juden sowie Russen zusammen. Die Russen besuchten das Ballett und gelegentlich ausländische Opern. Die Polen bevorzugten polnische Werke, und die Juden, die die Galerien füllten, kamen nicht, wenn es etwas gab, was die Russen interessierte, die Russen wiederum erschienen nicht zu Opern, die von Juden bevorzugt wurden, und die Polen missachteten mitunter den Geschmack sowohl der Russen als auch manchmal der Juden. Die Logen und die Stühle blieben oft leer, dafür waren die Galerie und der oberste Rang überfüllt. Die Organisation der Spielzeiten im Großen Theater verweist auf eine totale Dominanz des fremden Repertoires. Die Abhängigkeit der künstlerischen Leitung von der Politik der Regierung destabilisierte jegliche Pläne. Die Direktion der Regierungstheater schloss Verträge mit jedem durchreisenden Künstler, in aller Eile wurden Vorstellungen vorbereitet, die Frequenz war schlecht, das Defizit vergrößerte sich. Es herrschten Zufälligkeit und eine Missachtung des polnischen Ensembles.
Seit Ende der vierziger Jahre dominierten im Repertoire die Werke von Verdi, vorerst italienisch aufgeführt, später einige von ihnen in polnischer Sprache Dann wurden auch Werke der lyrischen französischen Oper aufgeführt sowie der Veristen, Wagners Opern kamen erst ziemlich spät (…). Es ist charakteristisch, dass die erste russische Oper erst 1897 in Warschau aufgeführt wurde, es war Jolanthe von Tschaikowsky. (aus: Irena Poniatowska, Das Große Theater in Warschau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das nationale Opernrepertoire; mit Dank an die Autorin. Irena Poniatowska ist eine renommierte Musikwissenschaftlerin in Polen, die ihren Aufsatz „Dobrzyński und Chopin. Stilistische Ähnlichkeiten und Unterschiede“ im Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie in Wien in Band 3/ 2010-2012/ Wien 2012 veröffentlichte, woraus wir den vorstehenden Auszug mit sehr freundlicher Genehmigung der Autorin übernehmen.)
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.