Archiv für den Monat: September 2015

Luther als Heldenbariton

 

2017 wird ein Luther-Jahr: 500 Jahre Reformation, der Wittenberger Anschlag der Thesen geschah 1517. Das Label cpo besetzt frühzeitig diese Nische mir einer Rarität: dem Oratorium Luther in Worms von Ludwig Meinardus (1827-1896), das der in Ostfriesland geborene Komponist als sein Opus 36 (von 48) in der Folge der Reichsgründung 1871 schuf, 1874 uraufführte (und zwar mit Unterstützung des Katholiken Franz Liszt in Weimar) und das insbesondere 1883 zum Jubiläumsjahr Luthers (1483-1546) der größte Erfolg in Meinardus‘ Lebzeiten wurde und international über 300 Aufführungen erlebt haben soll. Die Begeisterung für das preußisch-protestantisch geführte Reich nahm die Luthergestalt des Festjahres 1817 in sich auf, die mehr als nationaler Held gegen die Fremdbestimmung denn als theologische Figur Einzug ins Bürgertum gefunden hatte. Der Oratorientext ist von Wilhelm Rossmann (1832-1885) geschrieben worden, einem Pfarrerssohn, der als sich als Theologe und Historiker auf die Reformation spezialisiert hatte und die historischen Ereignisse verarbeitet. Das Oratorium ist zweigeteilt: »Die Fahrt nach Worms« und »Vor Kaiser und Reich« erzählt die Geschehnisse rund um den 17. April 1521, an dem Luther vor dem Reichstag in Worms zum Widerruf aufgefordert wurde, am Tag darauf ablehnte („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist übrigens nicht quellenfest überliefert und wird bei Meinardus zur sympathisch zurückhaltend und bescheidenen, von Flöten begleiteter Aussage des Sängers). Gemäß dem Wormser Edikt wurde Luthers Lehre verboten, er selbst als vogelfrei geächtet. Rossmann macht daraus ein Oratorium mit Pathos und Größe, Luther wird als Held dargestellt – aufrecht und authentisch, eine Leitfigur gegen Fremdbestimmung. Schon im ersten Teil, der Fahrt nach Worms bestehen keine Zweifel an der Person Luther, man singt „Luther und Freiheit! Luther und Sieg!„. Das Oratorium ist laut Beiheft ein „protestantisches Bekenntniswerk“ und eine Fundgrube der theologischen Anspielungen und Parallelen. Das ausführliche Beiheft gibt hierbei viele Hinweise und Erklärungen.

Meinardus‘ Musik kombiniert romantische Klänge, protestantische Choräle, Fugen in den Doppelchören und Pilgergesang, bekannte Luther-Lieder klingen an, Nonnen singen ein Miserere und der Kaiser bekommt einen pompösen Huldigungschor. Stille Momente kontrastieren mit dramatischen, opernhaften Szenen; der zweite Teil mit der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Roms und Luthers bildet das dramatische Herzstück des Werks. Luther wird durch schnörkellose Melodien charakterisiert, sein Gegenspieler Glapio, der Beichtvater des Kaisers, durch gestische, auf Effekt setzende, sich windende Klänge. Für musikalische Abwechslung und Spannung ist also dadurch gesorgt, daß Meinardus nicht nur begleitet, sondern geschickt kommentiert und verstärkt. Das Concerto Köln spielt mit 42 Musikern engagiert unter der Leitung von Max Hermann; man wählt eine transparente Lesart ohne übertriebene Überhöhungen. Im Beiheft wird erläutert, dass Meinardus das Oratorium zwar mit der „Reformations-Hymne“ Eine feste Burg ist unser Gott schließen lässt, diese aber nicht strahlend, feierlich oder sogar martialisch erklingt, sondern in einer „erschütterlichen“ Weise, wie jeder ‚lebendige Glaube erschütterlich erscheint‘. Das Oratorium erfordert großen gemischten Chor inklusive Knabenchor, der in dieser Einspielung allerdings vom gemischten Chor der tadellosen  Rheinischen Kantorei übernommen wird und den vielfältigen Anforderungen – man singt doppelt und dreifach mit und gegeneinander als Anhänger des Kaisers oder Luthers, mehrstimmig a capella und mit voller Orchesterbesetzung, Fugen und Choräle, dramatische und kontemplative Szenen – ausgezeichnet entspricht. Weiterhin benötigt das Werk acht Solisten, die zwei Frauen- und sechs Männersoli sowie diverse Ensemble singen. Das Mit- und Gegeneinander der acht Charaktere bewirkt fast schon opernhaft wirkende Szenen. Besetzt ist dieses protestantische Manifest mit sehr guten und ausgewogen harmonierenden Stimmen, allen voran der vornehm-edlen Stimme von Matthias Vieweg als Luther sowie Catalina Bertucci (Katarina), Clemens C. Löschmann (Justus Jonas), Annette Gutjahr (Marta), Corby Welch (Karl V.), Markus Flaig (Glapio / Friedrich der Weise), Clemens Heidrich (Ulrich von Hutten), Ansgar Eimann (Georg von Frundsberg). cpo gelingt eine ungewöhnliche und spannende Wiederentdeckung! (cpo, 2 CDs, 777540-2Marcus Budwitius

Willkommen und Abschied

 

Traurig schaut die Braut drein. Verhärmt und spitzmäusig steht sie neben dem kräftigen, auch nicht sehr glücklich blickenden. Man muss zweimal hinschauen. Es ist Natalie Dessay neben ihrem Pianisten Philippe Cassard. In der Manier von Hochzeitsfotos aus der Urgroßelternzeit haben sich die beiden für das Cover und die Innenseiten ihrer Aufnahme mit Liedern aus der Epoche zwischen 1870 und 1940 von Fauré, Chabrier, Chausson und Duparc ablichten lassen. In Schwarz-Weiß. Das Motiv und der Brautschleier, den sich Dessay auf die Ringellöckchen gesetzt hat, gilt wohl vor allem Poulencs Fiançailles pour rire, die der Sammlung auch den Titel gaben (Erato 4614405). Den Auftakt der im Juni 2014 in der Salle Colonne in Paris entstandenen Aufnahme bilden sechs Lieder von Fauré, darunter das frühe Meisterwerk Après un rêve, drei Lieder nach Texten aus Verlaines Gedichtsammlung Fȇtes galantes sowie Spleen aus dessen späterer Sammlung Romances sans paroles. Irritiert ist man auch beim Hören. Dessay, so der Eindruck, muss sich mächtig anstrengen, und dennoch entfaltet die ungemein zerbrechlich wirkende Stimme keine Kraft und Volumen. Ich drehe den Ton auf, doch dann wird bei Mandoline nur der von Cassard brillant ausgekostete Klavierpart lauter.

nathalie dessay eratoDessays zirpender Sopran bleibt fein und dezent, ist oft schlierig und unsauber, und macht auch wenig aus dem Text. Nicht aus Chabriers strophischem Chanson pour Jeanne, nicht aus Poulencs kleinem Zyklus Fiançailles pour rire (Verlobung zum Spaß) nach Gedichten der Autorin Louise de Vilmorine, welche Poulenc bezauberte, „weil sie schön ist, weil sie hinkt, weil sie ein Französisch von natürlicher Schönheit schreibt“; in ihren Gedichten, darunter ein Titel wie Mein Leichnam ist weich wie ein Handschuh fand er „eine Art gemütvolle Impertinenz, Libertinage, Naschhaftigkeit“. Es stellt sich offenbar eine gewisse Gewöhnung ein, denn Duparc und Chausson, darunter Les temps des lilas, quasi eine Reflektion von Duparcs Soupir, gelingen Dessay, die bereits ihren Abschied von der Oper angekündigt hat, in Nuancen vorteilhafter, man gerät in den Bann der Musik und des sensiblen Spiels von Philippe Cassard. Der Vollständigkeit halber: Bei einem Lied von Poulenc ist Gatte Laurent Naouri beteiligt, bei Chaussons Chanson perpétuelle das Quatuor Ebène.

 

Eine absolute Gegenposition dazu bezieht Joyce Di Donato. Alles ist glut- und blutvoll gesungen, da pulsiert das Leben. Es war „ein vergnüglicher Abend“ schrieb die Presse, nach dem Abend von Joyce DiDonato und Antonio Pappano, mit dem sie im September 2014 die Saison der Wigmore Hall eröffneten. Der Abend von Joyce & Tony. Live at Wigmore Hall ist jetzt auf zwei CD erschienen (Erato 0825646107898, dreisprachiges Beiheft, dessen dt. Übersetzung abbricht). Sicherlich eine schöne Erinnerung an das Konzert. Ansonsten ist mir manches zu bullerig, zu gewollt und energisch, eher flüssig als charmant, in Non ti scordar di me wirkt DiDonatos Mezzosopran unruhig, streng und grell. Haydns Arianna a Naxos, Rossinis Beltà Crudele, La Danza und der vierteilige Zyklus I canti della sera von Francesco Santoliquido, verhangen gefühlvoll, nicht ganz auf DiDonato-Niveau, bilden den ersten Teil. Auf der zweiten CD dann ein kunterbuntes Programm, was gar nicht störend wäre, American Songbook von Fosters Beautiful Dreamer über Musical-Evergreens von Kern (Can’t help lovin‘ Dat Man, All the Things You Are) bis zu Arlens Over the Rainbow, dessen Stimmungen DiDonato derartig ausreizt, in zirzensischen Flitter auflöst und auf Effekt anlegt, dass man selbst bei dem virtuosen, südamerikanisch inspirierten Amor von William Bolcom und All the Things you Are, das eine Norman im Vergleich geradezu unverkünstelt und spontan anging, zwischendurch die Lust am Hören verliert.

 

juan diego florez deccaDas wird bei Juan Diego Flórez nicht passieren. Aus dem kleinen Prinzen, der in Rossinis Opern brillierte, ist inzwischen fast ein Draufgänger geworden, der für seinen einstündigen Italia-Ausflug (Decca 47884088) nicht mehr Cenerentola-like mit der Märchenkutsche anreist, sondern im roten Lamborghini vorgefahren kommt, wie einst Corelli und di Stefano bei Neapolitan Songs – die saßen allerdings selbst am Steuer oder entstiegen dem Wagen, während Flórez nur daran lehnt. Vielleicht ist ihm im Flitzer doch nicht ganz geheuer. Siebzehn Lieder (Canzoni), mehr oder weniger der eiserne Bestand eines Italian Songbook, wie es schon von Caruso über Schipa und Gigli bis Corelli, di Stefano und Pavarotti hoch gehalten wurde, bilden das kurzweilige Programm, darunter Rossinis Bolero, La Danza und Leoncavallos Mattinata ebenso wie Torna a Surriento und Non ti Scordar di me von De Curtis, Gastaldons Musica Proibita, Tostis Marechiare und L‘ alba separa dalla luce l‘ ombra. Flórez singt nicht mit dem draufgängerischen Elan (bei La Danza dann schon) und der Wärme eines di Stefano, aber generös, mit der gewohnten Finesse, Geschmack und Kultur, etwas sehr ausgestellten Höhen, mit betörendem Diminuendo, mit klar-präzisem Ton, mit Glanz und crescendierender Stimmentfaltung, das gilt auch für Schlager wie Chitarra Romana und Nel Blu, Dipinto di Blu. Man kann nicht genug davon bekommen. Einziger Schwachpunkt des von Carlo Tenan, einer Reihe von Solisten (Mandoline, Gitarre, Gitarre) und der Filarmonica Gioachino Rossini begleiteten Recitals ist das nichts sagend, vielsprachige Beiheft mit einer Grußwort des Tenors (natürlich: ein „sehr persönliches Album“). Da wird doch sicherlich eine Fortsetzung folgen, schließlich sagte Flórez „Arrivederci“.

 

peter mauro sonyIm Februar diesen Jahres hat der 28jährige Schweizer Tenor Mauro Peter in Zürich ein Schubert-Programm mit Goethe-Liedern aufgenommen (Sony 88875083883), mit dem er im Sommer auch bei der einst von Hermann Prey gegründeten Schubertiade auftrat. Sein Begleiter hier wie dort war Helmut Deutsch, der nicht nur beim Goethe-Programm bereits mit Prey zusammenarbeitete und jetzt Peters CD-Debüt adelt. Umrahmt von den Sturm-und-Drang -Gedichten Ganymed und Willkommen und Abschied erklingen u. a. die Gesänge des Harfners, Erlkönig, Der König von Thule, Heidenröslein, für die Peter jeweils einen individuellen Ton und erzählerische Klangpoesie entwickelt. Das wirkt in den kurzen Rastlosen Liebe und Der Musensohn spontan, doch nie unreflektiert, und bei beispielhafter Textdeutlichkeit stets mustergültig und eindringlich gestaltet. Peters lyrischer Mozart-Tenor besitzt Gewicht, ist klangvoll durchgebildet – in An den Mond leuchtend ausgemalt -, wird der im zarten Piano verhauchenden Poesie des Heiderösleins ebenso gerecht wie dem Strophenlied Der Fischer oder dem mächtigen Gemälde des Erlkönigs. Ein ausgezeichneter Einstand. Rolf Fath

Ein Mitschnitt wie aus dem Studio

Sebastian Weigle gilt als Sachwalter der Opern von Richard Strauss. Wo immer er diese Werke dirigiert, sind ihm freundliche Kritiken sicher. Die Frau ohne Schatten, 2003 an der Oper Frankfurt von Christof Nel in Szene gesetzt und von Weigle musikalisch betreut, brachte ihm die Auszeichnung als Dirigent des Jahres ein. Mit einer Wiederaufnahe im Herbst 2014 hat er an diesen Erfolg anschließen können. Ein Mitschnitt, der jetzt beim Label OehmsClassics herausgekommen ist (OC 964), legt davon Zeugnis ab. Wie dem Booklet zu entnehmen ist, wurde eine ganze Serie, die sich über zwei Monate erstreckte, aufgenommen. Techniker an den Mischpulten konnten sich daraus bedienen. Sie bevorzugten eine radikale Variante. Publikumsgeräusche sind eliminiert. Es wird weder gehustet, geräuspert oder geraschelt, und gibt keinen Beifall, was etwas schade ist. Aktschlüsse im Opernhaus geben dem Publikum die Möglichkeit, sich von Spannungen durch einen Aufschrei der Begeisterung zu befreien oder aber eine weniger gelungene Leistung mit einen scharfen Buhkonzert zu quittieren. So ist das seit jeher auf dem Theater. Ich habe noch keine Frau ohne Schatten erlebt, bei der es nach dem Ende des zweiten Aufzuges keine lautstarke Entladung im Publikum gegeben hätte – so wie ein Donnerschlag nach einem gewaltigen Blitz. „Übermächte, sind im Spiel! Her zu mir!“ Auf die Beschwörung der Amme, zu der das Färberhaus in Stücke gerissen wird, folgt nun Stille wie nach den Vier letzten Liedern. Da fehlt mir was. Das ist wie Strandspaziergang ohne Meeresrauschen. So zu tun, als sei die Liveaufnahme dem Studio entsprungen, erweist sich wieder einmal als die unvollkommenste Lösung bei der Verwertung von Mitschnitten.

Dennoch. Die zusammengestückelte Aufführung sitzt. Es läuft alles glatt. Mit seiner Interpretation hat Weigle die inzwischen sehr lange Liste von Mitschnitten und Studioproduktionen des Werkes, das seinen Ausnahmewert und Festspielcharakter längst eingebüßt hat, bereichert. Wer eine Neigung zu diesem schwierigen Stück besitzt, wird um die Anschaffung nicht herum kommen. Sie lohnt sich. Auch wegen der Sänger, die einen guten Job machen, auch wenn ich mir hier und da etwas mehr Farbe, Persönlichkeit und Individualität gewünscht hätte. Als kaiserliches Paar treten Burkhard Fritz und Tamara Wilson auf, ihre Pendant aus der arbeitenden Bevölkerung sind Terje Stensvold und Sabine Hogrefe als Barak und seine Frau. Die Amme wird von Tanja Ariane Baumgartner gesungen, der Geisterbote von Dietrich Volle. Alle sind bestens aufgelegt, scheuen aber das Risiko. Als wollten sie keine Fehler und ja alles richtig machen. Vielleicht haben den Sängern die Mikrophone zu sehr im Nacken gesessen. Bei allem Respekt vor der vorzüglichen Gesamtleistung, die Produktion wirkt weichgespült.

Weigle gelingt eine sehr geschlossene Darbietung, die niemals in Einzelteile zerfällt, obwohl das Werk von vielen Einzelteilen lebt, sinfonischen wie sängerischen. Er hält den viel beschworenen Bogen, wählt ein Tempo ohne Hast, welches es den Sängern gestattet, ihre Partien verständlich auszusingen. Sie werden das sehr zu schätzen gewusst haben. Es gibt immer Stellen und Szenen, auf die das Publikum im Saal oder am Lautsprecher gebannt wartet. Ob es nun der Gesang der Wächter zum Ende des ersten Aufzuges ist oder die Violine vor dem großen Auftritt der Kaiserin im dritten. Weigle isoliert diese betörenden Momente nicht, nimmt sie als Teil des Ganzen. Plötzlich sind sie da. Etwas weniger spektakulär und prominent, weil das, was sie vorbereitet, auch nicht vernachlässigt wird. Dieser Dirigent richtet alle Aufmerksamkeit aufs Ganze. Deshalb klingt seine Aufnahme sehr geschlossen.

Striche habe ich nicht ausmachen können. Es wird die komplette Fassung gespielt, einschließlich des vollständigen Melodrams der Kaiserin. Das ist so vorbildlich wie riskant, weil die Sänger auch hörbar an ihre Grenzen kommen, je weiter der Abend voran schreitet. Stehen sie erst einmal auf der Bühne, können ihnen weder Techniker mit ihren Mischpulten, noch der Dirigent Weigle selbst helfen. Sie müssen da durch. Über weite Strecken herrscht eine vorbildliche Wortverständlichkeit, wie das bei diesem Werk leider nicht immer der Fall ist. Im hochdramatischen Hin und Her zwischen Kaiserin, Amme, Barak, dessen Frau und mehreren geheimnisvollen Erscheinungen in dritten Aufzug ist dann kaum mehr etwas zu verstehen. Es geht drunter und drüber, wie in der sich zuspitzenden Handlung selbst. Auch ein nachträglich bearbeitetet Mitschnitt kommt hier an seine Grenzen. Produktionen aus dem Studio klingen naturgemäß klarer, weil es bei der Aufnahme bessere Möglichkeiten gibt, die Stimmen auseinander zu halten, zu experimentieren, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt. Ein Mitschnitt bleibt ein Mitschnitt.      Rüdiger Winter

In seichten Gewässern


Nur wenige echte Singspiele haben auf der heutigen Opernbühne überlebt, außer der Zauberflöte und der Eintführung aus dem Serail sind sie fast alle vergessen. Jetzt ist bei der Deutschen Harmonia Mundi ein Singspiel von Johann Abraham Peter Schulz erschienen – Peters Bryllup/ Peters Hochzeit.

Gut geklaut: Uraufgeführt wurde das Werk 1793 in Kopenhagen – ein schönes Beispiel dafür, wie gut um 1800 deutsche und dänische Kultur zusammenfanden. Dass in Kopenhagen Opern von deutschen Komponisten verfasst wurden, war keine Seltenheit, berühmt wurde der deutsche Komponist Friedrich Kuhlau, der bis heute als eine Art dänischer Nationalkomponist gilt. Ähnlich populär war einige Jahre zuvor Johann Abraham Peter Schulz, ein deutscher Komponist, der zunächst Opern für Berlin, Potsdam und Rheinsberg schrieb und kann nach Dänemark ging. In Deutschland ist er vor allem bekannt für seine Klavier-Lieder im Volkston, von denen einige wirklich zu Volksliedern wurden, wie „Der Mond ist aufgegangen“ und „Ihr Kinderlein kommet“.

Peters Bryllup ist seine letzte Oper und die erweiterte Fassung seines größten musikalischen Bühnen-Erfolges, einer Art Bauern-Revue mit dem Titel Das Erntefest(1790). Spannend daran ist, dass zwischen Fassung 1 und Fassung 2 die Zauberflöte komponiert wurde. Die CD dokumentiert faszinierend, wie skrupellos und geschäftstüchtig Schulz Mozarts Anregungen in seine Neufassung integriert. Die Arie des Hans aus dem zweiten Akt klingt so sehr nach Sarastro, dass in unseren Tagen zweifellos eine Plagiatsklage erfolgt wäre.

Singspiel mit genretypischen Höhen und Tiefen: Die Neuveröffentlichung dieses Singspiels aus Mozarts Tagen wirft wieder einmal die Frage auf, warum das Genre fast komplett untergegangen ist – um sie gleichzeitig zu beantworten. Handlung und Musik sind oft – trotz ambitionierter einzelner Teile sehr schlicht, um es mal höflich auszudrücken. Vor allem zeigt sich hier exemplarisch, wie schwer sich der einstige Erfolg der liedhaften Couplets heute vermitteln lässt. Einst waren sie Hits – heute leiert der musikalische Einfall  spätestens nach der zweiten Strophe aus. Wenn man bedenkt, dass es noch in den 1970er Jahren Musikwissenschaftler gab, die für Kürzungen beim frühen Verdi plädierten, weil sich die Einfälle der Cabaletten angeblich abnutzen… Diese Autoren würde beim Anhören von Peters Hochzeit vermutlich der Schlag treffen.

Auch die konfuse und wenig spannende Handlung von Peters Hochzeit dürfte zur Vergessenheit des Werks beigetragen haben. Dadurch, dass es sich um die opernhafte Erweiterung eines ehemaligen festlichen Einakters handelt, wirkt das Ganze sehr episodenhaft. Am ehesten vergleichbar ist der Plot mit Haydns (späterem) Oratorium Die Jahreszeiten. Es werden ländliche Geschichten erzählt, wir hören von verschiedenen Paaren, die zueinanderfinden, auch von tragischen Figuren, aber den größten Raum nehmen die Hochzeits-Feierlichkeiten selbst ein, die hier in Chören und Tänzen zelebriert werden. Und die sind oft wirklich gelungen. Zeitzeugen zufolge befand sich nämlich das einfache Volk Dänemarks nach 1790 in einem jahrelangen Freudentaumel, weil in diesem Jahr die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Und Schulz, der diese Freude hautnah miterlebt hat, fängt die Stimmung wirklich beglückend und überzeugend in seiner Musik ein.

Akustisch nicht immer genussreich: Der Dirigent Werner Ehrhardt bringt mit seinem Ensemble L’arte del mondo jedes Jahr eine seltene Oper des 18. Jahrhunderts heraus – und die letzten Jahre waren das echte Leckerbissen – Olimpiade von Pergolesi, Die Gärtnerin aus Liebe von Anfossi, alles richtig schwere Tanker mit viel Tiefgang im Operngewässer. Dies hier ist dann doch eher eine bunt angestrichene Schaluppe. Aufgenommen wurde in Kopenhagen mit dänischen Sängern, aber für den internationalen Vertrieb wurden die dänischen Dialoge gestrichen, übrig bleibt eine magere CD mit 70 Minuten Musik. Dazu kommt, dass diese Halle in Kopenhagen nicht grade ein akustisches Eldorado ist, mitunter klingen die Solisten wirklich wie aus dem Innern einer Schaluppe. Auch nicht jede dänische Stimme, grade bei den Solistinnen, hat das gewohnte Niveau, an das man bei der Deutschen Harmonia Mundi sonst gewöhnt ist. Aber natürlich ist das insgesamt eine hübsche und vielleicht sogar wichtige Ausgrabung, grade weil sie wieder einmal zeigt, wo Stärken und Grenzen der einst so beliebten Gattung Singspiels liegen. L’arte del mondo jedenfalls musiziert wieder hinreißend und ambitioniert (Johann Peter Schulz: Peters Bryllup/ Peters Hochzeit; Singspiel in zwei Akten mit Eva -Lotta Ohllson, Hannah Husahr, Tobias Westmann, Johann Rydh; L’arte del mondo, Werner Ehrhardt; Deutsche Harmonia Mundi; 88843017602).  Matthias Käther

 

Carl Thomas Mozarts „Entführung“

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Meisterwerke zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie eigentlich unantastbar sind. Wird z.B. ein Buch oder ein Musikstück in diesen Kanon der Unsterblichkeit aufgenommen, ist es meist mehr als schwierig, Verkrustungen (z.B. in Form von Zusätzen oder Kürzungen), die durch die Tradition entstehen, zu entfernen. Gegen die Trägheit der Praxis scheitert meistens auch die Philologie, die Werke in ihren Kontext zurückführen möchte. Für die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind die Konsequenzen bekannt. Rossinis Barbiere oder Comte Ory werden nach wie vor in bedenklichen Editionen gegeben, obwohl kritische Ausgaben vorliegen. Hat ein Werk den Kanon-Status erreicht, muss meistens auch das rabiate Regietheater kapitulieren. Höchstens kommt bei Mozart ein Synthesizer in den Rezitativen zum Einsatz, oder sie können allesamt durch lächerliche

Natur-Geräusche ersetzt werden, wie heuer im Salzburger Fidelio geschehen. Ein paar Striche werden noch zugelassen. An der musikalischen Substanz, gerade bei Mozart und Beethoven, wird indes wenig gerüttelt, weil das heutige Publikum historisch informiert ist und keine einschneidende Aktualisierung annehmen würde.

Eine Neuveröffentlichung bei dem verdienten Raritäten-Label Bongiovanni aus Bologna zeigt eindrücklich, wie man damit in der Zeit verfahren ist, als die Kanonisierung noch nicht abgeschlossen war und der Opernbetrieb auf den aktuellen Geschmack der Zuhörer Rücksicht nahm und nehmen musste . Im habsburgischen Mailand war dies der Fall bei Mozart, einem Autor, der südlich der Alpen trotz seiner stilistischen Zugehörigkeit zur italienischen Oper des späten 18. Jahrhunderts es schwer hatte. Das schmerzte besonders zwei wackere Untertanen des habsburgischen Reiches, die in Mailand lebten: Carl Thomas Mozart (1784-1858), der gegen den Willen der Witwe Mozart keine Musiker-, sondern eine Beamtenlaufbahn durchgegangen war, und sein Freund Pietro (Peter) Lichtenthal (1780-1853), ein Preßburger Multitalent, das sich unermüdlich für das Oeuvre Mozarts einsetzte. Ihm verdankt man meisterhafte Bearbeitungen etwa vom Requiem für Streichquartett oder der Symphonie KV 550 für Streichquintett (selbstredend in der mozartschen Besetzung mit zwei Bratschen).

Der knappen, aber ausgezeichneten Einführung von Marco Beghelli im Booklet dieser CD-Produktion entnimmt man, dass Lichtenthal 1824 eine italienische Übersetzung der Entführung aus dem Serail bei zwei der führenden Librettisten der Zeit in Auftrag gegeben hatte, Gaetano Rossi (er verfasste das Libretto der Semiramide für Rossini und arbeitete für alle führenden Komponisten zwischen 1797 und 1854) und Felice Romani. Aber niemand wollte das Werk spielen. Überhaupt scheiterte der kulturkolonialistische Versuch kläglich, die deutsche Spieloper in Italien zu etablieren: Nicht nur Joseph Weigls Schweizer Familie (in italienischer Übersetzung in Mailand 1816) und Peter von Winters Unterbrochenes (Florenz 1818) missfielen, auch die Zauberflöte hatte keinen Erfolg. 1838 entschied sich daher Lichtenthal für eine grundlegende Neubearbeitung der Entführung aus dem Serail.

Er schuf eine neue Oper „übersetzt aus dem deutschen Original und dem heutigen Theatergeschmack (l’odierno gusto teatrale) angepasst, mit zum grössten Teil Musik von Mozart“, wie er das Manuskript betitelte. In der Tat ist das Meiste, was man hört, Mozart, wenn auch nicht unbedingt aus der Entführung. Konstanze strich Lichtenthal alle drei Arien und ersetzte sie u.a. mit der Konzertarie KV 505, und eine wohl eigene Orchestrierung des Türkischen Marsches aus der Sonate KV 331 kam zum Einsatz, aber er griff auch auf fremdes Material zurück. Die Sprechpartie des Selim bezeichnete er selbst in einem Aufsatz von 1840 als ein großes Hindernis für die Aufführung der Oper in Italien: Er bekam ein Duett mit Konstanze (ausgerechnet aus einer Oper des von Mozart so wenig geschätzten Peter von Winter) und ein weiteres mit Osmin aus einem Weigl-Werk. Und ein veritables Pasticcio ist das hinzugefügte erste Finale der nunmehr zweiaktigen Oper. Alle Dialoge wurden durch Secco-Rezitative von der Hand Lichtenthals ersetzt. Er führte somit den verständlichen Wunsch, Mozart dem Mailänder Publikum nahe zu bringen, ad absurdum, denn der Ratto dal serraglio ist ein Monstrum, das keineswegs überzeugt.

So dachten es wohl auch die Verantwortlichen der Scala, welche das Erzeugnis zur Begutachtung bekamen und sich gegen eine Aufführung entschieden. Sie wurde im Mai 2012 in Vincenza durch das Team nachgeholt, welches schon in Mozarts Zauberflöte in einer italienischen Fassung von 1794 überzeugte (auf CD bei Nuova Era). Auch diesmal kann der Dirigent Giovanni Battista Rigon überzeugen, welcher das Orchester des Teatro Olimpico in Vicenza akkurat leitet. Er kann für den stilistisch disparaten Eindruck natürlich nichts. Die Sängerriege besteht aus Italienern, die ihre Sache gut machen, ohne dass sich jemand besonders auszeichnet. Der Bearbeitung ist zu verdanken, dass Filippo Moraces leichter Bass-Bariton den Osmin geben kann. Francesco Marsiglia (Belmonte) singt elegant, Sandra Pastrana (Costanza) wird den Anforderungen der völlig veränderten Partie gerecht und muss sich dankenswerterweise nicht durch Martern aller Arten martern lassen. Gabriele Sagona (Selim), Carlos Natale (Pedrillo) und Tatiana Aguiar (Bionda) sowie der Chor der Polifonici vicentini und Alberto Boischio (Hammerklavier) ergänzen das Team auf gutem Niveau. Niemand wird wohl diese Bearbeitung nachspielen wollen, und doch ist man den Beteiligten und Bongiovanni dankbar, ein solch wichtiges musikhistorisches Dokument kennenlernen zu dürfen (Wolfgang Amadeus Mozart / Pietro Lichtenthal, Il ratto dal serraglio: Morace, Marsiglia, Pstrana, Sagona, Natale, Aguiar, Polifonici Vicentini, Orchestra del Teatro Olimpico, Rigon (Vicenza, Mai 2012), 2 CD Bongiovanni 2476-2477). Michele C. Ferrari

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Abbildung oben: Portrait of Carl Thomas Mozart (1784-1858), elder son of Wolfgang Amadeus Mozart (1756-91), c.1840 by Italian School, (19th century) oil on canvas. Mozart Museum, Salzburg, Austria
Italian/ Wikipedia- Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Das Geheimnis liegt in der Stille!“

 

Am Ende wird das Buch auf unheimliche Weise aktuell. Befragt zur Opernregie, schwärmt Riccardo Chailly von Nikolaus Lehnhoff, der drei Tage vor Erscheinen von Chaillys Buch Das Geheimnis liegt in der Stille. Gespräche über Musik verstorben war, „Ich habe große Hochachtung vor Lehnhoff, vor allem, wenn er bestimmte Ideen nicht bis ins Extrem ausreizt“. Nach den Erfahrungen mit der Amsterdamer Tosca hatte Chailly ihn Luciano Berio für die Erstaufführung der Turandot mit Berios Finale empfohlen, worauf der Komponist meinte, „dass er in Lehnhoff einen selten intelligenten und dialogbereiten Regisseur erlebt habe, mit dem er gerne zusammenarbeiten würde“. Diese Produktion wurde dann, neuerlich mit Chailly am Pult, im Mai dieses Jahres in Mailand im Rahmen des EXPO-Programms wiederholt. Angesichts von Chaillys umfangreichen Opernproduktion nehmen die Regisseure nur einen schmalen Raum ein, etwa Klaus Maria Grüber, der über „ein inszenatorisches Denkvermögen von bemerkenswertem Tiefgang“ verfügte, und der tiefgründige Willy Decker; beide in Amsterdam. Weniger glücklich war die Zusammenarbeit mit Zeffirelli, bei dem er anlässlich der Mailänder Aida entschied, „seine Welt einfach zu akzeptieren“.

chailly henschel verlagErwähnung findet die Arbeit mit Luca Ronconi in Bologna, Pesaro und Mailand, mit Jean-Pierre Ponnelle, der bei Chaillys Einstand in San Francisco (Turandot 1977 in San Francisco) und seinem ersten Opernfilm (Rigoletto 1981 mit Pavarotti und Gruberova) Regie führte, mit den italienischen Altmeistern Giancarlo Cobelli und Roberto De Simone („wie aus alten Zeiten“) sowie erstaunlicherweise auch mit dem provokanten Ken Russell („ein Vulkan, der ständig Asche spuckt: er besaß eine Vorliebe für Chianti und hatte immer eine Flasche unter seinem Sitz im Parkett versteckt“). Allein die paar Namen und die zahlreichen damit verbunden Produktionen zeigen, dass Chailly ein Mann des Theaters ist, was man angesichts des Buches fast ein wenig vergessen könnte.

Bereits 1967 hatte der 1953 geborene Sohn des Komponisten und Musikmanagers Luciano Chailly seinen ersten Auftritt als Dirigent. Zuvor hatte ihn der skeptische Vater, der ihn vom befreundeten Franco Ferrara begutachten ließ, selbst unterwiesen, dann an die Konservatorien von Mailand und Perugia und schließlich in die Dirigenten-Schmiede von Franco Ferrara nach Siena geschickt, wo zur gleichen Zeit auch Sinopoli, Daniel Oren, Iván und Adam Fischer studierten. 1971 gab Chailly in Mailand – am Teatro Nuovo – sein Operndebüt, bereits 1974 kam er durch Vermittlung Bartolettis an die Lyric Opera in Chicago, wo er Madama Butterfly dirigierte, deren Erfolg die oben erwähnte Turandot in San Francisco nach sich zog, und 1977 dirigierte er I Masnadieri bei Henzes Cantiere Internationale d‘ Arte in

Montepulciano, das eine prägende Zeit für Chailly gewesen sein muss, denn dies ist einer der wenigen Abschnitte, die wirklich lebendig werden und etwas von jugendlichem Schwärmen vermitteln, aber auch viel über den Vitalismus und die Aufbruchsstimmung im Musikleben im Italien der 1970er Jahre verrät. Dazu gehört auch Claudio Abbado, dessen Assistent er wurde.

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Riccardo-Chailly/ Decca Foto Benjamin Ealovega

Als jüngster Dirigent in der Geschichte des Hauses debütierte er 1978 an der Scala mit I Masnadieri (Maliponte, Garaventa, Manuguerra, Nestorenko); der sehr junge Chailly war damals offenbar der Mann für die Raritäten, denn ich erinnere mich noch an I due Foscari im folgenden Jahr sowie den Jahrmarkt von Soroschinizy im Rahmen von Abbados großartiger Mussorgsky-Retrospektive 1981.Chaillys gegenwärtiger Vertrag mit dem Leipziger Gewandhausorchester wurde laut Frankfurter Neue Presse soeben aufgelöst (03. September 2015), während die vor kurzem verlängerte Laufzeit eigentlich bis 2020 ging. Über die Gründe wurde nichts bekannt, sein letztes Konzert dirigiert er Mitte Juni 2016 in Leipzig. Ab 2017 wird Chailly offiziell die Position des Musikdirektors an der Scala antreten, „Ich wünsche mir, dass sich die Scala in Zukunft wieder mehr auf dem Gebiet der italienischen Oper profiliert, und zwar in einer neuen Qualität, die an vergangene Zeiten anknüpft“. Doch, wie gesagt, das Musiktheater kommt in diesem Band ein wenig kurz. Ausnahme ist ein Kapitelchen über Verdi, in dem Chailly Otello als seine liebste Verdi-Oper bezeichnet, „dicht gefolgt von Falstaff“, und einem über Rossini und Puccini, die beide zentrale Rollen in seiner Karriere spielten: seine erste große Aufnahme bei der Decca, mit der er seit über 30 Jahre verbunden ist, galt Guillaume Tell, und Puccinis Butterfly und Turandot hat er gleich zu Beginn seiner Karriere dirigiert, wobei besonders die Anmerkungen über Mahlers Einfluss auf Puccini interessant ist.

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Gesprächspartner Enrico Girardi/ Enrico Girardi (@Chicogir)

Befragt wird Chailly von dem Journalisten Enrico Girardi vor allem zu Bach und Mozart, Beethoven, Mahler und Bruckner, zur klassischen Moderne und den Zeitgenossen. Hier verblüfft der undogmatische und weite Blick auf die Interpretationsgeschichte, die unterschiedlichen Vorbilder oder Inspirationsquellen, die Chailly benennt, bei Bach selbstverständlich Leonhardt und Harnoncourt, bei Mozart neben Fritz Busch, Walter, Harnoncourt und Gardiner aber auch Peter Maag und Toscanini, bei Beethoven nennt er Felix Weingartner neben Carlos Kleiber, bei Mahler Abbado („… er zählt zweifellos zu den großen Mahler-Interpreten aller Zeiten, ähnlich wie Bernard Haitink, Inbegriff der großen Mahler-Tradition beim Concertgebouw, und natürlich Leonard Bernstein“). Alles wohl überlegt, keine Gefälligkeitsadressen (Riccardo Chailly, Das Geheimnis liegt in der Stille. Henschel Bärenreiter, 192 Seiten; ISBN 978-3-89487-944-0). Rolf Fath

 

Riccardo Chailly ist Decca-Exklusiv-Künstler, auf der dortigen website finden sich seine verfügbaren Aufnahmen. Die Fotos (oben von Benjamin Ealovega für Decca und hier im Text) stammen ebenfalls von dort, Dank an Universal!

Für die Fans

 

Roberto Alagna kommt nach Deutschland, wieder nach Berlin: aber nicht am 6. September für ein Open-Air-Konzert in die Berliner Waldbühne. Das wurde abgesagt! Laut Berliner Morgenpost: Das Galakonzert „Shakespeare’s Stars“ des französischen Opernstars Roberto Alagna in der Waldbühne am 6. September ist abgesagt worden. CTS Eventim als Betreibergesellschaft der Waldbühne hat dafür produktionstechnische Gründe angegeben. Der direkte Veranstalter Ramfis Production mit Sitz in Spanien und Frankreich hat sich am Freitag zu der Absage nicht geäußert.. Dem Vernehmen nach fand aber auch nicht gerade ein Run auf die Karten statt… G. H.

Aber dafür kommt er im Oktober an die Deutsche Oper für seinen Vasco de Gama von Meyerbeer (ab 4. Oktober). Passend dazu erscheint nun für Deutschland seine neueste CD, die bereits im letzten Jahr in Frankreich herausgekommen ist. Die jüngste Platteneinspielung von Roberto Alagna trägt den anspruchsvollen Titel „Ma vie est un opéra“, das hat zwar nichts mit „L’état c’est moi“ zu tun, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da unterschwellige Assoziationen zum Sonnenkönig hervorgerufen werden sollen. Der beweihräuchernde Text des Booklets (übrigens nur in Französisch) verstärkt diesen Eindruck. Da kein Autor dafür angegeben ist, stammt er vermutlich aus dem Familienbetrieb der  Alagnas (General Manager: Marinelle A., Arrangement der „Orpheus“Arie [?] David A., Stimm- und Musikberater: Frédérico A.)….. Keinem der Mitarbeiter ist jedenfalls aufgefallen, dass Leoncavallos populärstes Werk nicht „I Pagliacci“ heißt, weil es ohne den bestimmten Artikel auskommt. Und das Titelphoto der unter der Flagge der DG herausgekommenen CD ist schlicht scheußlich, was einem adorierenden Personal offenbar nicht auffällt.

Roberto Alagna - Jugendeindrücke/aus dem Booklet der CD "Ma vie est un opéra" bei DG

Roberto Alagna – Jugendeindrücke/aus dem Booklet der CD „Ma vie est un opéra“ bei DG

Doch nun zum nur 52,04 Minuten dauernden Programm (die Dauer muss man selbst ausrechnen, da sie nicht angegeben ist): Es handelt sich um eine recht wilde Mischung, in der, mit einer Ausnahme, die französischen Beiträge als Sieger hervorgehen. Die Ausnahme ist Lenskis „Kuda kuda“, das von Alagna zwar in französischer Übersetzung (das hätte er ja auch mal im Original lernen können), aber sehr stilgerecht und berührend interpretiert wird. „Inspire-moi, race divine“ aus Gounods Reine de Saba mit seiner typisch französischen Form der Dramatik macht Gusto auf mehr aus dieser Oper und wird ebenso kompetent gesungen wie „Adieu donc“ aus Massenets Hérodiade mit seiner in Sinnlichkeit getränkten Religiosität. In diesen Stücken erweist sich Alagna als würdiger Nachfolger eines Georges Thill. Es bräuchte wohl immer solche Kaliber, um diese Werke wieder ins Repertoire zu bringen, auch für Sigurd von Reyer, vertreten mit „Esprits, gardiens de ces lieux vénérés“. Eine Arie aus Le dernier jour d’un condamné à mort von Bruder David A. steht ganz in der Tradition der spätromantischen Oper französischen Stils.

Als einziger deutschsprachiger Beitrag (in verbesserungswürdigem Deutsch) gibt es „Magische Töne“ aus Goldmarks Version der Königin von Saba zu hören, wo der Schluss im ungücklich geratenen Falsett verstörend wirkt und man deutlich hört, dass sich Alagna hier vergriffen hat und akut an seinem Deutsch arbeiten muss – der Lohengrin ist eine lange Partie, wenn er ihn denn wirklich singen will.

Roberto Alagna - Le Populair,  dem Booklet der CD "Ma vie est un opéra" bei DG

Roberto Alagna – Le Populair, aus dem Booklet der CD „Ma vie est un opéra“ bei DG

Italien beteiligt sich mit zwei Arien aus Puccinis Manon Lescaut, die sehr schön gelingen, und mit „Addio fiorito asil“ aus der Butterfly, wo ich das Gefühl hatte, das Aufnahmestudio habe bei den Spitzentönen etwas nachgeholfen. Weiter gibt es Rossinis Danza, welche mit großer Virtuosität und Lebensfreude gesungen wird. In Donizettis Roberto Devereux sah sich der Sänger leider veranlasst, seine derzeitige Lebenspartnerin Aleksandra Kurzak mit einzubeziehen, die eine Elisabetta piepst, an der man keine Freude haben kann, während Alagna in der Titelrolle wunderbar frisch klingt. Die schon erwähnte Orpheus-Arie wird in der italienischen Fassung schön unsentimental dargebracht. Zum Verismo kehrt man mit Canios „Vesti la giubba“ zurück, das ohne Tränendrücker bravourös gesungen wird, mit einem zu Herzen gehenden, fast geflüsterten „Tu sei pagliaccio“.

Als eine Art Crossover ist, wieder zusammen mit der Kurzak, „A la luz de la luna“ von 1913, mit dem seinerzeit etwa Caruso und Schipa brillierten, zu hören. Alagna weiß Stücke der leichten Muse immer besonders gut zu präsentieren, so auch dieses.

Als Fazit kann gesagt werden, dass die Stückauswahl unter dem Motto „Quer durch den Gemüsegarten“ steht, Alagna aber nicht nur eine bestechende vokale Form aufweist, sondern sich auch (zumindest auf Platte) die mediterrane „solarità“ (was mit „Sonnenschein“ nur sehr unzureichend zu übersetzen ist) seiner Stimme zurückerobert hat. Angesichts seiner Leistung und der französischen Raritäten jedenfalls absolut zu empfehlen. Das Booklet sollte man besser nicht lesen, zumal Kleinstschrift in Weiß auf Schwarz/Braun eh ein Augenpulver ist und schon die Bestellnummer kaum zu lesen ist: DG 4911352, aufgenommen im September 2014.  Eva Pleus