Sebastian Weigle gilt als Sachwalter der Opern von Richard Strauss. Wo immer er diese Werke dirigiert, sind ihm freundliche Kritiken sicher. Die Frau ohne Schatten, 2003 an der Oper Frankfurt von Christof Nel in Szene gesetzt und von Weigle musikalisch betreut, brachte ihm die Auszeichnung als Dirigent des Jahres ein. Mit einer Wiederaufnahe im Herbst 2014 hat er an diesen Erfolg anschließen können. Ein Mitschnitt, der jetzt beim Label OehmsClassics herausgekommen ist (OC 964), legt davon Zeugnis ab. Wie dem Booklet zu entnehmen ist, wurde eine ganze Serie, die sich über zwei Monate erstreckte, aufgenommen. Techniker an den Mischpulten konnten sich daraus bedienen. Sie bevorzugten eine radikale Variante. Publikumsgeräusche sind eliminiert. Es wird weder gehustet, geräuspert oder geraschelt, und gibt keinen Beifall, was etwas schade ist. Aktschlüsse im Opernhaus geben dem Publikum die Möglichkeit, sich von Spannungen durch einen Aufschrei der Begeisterung zu befreien oder aber eine weniger gelungene Leistung mit einen scharfen Buhkonzert zu quittieren. So ist das seit jeher auf dem Theater. Ich habe noch keine Frau ohne Schatten erlebt, bei der es nach dem Ende des zweiten Aufzuges keine lautstarke Entladung im Publikum gegeben hätte – so wie ein Donnerschlag nach einem gewaltigen Blitz. „Übermächte, sind im Spiel! Her zu mir!“ Auf die Beschwörung der Amme, zu der das Färberhaus in Stücke gerissen wird, folgt nun Stille wie nach den Vier letzten Liedern. Da fehlt mir was. Das ist wie Strandspaziergang ohne Meeresrauschen. So zu tun, als sei die Liveaufnahme dem Studio entsprungen, erweist sich wieder einmal als die unvollkommenste Lösung bei der Verwertung von Mitschnitten.
Dennoch. Die zusammengestückelte Aufführung sitzt. Es läuft alles glatt. Mit seiner Interpretation hat Weigle die inzwischen sehr lange Liste von Mitschnitten und Studioproduktionen des Werkes, das seinen Ausnahmewert und Festspielcharakter längst eingebüßt hat, bereichert. Wer eine Neigung zu diesem schwierigen Stück besitzt, wird um die Anschaffung nicht herum kommen. Sie lohnt sich. Auch wegen der Sänger, die einen guten Job machen, auch wenn ich mir hier und da etwas mehr Farbe, Persönlichkeit und Individualität gewünscht hätte. Als kaiserliches Paar treten Burkhard Fritz und Tamara Wilson auf, ihre Pendant aus der arbeitenden Bevölkerung sind Terje Stensvold und Sabine Hogrefe als Barak und seine Frau. Die Amme wird von Tanja Ariane Baumgartner gesungen, der Geisterbote von Dietrich Volle. Alle sind bestens aufgelegt, scheuen aber das Risiko. Als wollten sie keine Fehler und ja alles richtig machen. Vielleicht haben den Sängern die Mikrophone zu sehr im Nacken gesessen. Bei allem Respekt vor der vorzüglichen Gesamtleistung, die Produktion wirkt weichgespült.
Weigle gelingt eine sehr geschlossene Darbietung, die niemals in Einzelteile zerfällt, obwohl das Werk von vielen Einzelteilen lebt, sinfonischen wie sängerischen. Er hält den viel beschworenen Bogen, wählt ein Tempo ohne Hast, welches es den Sängern gestattet, ihre Partien verständlich auszusingen. Sie werden das sehr zu schätzen gewusst haben. Es gibt immer Stellen und Szenen, auf die das Publikum im Saal oder am Lautsprecher gebannt wartet. Ob es nun der Gesang der Wächter zum Ende des ersten Aufzuges ist oder die Violine vor dem großen Auftritt der Kaiserin im dritten. Weigle isoliert diese betörenden Momente nicht, nimmt sie als Teil des Ganzen. Plötzlich sind sie da. Etwas weniger spektakulär und prominent, weil das, was sie vorbereitet, auch nicht vernachlässigt wird. Dieser Dirigent richtet alle Aufmerksamkeit aufs Ganze. Deshalb klingt seine Aufnahme sehr geschlossen.
Striche habe ich nicht ausmachen können. Es wird die komplette Fassung gespielt, einschließlich des vollständigen Melodrams der Kaiserin. Das ist so vorbildlich wie riskant, weil die Sänger auch hörbar an ihre Grenzen kommen, je weiter der Abend voran schreitet. Stehen sie erst einmal auf der Bühne, können ihnen weder Techniker mit ihren Mischpulten, noch der Dirigent Weigle selbst helfen. Sie müssen da durch. Über weite Strecken herrscht eine vorbildliche Wortverständlichkeit, wie das bei diesem Werk leider nicht immer der Fall ist. Im hochdramatischen Hin und Her zwischen Kaiserin, Amme, Barak, dessen Frau und mehreren geheimnisvollen Erscheinungen in dritten Aufzug ist dann kaum mehr etwas zu verstehen. Es geht drunter und drüber, wie in der sich zuspitzenden Handlung selbst. Auch ein nachträglich bearbeitetet Mitschnitt kommt hier an seine Grenzen. Produktionen aus dem Studio klingen naturgemäß klarer, weil es bei der Aufnahme bessere Möglichkeiten gibt, die Stimmen auseinander zu halten, zu experimentieren, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt. Ein Mitschnitt bleibt ein Mitschnitt. Rüdiger Winter