Archiv des Autors: Geerd Heinsen

CHARMANT, GALANT UND HOMOGEN

 

André Campra steht zeitlich zwischen Lully und Rameau und will nicht so richtig aus deren Schatten treten. Er begann als Kirchmusiker, seine erste Oper L’Europe galante (1697) gilt als erstes maßgebliches und beliebtes Werk der Gattung Opéra-ballet, das über Jahrzehnte in Paris gespielt wurde. Bereits 1973 nahm Gustav Leonhardt Auszüge diese Oper mit La Petite Bande für Schallplatte auf. In der Folge versuchte man wiederholt, Campra zurück ins Rampenlicht zu holen: bspw. Jean-Claude Malgoire spielte 1986 Campras Tragédie lyrique Tancrède (1701) ein, William Christie und Les Arts Florissants 1991 Idoménée (in der Version von 1732). 2011 erschien Campras zweite Opéra-ballet Le carnaval de Venise (1699) in einer schönen Aufnahme Hervé Niquets und seines Concert spirituel, 2015 erneut Tancrède mit dem Ensemble Les Temps Présents dirigiert von Olivier Schneebeli.

Die Neueinspielung des L’Europe galante entstand im November 2017 in Versailles und ist die erste Gesamtaufnahme bei der eigenen Firma Chateau de Versailles Spectacles. Das Genre der Opéra-ballet hatte schon zuvor Prototypen, bspw. 1695 Le Ballet des Saisons von Pascal Colasse. Besonders ist bei Campra, daß seine Oper weder mythologische oder antike noch allegorische Helden als Hauptfiguren hat, sondern in Abfolge Liebesgeschichten erzählt. Die Liebe in vier Ländern wird besungen, man sieht und hört eine Länderreise als Revue in vier Akten mit vier eigenständigen kurzen Handlungen und einem Vorspiel, das das Thema vorgibt. Die Charakterisierung der Länder bildet Kontraste, der französische Akt ist pastoral, eine nächtliche Serenade für Spanien, ein italienischer Maskenball und farbiges Kolorit im osmanischen Serail. Die barocken Stimmungen schwanken, mal charmant, mal launisch, edelmütig und schwärmerisch, eifersüchtig und temperamentvoll. Die einzelnen Nummern sind stets kurz, die Handlungen sind durch Divertissements unterbrochen, die orchestralen Zwischenstücke, Chöre und Tänze setzen auf Abwechslung, Schwung und instrumentale Raffinesse – das Anhören ist kurzweilig, aber genrebedingt ohne Spannungsbogen. Rameaus bekanntes Opéra-ballet Les indes galantes nimmt nicht nur im Titel Anleihen bei Campra.

Musiziert und gesungen wird in dieser Einspielung charmant, galant und homogen. Fünf Sänger singen 18 Rollen, Sopranistin Caroline Mutel als etwas zu wenig verführerische Venus und die warm timbrierte Mezzosopranistin Isabelle Druet als Discorde bestimmen den Prolog, die kanadische Sopranistin Heather Newhouse als spröde Schönheit Céphise, Isabelle Druet als Doris und der vielfältig einsetzbare Bassist Nicolas Courjal mit durchgängig schöner und ausdrucksvoller Stimme als Silvandre stellen das Dreiecksverhältnis des französischen Akts dar. Tenor Anders J. Dahlin – ein bemerkenswerter haut-contre – als Dom Pedro und Nicolas Courjal als Dom Carlos rivalisieren in Spanien unter den Balkonen. In Italien prägen dunkle Leidenschaft und Eifersucht die Liebe Octavios (Nicolas Courjal) zu Olimpia (Isabelle Druet). Und im Serail verliebt sich die Sklavin Zaïde (Isabelle Druet) in Sultan Zuliman (Nicolas Courjal), der Roxane (Caroline Mutel) nicht mehr begehrt. Sébastien d’Hérin dirigiert das mit 28 Musikern besetzte Ensemble Les Nouveaux Caractères, der Eindruck ist frisch und lebendig. Die Ouvertüre schreitet zeremoniell tänzelnd und pompös, als ob dem Sonnenkönig gehuldigt wird, danach hört man eine Interpretation mit viel Sinn für Details, bei der die jeweils aufspielenden Einzelinstrumente oft im Vordergrund sind. Die 18 Chorsänger haben einiges zu tun und meistern ihre Aufgabe souverän. In der Summe eine gelungene und lückenschließende Einspielung mit vielen Stärken, bei der man bestenfalls anmerken kann, dass manchmal ein pastoser Pinselstrich fehlt, der etwas mehr Kontur verleiht (2 CD,  Château de Versailles Spectacles, CVS002). Marcus Budwitius

Gruppengedenken

 

Vielleicht hätte Giuseppe Verdi doch ein neues Libera me für seine Messa da Requiem komponiert, hätte er gewusst, dass mehr als hundert Jahre nach seinem Brief an seinen Verleger Ricordi mit dem Vorschlag, die damals berühmtesten Komponisten Italiens sollten ein Requiem für den verstorbenen Rossini schreiben, dieses zwar komponierte, aber nie gespielte Werk doch noch im Jahre 1988 vom Leiter der Stuttgarter Bachakademie, Helmuth Rilling, uraufgeführt werden sollte. Auf jeden Fall – Mercadante hatte sich Verdi als einen von zwölf Mitstreitern gewünscht, doch dieser sagte wegen Hinfälligkeit ab. Zeitgenössische Opern- und Kirchenmusiker (die man in Teilen – wie Cagnoni oder Nini – heute von ihren Opern in Martina Francas Festival der jüngeren Jahren kennt) sagten zu, doch die von Verdi vorgesehene Aufführung in der Kirche San Petronio von Bologna, nach der die Komposition in einem Archiv verschwinden sollte, kam auch wegen des Widerstands der Verleger nicht zustande, nur das vorgesehene Archivieren fand tatsächlich statt. Für die Nachwelt entdeckt wurde sie von David Rosen; Pierluigi Petrobelli, der Leiter des Istituto Nazionale di Studi Verdiani machte sie Helmuth Rilling zugänglich. Nach dem Konzert in Stuttgart fanden noch Aufführungen im Dom von Parma und in Pesaro statt, auch in Frankreich und England spielte man das Werk.

Interessant ist die Messa per Rossini, die Riccardo Chailly im November 2017 in der Scala aufführte, nicht nur, weil sie einen Einblick in das Schaffen der damals bekanntesten Kirchenmusiker Italiens gibt, sondern auch weil man anhand der Veränderungen, die Verdi am Libera me für sein Requiem vornahm einen Einblick in seine Entwicklung als Komponist bekommt. Erstaunt ist man darüber, dass Namen wie BoitoPonchielli oder Faccio fehlen, doch das vorzügliche Booklet zur Aufnahme der DECCA weiß das Rätsel zu lösen. Sie wurden als nicht für reif genug für das Werk empfunden. Immerhin sind die einzelnen Beiträge durchaus von beachtlicher Qualität, insbesondere die Vorspiele und die Chöre, die von den Sängern der Scala so gewaltig wie kultiviert zu Gehör gebracht werden. Das Besondere dieser Messe ist der Einsatz von fünf Solisten, auch ein Bariton ist neben den anderen Stimmfächern vertreten.

Requiem und Kyrie stammen von Antonio Buzzolla, der in Berlin und Venedig wirkte und der ein dramatisches Orchestervorspiel beisteuert, ein eindrucksvolles Arrangement und eine reiche Agogik. Das Dies Irae ist Antonio Bazzini zu verdanken, der die Stimmen durch das Entsetzen peitscht und schließlich in Hoffnungslosigkeit ersterben lässt. Puccini und Catalani waren in Mailand seine Schüler. Auch das Turbam mirum hat eine interessante Orchestereinleitung, der Bariton Simone Piazzola klingt angemessen hohl und dumpf. Carlo Pedrotti, zur Zeit der Komposition Intendant des Teatro Regio, hatte auch in Amsterdam italienische Opern aufgeführt. Quid sum miser komponierte Antonio Cagnoni, wie Verdi an einer Oper über King Lear arbeitend, es klingt wenig geistlich, die beiden Frauenstimmen gehören Maria José Siri, deren aufblühender Sopran höchst angenehm zu hören ist, und dem Mezzosopran Veronica Simeoni. Das Recordare ist Carlo Pedrotti zu verdanken, Begründer der concerti popolari, hier durch einen Chor wie zu einem Opernfinale gehörend auffallend. Das Ingemisco ist  Alessandro Nini, Leiter der Basilica Santa Maria Maggiore in Bergamo und der angeschlossenen Musikschule, zu verdanken, einem Kirchenmusiker, dessen Musik der Tenor Giorgio Berrugi opernhafte, schmachtende Tragik mit schönem Material verleiht. Ein wildes Toben entfesselt der Bass Riccardo Zanellato mit dem sanften Damenchor im Hintergrund in Raimondo Boucherons Confutatis. Der Komponist war mehr noch als durch seine Musik durch seine theoretischen Werke zur Ästhetik berühmt. Der erste Teil wird beschlossen durch das Lacrymosa mit einem nicht enden wollenden Amen, ansonsten aber wohl einer der schwächeren Beiträge trotz des schönen Schwelltons am Schluss. Carlo Coccia hatte seine Meriten eher bei der opera buffa (wenngleich seine jüngst aufgeführte und in operalounge.de besprochene Oper Catarina di Giusa doch tragisches Format aufwies G. H.)

Vergeblich wartet man im Offertorium auf die Feinheiten eines Verdischen Hostias, hier geht es dank Gaetano Gaspari durchweg hochdramatisch zu. Er war Kapellmeister von San Petronio in Bologna, wo die Messe aufgeführt werden sollte. Vielleicht gehörte er auch deswegen zu den drei zunächst als alleinige Komponisten vorgesehenen Künstlern. Rauschhaft klingt das Sanctus mit Sopran und Chor von Piero Platania, innig das Agnus Dei, das der Mezzosopran angemessen singt. Lauro Rossi, nach dem das Theater in Macerata benannt ist, ist der Schöpfer. Die drei Herren zünden die Lux Aeterna an, Teodulo Mabellini, in Oper wie Kirchenmusik zu Hause (und vor kurzem mit einem langen Artikel in operalounge.de gewürdigt), lässt es teilweise a cappella erklingen. Wunderbar zart zeigt der Sopran im Libera me, dass er auch des Singens des Verdischen Requiems würdig wäre.

Riccardo Chaillly und das Orchester (und Chor) der Scala wirken natürlich weit italienischer und weit opernhafter als die Aufnahme mit Helmuth Rilling und werden so vielleicht zu den eigentlichen späten Geburtshelfern des interessant-kuriosen Werks (DECCA 483 4084). Ingrid Wanja    

Keusche Töne

 

Miriam Feuersinger und Franz Vitzthum sind die Solisten in der Einspielung von Christoph Graupners Duo-Kantaten bei CHRISTOPHORUS (CHR 77427). Sie werden begleitet vom sechsköpfigen Capricornus Consort Basel, das unter der Leitung von Peter Barczi für zarte, liebliche Klänge sorgt. Die vier Kompositionen für Sopran und Alt schrieb der Komponist, der von 1683 – 1760 lebte, 1712 und 1720. Aus dem Erzgebirge war er als junger Mann an die Leipziger Thomasschule gekommen, wo er eine fundierte musikalische Ausbildung genoss. Von Leipzig ging er nach Hamburg, das mit seinem Theater am Gänsemarkt ein Zentrum des Musiklebens darstellte. Der Komponist Reinhard Keiser spielte bei diesem Unternehmen eine führende Rolle und wurde für Graupner ein neuer Lehrmeister. Bis zu seiner Erblindung 1754 schrieb dieser Werke von hohem musikalischem Niveau. Sie werden heute in der Hessischen Landesbibliothek Darmstadt verwahrt und warten großteils noch auf ihre Wiederentdeckung.

Der Capricornus Consort stellt den vier Kantaten, die hier erklingen, jeweils einen Satz aus dem Instrumentalschaffen Graupners voran, der in der Art einer Sinfonia auf die Vokalwerke einstimmen soll. Diese sanften, ruhig fließenden Stücke sind ebenso wie die Begleitung für die Sänger in den Kantaten auf den intimen Rahmen der Darmstädter Schlosskapelle abgestimmt. Die beiden Sängerinnen, Anna Maria Schober und Margaretha Susanna Kayser, hatte Graupner von der Hamburger Oper abgeworben. Sie hoben im Juni 1712 die beiden Kantaten Demüthiget euch nun und Wenn wir in höchsten Nöthen seyn aus der Taufe. Erstere eröffnet – nach dem Instrumentalstück Le Desire aus der Ouvertüre in F-Dur – das Programm der CD. Sie besteht aus zwei Duetten, einer Arie und einem Recitativo accompagnato, gesetzt in opernhafter Da-capo-Manier. Die österreichische Sopranistin Miriam Feuersinger und der deutsche Countertenor Franz Vitzthum bestechen im eingehenden Duett durch eine geradezu mirakulöse Verblendung ihrer Stimmen. Beide klingen in ihren Soli angenehm gerundet, auch in der exponierten Lage ohne jede Schärfe oder Schrillheit. Meisterhaft beherrscht wird das virtuose Vokabular, seien es Triller, Koloraturen oder Auszierungen, wie das abschließende Duett beweist. Die andere Kantate, die in der Reihenfolge als dritte ertönt, wird von einem Choral eingeleitet, den beide Stimmen unisono singen. Danach folgen zwei Arien, ein Accompagnato und ein Duett. Wieder erstaunt die perfekte Verschmelzung der Stimme des Soprans mit der des Altus.

Die zweite Kantate der Programmfolge ist Waffne dich, mein Geist, zu kämpfen von 1720, die erstmals in der Darmstädter Schlosskapelle zur Aufführung kam. Ihr wird das Affettuoso aus der Trio-Sonate in D-Dur vorangestellt. Auch hier findet man die Kombination aus Arien, Recitativi und einem Duett. Der Altus eröffnet mit einer bewegten Arie, deren Text der Kantate den Titel gab. Die Partie wurde wahrscheinlich für den Kastraten Antonio Gualandi, genannt Campioli, geschrieben, der in Darmstadt engagiert war. Die folgende Arie „Jesu, teure Kraft der Schwachen“ ist ein inniges Largo, in welchem die Sopranistin mit empfindsamem Vortrag berührt. Das finale Duett „Komme, teure Himmels-Gabe“  vereint dann wieder beide Interpreten in einem jubelnden Preisgesang.

Das letzte Beispiel aus Graupners Kantatenschaffen ist Weg, verdammtes Sündenleben. Nach einer Sonata in g-Moll gibt es wiederum die bekannte Zusammenstellung aus zwei Arien, Rezitativen und einem Zwiegesang als Abschluss. Erneut beginnt der Altus mit einem Gesang von sanfter Schönheit und auch dieser Part wurde für den Kastraten Campioli komponiert. Der Sopran hat danach eine Arie von berückendem Wohllaut, während der Schluss beiden Solisten vorbehalten ist. Im Duett „Mein Leben, meine Freude“ können sie noch einmal gebührend jubilieren. Bernd Hoppe

Caligula im Wahn

 

Giovanni Maria Pagliardis Oper  Caligula, die 1672 bei ihrer Uraufführung am Teatro San Giovanni e Paolo in Florenz auf Anhieb erfolgreich war und danach mehr als zehn Jahre in ganz Italien gespielt wurde, gibt ALPHA in einer ungewöhnlichen und sehr reizvollen Produktion mit der Compagnie nationale de Théatre Lyrique et Musical, Arcal, und dem Ensemble Le Poème Harmonique auf Blue-ray Disc heraus (716). Die Aufführung ist von Mimmo Cuticchio für Marionetten konzipiert, welche die Spieler zur Ouvertüre auf der winzigen Miniatur-Bühne von Isaure de Beauval vorstellen und sogleich in einen dramatischen Zweikampf ausbrechen, der die Konflikte der Handlung symbolisiert. Das Stück handelt vom römischen Kaiser Caligula, der sich in die unbekannte Königin Teosena verliebt hat und von ihr ein Porträt anfertigen lassen möchte. Das löst bei Caligulas Gattin, Kaiserin Cesonia, Gefühle der Eifersucht aus. Auch den beauftragten Maler bringt es in Verwirrung, ist er doch kein anderer als Teosenas tot geglaubter Gatte Tigrane, der einen Schiffbruch überlebt und sich verkleidet hat, um in Teosenas Nähe zu gelangen. Aber er muss auch gegen seinen Herrn Artabano, König der Parther, kämpfen, der ihn als Sklaven gekauft und sich gleichfalls in Teosena verliebt hat und sie entführen will. Höhepunkt des Werkes ist Caligulas Wahnsinnsszene, in welcher er seine Gattin verstößt, der alten Amme den Hof macht, sich für Herkules hält, der Diana verfolgt, und schließlich als Hirte den Mond anbetet. Daraufhin setzt der Senat Caligula zugunsten des Patriziers Claudio ab und ruft Cesonia aus ihrem Exil zurück. Tigrane macht seine Ansprüche auf Teosena gegenüber Artabano geltend, der nicht begreift, dass die Königin einen Sklaven ihm vorzieht. Überraschend kommt Caligula, der sich bis auf das Blut verletzt hatte,  wieder zu Verstand und kehrt zu seiner Gattin zurück, womit das lieto fine gesichert ist.

Das zauberhafte Spiel der Pupi von Cuticchios Teatro die Pupi figlie d’Arte gibt der Aufführung einen ganz eigenen Zauber. Die Sänger sind ausgewiesene Barock-Spezialisten, so der Tenor Jan van Elsacker in der Titelrolle, die Sopranistinnen Caroline Meng als Cesonia und Sophie Junker als Teosena, der Bariton Florian Götz als Artabano und der Countertenor Jean-François Lombard als Tigrane und Claudio. Vincent Demestre leitet Le Poème Harmonique mit großem Gespür für das musikalische Idiom des Frühbarock.

Das Booklet der Ausgabe bietet zwar kein Libretto, aber einen dreisprachigen Einführungstext, darunter auch – oh Wunder! –  in Deutsch. Bernd Hoppe

LICHT UND SCHATTEN

 

Der 1733 in Venedig uraufgeführte Motezuma gehört zu den rekonstruierten Opern Vivaldis, nur der zweite Akt ist vollständig erhalten, der erste und dritte nur teilweise, manchmal finden sich auch noch Fragmente fehlender Arien. Alan Curtis legte 2006 eine schlüssige Einspielung bei Archiv/Deutsche Grammophon  vor, bei der der Vivaldi-Experte Alessandro Ciccolini die fehlenden Stellen ersetzte bzw. Rezitative neu komponierte. Auf dieser Basis wurde 2008 im Teatro Comunale di Ferrara ein Live-Mitschnitt  auf DVD erstellt. Motezuma handelt von der spanischen Eroberung Mexikos durch Cortés und die Niederlage der Azteken und ihres Herrschers. Die Inszenierung (Regie: Stefano Vizioli) belässt die historische Einordnung, man sieht bunte Fantasie-Azteken im Kampf gegen die spanischen Eroberer, Szenenfolge, Tempo und Dramatik stimmen, beide Parteien sind gleichberechtigt, Cortés und Motezuma sind als Gegenspieler auf Augenhöhe. Das Bühnenbild von Lorenzo Cutuli ist durch ein auf dem Boden liegendes großes goldenes Kreuz als Podest gekennzeichnet, das blutverschmiert ist und eine waffenähnliche Spitze hat – Katholizismus und Kolonialismus gehören hier zusammen. Symbolische Farben und  Licht erzeugen Stimmungen, in der Summe sieht man eine schlüssige und homogene Produktion und wem die CD-Einspielung nicht genügt, der wird hier eine anschauliche  Bühnenfassung finden, die auch musikalisch überzeugt. Curtis und Il Complesso Barocco spielen animiert und eloquent ohne Extreme oder Zuspitzungen und verzichten wie gewöhnlich auf Countertenöre. Stimmen und Darstellung passen zusammen, nur ein Sänger der CD-Aufnahme findet sich auch auf der DVD wieder: Vito Priante singt erneut die Titelrolle. Die deutsche Mezzosopranistin Franziska Gottwald singt den Cortés, die interessanteste Figur ist die Mitrena von Mary-Ellen Nesi. Die Liebesgeschichte zwischen Montezumas Tochter Teutile (Laura Cherici) und Cortès‘ Bruder Ramiro (Theodora Baka) ist eher mager, dennoch bietet Motezuma aufgrund seines Themas und Potentials als politische Barockoper spannende Konflikte. 20 Minuten Zusatzmaterial zur Produktion und ein viersprachiges Beiheft werten diese Aufzeichnung weiter auf (2 DVD, Dynamic 33586).

Welten entfernt von Motezuma ist hingegen der ebenfalls bei Dynamic auf DVD erschienene Il Farnace. Keine andere Oper hat Vivaldi so oft überarbeitet, es gibt Versionen aus den Jahren 1727 1730, 1731 und 1732. 1738 änderte der Venezianer erneut für den Karneval des Folgejahrs in Ferrara, in der zum ersten Mal ein Kastrat für die Titelrolle vorgesehen war. Die von Dynamic als DVD herausgebrachte Live-Aufzeichnung erfolgte im Mai 2013 in Florenz und lässt viele Fragen offen. Regisseur Marco Gandini inszeniert semikonzertant: Bühne und Kostüme wirken improvisiert und ohne erkennbaren visuellen Reiz, Metallgestelle, Neonröhren, Affekt und Effekt finden in den Szenen kaum zueinander. Die Sänger singen meistens vom Blatt, die Rezitative hingegen sitzen, es gibt Notenständer an verschiedenen Stellen, die Inszenierung positioniert sie mal hier mal dort. Der Chor singt aus dem Orchestergraben und ist nicht ins Geschehen eingebunden. Visuell wird hier der Oper nichts hinzugefügt außer Alibi-Konstellationen. Wieso man diese Produktion auf DVD veröffentlichte, ist rätselhaft. Tatsächlich scheint sie auch auf CD vorzuliegen. Statt drei gibt es nur zwei Akte – die seltsame Edition von Bernardo Ticci wirft Fragen auf, die das Beiheft nicht ansatzweise beantwortet. Man verwendet die Version von 1738, besetzt die Titelrolle aber nicht mit einem Countertenor. Mary-Ellen Nesi ist eine sehr gute Wahl als Farnace, wie überhaupt die Frauenfiguren Eindruck hinterlassen: Sonia Prina ist Tamiri, Roberta Mameli singt die Gilade und Delphine Galou die Berenice. Die guten Männerstimmen von Magnus Staveland als Aquilio und Emanuele d’Aguanno als Pompeo bleiben dagegen etwas unauffällig. Federico Maria Sardelli dirigiert kein Barock-Ensemble, sondern das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino. Sowohl Curtis bei Motezuma als auch Sardelli bei Farnace wählten die Sinfonia aus Vivaldis Bajazet als Ouvertüre. Der Vergleich geht eindeutig zu Gunsten von Curtis und Il Complesso Barocco aus, die federnder und geschmeidiger musizieren. Auch sonst wird wenig geboten, es gibt kein Zusatzmaterial und lediglich ein zweisprachiges Booklet. Diego Fasolis Einspielung des Farnace von 1738 mit Max E. Cencic bei Erato ist allemal empfehlenswerter, Mary-Ellen Nesi singt dort übrigens die Berenice (2DVD, Dynamic 37670). Marcus Budwitius

Sanfte Klänge

 

Virtuose Musik der venezianischen Renaissance stellt die Sopranistin Ulrike Hofbauer in ihrem Album „Co’l dolce suono“ bei audite (97.731) vor. Begleitet wird sie vom Baseler ensemble arcimboldo unter seinem Gründer Thilo Hirsch. Es sind Kompositionen für Sopran, Blockflöte und Streicher aus dem Künstlerkreis um Silvestro Ganassi, Adriano Willaert und Polissena Pecorina, die allesamt in Venedig wirkten. Mit ihrem silbrigen, reinen Sopran bietet die Solistin den Feunden dieses Genres großen Hörgenuss, so in dem Stück, welches der Sammlung den Titel gab – „Quando do’l dolce suono“ aus dem Primo libro di Madrigali von Jacques Arcadelt – oder der letzten Nummer, „Passa la nave“ von Adriano Willaert wegen  der tiefen Empfindung im Vortrag. Schon im ersten Beitrag, „Il bianco e dolce cigno“, gleichfalls von Arcadelt, becirct die Sängerin mit süßen, leicht getupften Tönen und keuscher Anmut. Einen Text von Petrarca, „Lasciar’ il velo“, vertonte Francesco de Layolle in asketisch strenger Anmutung. Jacquet de Berchem schrieb „O amorose mamelle“ mit orientalisch tönenden Melismen. „Un giorno mi pregò una vedovella“ von Willaert zeugt davon, dass der Komponist sich auch im volkstümlichen Idiom auskannte.

Mehr als die Hälfte der eingespielten Stücke sind reine Instrumentalwerke, welche auf Violen da gamba musiziert werden, die nach Instrumenten der Renaissance rekonstruiert wurden. Man dürfte damit dem Klang der Instrumente in jener Epoche nahe gekommen sein – er ist spröde, aber sehr reizvoll. Da finden sich Stücke von Willaert, wie das von der Blockflöte lieblich umspielte „Amor mi fa morire“, oder Madrigali und Ricercari von Giulio Segni, Giacomo Fogliano und Ganassi. Die sechs Mitglieder des ensemble arcimboldo überzeugen mit ihrem kultivierten Spiel, das viele filigrane Finessen offenbart (Foto oben Hofbauer). Bernd Hoppe

Leyla Gencer

 

Für uns Spätgeborene ist der Name von Leyla Gencer zeitgleich mit dem von Maria Callas. Und es ist wohl wahr, dass sie – die Gencer – darunter gelitten hat, denn sie hatte die solidere Karriere, die interessantere  Bandbreite und vor allem auch das größere, aktive Rollenspektrum. Es ist aber auch wahr, dass die Callas, deren Partien sie zum Teil nachsang (manchmal sogar im selben Kostüm) ihr insofern genützt hat, als dass das neue Interesse am Belcanto, durch die Callas und deren Wirkung geöffnet, der Gencer neue Rollen erschloss. Partien wie Donizettis Catarina Cornaro oder Antonina/Belisario wären ohne das Vorangehen der Callas nicht wahrscheinlich gewesen. Darin lag die große Stärke der Gencer, die sich im Schatten der Callas zur Belcanto-Spezialistin unter der schützenden Hand von Gianandrea Gavazzeni entwickelte, während die Callas der Liebe folgte und (nicht kausal)  ihre Stimme einbüßte.

Leyla Gencer und Carlo Bergonzi in „Lucrezia Borgia“/ Foto kimkimdir.gen.tr 

Die Gencer  (geb. Ceyrekgil, * 10. Oktober 1928 in Istanbul; † 9. Mai 2008 in Mailand) hatte eine im ganzen glanzvolle Karriere, Callas-Schatten hin oder her, und sie schrieb Geschichte an der Met mit ihrer Catarina Cornaro 1974 und andernorts. Aber sie hat auch zu lange gesungen, das muss man ebenfalls festhalten. Ich erlebte sie in den Achtzigern mit einem zu späten Arienabend zum Klavier in Ravenna, und die Missfallensäußerungen des ungezogenen Publikums waren einer so großen Persönlichkeit, einer wirklichen Diva nicht würdig (die Gencer als Diva kann man in dem Stefan-Zucker-Film nacherleben, die berühmte „voce-di-petto“-Diskussion). In ihren früheren Jahren – vor Ende der Siebziger – waren ihre Pianissimo-Töne der Höhe magisch, ihr decrescendo ihr Markenzeichen, ihre ebenso eigenwillige wie betörende Stimme der (zu) vielen Glottis und der energischen Brusttöne ebenso aufregend wie ihr starkes Temperament. Die frühen Dokumente wie die Francesca da Rimini oder auch die Tudor-Königinnen Donizettis sind einzigartig.

Ich muss gestehen, ich hatte stets eine gespaltene Zuneigung zu ihr. Zu oft glitt mir ihre Darstellung in die Manier ab, schliffen die Töne ineinander. Aber eben die frühen Dokumente zeigen sie in ihrer ganzen Kunst. Sie hätte am 10. Oktober 2018 ihren neunzigsten Geburtstag gehabt (sie starb am 9. Mai 2008 in Mailand). Mit etwas Verspätung ist es uns eine Freude, mit  einem der letzten Gespäche, dass unsere Freundin Gina Guandalini im Frühjahr 2000 mit ihr geführt hat, zu erinnern. Sie hat es mehr als verdient. G. H.

 

Für Tausende von Opernfans ist der Name der faszinierenden Sängerin aus  der Türkei, Leyla Gencer, eng verbunden mit der aufregenden Donizetti-Renais­ sance, die mit der historischen Anna Bolena der Callas an der Scala begann. Anna, Maria Stuarda, Caterina Cornaro, Paolina (Poliuto) und vor allem die gebieterische Elisabetta im Roberto Devereux leben seit zwei Dekaden auf den Einspielungen mit der agilen, wechselhaften, farbenreichen Gencer-Stimme. Aber es gab auch eine große Anzahl weiterer „Schöpfungen “ derselben musikalischen Provenienz, so die Medea in Corinto  Mayrs, die Saffo Pacinis und – es scheint, als wäre es erst gestern gewesen – die Primadonna in Gneccos Prova d’una ope­ ra seria. Als die Callas sich zu früh vom Schlachtfeld des Belcanto zurückzog, stürmte die Gencer nach und schuf eine lange Porträt-Galerie von Opern­ Heldinnen, von Mozart bis Smareglia, und in der Folge eine unübersehbare Schar an lautstarken Bewunderern. Heute (2000)  ist die Gencer eine sehr attraktive, sehr betriebsame Frau, die mit Gusto die Probleme des heutigen Opernlebens diskutiert und in einem eleganten Apartment in Mailand lebt.

Was macht Leyla Gencer eigentlich heute? Meine Tätigkeiten sind vielfältig. Als ich die Bühne verließ, wollte ich kein zurück-gezogenes, ruhiges Leben führen. Und nun fühle ich mich so, als ob ich heute mehr arbeite als früher. Seit 1997 gehöre ich der Accademia della Scala an, die Abschluss- Hochschule des Teatro alla Scala, wo ich Lehrerin und Mitglied des Koordinations­-Stabes bin. Wir sind sehr beschäftigt mit der Akademie, und sie nimmt viel Zeit und Mühe in Anspruch. Ich habe mich darauf spezialisiert, die Neuzugänge zu unterrichten, weil ich das schon tat, als ich noch sang. Ich habe mich auch bemüht, meine Erfahrungen an die jungen Sänger der Achtziger weiterzugeben. Damals war ich Direktorin der „Aslico“ (Associazione Lirico concertista) in Mailand, eine alte ruhmreiche Institution, bei der Sänger wie Bergonzi, Cappuccilli, Ricciarelli und viele andere ihre Karrieren begannen. Als ich bei der „Aslico“ war, bauten wir gerade solche Nachwuchssänger wie Pertusi, Sabbatini, Gavanelli oder Colombara auf, um ein paar von denen zu nennen, die mir gerade in den Kopf kommen. Sie sehen also, wie faszinierend es sein kann, den Jungen zu helfen – es macht mir wirklich großes Vergnügen. Als Riccardo Muli und der Scala­ Intendant Carlo Fontana mich baten, dem Stab der Accademia beizutreten und dort interpretazione zu unterrichten, nahm ich mit Freuden an. Ich gab alle anderen Tätigkeiten auf, um mich auf diese hier zu konzentrieren. Ich gebe nie Privatstunden. Nur sehr selten, wenn ein professioneller Sänger Probleme hat und mich um Hilfe bei einer Verdi· oder Donizetti-Partie bittet, aber das ist kaum vorgekommen.

Gibt es Verbindungen zum alten Heimatland, der Türkei? Es gibt mehrere, eine davon ist meine Präsidentschaft des International Festivals seit nunmehr 27 Jahren. Es hat seinen Sitz in Istanbul, dauert fünf Monate und beinhaltet Theater, Kino, bildende Künste, nicht nur klassische Musik. Der Gründer starb vor vier Jahren, und sein Tod hat meine Verantwortung gegenüber dieser Maschinerie nur noch verdoppelt. Es gibt auch einen Leyla­ Gencer-Wettbewerb für männliche und weibliche Stimmen, inzwischen im vierten Jahr. Auch der braucht viel Arbeit und Zeit, bringt aber auch große Genugtuung. Ich bin, was die Zukunft der Oper angeht, sehr optimistisch.

Leyla Gencer als Elisabetta im „Don Carlo“ in Rom/ Foto kimkimdir.gen.tr

Welche Veränderung gibt es in der Welt der Oper, seit Sie eine Anfängerin waren? Die Welt hat sich verändert, wie wir alle wissen. Sie lebt, sie fliegt in großer Eile dahin, und das ist nicht gut für die Musik. Musiker sein ist ein sehr ernsthafter Beruf, bei dem man viel Zeit braucht, um alle Dinge richtig zu machen. Man muss sich der Musik mit Leib und Seele widmen, und das ist heute angesichts der vielen Interessen der jungen Leute außerhalb der Musik kaum mehr möglich. Das Erreichen des Höchstmöglichen in einem Beruf ist heute nicht mehr das oberste Ziel. Man hält mehr von Geld und Luxus als von Kunst. Das ist ein großes Problem, das man kaum lösen kann. Ich versuche meine Schüler in diesem Sinne zu beeinflussen. Ich bin auf meine Schüler der letzten zwei Jahre recht stolz. Während dieser Zeit habe ich mein Bestes getan, dass sie ihren Beruf lieben lernen. Ich bin zuversichtlich, dass wir doch unseren Einfluss auf sie gefestigt haben. Man sollte nie an die Vergangenheit denken, sondern stets in die Zukunft. Wir müssen alle unsere Kraft an die jungen Künstler weitergeben, unsere Erfahrungen mitteilen. Denn auch meine eigene Karriere bestand aus Energie und Erfahrungen.

Hatten Sie während Ihrer eigenen Karriere je Momente von Selbstzweifel oder Enttäuschungen? Man hat immer Zweifel. Man fragt sich über die Richtigkeit des Weges, dem man folgen soll – ich meine in technischer Hinsicht, zum Beispiel, oder in der Wahl der Rollen. Man fragt sich, was die richtige Art zu singen sein mag. Jede Person, der wir begegnen – Lehrer, Dirigenten, Regisseure, Kollegen – gibt uns etwas. Danach muss man klug genug sein, für sich selber zu sehen, was gut ist und was nicht, was der Stimme und der Persönlichkeit hilft, und alles andere muss man fallen lassen. Meine erste Lehrerin war eine Französin, sie war sehr gut, aber ich hatte nicht verstanden, was sie mir beibringen wollte – oder vielleicht war ihre Technik nicht die richtige für mich. Ich habe von vielen gelernt, von einem wunderbaren Cellisten, was ein solfeggio ist, von einem genialen Komponisten, wie man eine Phrase interpretiert. Der Wendepunkt kam mit der (Giannina) Arangi Lombardi. Von ihr lernte ich auf dem Atem zu singen, sul fiato, und das ist für einen professionellen Sänger von elementarer Bedeutung. Natürlich war damals meine Stimme bereits richtig und technisch plaziert, weil ich von Kindheit an gut zuhörte, imitierte und vor mich hin sang. Die Arangi Lombardi hörte mich bei einem privaten Vorsingen und brachte mich in den Chor, damit sie mich unterrichten konnte und um mir einen Lebensunterhalt zu geben. Sie sagte zu mir: „Laß doch das Konservatorium und komm nach Ankara.“ Sie unterrichtete am Opernhaus dort.

Wann merkten Sie zum erstenmal, dass  Ihr ideales Repertoire im frühen neunzehnten Jahrhundert der italienischen Oper lag? Es war die Arangi Lombardi, die mich darauf brachte, weitgehend jedenfalls. Aber ich möchte  doch eines klar machen:  Man soll nicht sein ganzes Leben lang bei einem Lehrer bleiben, wie das heute junge Sänger gerne tun. Mit der Arangi Lombardi arbeitete ich nur ein Jahr lang! Dann ging sie zurück nach Italien, wurde krank und starb – an einer Herzattacke, glaube ich -, die arme Frau. Danach arbeitete und studierte ich alleine weiter. Wenn ich nicht wußte, wie ich einen vocalizzo  ausführen   sollte, versuchte  ich das für mich alleine   zu klären oder fragte einen Repetitor. Wenn  mir eine neue Oper vorgeschlagen wurde, las ich sie durch und entschied dann – ganz  für  mich  alleine  – ob sich  die  Entdeckung  lohnte. Ich muss sagen, daß ich immer von einer immensen  Neugier  gegenüber  aller mir unbekannter Musik besessen war. Alle diese Opern, die ich auszugraben  half, waren ja terra  incognita,  ein  großes  Risiko. Man wusste ja nie vorher: Gibt es einen Triumph oder ein Fiasko. Das waren  wirklich Abenteuer.  Am meisten interessierte mich immer, ob diese Rollen zu mir passten, ob ich sie singen konnte. Zu Beginn nahm ich alles an, meine Nachforschungen waren ohne Ende. Dann beschloss ich, dass das frühe ottocento mein eigentliches Feld war. Und das war so um 1950. Es geschah alles so schnell, alles nach dem einen Jahr mit der Arangi Lombardi. Ich war einfach an allem interessiert, nicht nur an der Musik, und ich wünschte, das wäre bei meinen Schülern auch so. Und ich hätte ebenso gut auch eine große Schauspielerin werden können, wie das eigentlich mein Ideal gewesen war. Ich versuchte genau, das mit all meiner Kraft auf der Opernbühne zu sein.

Leyla Gencer als Antonina in „Belisario“/ Wikipedia

Also, ich nahm natürlich nicht jedes Angebot an, wie das heute junge Sänger tun, damit sie um jeden Preis singen können. Das habe ich nie getan. Ich hatte auch meine Durststrecken, wo das Geld nicht sehr reichlich war. Ich wollte immer auswählen können, immer auch „Nein“ sagen können, um eben solche Rollen von Qualität, die für mich geeignet waren, zu bekommen. Elisabetta im Devereux war ein solches Abenteuer. Plötzlich fand ich mich in San Francisco wieder, wo ich Lucia sang, weil die Callas nicht kommen konnte.  Die ganze Zeit hatte ich mir vorgenommen, die Lucia zu lernen, aber ich kannte die Partie nicht wirklich, ich hatte sie nur auf meiner Repertoireliste für die Agenturen.  Aber das war eine Lüge, und ich musste sie nun in fünf Tagen lernen. Ich hatte großes Interesse an der Partie, weil ich die Wahnsinnsszene täglich zum Einsingen nahm – ich hatte die traditionellen Vokalisen so über! An der Scala waren wir per Vertrag verpflichtet, Rollen zu lernen, die wir nicht akut singen mussten, damit wir als Cover für die aktuellen Sänger auftreten konnten.

Während meiner ersten Saison an der Scala, 1958, wählte ich die Anna Bolena als Coverpartie und studierte die Partie mit Maestro Antonino Viotti, wie es die Callas im Jahr zuvor getan hatte. Ich glaube, auf der Bühne sang ich in Mefistofele in dieser Saison. Als Maestro Gavazzeni die Bolena für die RAI aufnehmen wollte, wählte er mich, weil ich bei ihm studiert hatte und ich in jeder Probe gewesen war. Das war damals üblich. 1960 war ich das Cover für die Callas im Poliuto, und ich sang auch ein paar Vorstellungen. Nun, wo die Wiederentdeckungen früher Verdi- und Donizetti-Opern Mode geworden sind, kann ich wohl sagen, dass auch Robert Devereux durch mich wieder im großen Repertoire ist. In den späten Fünfzigern sang ich dann noch in den Foscari, der Battaglia di Legnano, Macbeth, Gerusalemme und vielen mehr – eigentlich sang ich viel mehr Verdi als Donizetti, obwohl man das kaum glauben mag.

Ich pflegte eine Oper stets mit einem guten Repetitor vorzubereiten, wie wir alle in jenen Tagen. La Scala hatte Tonini und viele andere, zum Beispiel Piazza. Ich debütierte mit dem Devereux am San Carlo in Neapel, aber ich studierte die Oper mit Piazza in Mailand.

Hatten Sie ein besonderes Publikum, eine Lieblingsstadt? Meine Liebe, ich hatte immer ein viel besseres Verhältnis zum Publikum als zu den Theaterdirektoren, und das schließt auch Dirigenten ein! Ich wurde immer vom Orchester, vom Chor, von den Bühnenarbeitern und natürlich vom Publikum geliebt. Wenn ich heute in ein Theater gehe und diese Leute von damals treffe, gibt es jedesmal eine freudige Begegnung. Die Liebe meiner Fans ist für mich noch heute etwas Wunderbares. Und meine Live-Mitschnitte geben mir die Erinnerung an jenes Publikum, das mich damals hörte. Sie machen mich auch bei jenen jungen Hörern bekannt, die mich damals nicht erleben konnten. Diese jungen Leute schreiben mir, um mir zu sagen, dass sie meine Aufnahmen hören, die inzwischen auf CD herausgekommen sind, und sie fühlen sich inspiriert davon. 

Marilyn Horne und Gina Guandalini, unsere Autorin, bei einem Meisterkurs zu Rossini in Rom, den Marilyn Horne gab und über den Gina in dem Online-Opern-Journal Ape Musical 2014 mit einem Interview der Horne berichtete/ Foto Ape Musicale

Und warum so gut wie keine „offiziellen“ Aufnahmen? Ich muss dazu sagen, dass ich nie einen Agenten hatte, meistens setzten sich die Theater mit mir direkt in Verbindung. Die großen Plattenfirmen schlossen mich absichtlich aus, glaube ich. Ich hatte einen Vertrag mit der amerikanischen Columbia, und ich nahm nie eine Note dort auf. Das waren eben große Trusts,  und ihre Absicht war es, nur zwei oder drei große Namen zu „promoten“. Aber damals gab es eben auch viele andere große Sänger, die nur wenige Aufnahmen machten. Ich war ganz überrascht, daß Bongiovanni in Bologna die Bänder meiner Konzerte im Athené in Paris gefunden und als CD herausgegeben hat. Ich erinnere mich gar nicht mehr, wie ich damals geklungen oder was ich überhaupt gesungen habe. Normalerweise höre ich meine Dokumente nicht, weil ich sonst nur meine Fehler bemerke.

Zu meinem Abschied gab es keine geplante „Farewell-Opera“. Ich entschloß mich auf einmal, dass ich nicht weiter Oper singen sollte, einfach so. Ich lehnte nur einfach die eingehenden Angebote ab. Ich hatte damals zu viel Streß, weil ich beim Singen stets alles gab. Das letzte war Gneccos Prova für die Malibran und Pasta – eine Diva nimmt sich selber auf den Arm. Natürlich sang ich danach noch Recitals und Konzerte, also war das kein plötzlicher Abschied. (Übersetzung: G. H.)

Mehr geht nicht

 

Auch zwei Regisseure, Moshe Leiser und Patrice Caurier,  reichen nicht aus, um aus Verdis Giovanna d’Arco ein stimmiges, mitreißendes Operndrama zu machen, dazu ist das Libretto einfach zu dümmlich. Zwar ist es bereits Friedrich von Schiller anzulasten, dass er, obwohl Geschichtsprofessor, der es besser wusste, die historische Wahrheit, den zweifelsfrei überlieferten Schluss, nämlich das Ende Johannas auf dem Scheiterhaufen, in den Tod auf dem Schlachtfeld umwandelte, aber noch schlimmer ist die Reduzierung des Dramas auf einen Vater-Tochter-Konflikt und die Zusammenlegung der Schillerfiguren König und Lionel in eine Person. Die Regie rettet sich in den bereits zum Überdruss bekannten Ausweg, die Geschichte als das Delirium der todkranken Giovanna, an deren Bett der Vater oder auch Arzt wacht, zu gestalten. Dies aber geschieht, und so ist man versöhnt, in ästhetisch sehr ansprechender, phantasievoller Weise, wozu kommt, dass vorzügliche Sänger die drei Rollen ausfüllen.

Die beiden zeitlichen Ebenen, Verdi-Zeit für die Rahmenhandlung und Mittelalter für die Giovanna-Handlung, unterscheiden sich schon allein dadurch voneinander, dass erstere zur Sinfonia als Schwarzweißfilm gestaltet ist. Dieses Prinzip muss natürlich mit dem Aufgehen des Vorhangs aufgegeben werden, aber unschwer lassen sich beide Handlungsstränge dadurch leicht voneinander unterscheiden, dass die Jungfrauen-Geschichte äußerst phantasievoll wie ein Märchen gestaltet ist, mit einem ganz und gar goldenen König auf ebensolchem Ross, mit umwerfend gut gemachten Engels- und Teufelsfiguren, die Giovanna mit ihren Einflüsterungen plagen. Die Bühne von Christian Fenouillat und die Kostüme von Agostino Cavalca sind beste italienische Theaterkunst. Die Schrecken des Krieges werden zwar durch einige Liter Theaterbluts, vor allem was die Engländer angeht, dokumentiert, aber es gibt kein „modernes“ Schlachtfeld wie ein Jahr später beim Attila. Die Doppelbödigkeit der Inszenierung lässt das Stück durchaus gewinnen, es wirkt immerhin interessanter als vor Jahren die Aufführung in Bologna mit Dunn, La Scola und Bruson.

Anna Netrebko ist mit der Kurzhaarperücke sowohl in weißen Leggins wie in güldener Rüstung ganz das pausbäckige, von seiner Sendung überforderte Bauernmädchen, weiß die Figur sehr anrührend zu gestalten, hat wunderbar zarte Töne für die Fatidica Foresta, nur leichte Schwächen in der Intonation am Schluss des dritten Akts und weiß die Vision des vierten Akts kraftvoll und überzeugend zu vermitteln. Eine bedeutende Entwicklung hat Francesco Meli seit seiner Zeit als Rossini-Almaviva durchlaufen. Eine gut tragende mezza voce für Chi più felice amico, ein noch, was das kraftvolle Auftrumpfen angeht, ausbaufähiges Volumen in der Höhe und so viel Charakterisierung, wie sie bei einer Ganzkörpervergoldung möglich ist, machen seine Leistung zu einer sehr annehmbaren. Eine generöse Phrasierung, ein perfektes Legato und ein angenehmes Timbre lassen Carlos Alvarez zu einem würdigen Giacomo werden. Etwas schwergängig ist der Bass von Dmitry Beloselskiy für den englischen Heerführer Talbot, nur kurz ist der Auftritt von Michele Mauro als Delil.

Die größte Stärke dieser Oper sind die machtvollen Chöre des Leids oder Jubels, für die Bruno Casoni den Chor der Scala bestens vorbereitet hat. Das Orchester unter Riccardo Chailly beweist, dass es für die Musik Verdis geschaffen ist, spielt mit slancio, brio und grande passione (DECCA 074 3967). Ingrid Wanja      

Eine Frau mit Vergangenheit

 

Kurt Weill’s One Touch of Venus is generally considered a classic Broadway musical. And rightly so. Still, it has many roots in the world of operetta, going all the way back to Jacques Offenbach and Franz von Suppé who each wrote shows for dazzling divas in a Greek tunica—think La belle Hélène and Die schöne Galathée. The latter also stars a statue from classical antiquity coming to life, causing erotic chaos among mere mortals.

The Kurt Weill version, written in 1943 for Mary Martin, offers great show music for a great star in a great story. “Speak Low” and “I’m a Stranger Here Myself” are only two of many musical highlight. So, not surprisingly, Venus was an instant hit. And many of the operetta composers who were in New York in exile at the time—Emmerich Kálmán and Ralph Benatzky among them—went to see One Touch of Venus and admired it. It was admiration mixed with suppressed envy that Weill managed to get his show(s) produced on Broadway, while most other Europeans had no such luck.

The recording made back then of Venus for Decca is a rather restricted one. You could call it a “mini-album,” with ten tracks featuring Martin and a studio cast. Though it makes for very pleasant listening, it’s not representative of the show and all its glories. And you certainly wouldn’t consider Venus a cousin of operetta heroines such as Hélène and Galathee listening to Mary Martin.

In 1948, a film version came out starring Ava Gardner. It did not include much music, but it made memories of Schöne Galathee come alive when I saw it on DVD.

Of course, the Encores performance in New York City in 1996—starring the young and comparatively unknown Melissa Errico—was a different matter altogether. Not because the then 26-year-old Miss Errico sounds anything you might call “operettic,” but because hearing the entire music (the ballets “Forty Minutes for Lunch” and “Venus in Ozone Heights” included) made you realize what a stylistically diverse score Venus actually is, and that there is room for many influences to be played out, from Barber Shop quartets to, well yes, operetta. After all, Weill came from Berlin and had experienced the boom years of jazz operetta there first hand. They deeply influenced his own style.

The Encored performance of 1996 was not recorded, sadly. Even though everyone raved about it, including the New York Times. And a Japanese recording by the Takarazuka troupe (TMP TMPC-202-3) is not really an alternative.

Why it took the Weill Foundation so long to find a label to undertake a new studio recording, with Melissa Errico, remains their secret. But it finally happened. Steve Suskin reports on Playbill.com: “UK-based Jay Records arranged to make their own studio recording of the score. This turned out to be a long and tortured undertaking, apparently due to problems of financing. Three recording sessions were held in 2000, and then–nothing. Fans of Errico […] waited impatiently as the years turned into a decade. Back they went into the studio in 2012, finally.” It still took another two years to actually release the discs in 2014. (Suskin points out that Errico’s five main songs were all recorded in 2000, with conductor John Owen Edwards. “A good half of the score seems to have been recorded over the last two years, with conductor James Holmes.”)

JAY Records, you might remember, is the label that has issued some beloved operetta albums, for example ENO’s Orpheus in the UnderworldThe Mikado and some other shows such as Countess Maritza and, most famously, the complete Student Prince. You could call their new Venus a welcome addition to the operetta list, even if it took forever to get it recorded, edited and released. So, all’s well that ends well? In many ways, yes.

The full score heard on JAY Records is a marvel. And the cast presented pleasantly “unoperatic.” (In contrast, to let’s say the JAY Records Student Prince.) I especially liked the gangsters singing “The Trouble With Women” with Damon Runyon-ish accents, bringing a cartoonish quality to the show that goes well with the more slapstick (or operetta) side of proceedings.

As for the stars, and particularly Miss Errico, she sounds charming. Even two decades after her original Venus at Encores. My only reservation about this new recording is that it doesn’t have much theatrical flair or noticable personality. It’s very “studio” in style, which isn’t surprising given its history. But it makes listening to the double discs a bit stale at times. Also, the singers are rarely allowed to put more than nuances into their interpretations. I don’t know if someone from the Weill Foundation stood behind them with a shot gun, telling them that it was forbidden to handle Weill’s vocal lines more freely (as Mary Martin certainly did.) Whatever the reason, I feel these talented singers could have easily come up with a more bouncy and liberated version of Venus than heard here. And the National Symphony Orchestra under John Owen Edwards and James Holmes make Weill’s superb orchestrations sound good, but rarely exciting. And sensousness isn’t the top priority here, unfortunately.

But those are small quibbles. Though important ones. To finally have a full—and I truly mean “full”!—recording of One Touch of Venus is marvelous. An achievement everyone involved can be proud of.

I personally would love to hear Melissa Errico tackle Suppé’s Schöne Galathee, maybe in the original English language version. And Brent Barrett as Rodney Hatch—the modern-day barber of 1943 who Venus falls in love with—is a great partner in crime here. He too would make an interesting operetta hero for the more jazzed up side-roads of the genre. But, truth be told, he is no match for, let’s say, Cheyenne Jackson on the recently released new West Side Story. There’s none of the irresistable Jackson swagger in Barrett’s singing. And star quality, vocally speaking, is not spelled with a capital S either. However, that might change if you see him in action and on stage, one day, as Rodney Hatch. Because Mr. Barrett is certainly visually refreshing.

When future generations of operetta researchers will deal with adaptations of classic sagas and antiquity in general, they should include One Touch of Venus in their discussions of OrphéeHélèneIxion (the burlesque spectacle starring Lydia Thompson), Schöne Galathée in the Suppé version and the Max Hansen modernization, and many other glorious operettas. At least, with this new disc available, no one can claim that it’s impossible to actually listen to the music (JAY Records CDJAY2 362). Kevin Clarke (mit freundlicher Genehmigung von Operetta Research Center Amsterdam)

Händel aus Tourcoing

 

Aus dem Jahr 2008 (!!!) stammt ein Live-Mitschnitt von Händels Orlando aus dem Théatre Municipal de Tourcoing. Das Stück auf ein anonymes Libretto nach Ariostos Orlando furioso wurde 1733 in London uraufgeführt und behandelt die üblichen emotionalen Verstrickungen zwischen zwei Paaren. Ritter Orlando ist unglücklich verliebt in die Königstochter Angelica, die dem afrikanischen Prinzen Medoro zugeneigt ist, der wiederum von der Schäferin Dorinda begehrt wird. Für Händels Libretto wurde zusätzlich die Figur des Zoroastro erfunden – ein Magier und Wahrsager, der im Werk als Zeremonienmeister fungiert.

Das Live-Dokument ist durch die Mitwirkung von Christophe Dumaux in der Titelrolle von besonderem Interesse (PC 10392, 3 CD). Den französischen Countertenor, sonst vielerorts auf die zwiespältige Partie des Tolomeo in Giulio Cesare abonniert, in einer heroischen Partie zu erleben, ist sehr reizvoll. Schon in Orlandos Auftrittsarie, „Stimulato della gloria“, nimmt er mit seinem sinnlichen Timbre und der kultivierten Stimmführung für sich ein. Mit schmerzlichem Ton färbt er das Recitativo accompagnato „Imagini funeste“ und brilliert in der nachfolgenden Arie „Non fu già men forte Alcide“ mit mühelosem Fluss der Koloraturen. Orlandos Bravourarie, „Fammi combattere“, steht am Ende des 1. Aktes und Dumaux singt sie mit stupender Virtuosität in den Koloraturläufen und kunstvollen Variationen. Die Arie im 2. Akt, „Cielo!“, interpretiert er mit entschlossener Attacke und gibt den Koloraturrouladen Vehemenz. Die Schönheit und Besonderheit seiner Stimme spiegelt sich eindrucksvoll im Rezitativ „Dove, dove guidate“ wider. Überhaupt bestreitet der Held fast die gesamte zweite Hälfte des  2. Aktes. Von existentieller Verzweiflung erfüllt ist das Rezitativ „Ah stigie larve!“, von kühnen Harmonien das Arioso „Già latra Cerbero“. Eine äußerst flexible Stimmführung verlangt die Arie „Vaghe pupille“, der Counter singt sie betörend und träumerisch entrückt. Kunstvolle Interpretation und stimmliche Schönheit verbinden sich hier auf das Schönste. Starke Kontraste finden sich auch in seinen Soli im 3. Akt – von trancehaft überirdischem Klang „Già per la man“, von vehementer Erregung „Per far, mia diletta“. Schließlich führt Orlando das jubelnde Finale an, welches das lieto fine preist.

Das Niveau des Titelrollensängers erreicht kein anderer Interpret dieser Aufführung. Allenfalls der zweite Counter, Jean Michel Fumas, der den Medoro singt, kommt mit seiner weichen, sensiblen Stimme und dem empfindsamen Vortrag, der freilich gelegentlich die Grenze der Larmoyanz streift, in Dumaux’ Nähe. Besonders mit der Arie im 2. Akt, „Verdi allori“, die an Ruggieros „Verdi prati“ in Alcina erinnert und ein bewegendes Seelengemälde ist, bezaubert er mit schmeichelndem Ton. Die weibliche Hauptrolle der Angelica ist Elena de la Merced anvertraut. Auch sie kann gefallen mit ihrem Sopran, der lyrische Qualität aufweist. „Chi possessore“ singt sie mit kokettem Ausdruck, „Se fedel“ besitzt Nachdruck und Höhenglanz. Ungewöhnlich ist der Schluss des 1. Aktes mit einem Terzett, in welchem sich die Stimmen von Angelica. Medoro und Dorinda kunstvoll verflechten. Bei „Non potrà“ im 2. Akt hört man kämpferische Energie und stürmische Koloraturen. Die sehnsuchtsvollen Seufzer der „Verdi piante“ formuliert die Sopranistin mit berückender Innigkeit und Schlichtheit.

Jean-Claude Malgoire dirigiert den „Orlando“ aus Tourcoing/ Foto CBS

Der Sopran von Rachel Nicolls als Dorinda verfügt über weniger lyrische Substanz. Die Auftrittsarie „Ho un certo rossore“ wird getrübt von bohrendem Ton und heulendem Klang in der hohen Lage. Man hört ihrem Gesang nicht unbedingt gerne zu. Die muntere Arie „O care parolette“ singt sie beherzt, aber im 2. Akt stellt sich bei „Quando spieghi“ wieder der störend weinerliche Beiklang ein. Achtbar gelingt ihr „Amor è qual vento“ im letzten Akt. Auch Alain Buet als Zoroastro kann nicht voll überzeugen. Schon in seinem gewichtigen Auftrittsarioso lässt er einen verquollenen Bariton mit dumpfer Tiefe hören. Sein nächstes Solo, „Mira, e prendi“, ist geprägt von energischem Vortrag, doch sind die Koloraturen verwaschen. Immerhin kann er im 3. Akt bei „Sorge infausta“ durch autoritären Klang punkten.

Jean-Claude Malgoire, der im Jahre 2018 verstorbene französische Dirigent (der ja bereits früher Händel-Aufnahmen in Tourcoing gemacht hat), leitet das von ihm gegründete Ensemble La Grande Écurie el la Chambre du Roy. Schon in der gravitätischen Ouverture mit einem rhythmisch straffen Mittelteil überzeugt das klangvolle Spiel des Orchesters. Diesen Eindruck bestätigt die Sinfonia vor dem 3.  Akt. Und wie sensibel und differenziert der Klangkörper einzelne Arien einleitet und den Sängern damit die denkbar beste Folie liefert für ihre Interpretation, ist beglückend zu hören. Bernd Hoppe

Offenbach: „Les Fées du Rhin“

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Lange hielt sich die Behauptung, Offenbach habe Zeit seine Lebens eine Grand Opéra schreiben wollen und nur mit  Les Contes d’Hoffmann habe er dies erreicht, wobei er die Uraufführung nicht mehr erlebte. Spätestens seit 2002 war es mit dieser Legende vorbei, als erstmals (in Lubljana) die Rheinnixen erstaufgeführt wurden, eine für Wien komponierte veritable Grand Opéra in deutscher Sprache auf ein Libretto nach Nuitter von Offenbach selbst  in der Übersetzung und mit Zutaten weitgehend von Alfred von Wolzogen. Eben da liegt der Diskussionsstoff, denn Offenbach-Spezialist und Herausgeber Jean-Christoph Keck und der Verlag Boosey & Hawk sind der Auffassung, die Oper sei eigentlich eine auf einen originalen französischen Text von Offenbach und Nuitter (dem Librettisten auch des französischen Tannhäuser und anderer Kompositionen) geschriebene Grand Opéra.  Diese Version des Verlages in einer von Christophe Mirambeau vervollständigten Fassung hat als Les Fées du Rhin an der Opéra de Tours im September/ Oktober 2018 ihre Uraufführung gefunden, über die Boris Kehrmann berichtet. Das schweizerische Biel folgte im Dezember 2018 als Koproduktion mit einer veränderten Besetzung, darüber schreibt Samuel Zinsli. G. H.

 

„Les Fées du Rhin“/ Jacques Offenbach/Wiki

Die Uraufführung in Tours: Für die beschränkten Mittel der Opern von Tours und Biel/Solothurn, die – anders als die großen Häuser wie Wien oder Paris – sich für die Uraufführung der französischen Erst-Fassung zusammengetan haben, sind aufwendige  Féerien (davon nachstehend mehr) natürlich schon finanziell unerreichbar. So musste sich Pierre-Emmanuel Rousseau auf eine „realistische“ Lesart in günstigen Gegenwartskostümen einlassen. Rousseau verlegt die Handlung aus der Zeit der Pfälzer Sickingen-Fehde 1522  in die der Bosnienkriege 1992-1995. Die Soldaten tragen die regietheaterübliche Tarnkleidung, die Bäuerinnen Kittel bzw. folkloristische Trachten, die Elfen als Naturgeister Tierköpfe. Das Ballett war zwar zu hören, zu sehen aber waren Projektionen des spielenden Windes in den Blättern, des Mondlichts im Wald, eines – toten? schlafenden? – Mädchens mit geschlossenen Augen. Realistische Baumstämme formten einen schönen Wald. Das Einheitsbühnenbild war natürlich dem knappen Budget geschuldet, erschwerte es aber, den Initiationsweg von der Wirklichkeit einer Winzergemeinde im Nahetal in das Feenreich utopischer Phantasie mit aller Suggestivität nachzuvollziehen.

Die Aufführungen in Tours und ab November/ Dezember auch in Biel, Solothurn, Thun und Schaffhausen unterscheiden sich mit zwei Ausnahmen nicht nur in der Besetzung, sondern auch in der Strichfassung und in der Zweisprachigkeit. Während in Tours nur Bauern- und Soldatenchöre großzügig gekürzt waren, was sich insofern verschmerzen ließ, als der 27-köpfige Chor der Oper Tours ohnehin zu laut für den intimen Saal sang, so kommt es in Biel zu weiteren Strichen. Außerdem werden Vaterlandslied und Frantz’ Romanze entsprechend Offenbachs Vorgabe deutsch erklingen, zusätzlich allerdings auch die Barkarole.

Insgesamt ist der Opéra de Tours aller Respekt zu zollen, dass sie sich überhaupt dieser Aufgabe für nur drei gut besuchte, aber keineswegs ausverkaufte Vorstellungen annahm, vor der alle anderen französischen Bühnen bisher gekniffen haben. Andererseits ist nicht zu übersehen und -hören, dass nicht nur die szenischen, sondern auch die musikalischen Ansprüche des Werks die Möglichkeiten des Hauses übersteigen. So recht wollen sich seidiger Streicherglanz, romantischer Hörnerklang, elfisches Harfenflirren oder das Raffinement des Wiener Walzers beim Orchestre Symphonique Région Centre-Val de Loire/Tours unter der Leitung von Benjamin Pionnier nicht einstellen. Im Laufe des dreidreiviertelstündigen Abends ließen Konzentration und Inspiriertheit der Musiker hörbar nach. Mir zumindest schien es zunehmend so, als versuche man den Dienst nur noch mit Anstand hinter sich zu bringen. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Aufführungen unter Friedemann Layer in Montpellier (2002), Marc Minkowski in Lyon (2005) oder Reinhard Petersen in Cottbus (2006) zerfiel das Mosaik der Partitur in zuweilen auch hölzerne Einzelteile. Für Ulrichs Glockenlied im 3. Akt, das Offenbach später im Fantasio wieder verwendete, wählte Pionnier absurd hektische Tempi.

Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto wie auch oben  Sandra Daveau

Die Solistinnen und Solisten sangen sich im Laufe des Abends frei, stießen aber immer wieder an ihre Grenzen. Die türkische Sopranistin Serenad Burcu Uyar, Début-Preisträgerin 2006, künstlerische Partnerin Fazil Says, heute überwiegend auf frankophonen Opernbühnen tätig und demnächst auch in der Schweiz dabei, verfügt über die nötige Agilität und robuste Kraft für die lyrisch-dramatische Zwischenfachpartie der Laura, vermag aber nicht alle Zierfiguren mit letzter Sauberkeit auszuführen. Ihre gutturale, dunkle Klangfarbe entspricht nicht direkt dem, was man sich unter einer Engelsstimme vorstellt. Mit der zwischen Opferrolle und fluchender Mänade schwankenden Partie der Mutter Edwige haben sich Nuitter und Offenbach an Meyerbeers Fidès orientiert. Kenner des Propheten werden bis in die musikalische Struktur (Trio bouffe; Soldatenchöre) und szenische Details (das Pulverfass, das die Mörderband in die Luft sprengen soll; die Pervertierung eines unschuldigen Jungen zum Bandenführer) hinein zahlreiche weitere Berührungspunkte entdecken. Das heißt aber auch, dass die Fluch- und Klageszenen der Edwige für Marie Gautrot, die sich mit letztem Einsatz durch diese vokal-emotionale tour de force kämpft, eine Nummer zu groß ist. Die grob veristische Stimmführung der sich bis zum letzten verausgabenden Mezzosopranistin führt zu Verhärtungen in den dramatischen Teilen, die Höhen klingen nicht selten schrill. Einmal wagt Gautrot sogar einen realistischen Schrei, um ihre Verzweiflung zu beglaubigen. Anrührend wird diese gepeinigte Mutter, die um das Leben ihrer Tochter kämpft, dennoch nie. Dazu ist die Stimme zu hart.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Poster/ OBA

Der zwischen zwei Welten hin- und hertaumelnde, von unbegreiflichen Ahnungen heimgesuchte, unbehauste Frantz ist ein Part aus der Familie jener lyrisch-sensiblen Tenorhelden, die von Rossinis Arnold über Meyerbeer bis zum Werther reichen und für die neben weicher Linienführung, heldisch-dramatische Reserven und eine tadellose voix mixte unerlässlich sind. All das besitzt Sébastien Droy in Ansätzen. Wirklich frei klingt der engagierte Sänger nie. Besonders in der hohen Lage leidet man mit ihm mit. Ulrich (nach Ulrich von Hutten, Nuitters Hauptinspiration), der in Tours wie in Kecks neuem Klavierauszug seltsamerweise nach der Wolzogen-Version Conrad von Wenckheim heißt, ist ein Kavaliersbariton, dessen Eleganz Jean-Luc Ballestra nur in den undramatischen Stellen, in denen er nicht forciert, zur Geltung bringt. Hier stellt sich das generelle Problem, das auch Werke wie Rossinis Guillame Tell aufgeben, wie ein extrem brutaler Text mit einer poetischen Musik vermittelt werden kann? „Realistischer“ Brutalismus zerstört die Aura der Musik. Regie und Sänger müssen eine Balance finden, die weder die vom Werk vorgegebene reale Brutalität unterschlägt, noch die Weigerung der Komponisten, selbst auch in diese Falle der Brutalität zu tappen. Ballestra bleibt der Dämonie des Bösen Raffinement und Noblesse schuldig und stürmt mit seinem guten Material und unbändigen Bühnentemperament viel zu direkt auf seine Gesangslinien los.

Den unglücklich in Laura verliebten Gottfried, bei dem Offenbach und seine Librettisten sich unsicher waren, ob sie ihn lieber als Pfälzer Winzer oder Jäger zeigen sollten, deutet der Regisseur zum orthodoxen Geistlichen um. Rousseau begründet das damit, dass Gottfried sich mit einem Gebet einführt, Laura, die ihn nicht liebt, christlich entsagt und sein Leben opfert, um die Ebernburg vor den Landsknechten zu retten. Die ständig flehend zum Himmel gereckten Hände des in Talar gehüllten, soliden Bassisten Guilhem Worms machen das Stück aber für meinen Geschmack zu sehr zum katholischen Passionsspiel claudelscher Prägung. Offenbachs Liebeserklärung an die Macht der Fantasie und des Theaters wird bis zur Unkenntlichkeit überlagert, nicht durch den Schluss, wo das knieende Trüppchen mit der mittlerweile regietheaterüblichen Maschinengewehrsalve niedergemäht wird.

Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Alle Einwände entwerten das historische Verdienst der Produktion und den Einsatz aller Beteiligten nicht. Bleibt am Ende die Frage, was der Klang der französischen Sprache mit Offenbachs Musik macht. Der erste Eindruck bei dieser Aufführung war, dass sie den Charakter der Musik nicht so grundlegend verändert hat, wie ich mir das beim Studium des Particells vorgestellt hatte. Das könnte aber auch ein Resultat der Ausführung sein, denn auch jede musikalische Interpretation ist nur eine Interpretation, das heißt die Lesart der Ausführenden und nicht das Werk selbst. Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Marc Minkowski, ein langjähriger Verfechter des Werks, und die Leitung der Oper von Bordeaux waren am 2. Oktober in Tours zugegen. Boris Kehrmann

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Und über die Bieler Aufführung schreibt Samuel Zinsli: Zwei Dinge wusste ich über die Rheinnixen oder Fées du Rhin vor der am 23.12. 2018 besuchten Aufführung in Biel – dass es sich um eine in diesem Jahrtausend wiederentdeckte Offenbach-Oper handelt und dass die Barcarolle (die Barcarolle) ursprünglich für dieses Stück und nicht für Contes d’Hoffmann geschrieben wurde.

Wenn bei Shakespeare Böhmen am Meer liegt, darf bei Offenbach natürlich der Rhein auch in die Adria fließen – nach der schon in den ersten Takten anklingenden Barcarolle begegnen einem noch weitere Bekannte aus dem ebenfalls wiederaufgefundenen vollständigen Venedig-Akt der Contes d’Hoffmann in den Fées du Rhin – Hoffmanns Trinklied singt hier (mit noch brachialerem Text) der Heerführer Conrad, und Lauras Ballade von den Rheinnixen (neben der Barcarolle das zweite musikalische Element, das beinahe als Leitmotiv mit ihnen verbunden ist) erweist sich als Giuliettas Arie mit den irisierenden Vokalisen im Refrain.

Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner in Personalunion Pierre-Emmanuel Rousseau hat eine lauschige Waldgegend auf die Bühne gezaubert, die der Idylle ebenso entspricht wie den beunruhigenden Seiten des romantischen deutschen Waldes – dem Übernatürlichen wie Conrads marodierenden Soldaten. Die Geschichte spielt hier, wie Kostüme und Bewaffnung nahelegen, in einer Gegenwart. Der Gegensatz zwischen realistischer Kriegssituation und eben magischen Phänomenen funktioniert im Heute genauso gut. Noch dazu hält Rousseau die Präsenz der Nixen in einer konsequenten Schwebe. Sehr präsent sind sie schon im Libretto nicht: Meist wird über sie gesungen oder man hört lediglich ihren eigenen Gesang. Ihr einziger vielleicht realer Auftritt zu Beginn des 3. Aktes wird als Vision von durch den Wald wandelnden Frauen mit Tierköpfen hinter einem Gazevorhang gezeigt. Ob die (auch nur akustische) Begegnung Conrads und Franzens mit ihnen (die immerhin die geistige Gesundung des Letzteren und den Gesinnungswandel des Ersteren auslöst) Halluzination oder real ist, bleibt auch offen – allerdings retten die Nixen in Rousseaus Inszenierung am Ende die fünf Protagonist/-innen nicht vor den sie verfolgenden Soldaten, was eher für Halluzination spricht. Das verweigerte Happyend ist gewiss grausam, aber irgendwie folgerichtig.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“/ Poster für die Aufführungen in Biel

Aber zurück zum Anfang. Das Stück beginnt mit einer (Dorf?-)Gemeinschaft, die sich um einen kleinen Kastenwagen im Wald versammelt, in dem (zunächst etwas befremdlich, aber man gewöhnt sich dran) sowohl ein Kruzifix als auch ein Gewehr an der Wand hängen und ein Mikrophon mit Lautsprecher herumstehen. Das Kruzifix benutzt Gottfried (mit frei strömendem, warmem Bass Lisandro Abadie; darstellerisch wirkt er etwas steif, aber das passt ganz gut und kann auch an der Anlage der ab dem 2. Akt doch recht undankbaren Figur liegen) für einen Gottesdienst. (Aber wenn er ein Priester ist, macht das doch seinen Heiratsantrag an Laura unsinnig?).

Ins (natürlich nicht echte) Mikrophon singt Laura zur Unterhaltung der Gesellschaft  (und zum Missfallen ihrer Mutter Edwige, was an Senta und Mary denken lässt) die Ballade von den Rheinnixen sowie einen Hymnus an die Heimat («Du schönes Land», im Unterschied zum restlichen Text auf Deutsch). Serenad Uyar gibt eine patente, selbstbewusste jungen Frau (ihre Balance zwischen Tradition und Aufbruchstimmung pfiffig sekundiert durch ihr Kostüm, eine Kombination aus einer Art Bollywoodrock und einer Nietenlederjacke), die wie die Mutter in der Gemeinschaft durchaus was zu sagen hat. Mit ihrem saftigen, leuchtenden Sopran phrasiert sie schön und gestaltet ausdrucksvoll; auch die Verständlichkeit in beiden Sprachen ist gut. Ein, zwei Spitzentöne sitzen am besuchten Tag nicht ganz sicher, aber das kommt eben vor. Edwige lässt in der ganzen Anlage der Figur mehr an Azucena als an die deutsche romantische Oper denken. Marie Gautrot macht Furore als hagere, etwas verhärmte Version ihrer Tochter, der sie verschweigt, dass ihr Vater ein Vergewaltiger und Soldat gewesen ist. Sie kennt weder stimmlich noch darstellerisch Schonung, ohne ihrem flammenden Mezzo je Gewalt anzutun, singt auch die wildesten Attacken so intensiv wie kultiviert, packt in den schmerzlichen Rückblicken und verhaltenen Klageliedern gleichermaßen. Im Grunde ist sie die Hauptfigur der Oper (ist das immer so oder liegt das an Gautrot?) und überzeugt szenisch noch in den schlimmsten Momenten mit expressiver Wucht. Franz, Lauras Verlobter, der ins Heer eingezogen wurde, dort durch eine Verletzung sein Gedächtnis verloren hat und so mit Conrads Truppen in seine eigene Heimat einfällt, wird hervorragend gesungen von Gustavo Quaresma, der seinen strahlenden, gut fokussierten Tenor flexibel führt und als gequälter Amnesiast schnell Sympathie erringt. Als er durch die Begegnung mit den Nixen allmählich sein Gedächtnis zurückerlangt, sind die Qualen natürlich nicht zu Ende; auch das spielt er ohne Larmoyanz.

Offenbach: „Les Fees du Rhin“/Szene aus der Aufführung in Biel/ Foto Joel Schweizer

Leonardo Galeazzi braucht die Bühne nur zu betreten, und die lauernde Energie Conrads, die in jähe Brutalität umschlagen kann, wird sofort sichtbar – er ist so angsteinflößend, wie er zuvor beschrieben wird. Sein kernig-brillanter, durchschlagskräftiger Bariton tut ein Übriges, der auch biegsam genug für das Trinklied im 1. und die lyrischen Soli im 4. Akt ist. Sein natürliches Spiel macht auch den Gesinnungswandel in diesem letzten Akt so gut wie möglich glaubwürdig. Denn in diesem letzten Akt klappert’s etwas im Libretto – einerseits entstehen hier Längen, wenn die fünf Flüchtigen sich selbst für eine Oper sehr viel Zeit für die Flucht vor den Soldaten lassen, noch ein Gebet einschieben etc.; andererseits ist Conrads Gesinnungswandel reichlich suspekt – der wird durch die Entdeckung ausgelöst, dass Laura seine Tochter ist. Man hat den Eindruck, dass es der Beleg seiner Potenz ist, der ihn berührt, nicht etwa die Wiederbegegnung mit der von ihm hässlich behandelten Edwige. Item, er ist im Finale bereit, sich für Laura, Franz, Edwige und Gottfried zu opfern, und so, wie Galeazzo das singt und spielt, möchte man ihm in der Tat glauben und vergeben. Und hoffen, dass solche Umkehr eines Kriegsbefürworters möglich ist. In der Perspektive wird auch der zum Schluss wieder erklingende Hymnus auf Deutschland genießbar, und das bereits erwähnte Unhappyend markiert wachsame Skepsis.

Als Bauer und blutrünstiger Soldat ergänzt mit Elan Yi-An Chen, und der Chor unter Valentin Vassilev ist wie immer mit begeisterndem Einsatz bei der Sache, v.a. die Herren als stimmstarke und typenreiche Soldateska, während die Damen in ihrem Nixensolo etwas schmal besetzt klingen (zu ätherisch gedacht?).

Am Pult des Orchesters des Theaters Biel Solothurn schafft Francis Benichou als aufmerksamer Begleiter die faszinierende stilistische Mischung zwischen Offenbach, wie wir ihn schon kannten, und der von ihm anverwandelten romantischen deutschen Oper. In der für Biel größtmöglichen Besetzung (mit der kultverdächtigen Harfe im Zuschauerraum) stoßen sie gelegentlich an die akustischen Grenzen des Raums, aber wohl nur, weil sie die Kontraste so plastisch gestalten und dafür eben auch mit hauchfeinen Nixenklängen und einer reichen Farbpalette erfreuen. Samuel Zinsli

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Boris Kehrmann, Dramaturg und Musikwissenschaftler, der sich seit langem mit Offenbachs Oeuvre und eben dieser Oper beschäftigt, macht sich im Nachstehenden Gedanken über Fassung und Zweisprachigkeit sowie über Titel und Genesis dieser spannenden Oper: Wie die meisten Melomanen lernte ich Jacques Offenbachs Oper Die Rheinnixen 2002 durch Friedemann Layers Radio France-Aufnahme für das Montpellier Festival kennen. Der Titel war bekannt. Kein Text zu Les contes d’Hoffmann lässt unerwähnt, dass Offenbach die Barkarole seiner ersten Oper entnommen hat. Das Werk selbst aber war unbekannt, da das (verstümmelte) Libretto nur als Programmheft der Wiener Ur- bzw. Kölner Erstaufführung und die Musik nie gedruckt wurde.

Die Poesie der Musik packte mich vom ersten Augenblick, die humane Botschaft des Stücks war frappierend aktuell in einer Zeit, da Deutschland begann, die Gewalt der Wutbürger als bürgerlichen Widerstand zu verherrlichen, das Schlachten in Bosnien kurz zurücklag, Russland Teile Georgiens annektierte, Kriege und Bürgerkriege in Afghanistan, Darfur, im Nahen Osten und Irak wüteten. Schließlich kamen mir Offenbachs Rheinnixen wie eine Gegendarstellung zu Wagners gewalttätigem Siegfried mit seinem Vergessenstrank vor, was nicht abseitig erschien, da das viel diskutierte Ring-Textbuch Anfang 1863 öffentlich erschien und Wagner Teile der Tetralogie Ende 1862 in einem Wiener Konzert dirigierte. Später stellte sich heraus, dass Charles  Nuitter, der Librettist der Rheinnixen, 1860 Wagners Tannhäuser, 1861 den Fliegenden Holländer übersetzt und 1862 am Libretto der Meistersinger mitgearbeitet hatte, wie Wagner in seiner Autobiografie andeutet. Übersetzungen des Lohengrin und Rienzi folgten 1868 und 1869. Als ehemaliger Rechtsanwalt trieb Nuitter Wagners Tantièmen in Frankreich ein und beriet den Komponisten und seine Frau lebenslang in juristischen Fragen. Ihr 2002 publizierter Briefwechsel zeigt dies in aller Ausführlichkeit. Nuitter war also ein Kenner der Werke und Ideen des Meisters aus engem persönlichem Umgang.

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Offenbach: „Les Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Es geht in den Rheinnixen um einen Mann, der im Krieg den Verstand verliert, im Zustand totaler Amnesie zur unschlagbaren Kampfmaschine mutiert und durch die Macht eines Liedes stufenweise seine Erinnerung wieder- bzw. zur Humanität zurückfindet. Damit ist nicht nur die Unschuld der Kindheit gemeint – die verlassene Braut nennt das Lied in einer Notiz Offenbachs am Rand des Particells zum Duett Nr. 26 „ce chant, qui bercait nos premières ans“ – „dieses Lied, das unsere Kindheit wiegte“  –, sondern auch die Erinnerung daran, dass er Mensch ist. Im so genannten „Vaterlandslied“, dem Kernmotiv und Ohrwurm des Stücks, überlagern sich Menschenliebe, Heimatliebe, erotische Liebe. Frantz verrät nicht nur die Erde und die Heimat, die er verwüstet, sondern auch seine Braut Armgard bzw. in der Urfassung Laura, die er sitzen ließ. „Du, Vaterland, bist meine Braut“, heißt es im Vaterlandslied. Folgerichtig geht es im Stück darum, dass die Braut ihren Bräutigam zurückerobert – mit allen ethischen Konsequenzen. Vaterland und Braut sind auf symbolischer Ebene austauschbar. Frantz‘ Rehumanisierungsprozess vollzieht sich in vier Stufen, die durch seine drei Arien ­- pro Akt  eine – bzw. durch das Duett im letzten Akt bezeichnet werden. Das Duett ist kein konventionelles Liebesduett, sondern eher eine Art Anamnese. Die Liebenden klären die letzten Fragen ihrer wiedergewonnenen Vergangenheit. Dem Ausdruck der Liebe in ihrer überpersönlichen Dimension als Menschen- und Weltliebe dient die Poesie der Musik nicht nur dieses Duetts, sondern des ganzen Werks überhaupt. Auch wenn Offenbach und Nuitter das Motiv des Soldaten, der in der Schlacht sein Gedächtnis verliert und es durch ein Lied wieder zurückerhält, neben weiteren Anregungen Scribe-Boieldieus Dame blanche entnommen hatten (Scribe variierte damit Paisiellos berühmte Nina), schienen mir Offenbachs Wendung ins Ethische, in die große Féerie-Allegorie, und seine Musik singulär zu sein. Nur das gestelzte, grammatikalisch oft falsche, hohle und antiquierte, teilweise auch unverständliche Operndeutsch des Librettos verstellt den Blick auf die Größe des Werkes. Sein Libretto strotzt von Sätzen wie „Mein sei die holde Maid“, wo Offenbach brutal „Non elle est à moi“ komponiert hat, oder Schüttelreimen wie „Wer die Elfen jemals spricht, / der kann leben länger nicht“.

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Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Aubers „Lac des Fées“/ Illustration/ Gallica BNF

Die Quellen: In der spärlichen Literatur zu den Rheinnixen ist zu lesen, Offenbach habe das Stück teils auf Französisch, teils auf Deutsch komponiert. Leider war Jean-Christophe Kecks Ausgabe für den Verlag Boosey & Hawkes / Bote & Bock, die die Wiederentdeckung der Oper ermöglichte, nicht zu entnehmen, welche Passagen in welcher Sprache komponiert wurden und wie der von Offenbach vertonte Wortlaut hieß. Kecks erste Ausgabe von 2002 präsentierte das Werk in der Fassung der Partiturhandschrift, die Offenbach dem Wiener Hoftheater vor Probenbeginn vorlegte. Deren ersten drei Akte werden in zwei Bänden in der Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. verwahrt. In zwei Bänden deshalb, weil die Akte 2 und 3 in der stark gekürzten, nach Offenbachs Aussage „verstümmelten“ Fassung der Uraufführung zu einem Akt zusammengelegt und die Bogen der Handschrift anschließend in einem Band zusammengebunden wurden. Der Registraturvermerk „1941/26“ deutet darauf hin, dass es sich um Naziraubgut handelt. Der 3. Band der autographen Partitur befindet sich in Privatbesitz. Diese drei Bände enthalten das gesamte Werk in deutscher Sprache. Die in Wien gestrichenen Passagen sind durch Streichungen bezeichnet.

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Zu „Les Fées du Rhin“: auch von Auber gab es einen „Feensee“ i.e. „Le Lac des Fées“ in Deutsch, hier der Klavierauszug/ OBA

In der Pierpont Morgan Library befindet sich aber, fälschlich als Vocal score, also Klavierauszug ausgewiesen, das Particell Offenbachs, das den Prozess der Komposition dokumentiert und das mir Frank Harders-Wuthenow vom Verlag Boosey & Hawkes 2017 großzügigerweise in Kopie zur Verfügung stellte. Ihm ist zu entnehmen, dass das nahezu vollständige Libretto von Charles Nuitter in französischer Sprache verfasst und von Offenbach in französischer Sprache vertont wurde. Während der Arbeit schickte Offenbach die fertigen Bögen laufend an Alfred von Wolzogen nach Breslau, der unter die französischen Verse seine deutsche Übersetzung schrieb und sie wieder zurücksandte, damit Offenbach auf dieser Grundlage die Instrumentation fertig-, also das oben beschriebene Frankfurter bzw. im Privatbesitz befindliche Manuskript herstellen konnte. Nicht nur die Schreiberhände im Particell lassen diesen Entstehungsprozess erkennen. Er ist auch durch Briefe und Anweisungen Offenbachs an Wolzogen im Particell selbst dokumentiert. Im 2. Akt hatte Nuitter für Frantz beispielsweise keine Arie vorgesehen. Bei der Komposition spürte Offenbach aber, dass er seinen Helden hier auf der zweiten Stufe seines Gesinnungswandels zeigen musste und komponierte eine poetische Erinnerungsmelodie ohne Worte, über die er für seinen deutschen Übersetzer schrieb: „Il faut deux couplets pour la Romance de Frantz – Hier brauchen wir zwei Strophen für Frantz‘ Romanze“. So wurden zweieinhalb der 29 Nummern des Werks original ohne Text (die eben genannte Romanze) oder auf Deutsch vertont. Zu Letzteren gehört das Finale, wo Offenbach sich bereits mit Kritik der Beteiligten auseinanderzusetzen hatte, und das Vaterlandslied, wo er auf eine eigene Komposition von 1848 zurückgriff. In den Rheinnixen findet nämlich nicht nur Frantz zu seiner Vergangenheit zurück, sondern auch Offenbach. Es ist ein Werk, das einen Kontakt zwischen zwei Welten herzustellen versucht: Vergangenheit und Gegenwart, Deutschland und Frankreich. Insofern hat seine originale Zweisprachigkeit einen tieferen Sinn.

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Nuitters Verse sind im Gegensatz zu denen Wolzogens klar, modern und unsentimental und könnten dem Werk den Weg auf die Bühnen ebnen, das nun erstmals auch sprachlich auf der Höhe seiner Musik und Dramaturgie steht. Sie waren am 28. September 2018 als Welturaufführung in einer Koproduktion der Opern Tours und Biel/Solothurn in dem kleinen Stadttheater der Loire-Metropole zu hören. Trotzdem besteht kein Anlass zum Wolzogen-Bashing. Wer Wolzogens Schriften liest, lernt in dem Vater des Herausgebers der antisemitischen „Bayreuther Blätter“ ((Sohn Hans von Wolzogen gab noch 1930 zu Protokoll, dass er als Kind Orpheus-Fan war und den Komponisten, den er im Zusammenhang mit der Mitarbeit seines Vaters an den Rheinnixen auch persönlich in Breslau kennen gelernt hatte, ungeachtet seiner antisemitischen Auftragswerke für Cosima Wagner immer noch liebte), einen menschlich vornehmen, klugen und fähigen Schriftsteller und Theatermann kennen, der gutes Deutsch schrieb und Offenbachs Vertrauen verdiente. Ihm waren nur wie jedem Opernübersetzer, der die Musik mit ihren musikalischen Sprachakzenten und auskomponierten Satzmelodieverläufen, Silbenzahl und Reimzwang respektiert, die Hände gebunden. Man kann Offenbachs Rheinnixen so wenig nach der deutschen Fassung beurteilen, wie man Rigoletto oder La traviata nach den deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts beurteilen kann.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Maria Taglioni in Nourrits Ballett „La Sylphide“/ Gallica BNF

Dankbarkeit und Bedauern: Nicht hoch genug zu schätzen sind auch die Verdienste des Herausgebers Jean-Christophe Keck und des Verlags Boosey & Hawkes. Ohne sie könnten wir Die Rheinnixen heute weder lesen, spielen, noch hören. Der Verlag erhält keine Fördermittel und keine institutionelle Unterstützung von akademischer Seite zur Realisierung des Mammutprojekts „Offenbach Edition Keck“ (OEK). Boosey & Hawkes / Bote & Bock finanzieren, redigieren und publizieren es im Alleingang von Berlin aus. Jean-Christophe Keck stemmt es von Herausgeberseite als Einmannunternehmen. An allen anderen seriösen Werkausgaben wirken Heerscharen von Herausgebern und wissenschaftlichen Mitarbeitern mit, das heißt zahllose Augen, die Fehler korrigieren, zahllose Köpfe, die knifflige Fragen diskutieren, zahllose Hände, die brauchbare kritische Berichte schreiben. Sie alle fehlen bei der Offenbach Edition Keck. Die Folge sind zahllose Lesefehler wie z. B. der Name des Helden, den die OEK als Folge von Problemen mit dem Frakturdruck als Franz Waldung statt Baldung angibt, was für jene Interpreten nicht unwichtig ist, die der Wagner-Fährte folgen möchten, weil Siegfrieds Schwert in Wagners Nibelungen-Ausgabe von 1863 noch nicht Nothung, sondern Balmung hieß. Inzwischen hat der Verlag die Verlesung auf meinen Hinweis hin korrigiert. Ein Herausgeber-Gremium hätte vielleicht die Fehlentscheidung verhindert oder zumindest begründet, Offenbachs Rheinnixen 2002 einsprachig deutsch herauszugeben und so den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine deutsche Oper. Sie wurde mit der zweisprachigen Neuausgabe unter dem Titel Les Fées du Rhin. Opéra romantique en 4 actes. Livret du Jacques Offenbach et Charles Nuitter. Version française complétée par Christophe Mirambeau 2018 korrigiert. Warum muss die Version française aber von Christophe Mirambeau vervollständigt werden? Warum wird das Kind jetzt mit dem Bade ausgeschüttet und der im Particell deutlich erkennbare Anteil Alfred von Wolzogens am Libretto komplett unterschlagen? Warum ist im Druckbild nicht erkennbar, wo Nuitters Text aufhört und Mirambeaus „Vervollständigung“ anfängt? Ein Kritischer Bericht hätte schließlich aufgelistet, welche Handschriften und Librettodrucke des Werks existieren, wo sie liegen, was sie enthalten, wer sie schrieb, was für einen Werkzustand sie dokumentieren, ob es sich um Dokumente der Entstehung, um Bearbeitungen zu Aufführungszwecken oder um Abschriften zur Verbreitung handelt. Er hätte auch alle Herausgebereingriffe dokumentiert. Leider wird öffentlich zum Beispiel immer noch nicht preisgegeben, wo sich der privat gehortete 3. Band der oben beschriebenen Frankfurter Partiturhandschrift befindet. Eine Untersuchung des 4. Aktes durch die Forschung ist also weiterhin unmöglich, was angesichts der Tatsache, dass das Finale, um das alle drei Autoren rangen, besondere Textprobleme aufwirft, schwer erträglich ist. Der Verlust dieses Bandes würde jede weitere Arbeit unmöglich machen. Gerade die Offenbach-Forschung wurde von solchen Katastrophen aber seit Offenbachs Tod ständig heimgesucht, zuletzt 2009 durch den Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit den Quellen zu den jüdischen, karnevalesken und patriotischen Vereinseinflüssen auf Musik und Musikdramaturgie des Komponisten, sowie 2018 durch den Brand des brasilianischen Nationalmuseums Rio de Janeiro, das die größte Quellensammlung reichen lateinamerikanischen Offenbach-Rezeption und Aufführungsgeschichte des 19. Jahrhunderts enthielt.

 

Zu „Les Fées du Rhin“: Offenbachs Ballett „Le Papillon““/ Illustration/ Gallica BNF

Les Fées du Rhin oder Les Elfes?: Das sind keine akademischen Fragen, sondern solche des Werkverständnisses. Warum heißt das Stück jetzt zum Beispiel auf einmal Les Fées du Rhin, obwohl die Titelheldinnen im Urtext fast immer als „les elfes“ bezeichnet werden? Dies scheint bis Frühjahr 1863 auch Nuitters und Offenbachs Arbeitstitel gewesen zu sein. Les Fées du Rhin taucht im Manuskript erstmals (!!!) als Überschrift zum 4. Akt auf, in der Presse – vermutlich von Offenbach lanciert – erstmals im Pariser Ménéstrel vom 12.4.1863. Die Niederrheinische Musik-Zeitung vom 25.4.1863 übersetzt oder verliest („Fées“, „Filles“) den Titel als Die Rheintöchter und Offenbach verwendet in seinen Briefen stets den Singular La Fée du Rhin, gelegentlich Die Rheinnixe. Die Niederrheinische Musik-Zeitung folgt ihm darin ab dem 8.8.1863. Der Wiener Hofoperndirektion wurde die Partitur am 12.9.1863 unter dem Titel Armgard oder die Geister des Rheins / Armgard ou Les Esprits de Rhin eingereicht, Kaiser Franz Joseph I. erhielt am 25.1.1864 eine Partitur mit dem Titel Die Rheinnixen, womit das Werk seinen finalen Titel erlangt hatte. Im 3. Akt tritt als Chorführerin „Une Fée“ auf, während der Chor als „Les sylphides“ bezeichnet wird. Die Damen und Herren des Chores, letztere hinter der Szene, werden von ihrer Chorführerin als „folles sylphides – wahnsinnige Sylphiden“ herbeigerufen. Lauras Mutter, die zum „Elfenstein“ (!) gekommen ist, um hier ihre in einen Naturgeist verwandelte Tochter nach ihrem Tod wieder zu sehen, bezeichnet die Titelheldinnen in Nuitters Originallibretto als Baumgeister: „A l’ombre de ces pins antiques / ménant leurs rondes fantastiques / les elfes prennent leurs ébats – Im Schatten jener alten Kiefern tanzen die Elfen ihre gespenstischen Reigen und spielen ihre Spiele.“ In der Schlussapotheose schließlich werden, wieder nach Nuitter, alle Arten von Elementargeistern zusammengeführt: „on entend au loin le chant des elfes on voit peu à peu au fond les nuages qui s’ecartent et qui laissent voir les nymphes suspendus dans l’air d’autres glissent sur le Rhin – Man hört in der Ferne den Gesang der Elfen. Im Hintergrund teilen sich die Wolkenschleier nach und nach und enthüllen Nymphen, die [auf Wolkengondeln] in der Luft schweben. Andere gleiten über den Rhein.“ Schauplätze der Elfenakte sind die Tanzplätze der Elfen. Es ist also unzweifelhaft, dass die Autoren kein Stück über Nixen oder Feen schrieben, sondern eines über Nebelgeister, die nordischen Personifikationen des Nebels, der nachts auf feuchten Hochebenen liegt. Als „folles sylphides“ werden sie spezifiert. Warum sie „wahnsinnig“ sind oder wurden, wissen wir aus den einschlägigen Erfolgsballetten La Sylphide (1832) und der am Rhein spielenden Giselle (1842). Die Elfen sind verlassene Bauernmädchen, die an gebrochenem Herzen sterben und sich zur Mitternacht als Revenants oder Wiedergängerinnen auf nebligen Waldlichtungen versammeln, um ihre ungetreuen Liebhaber zu Tode zu tanzen. Genau das geschieht bei Offenbach und Nuitter. Die „Sylphiden“ oder „trügerischen Sylphen mit ihren weißen Flügeln“, wie Ulrich sie im 4. Akt beschreibt, tanzen das erste Mörderbataillon der Landsknechte Ende des 3. Akts sowie ein zweites Ende des 4. Akts zu den Felsklippen, wo sie abstürzen, und zwar auf die Musik des „Valse de rayons“, des Walzers der Schmetterlinge im Licht der Sonnenstrahlen aus Le Papillon, dem „conte fantastique“, den Offenbach 1860 für Marie Taglioni, die Uraufführungs- und Starinterpretin von Nourrits Ballett La Sylphide, komponierte. Damit ist die Inspiration für die beiden „Weißen Akte“ der Fées du Rhin auch musikalisch dokumentiert. Ehebrecher im Sinne der Ballette sind bei Offenbach allerdings nur Frantz und Ulrich, der Lauras Mutter Edwige betrog. Beide werden am Ende aber bekehrt und gerettet, weil Offenbach nicht den erotischen Liebesverrat als Skandal aus der Welt schaffen wollte, sondern die Gewalt in Gestalt der Landsknechte. In diesem Sinne variieren die Autoren die Handlung der Ballette. An die Seite des tödlichen Tanzes gesellt sich der tödliche Sirenengesang. „Singt und Tanz“, heißt es im Elfenchor. Das ist eine Kombination, die Offenbach fasziniert zu haben scheint. Sie kommt im Hoffmann in den Gestalten Antonias und Olympias wieder vor. Letztere tanzt Hoffmann fast zu Tode. Tatsächlich apostrophiert auch Edwige die Fées du Rhin – oder wollen wir das Werk lieber Les Elfes nennen? – zweimal als „rächende Sirenen“.

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Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: Kaiser Franz Joseph wurden die Wiener „Rheinnixen“ gewidmet/ Wiki

Eine Vampir-Story: Entscheidend ist der Seitenblick auf La Sylphide/ Giselle für das Verständnis der Oper darum, weil Offenbach vorsah, dass Laura Ende des 1. Aktes wie ihre Ballettschwestern tatsächlich stirbt und Ende des 2. Aktes kraft einer übermenschlichen moralischen Anstrengung als Revenant oder Vampir wieder aus ihrem Sarg aufsteht, um Frantzens Leben zu retten. Die Tote hat in ihrem Todesschlaf nämlich halbbewusst mitbekommen, dass Gottfried die Landsknechte mit Frantz zum Elfenstein führen wird, um sie dort von den Sylphiden in den Abgrund stürzen zu lassen. Davor will Laura Frantz bewahren. Was die Theaterwelt in La Sylphide und Giselle akzeptierte, schien sie in der Oper aber nicht glauben zu wollen. Aus einem von Anton Henseler (Jakob Offenbach, Berlin 1930) publizierten Brief Offenbachs an Wolzogen erfahren wir, der Komponist habe mehrfach mit Nuitter darüber diskutiert, dass „die Situation des jungen Mädchens, das wieder lebendig wird“, zu phantastisch sei. So verfiel er auf die platt-realistische Lösung eines Scheintodes und wies seine Librettisten an, Laura im Duett des 4. Aktes von dem ganzen Geschehen als einem Traum sprechen zu lassen. Das macht die Sache aber nicht glaubwürdiger, da nun nicht mehr zu entscheiden ist, wo dieser Traum anfangen und wo er enden soll. Auf dem Elfenstein erklärt Laura ihrer Mutter, die ihrer verwandelten Tochter ins Reich des Todes gefolgt ist, klipp und klar, dass sie nie wieder in die Welt der Lebenden wird zurückkehren können. Die „Weißen Akte“ der Oper werden nach dem Gesetz des Balletts und der Féerie immer irrealer. Es geht hier um Kunstmärchen, um die Allegorie einer utopischen Welt, in der die Liebe die Gewalt verdrängt. Die Gewalttäter werden buchstäblich aus dem Elfenhain vertrieben. Darum scheint mir eine realistische Lesart verfehlt. Die phantastische Urkonzeption mit der vampirhaften Sylphide, die ihren Geliebten aus der Hand der Rächerinnen verratener Liebe rettet, ist poetisch und theatralisch weit ergiebiger. Allein das 2. Finale, in dem der totenstarre Vampir in seinem Sarg neben sich das Komplott Frantz‘, Ulrichs und Gottfrieds mithört, mit im totenstarren Körper somnambul hin- und herzuckenden Augen, bis es ihm schließlich gelingt, die Totenstarre aufzubrechen, scheint mir theatralisch faszinierend. Lauras Erklärung „ja ich entriss mich dem Todesschlaf, um dich zu retten“ bezeichnet einen moralischen Akt.

Zu Offenbach: die Opéra de Tours/ Innenansicht/ OBA

Dramaturgie der Zweisprachigkeit: Jean-Christophe Keck und der Verlag haben seit 2002 immer betont, dass die Rheinnixen eine französische Oper seien und um französischsprachige Aufführungen geworben. Eine zweisprachige Ausgabe wurde 2007 abgebrochen, weil von Theaterseite kein Interesse bestand. Kein Interesse bestand aber auch deshalb, weil die Theater aufgrund der Wiener Uraufführung und der deutschen Ausgabe glauben mussten, diese sprachlich nahezu unzumutbare Fassung sei das Original. Ein Teufelskreis.

2018 wurde er durch einen neuen zweisprachigen Klavierauszug durchbrochen, der den deutschen Text Wolzogens und den französischen Nuitters „complétée par Christophe Mirambeau“ zur Verfügung stellt. Einzelne Nummern sind in als „version originelle“ „version de Vienne“, „version Nuitter/Mirambeau“ usw. bezeichneten Varianten abgedruckt. Auf der letzten Seite der französischen Librettoausgabe sind Seiten- und Taktzahlen der von Mirambeau ergänzten Stellen aufgelistet. Warum die Ergänzungen nötig sind, was hier im Particell steht, was sie also inhaltlich bedeuten, können Theaterleute aber auch diesem Klavierauszug wieder nicht entnehmen.

Die Opéra de Tours spielte mit einer frankophonen Besetzung eine durchgängig französischsprachige Fassung. Eine Fassung also, die Offenbach nie geschrieben hat. Sie unterdrückt damit die Zweisprachigkeit des Werkes so wie sie im Particell steht. Zu behaupten, Offenbach habe das Werk zweisprachig intendiert, ist sicher falsch. Allerdings hat er auch in anderen Werken mit Zweisprachigkeit gearbeitet. In dem Singspiel La Diva machen zwei deutsche Offiziere der Pariser Titelheldin ihre Aufwartung in ihrer Garderobe und singen auf Deutsch – ein Vaterlandslied! Zweisprachigkeit war also eine Option in Offenbachs Dramaturgie. Warum sollte man sie aufgrund einer weder be-, noch widerlegbaren Herausgeber-Hypothese von vorneherein ausschließen? Warum bevormunden Verlag und Herausgeber künftige Regisseurinnen und Regisseure, Interpretinnen und Interpreten, indem sie ihnen vorenthalten, was Offenbach wirklich geschrieben hat?

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“: die Opéra de Tours/ Kuppel des Saales/ OBA

Zumal Zweisprachigkeit über die oben angedeuteten Aspekte hinaus auch noch in anderer Beziehung Sinn macht. Offenbach komponierte das Vaterlandslied 1848 für einen Kölner Verein, der preußische Hegemonieideen ablehnte und politisch einen deutschen Staatenbund unter österreichischer Führung nach dem Muster des K.u.K.-Vielvölkerstaats propagierte. In diesem Staatenbund sollte unter anderem eine Verfassung ausgehandelt werden, der die Rechte der Bürger einklagbar festschrieb und schützte. Sie sollte ein Instrument der Vermeidung von Gewalt und Kriegen werden, die durch den Bruder des österreichischen Kaisers geschützt wurde. Diesem Kaiser überreichte Offenbach am 25. Januar 1864 in einer persönlichen Audienz die Partitur der Rheinnixen, das heißt, das Vaterlandslied, seine Bitte um eine menschenfreundliche Regelung der deutschen, ja europäischen politischen Verhältnisse, erreichte nach 16 Jahren endlich seinen eigentlichen Adressaten. Warum sollte man diese utopische „Flaschenpost“ aus Paris nach Wien nicht auch sprachlich herausheben dürfen?

Vom Nationalismus zur Auflösung der Nationen aus dem Geist des Theaters: Dieses Vaterlandslied mit dem Refrain „Du liebes Land! Du schönes Land! Du schönes, großes deutsches Vaterland!“ hat es in sich. Offenbach vertonte Hermann Herschs chauvinistischen Text („Die deutschen Mädchen trügen, / Mit keinen welschen Lügen! … Ich lebe dir mein Vaterland, / Ich sterbe dir mein Vaterland“ usw.) 1848, weil er und seine Familie als Revolutionsflüchtlinge Geld brauchten. Vordergründig bat er Wolzogen aus Urheberrechtsgründen, den Text umzuformen, damit Hersch keine Tantièmen beanspruchen konnte. In Wirklichkeit macht das Lied aber auch im Stück textlich eine Metamorphose durch. Aus dem „deutschen Vaterland“ des 1. Aktes wird am Ende der Oper nämlich ein „ewges Vaterland“. Die beiden bekehrten Paare und ihr treuer Freund Gottfried werden am Ende von deutschen Landsknechten eingeschlossen und erkennen, dass die Welt am deutschen Wesen nicht von Gewalt genesen kann. Also rufen sie ein größeres Vaterland an: Das Vaterland aller Menschen guten Willens.

Zu Offenbachs „Fées du Rhin“ an der Opéra de Tours/ Szene/ Foto Sandra Daveau

Pierre-Emmanuel Rousseau, der Regisseur und Ausstatter der Tourer Uraufführung der Originalfassung, sieht darin die finale religiöse Wende des Stücks, die seiner Meinung nach schon im 1. Finale damit angefangen habe, dass sich die Heldin Laura opfert, um das Land vor den einfallenden Landsknechten zu retten. Für ihn wird sie zur Heiligen und Märtyrerin. Wer die Eingeschlossenen bei Offenbach rettet, das ist aber nicht der Liebe Gott, sondern das sind die Elfen. In Nuitters Entwurf des Finales heißt es: „Der Gesang der Elfen dauert an. Die von ihrem Zauber angezogenen Soldaten stürzen in den Abgrund, andere in den Rhein und verschwinden. Frantz, Ulrich, Gottfried und Hedwig nehmen in einem Akt der Dankbarkeit ihren Gesang Du liebes Land wieder auf.“ Offenbach komponiert hier, möglicherweise in Anlehnung an Aubers Schlussapotheose des Lac des fées (1839) eine große Liebeserklärung nicht an Gott, sondern an die Macht der Fantasie und des Theaters. Ein Wolkenschleier nach dem anderen schwebt im Hintergrund in die Höhe und enthüllt auf hinter einander gestaffelten Wolkengondeln ad infinitum immer neue Ränge singender Elfen. Offenbach hat solche Apotheosen zuvor im Olympbild des Orpheus parodiert und später in Werken wie La Diva und Les contes d’Hoffmann als Liebeserklärung an das Theater und die Fantasie erneut gestaltet. Ob diese Apotheose wirklich auf Aubers Lac des fées zurückgeht, wie in der Literatur immer wieder behauptet wird, muss sehr hypothetisch bleiben, da Aubers süßliche Feenoper ein ausgesprochener Misserfolg war und kaum nachgespielt wurde. Boris Kehrmann

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Mit Dank an Wolfgang Denker für die Archivarbeit bei der Bereitstellung von Illustrationen!

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Verquaste Optik

 

Gerade hat Regisseurin Amélie Niermeyer dem Münchner Publikum ihren Verdi-Otello als Drama von weiblicher Stärke und männlicher Schwäche offeriert, da kann man auch schon als DVD ihre aus dem selben Haus stammende Favorite von Donizetti aus dem Jahr 2016 als feministische Kampfansage an die „Liebe als Baustein männlicher Machtspiele“ genießen, wird schließlich im Booklet behauptet, die Königsmätresse Léonor sei den sie umgebenden Männern überlegen, „steht sie ( doch) gleichsam über ihnen“, womit sich die Produktion „genau im Sinne des Komponisten“ bewege. Nun kann man diesen nicht mehr nach seinem Willen fragen, aber dass ihm eine Optik gefallen haben könnte, die sich auf das Hantieren mit einer Unzahl ausgemusterter Stühle, einen Fernand und eine Ines mit Kassenbrille und auch sonst auf unattraktiv getrimmt, eine Hofgesellschaft, in der jeder jeden befummelt und zum Ballett, das hier unsichtbares Fernsehen ist, Oralverkehr erzwungen wird, weckt Zweifel. Deren gibt es in der Originalversion bereits genügend viele, so die plötzliche Begabung zum Feldherrn beim die Muselmanen bezwingenden Fernand, doch alles, was die Schwächen dieser ausmacht, wird mit dem Versetzen der Handlung in die Gegenwart potenziert und geradezu abstrus.

An sich ist die Bühne von Alexander Müller-Elmau, ganz in Stahlgrau, gar nicht übel, die Wände können je nach Bedarf verschoben, aber auch durchsichtig werden, so dass das jeweilige Milieu gekennzeichnet wird, allerdings feiern beim blutenden und sich am Kreuz windenden Jesus Kitsch und Blasphemie gleichermaßen Triumphe. Genauso zum Hals heraus wie die ewigen Stühle auf deutschen Opernbühnen hängen einem die Business-Anzüge für die Herren, die neben dem Hosenanzug für Léonor (Emanzipation!) Kirsten Dephoff zu verantworten hat. Ehrlich gesagt ist man der immer gleich trübseligen, spießigen, faden, lächerlichen, hässlichen und meist dazu noch brutalen Optik auf deutschen ( und leider nicht nur diesen) Bühnen zum Erbrechen überdrüssig. Wenn man nicht in der Lage ist, historisch Bedingtes wie die Ehrpusseligkeit oder das Heilsstreben vergangener Epochen zu verstehen, soll man die Finger davon lassen, statt dem Werk die historische Dimension vorzuenthalten und ihm tatsächliche oder eingebildete Probleme der eigenen Zeit oder Psyche aufzupfropfen.

Wie so oft ist es die Aufgabe der Sänger, den Abend erträglich zu gestalten. Elīna Garanča singt anbetungswürdig schön, insbesondere den Schluss des dritten und den vierten Akt. Der Mezzo ist von feinstem Ebenmaß, hat einen runden Glockenklang und leidet auch nicht darunter, dass sich die Sängerin zu O mon Fernand von einem Stuhl zum nächsten hangeln muss. Dass sie wie meistens kühl wirkt, passt hier, ihr „will ich auf Knien dienen“ allerdings nicht ganz zum vom Booklet bekundeten Emanzipationsstreben.  Ein guter tenore di grazia ist Matthew Polenzani, der durch eine sichere Höhe, feine Piani und ein agogikreiches Singen für sich einnehmen  und der, auch von den weiblichen Chormitgliedern gewaltsam halbnackt ausgezogen, noch überzeugend „meine Seele ist trunken vor Glück“ singen kann. Zum Affen machen muss sich der Alphonse von Mariusz Kwiecien, singt aber stilsicher und in allen Registern mit gleich gut ansprechendem Bariton. Mika Kares ist der in jeder Hinsicht unangefochtene Balthazar mit schlank-sonorem Bass. Wie Ross Anthony, nur mit dem Scheitel auf der anderen Seite, sieht der Gaspar von Joshua Owen Mills aus und trumpft gehörig in seiner Intrigantenrolle auf. Ela Benoit singt die Arie der Ines bezaubernd schön. Karel Mark Chichon begleitet zuverlässig. Eine CD wäre ein größerer Genuss, weil man nicht damit beschäftigt sein müsste, immer wieder die scheußlichen Bilder innerlich zu verdrängen. Muss das auf eine DVD (DG 00440 073 5358)? Ingrid Wanja     

Carlos Feller

 

Mit großem Bedauern hörten wir vom Todes des argentinischen Basses Carlos Feller, der am 21. Dezember 2018 verstarb.  Operngänger in Köln oder Schwetzingen ein absoluter Begriff wegen seiner ungemeinen Spielfreude und seiner phantastischen Darstellungen. Glücklicher Weise ist er auch optisch mit seinen umwerfenden Charakterschöpfungen erhalten geblieben: die Rossini-DVD-Mitschnitte aus Schwetzingen oder Mozarts Matrimonio segreto aus Drottningholm zeigen ihn von seiner allerbesten Seite. Der Ponnelle-Mozart-Zyklus in Köln lebte von seiner Teilnahme. Was für pralle Portraits, was für eine gutsitzende Stimme, was für stilistische Finessen. Dass er nicht nur das Buffofach exemplarisch beherrschte, zeigt der nachstehende Blick auf seine Karriere, wie sich der unersetzliche Kutsch/Riemens aufzeigt. Ein bedeutender Sänger und Charakterdarsteller ist verstorben. G. H.

 

Feller, Carlos, Baß, * 30.7.1923 Buenos Aires; seine Eltern waren aus Polen nach Argentinien ausgewandert. Nachdem er zunächst Zahnmedizin an der Universität von Montevideo studiert hatte, ließ er seine Stimme in der Opernschule des Teatro Colón Buenos Aires bei der Pädagogin Edytha Fleischer ausbilden. Bühnendebüt 1946 am Teatro Colón als Arzt in »Pelléas et Mélisande« von Debussy. Nach ersten Erfolgen in Südamerika kam er 1958 mit der Kammeroper Buenos Aires zu einem Gastspiel im Rahmen der Weltausstellung von Brüssel und blieb nun in Europa. Er war zuerst am Stadttheater von Mainz engagiert, danach 1960-62 am Opernhaus von Frankfurt a.M. und bis 1966 am Theater von Kiel. Dann ging er für die Jahre 1966-69 nach Buenos Aires zurück, kam aber 1969 wieder nach Deutschland und war seit 1973 für mehr als zwanzig Jahre Mitglied des Opernhauses von Köln, zu dessen Ehrenmitglied er 1992 ernannt wurde. Gastspiele an den Staatsopern von München, Hamburg und Stuttgart, an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, an den Opernhäusern von Frankfurt a.M., Mannheim, Kassel und Hannover. Auch zu Gast an der Niederländischen Oper Amsterdam, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, an der Opéra-Comique Paris (1884 als Geronimo in »Il matrimonio segreto« von Cimarosa), am Grand  an einer Israel-Tournee der Kölner Oper teil. Er sang ein sehr vielseitiges Repertoire, wobei er mit besonderer Vorliebe Buffo-Typen gestaltete und allgemein als großer Darsteller galt. Neben den bereits genannten Partien sind hervorzuheben: der Don Magnifico in »La Cenerentola« und der Mustafà in »Italiana in Algeri« von Rossini, der Osmin in der »Entführung aus dem Serail«, der Leporello im »Don Giovanni«, der Baculus im »Wildschütz« von Lortzing, der van Bett in »Zar und Zimmermann«, der Titelheld im »Don Pasquale«, der Dulcamara in »Elisir d’amore«, der Abul Hassan im »Barbier von Bagdad« von Cornelius, der Falstaff in den »Lustigen Weibern von Windsor« von Nicolai, der Wozzeck wie der Doktor in »Wozzeck« von A. Berg und der Kezal in der »Verkauften Braut« von Smetana.

Schallplatten: DGG (Bartolo in »Figaros Hochzeit«, Notar in vollständiger »Rosenkavalier«-Aufnahme), Decca (Alfonso in »Così fan tutte«, Bartolo in »Figaros Hochzeit«), EMI/Capriccio (»Sieben Todsünden« von K. Weill); Warner-Video (»Il cambiale di matrimonio« und »Signor Bruschino« von Rossini).

[Nachtrag] Feller, Carlos; er sang seit 1946 für mehr als zehn Jahre am Teatro Colón Buenos Aires. 1997 gastierte er an der Opéra Bastille Paris als Dr. Grenvil in »La Traviata«, 1998 als Schigolch in »Lulu« von A. Berg, am Théâtre de la Monnaie Brüssel 1998 als Antonio in »Figaros Hochzeit«. [Lexikon: Feller, Carlos. Großes Sängerlexikon, S. 7398 (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 305) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto themoviedb.org)

Gertrude Lawrence

 

Es häufen sich bei operalounge.de die Rezensionen auf dem Gebiet des Leichteren Genres, und angesichts des ausklingenden Jahres 2018 gönnen wir uns deshalb einen weiteren Ausflug in die Gefilde der Operette und des Musicals mit einem Artikel über die große Gertrude Lawrence, für ihre damaligen Zeitgenossen unvergleichlicher Star im anglo-amerikanischen Raum, gefeierte Diva des Broadway und des amerikanischen Films, aber auch der Londoner und Pariser Musik-Szene. Und der Plattenindustrie, bei der bis heute immer wieder ihre Schellack-Aufnahmen verlegt werden.

„The King and I“/ RCA-LP-Cover mit Aufnahmen der originalen Broadway-Besetzung 1951 mit Yul Brunner und Gertrude Lawrence/ opera.blobcrib.com

Gertrude Lawrence: Wie beschreibt man etwas, was fast ausschließlich nur als ein Eindruck im Gedächtnis geblieben ist? Wie Fritzi Massary, die Mistinguette oder Yvonne Printemps war Gertrude Lawrence die Vertreterin eines Darstellertyps, der für eine ganz bestimmte Zeit und damit für einen ganz bestimmten Geschmack stand. Hört man ihre Tondokumente heute, erreicht einen ihre ganz unverwechselbare leichte (Kinder-)Stimme der begrenzten Lage, ihre ebenso unverwechselbare Aussprache und eben ihr Wesen. Unverwechselbar wie die Massary  serviert sie mal die wunderbaren Salondialoge eines Noel Coward, mal die hintergründig-anzüglichen Songs von Porters Nymph Errant, mal die bei jeder anderen schwachsinnig wirkenden Repliken von Addinsels Moonlight is Silver, wo sie Douglas Fairbanks jr. männlich unterstützt.

Gertrude Lawrence ist die Inkarnation des glamourösen Revuestars der Zwanziger und Dreißiger, und ähnlich wie Kurt Weill als Komponist schaffte sie die erfolgreiche Verbindung beider Welten, der Alten und der Neuen. In beiden war sie gleichermaßen ein Star. Selbst in dem fragwürdigen Film über sie (A Star is born), in dem Julie Andrews sehr eindimensional und eben nicht charismatisch die Rolle der Lawrence spielt, spürt man einen Hauch von dieser Zeit, aber eben nur einen Hauch, denn – wie man an den Neuauflagen der Dreißiger-Musicals meistens merkt – eine Zeit, eine Epoche ist mit dem letzten Krieg zu Ende gegangen, die man nicht wieder auferstehen lassen kann. Es ist deshalb bezeichnend – und  auch das gehört mit zu einem Porträt eines solchen Mythos‘ wie der Lawrence – dass Filme wie A foreign Affair oder Stage fright nach Kriegsende möglich sind, wo die einstigen Idole (Marlene Dietrich als Inkarnation der femme fatale) nun zu Karikaturen oder hinfälligen, auch lächerlichen Geschöpfen werden und einer blassen, zutiefst spießigen Person wie Jane Wyman oder Jean Arthur weichen müssen. Die Sünde war domestiziert, die Wertvorschriften standen auf Vaterland und heile Welt am heimischen Herd, nicht mehr auf riskante Nachtausflüge und schöne Frauen in zweifelhaften Situationen.

Noel Coward und Gertrude Lawrence in „Tonight at 8.30″/ das berühmte EMI-Publicity-Foto für die Aufnahmen aus dem Stück/ OBA

Gertrude Lawrence wurde als Gertrud Alexandra Dagmar Klasen am 4. 7. 1898 im Londoner Arme-Leute-Bezirk Clapham geboren. Ihr Vater Arthur stammte aus dem damals dänischen Schleswig-Holstein, ihre Mutter Alice kam aus solideren amerikanischen Verhältnissen und brannte mit dem unsteten, künstlerischen Arthur durch. Gerties (wie sie stets später von ihren Freunden und der Presse genannt wurde) Jugend war von der Trennung der Eltern und den wechselnden sozialen Lebensbedingungen bei ihrer Mutter geprägt, die nicht nur wegen der drückenden Schulden ständig den Wohnsitz (heimlich nachts) wechselte, sondern auch ihre „Bekannten“, so dass Gertie später etwas verwirrend von ihren „Papas“ sprach und damit mehrere meinte. Als tanzendes Kind machte sie mit Babes in the wood 1908 im Londoner Brixton Theatre ihr Bühnendebüt, spätere Aufführungen in anderen Theatern stellten sie auch neben ihre Mutter (als einer von Robin Hoods bärtigen Gesellen!), Mrs. Lawrence hatte ebenfalls die Bühnenlaufbahn eingeschlagen. Nach kleineren Engagements wurde Gertie als Choristin und Understudy für Bea(trice) Lillie in Andre Charlots  Revue  Tabs  verpflichtet,  ging mit ihrer Kollegin eine langlebige Freundschaft ein und nutzte jede Chance, um nun selber herauszukommen. Auf den Überland-Tourneen boten sich dafür viele Gelegenheiten. Und eine erste Freundschaft mit dem jungen Entertainer und Komponisten/Schauspieler/ Dichter Noel Coward stammt aus dieser Zeit – „Noel and  Gertie „wurden später zu einem Weltbegriff im anglo-amerikanischen Theaterleben.

Gertrude Lawrence machte unendlich viele Schellack-Alben, hier Kurt Weills „Lady in the Dark“ bei der späteren EMI

Der ganz große Durchbruch kam mit „Andre Charlot‘ s London Revue of 1924“ am New Yorker Times Square, die  ganz New York auf den Kopf stellte und die „englische“  Mode in Amerika einführte. So eine Art von beinahe kammermusikalischem Musical hatte man hier am Broadway noch nie gesehen, Lawrence, Lillie und der sehr erfolgreiche Jack Buchanan zeigten den Amerikanern „The British way of things“. 1926 wurde ein ähnliches Werk mit diesen dreien am Broadway aufgeführt und Gertie schnell zum unbestrittenen Liebling des Publikums und der Presse. Sie machte Radioshows, 1929 die ersten (nicht sehr erfolgreichen) Filme, spielte nun auf beiden Seiten des Atlantik und verkörperte mit ihrer Kinderstimme der vielfältigsten Ausdrucksmöglichkeiten, mit ihrem Magnetismus und oft auch sehr undisziplinierten schauspielerischen Möglichkeiten eben einen Star.

Gleichzeitig aber ging ihr in zunehmendem Maße jegliche Realitätsnähe in Hinsicht auf Finanzen und menschliche Beziehungen ab. Sie gab das Geld wie ein Weltmeister aus und wechselte ihre Männer wie die Unterwäsche. Ihre Beziehungen waren notorisch und in der Öffentlichkeit gern diskutiert. Nach einer kurzen Ehe noch als unbekanntes Chor-Girl hatte sie einschließlich dem Prince of Wales, dem später abdankenden König Edward, so ziemlich alle erreichbaren Männer der Upper Class, was sie mit Gusto in den USA fortsetzte, dort einschließlich Douglas Fairbanks jr. ebenfalls alle Society -Löwen, bis sie schließlich den Produzenten und Regisseur Robert Aldrich heiratete. Wobei man sich heute angesichts der Fotos fragt, was die Männer an ihr gefunden hatten…

Gertrude Lawrence und Douglas Fairbanks in einer Hollywood-Version der „Bohème“: „Mimi“/ Poster/ OBA

Auf der Höhe ihres Startums spielte sie in den Erfolgsstücken vieler Komponisten und Librettisten. Nachdem „Charlot´s Revue“ (infolge Neondefekt der Reklame am Theater lange Zeit als „Harlot’s Revue“/ i. a. Huren-Revue zu lesen) ein solcher Hit wurde, machte sie Oh Kay von Gershwin, dann Private lives von Coward (wo sie als Amanda neben Coward zum Inbegriff einer Generation wurde), Treasure Girl von Gershw in, den Film The Battle of Paris mit Musik von Porter, Nymph Errant von Porter, Moonlight is Silver von Addinsel, einen Film namens Mimi (La Bohème), Cowards Tonight at 8.30  mit seinen sechs verschiedenen Einaktern, von denen Red Pepper einer der lustigsten ist, u. a. mehr.

Erst 1941 gab sie dann wieder eine große Rolle mit der Liza Elliott in Weill/ Harts Lady in the Dark, einem wahnsinnig erfolgreichen Stück über den American Way of Live, mit  dem sie nach langer Laufzeit am Broadway auch auf eine ebenso lange Tournee ging. Bis zu ihrer letzten großen Partie, der Anna in The King and I mit Yul Brynner –  ein Auftragswerk  an Rodgers/Hammerstein – hatte sie kaum noch etwas richtig zu tun. Gertrude Lawrence starb am 6. 9. 1952  ganz plötzlich an Krebs.

 

Gertrude Lawrence: Idol ihrer Zeit auf dem begehrten Cover des Time Magazine 1941

Das Problem der Gertrude Lawrence wurde das einer Generation: Sie war passé nach Kriegsende! Für eine nachfolgende, jüngere Generation erschien sie nur noch outriert, maßlos übertreibend, altmodisch in ihrem affektierten Sprachsingsang. Sie war auch als Typ altmodisch geworden. Zudem hatte sie sich so an die Allüren eines Stars gewöhnt, war so darauf programmiert, wie ein Star behandelt zu werden, dass sie sich mit dem Sinken ihres Sterns nicht abfinden konnte. So bezaubernd sie viele Kollegen in ihrer Zeit fanden, so bizarr, kapriziös und schlicht zickig fanden sie vor allem später viele, die mit ihr auf dem Theater zusammenarbeiten mussten. Sie war impulsiv und großzügig, aber auch kleinlich und unberechenbar, völlig ohne Maß.

Aber sie war auch die Muse und die Idealbesetzung für viele Komponisten und Produzenten, von einer Poesie ohnegleichen, von einer Bühnenpräsenz und einer Persönlichkeit enormer Dimension, die es ihr sogar erlaubte, so schwierige Stoffe wie The Glass Menagerie von Willliams (nur im Film) oder Pygmalion von Shaw erfolgreich herüberzubringen.

Gertrude Lawrence: bei ASV als CD umgeschnittene Schellack-Aufnahmen

Gertrude Lawrence ist akustisch gut dokumentiert. Wer aber hören will, mit welch unvergleichlicher Delikatesse sie Texte wie Songs gleichermaßen zu einem Ereignis werden lässt, findet reichlich Lawrence auf (inzwischen vergriffenen) schwarzen Platten, namentlich bei der RCA, einiges weniges bei Decca und – besonders Coward und Porter – bei EMI/Warner, auch auf DVDS Cowards, wo sie in Sketchen mitmacht. Und ähnlich wie bei Porters Nymph Errant fällt der Vergleich bei Weills Lady in the Dark  in der Lawrence-Originalversion (Auszüge bei Decca) sehr zuungunsten der späteren Remakes mit anderen aus – weder hat Risé Stevens als Liza Elliott die Leichtigkeit noch die ganz irrwitzige Ver-Rücktheit der Lawrence, noch besitzt die Crew der modernen  EMI­Nymph Errant aus London den Touch und die Hintergründigkeit, eben dieses spezifisch Britische, das die Lawrence stets auszeichnete.  Geerd Heinsen

Im Wiegeschritt durchs Kaiserreich

 

Zuerst also das Buch: Natürlich ist auch Barkouf enthalten. Jener titelgebende Hund von Jacques Offenbachs 1860 an der Opéra-Comique uraufgeführter Opéra-bouffe, der an der Opéra national du Rhin derzeit die Regierungsgeschäfte von Lahore übernimmt. Quasi als hors d’oeuvre zu den diversen Vorhaben, die Köln zum 200. Geburtstag Offenbachs im kommenden Jahr anrichtet. Dorthin wandert der Straßburger Barkouf 2019, allerdings nicht an den Offenbachplatz, sondern in das nach wie vor als Ausweichquartier der Oper dienende Spatenhaus.

Auf einer Pressekonferenz zum Jubiläumsjahr, mit dem die Kölner an ihren bedeutenden Sohn erinnert werden sollen, bezeichnete die Kölner Kulturbürgermeisterin den Jubilar als „Genie der Leichtigkeit“. Das kommt dem Untertitel von Heiko SchonsBuch Jacques Offenbach -Meister des Vergnügens nahe, das sich auf eine Spurensuche in Köln begibt, das Offenbach als 14jähriger verließ, um in Paris zu studieren, wo er den Vornamen Jacques annahm. Im eleganten Wiegeschritt tänzelt Schon zwischen Opernführer, Lebensbeschreibung und Kölner Spurensuche, auf die vor allem die Kölner Offenbach-Gesellschaft Wert gelegt haben dürfte (ISBN 798-3-95540-332-4) und verbindet munter plaudernd Zeitgeschichte und Musik nach dem Muster von Siegfried Kracauers Gesellschaftsbiografie „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“. Er blendet vom mondänen Paris ins karnevaleske Köln und zu rheinischen Gebräuchen als habe Jacques, der Köln nicht allzu häufig mehr besuchte, seine Geburtsstadt stets im Herzen getragen. Hat man sich einmal daran gewöhnt, dass die Anlage des Buches im vor und zurück das Thema umkreist, d.h. die vielen Dutzend Bühnenwerke von Pascal et Chambord von 1839 bis Les contes d’ Hoffmann 1881 zwischen die sechzehn Kapitel einstreut, wird man bestens unterhalten und fühlt sich dennoch, wie nach dem achtgänigen Menu in „Jacques Offenbach à la carte“, nie übersättigt und erfährt quasi nebenbei eine Menge über Werk und Mensch Offenbach, etwa dass sich nicht nur in der Arie des Frantz in Les contes d’ Hoffmann Spuren der Synagogalmusik seines Vaters finden oder der Musikclub Bataclan seinen Namen Offenbachs Chinoiserie Ba-Ta-Clan verdankt.

Kaum ist Jacques in Paris angekommen, hat seine Lehr- und Gesellenjahre am Konservatorium und in den Theater absolviert, sich zum Cellovirtuosen und zusammen mit Friedrich Flotow zum Salonlöwen entwickelt und sein eigenes Theater gegründet, dessen Eröffnung 70 Seiten später vertieft wird, stellt ihn uns Schon als „en Kölsche Jeck?“ vor, was insofern theatergeschichtlich nicht unrelevant sein dürfte, da sich rheinisches Puppenspiel und die Leidenschaft der Rosenmontagsumzüge fürs chinesisch-exotisch-fernöstliche als Inspiration für all jene parodistisch-satirischen Ausflüge in Fantasiestaaten herhalten könnten, wie sie Offenbach liebte. So wie er behände zwischen der Zeit des Bürgerkönigs und dem Zweiten Kaiserreich hin- und herspringt, sich dabei auch mal wiederholt, nähert sich Schon den Inhalten der Bühnenwerke, deren Inhalte er flott und witzig auf den Punkt bringt, unchronologisch natürlich auch hier, befindet er über Fantasio, „Kaum zu glauben, aber wahr: Bayern steht kurz vor dem Staatsbankrott“, über Die Insel Tulipan, „Unter dem Mantel von extrem klamaukiger Frivolität kommt ein Sujet mit queerem Inhalt zu Vorschein“, zu Orphée aux Enfers, „die Eheleute Orpheus und Eurydike haben keinen Bock mehr aufeinander“ oder Daphnis et Chloe, „Völlig ohne Eigennutz unterweist Pan die wieder zur Ruhe gekommene Chloe in den ersten Liebesdingen. Als er einen kräftigen Schluck aus der Pulle des Vergessens nimmt, um seine Stimmung zu steigern, ist die Reifeprüfung beendet. … Das junge Gemüse bleibt mit seinem neuen Wissen allein zurück“, und die Großherzogin tritt auf, „um sich knackige Soldatenpopos anzusehen. Das prachtvollste Hinterteil gehört zu Fritz, mit dem sie das Regimentslied singen möchte“. Schon hält sich nicht nur bei den frivolen Seitenhieben in Offenbachs Werken auf, hat gesucht und gekramt, einzelne Facetten des Lebens („Offenbach und die Frauen“) und der Werke („Offenbach und die féerie“, „Offenbach und die rasselnden Säbel“) beleuchtet und die Entstehung der Offenbachiade auf drei Seiten resümiert und wird trotz des leichten Plaudertons nie geschwätzig (das Buch hat gerade mal 200 Seiten).  Rolf Fath       

 

Offenbach: Publicist and music journalist Heiko Schon. (Photo Private/ ORCA

Und dazu ein Interview mit dem Autor Heiko Schon, das Freund Kevin Clarke vom Operetta Research Center Amsterdam kürzlich mit ihm machte und das sich ebendort auch findet. Danke fürs Überlassen! Ist Ihr Buch Jacques Offenbach – Meister des Vergnügens ein Beitrag zum Offenbach Jahr 2019? Was hat Sie dazu bewogen, zum Jubiläum etwas zu veröffentlichen? (Gibt es nicht schon genug Offenbach-Bücher?) Vor zwei Jahren teilte mir mein Verleger mit, dass Jacques Offenbach in Köln eine Riesenfete zu seinem 200. Geburtstag bekommen soll. Dazu wünschte sich die Kölner Offenbach-Gesellschaft ein Buch über die rheinischen Wurzeln des Jubilars. Das war die einzige Vorgabe – ein Glücksfall für mich. Ich bin im Ostteil Berlins groß geworden und rannte schon als Jugendlicher ins Metropol-Theater und in die Komische Oper, wo man zwangsläufig auf Offenbach stieß. Er verführte mich mit Temperament und spöttisch-spitzem Humor. Von da an habe ich Offenbach regelrecht verschlungen, an manchen Abenden gleich doppelt: Ich ging nach der Aufführung in die Offenbach-Stuben, die es leider nicht mehr gibt, und habe “Popolanis Zauberei” verschwinden lassen – ein Kaninchen in Rotweinsoße. Man kann aber auch bei Lutter & Wegner ganz wunderbar über Hoffmanns Erzählungen philosophieren. Spaß beiseite: Ich habe einen sehr guten Draht zu Offenbach und wollte dieses Projekt unbedingt machen. Bei Bach, Beethoven oder Brahms hätte ich Nein gesagt.

Vorab gibt’s ein Grußwort der Kölner Offenbach-Gesellschaft e.V. . Welche Rolle spielt die (oder spielen die) Offenbach-Gesellschaft_en bzgl. unseres Bildes des Komponisten und seines Oeuvres? (Sehen Sie den Einfluss kritisch? Hat er sich gewandelt?) Eine sehr große und wichtige, würde ich sagen. Wo stünde denn heute die Offenbach-Forschung ohne die Offenbach-Gesellschaft von Bad Ems? Was dort in den letzten Jahrzehnten an fleißiger Pionierarbeit geleistet wurde, kann man doch gar nicht doll genug über den grünen Klee loben. Oder schauen Sie, was jetzt in Köln passiert: Die erst vor drei Jahren ins Licht getretene Offenbach-Gesellschaft geht mit ihrer Initiative “Yes, we Cancan” an den Start – und alle können mitmachen, eigene Ideen verwirklichen, sich für Jacques und seine Werke begeistern. Im Rahmen der dortigen “Entdeckungsreise” werden sogar einaktige Raritäten wie Oyayaye oder Die Insel Tulipatan aufgeführt … das ist doch großartig! Und ich habe gehört, dass es bereits hochfliegende Pläne für die Zeit nach dem Offenbach-Jahr gibt. Aber mehr darf ich dazu leider nicht verraten.

Offenbach President Grant and Jim Fisk watch „La Perichole“ at the  Fifth Avenue Theater in New York, 1869. Illustrated Police Gazette. (Laurence Senelick, Jacques Offenbach and the Making of Modern Culture“ 2018/ Cambridge University Press/ ORCA

Sie haben Ihre Kapitel überschrieben mit „Offenbach und….“, mit austauschbaren Schlagworten. Eines davon ist „Offenbach und die Frauen“.  Da geht es um die außereheliche Affäre mit Zulma Bouffar. Sehen Sie einen neuen Umgang in der Operettenforschung mit dem Privatleben von Komponisten – und dessen Bedeutung fürs Schaffen eines Musikers? Was hat sich da in Bezug auf Offenbach in den letzten Jahren getan? (Ist Operette nicht heile Welt und absolute Anständigkeit?) Wenn ich mich mit Offenbachs Privatleben beschäftige, betrachte ich die Fakten unter gegenwärtigen Aspekten. Ich setze also ein Thema wie Seitensprünge in den heutigen gesellschaftlichen Kontext. Und ich persönlich kann nichts Verwerfliches daran finden, wenn man sich in 36 Ehejahren mal etwas Abwechslung gönnt. Das bringt mir den Mensch Jacques Offenbach sogar näher und macht ihn mir sympathisch. Natürlich spiegeln sich seine Moralvorstellungen überdeutlich in den Stücken wider. Beispielsweise in La Belle Hélène, in der sich eine typische Oh-Gott-mein-Mann-kommt-nach-Hause-Situation ereignet.

Sie sprechen von Offenbachs „Schwäche für die dominante Weiblichkeit“. Was hat das mit seinen Stücken zu tun? Das zieht sich wie ein roter Faden durch seine Bühnenwerke: Bei Offenbach gibt es Mädels, die aufdringliche Typen abblitzen lassen, Töchter, die sich über den Willen des Vaters hinwegsetzen, Gattinnen, die den Ehemann in die Schranken weisen, eine Hexe, die einen arroganten Prinzen zu Fall bringt, und toughe, starke Frauen wie Boulotte, Périchole oder die Großherzogin von Gerolstein, die die Spielchen der Kerle nicht mitmachen und den Spieß einfach umdrehen.

Warum können die starken Frauencharaktere auch heute noch Sängerinnen interessieren und zu Neuinterpretationen anregen? Weil diese Rollen in keiner Ära kleben geblieben sind und sich zeitlos frisch gehalten haben: Sie altern nicht. Grande-Duchesse & Co. sind komplexe Figuren, die im Handlungsverlauf eine Entwicklung durchmachen und der Sängerin eine prall gefüllte Palette an Gestaltungsmöglichkeiten offerieren. Wenn sie will, kann sie dem Bühnenaffen so richtig Zucker geben. Darüber hinaus darf sie toll komponierte Nummern schmettern, Ohrwürmer wie die Schwips-Ariette oder die Säbel-Couplets.

Sie erwähnen Régine Crespin und Felicity Lott sowie Anne Sofie von Otter als Interpretinnen von Rollen, die für Hortense Schneider geschrieben wurden. Offenbach hat ja La Snédèr verboten, Gesangsstunden zu nehmen. Man kann also annehmen, dass sie nicht wie eine typische Opernsängerin geklungen hat. Müsste die ‚historisch informierte Aufführungspraxis‘ da nicht ganz anders an die Stücke rangehen, als es Marc Minkowsky oder John Eliott Gardiner getan haben/tun Ich halte den Planeten Offenbach für so riesig, dass alle darauf Platz finden, und habe dazu keine eindeutige Position. Mir geht es aber in erster Hinsicht um Glaubhaftigkeit, gerade auf einer Theaterbühne. Offenbach landet ja immer auch im Programmplan von Schauspielhäusern, was ich sehr begrüße. Ich kann mich beispielsweise an Dagmar Manzel als fulminante Großherzogin von Gerolstein am Deutschen Theater Berlin erinnern, obwohl sie – im Gegensatz zu Felicity Lott – keine Opernsängerin ist. Für konzertante Aufführungen oder Einspielungen gelten wiederum völlig andere Regeln. Christoph Marthaler scharte Ende der Neunziger bekannte Schauspieler_innen wie Sophie Rois und Matthias Matschke für La Vie parisienne um sich und konnte einen Bombenerfolg einfahren, die Produktion wurde Kult. Doch trotz des Dirigats von Sylvain Cambreling finde ich den CD-Mitschnitt einfach nur grauenvoll. Da lege ich mir lieber Régine Crespin unter Michel Plasson in den Player. Noch zwei andere Punkte: Offenbach hat gesagt, dass er immer nach Wien geht, wenn er seine Stücke gut aufgeführt sehen will. Das hängt vor allem mit einer Orchestergröße zusammen, von der er in Paris oftmals nur träumen konnte. Folglich existieren für viele Werke verschiedene Fassungen, die unterschiedliche stimmliche Voraussetzungen mit sich bringen. Und dass die Gesangskünste von Hortense Schneider tatsächlich von eher simpler Qualität waren, wage ich zu bezweifeln. Immerhin war sie eine zeitlang als Camille Saint-Saëns erste Dalila im Gespräch.

Offenbach: Die große Hortense Schneider en folie, portrait by Alexis Pérignon/ Wiki/ ORCA

Ein wesentlicher Teil Ihres Buchs besteht aus einer Art „Operettenführer“ mit kurzer Inhaltsangabe und den Rubriken „Was steckt dahinter?“, „Die stärkste Nummer ist…“ und „Zum Reinhören“. Gab’s so was zu Offenbach bislang noch nicht? Nach welchen Kriterien haben Sie die Aufnahmen „zum Reinhören“ ausgewählt? Haben Sie selbst eine Offenbach-Lieblingsaufnahme, oder mehrere? Wenn ja, warum gerade die? Ich stelle in dem Buch 101 Offenbach’sche Bühnenstücke vor – also opéra-bouffes, opéra-comiques, vaudevilles und, und, und -, verteilt auf 16 Kapitel. So schließen sich beispielsweise die opéra-(bouffe)-féerien Le Roi Carotte, Whittington und Le Voyage dans la lune dem Kapitel „Jacques Offenbach und die féerie“ an. Ich schlage hier zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits kann ich hie und da Frohsinn aufblitzen lassen, der durchaus auch rheinischer Natur ist, andererseits fülle ich damit tatsächlich eine Lücke in der Offenbach-Literatur. Eine Biografie liest man – und stellt sie für eine lange Zeit ins Regal. Mein Anliegen war es jedoch, ein Buch zu schreiben, das man immer mal wieder zur Hand nimmt – als Nachschlagewerk bzw. Offenbach-Führer. Dahinter steckt ein großer Aufwand: Um etwa Offenbachs erstes Bühnenstück Pascal et Chambord vorstellen zu können, musste ich die Dialoge des französischen vaudevilles zunächst ins Deutsche übertragen und dann daraus eine nachvollziehbare Handlung stricken. Jetzt zu den Hörgenüssen. Überwiegend haben es alle Aufnahmen ins Buch geschafft, die es gibt, auch solche, die höchstens noch im Antiquariat zu ergattern sind. Wer eine Einspielung zu Les Contes d’Hoffmann sucht, steht vor dem Luxusproblem, unter einer Vielzahl von Aufnahmen wählen zu können. Bei La Romance de la rose oder Dragonette wird’s schon schwieriger. Da findet man höchstens einen Ausschnitt – oder eben gar nichts. Versuchen Sie mal eine CD oder DVD von Offenbachs Meisterwerk Le Roi Carotte aufzutreiben – Pustekuchen! Es würde mich freuen, derartige Löcher in einer späteren Auflage schließen zu können. Im seltenen Fall mehrerer Einspielungen habe ich nach meinem Geschmack entschieden. Eine Lieblingsaufnahme? Ach, da gibt es einige. Die Périchole mit Teresa Berganza und José Carreras zum Beispiel.

Sie empfehlen u.a. auch die deutschen Aufnahmen mit Nicolai Gedda und Anneliese Rothenberger aus der EMI-Serie. Wie passt deren ‚klassischer‘ Stil zu all dem, was Sie über den Exzentriker Offenbach und über seine Uraufführungssänger_innen schreiben, die kleine Stimmen (oder gar keine Stimmen) hatten? Sind wir wieder beim Hortense Schneider-Thema? Selbst wenn ich mich jetzt Ihrer Meinung anschließen würde: Die Frage ist, wie man mit Widersprüchen umgeht. Für mich wäre es nicht in Frage gekommen, eine Aufnahme aus diesem Grund unter den Tisch fallen zu lassen. Denn egal, ob man sie nun mag oder nicht, ob man sie für authentisch hält oder nicht: Sie ist ein Teil der Offenbach’schen Interpretationsgeschichte. In der Rubrik “Zum Reinhören” möchte ich weniger bewerten, sondern vielmehr auflisten, was es überhaupt zu dem jeweiligen Stück gibt. Alles Weitere sollen die eigenen Ohren entscheiden.

Sie gehen recht pauschal übers Thema „Travestie“ hinweg. Gäbe es zu Cross-dressing und auch zu „Gender Trouble“ bei Offenbach nicht etwas mehr zu sagen? (Oder erträgt das die Offenbach-Fangemeinde in Deutschland nicht?) Eigentlich sah der Vertrag einen Umfang von 150 Seiten vor. Ich habe deutlich überzogen, so dass es am Ende 216 Seiten geworden sind. Ich bin meinem Verlag überaus dankbar, dass nichts der Schere zum Opfer fiel. Dennoch war mir von Anfang an klar, dass ich der Gänze Offenbachs nicht gerecht werden kann. Die Einteilung in gebündelte Einzelthemen erschien mir sinnvoll, da ich dadurch sowohl Stationen seiner Karriere als auch Attribute des Karnevals unterbringen konnte. Zu Letzterem zählen Essen, Trinken, Tanzen, Satire, kleine Sünden sowie das Verkleiden, mithin: Travestie. Mir war es an erster Stelle wichtig, die Begrifflichkeiten Mythentravestie, Hosenrolle und Cross-Dressing fein säuberlich voneinander zu trennen, um dann den Bezug zu Offenbachs Werken herzustellen. Ich hätte auf die einzelnen Felder viele Häuschen setzen können, keine Frage. Aber es hätte den Aufbau in eine Schieflage gebracht. Dann lieber ein weiteres Buch, welches allein diese Themen vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet.

Offenbach: Die drei Helenen three famous Helenas in Vienna, in the 1860s, showing their legs to attract male audiences/ ORCA

Sie arbeiten an einem queeren Opernführer mit, der demnächst rauskommen soll. Sehen Sie auch bei Offenbach ‚queere‘ Aspekte, die es lohnt, zu erkunden? (Warum hat das die Operettenforschung und die Offenbach-Forschung bislang kaum interessiert?) Auf jeden Fall. In einigen seiner Stücke stoßen wir auf Verwechslungssituationen mit queerem Inhalt, etwa in Les Braconniers oder L’île de Tulipatan. Von letzterem gibt es eine Einspielung der Light Opera of New York. Schon allein das Cover der CD macht überdeutlich, dass es sich um eine regenbogenbunte Geschichte handelt. Bernd Mottl hat vor ein paar Jahren Fantasio in Karlsruhe inszeniert. Am Ende streifte die Sängerin der Titelfigur mit den Hosen auch ihre Hosenrolle ab und gewann als Frau das Herz der Prinzessin. Und auch in dem Zusammenhang ist die “rôle travesti” zu nennen, die bei Offenbach nun wirklich häufig vorkommt. In Mesdames de la Halle werden die reiferen Marktfrauen üblicherweise mit Tenören oder Baritonen besetzt; den jungen Koch singt eine Mezzosopranistin. Ich kann mir gut vorstellen, dass Barrie Kosky oder Herbert Fritsch daraus ein herrlich schräges Tuntentrash-Spektakel machen würden.

In Meyers Konversationslexikon von 1877 steht, Offenbach habe eine „entsittlichende“ Wirkung auf das Publikum mit seinen „schlüpfrigen“ Kompositionen. Können Sie dieses Verdikt nachvollziehen? Welche Bedeutung kann es für heutige Hörer_innen und Regisseur_innen haben? (Rückt das Offenbach nicht sehr deutlich in Richtung heutiger Popkultur und vielleicht sogar in Richtung Porn Chic? Oder interpretieren Sie das ganz anders?) Das kann ich wiederum nur aus heutiger Perspektive beurteilen. Ich höre aus Offenbachs Musik eine Menge heraus, vor allem Lebensfreude, Verliebtheit, Übermut, Ironie. Aber Schlüpfriges? Möglicherweise klingt sein Galop infernal immer dann schlüpfrig, wenn man vor dem geistigen Auge bestrapste Damen Cancan tanzen sieht. Doch das hat überhaupt nichts mit Offenbach zu tun. Die “entsittlichende Wirkung” kann ich schon eher nachvollziehen, denn ein rotierendes Partnerkarussell und zweideutige Texte sind nunmal Bestandteile der opérette bouffe. Dieses Genre stellt aber nur einen Teil von Offenbachs vielfältigem Schaffen dar, so dass man ihm mit dieser Verallgemeinerung Unrecht tut. Er passt einfach in keine Schublade.

2019 werden sicher noch mehr Publikationen und Aufführungen/Aufnahmen rauskommen. Was würden Sie sich am meisten in Bezug auf Offenbach wünschen? Dass das falsche Bild, welches leider noch immer in zu vielen Köpfen herumgeistert, nachhaltig korrigiert wird. Ich sprach ja bereits von bestrapsten Damen, die den “Höllen-Cancan” tanzen, dabei hat Offenbach einen Galopp komponiert. Ebenso sind die meisten Bühnenwerke komödiantischen Inhalts keine Operetten, werden aber oftmals als solche bezeichnet. Ich würde mir auch mehr Mut von den Intendanten wünschen: Hoffmann und Orpheus, schön und gut, aber warum nicht mal Robinson Crusoé, Vert-Vert oder Ritter Eisenfraß? Und bitte, liebe Regisseur_innen: Vertraut dem Stück, verkauft es nicht unter Wert, denn ich habe in den letzten Spielzeiten viel zu oft billigen Klamauk sehen müssen.

Autor, Operettenchampion des ORCA  Kevin Clarke/Foto ORCA

Sie arbeiten als Musikjournalist in Berlin. Welche Reaktionen bzgl. Operette und Offenbach ärgern Sie besonders von Kolleg_innen – und welche Reaktionen sollten 2019 wirklich endgültig im Mülleimer des Feuilletons landen? Wenn ich es genau bedenke, kenne ich ausschließlich Kolleg_innen, die frankophil sind. Und wenn man das ist, dann findet man auch “Monsieur Offenbak” toll. Nein, im Ernst. Hier in Berlin kenne ich niemanden, der bei Jacques’ Werken abwinkt. Ich denke, das liegt auch daran, dass Offenbachs Musikverlag, die Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, ihren Sitz an der Spree hat, wo man mit viel Herzblut und frischen Ideen an die Sache rangeht. Gerade ging in Straßburg die Uraufführung der wiederentdeckten und im Rahmen ihrer Offenbach Edition Keck OEK herausgegebenen opéra-bouffe Barkouf über die Bühne – und die Presse zeigte sich hellauf begeistert. Nächste Saison wandert die Produktion nach Köln. Und hier an der Komischen Oper hat Barrie Kosky im Bereich der heiteren Muse völlig neue Akzente gesetzt, was vom Feuilleton aufmerksam beobachtet wird. Nein, es gibt in dem Punkt nichts, worüber ich mich ärgern müsste. Das Interview erschien erstmals auf der website der ORCA, Danke!